9,99 €
Gefühle können Waffen sein: Der Arzt und Bestsellerautor Werner Bartens über eines der meistunterschätzten Probleme unserer Gesellschaft Emotionale Gewalt demütigt, sie macht hilflos und krank. Sie tritt in allen Lebensbereichen auf, im Job, in der Schule, in der Familie oder der Partnerschaft, und sie geschieht oft beiläufig. All das macht es so schwer, sich zur Wehr zu setzen – der Gesundheitsexperte und Bestsellerautor Werner Bartens zeigt, dass es trotzdem möglich ist. Der Angestellte, den der Chef zum Rapport an den «Schadenstisch» ruft; das Kind, das mit Liebesentzug bestraft wird; die Frau, deren Mann sich vor versammeltem Freundeskreis über sie lustig macht – sie alle sind Opfer emotionaler Gewalt, und das meist mit gravierenden Folgen: Emotionale Gewalt kann seelische und körperliche Verletzungen hervorrufen, die nie wieder heilen. Stresshormone werden vermehrt ausgeschüttet, die Schmerzschwelle ist niedriger und die Immunabwehr geschwächt. Die Betroffenen neigen später oft zu Depressionen und Angststörungen. Emotionale Gewalt ist eines der meistunterschätzten Probleme unserer Gesellschaft. Überall kann man Demütigung und Missachtung erleben, aber überall kann man sich auch wehren. Wie – das offenbart dieses Buch, einfühlsam, anschaulich und auf der Grundlage aktueller Forschung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 336
Werner Bartens
Emotionale Gewalt
Was uns wirklich weh tut: Kränkung, Demütigung, Liebesentzug und wie wir uns dagegen schützen
Ihr Verlagsname
Gefühle können Waffen sein: Der Arzt und Bestsellerautor Werner Bartens über eines der meistunterschätzten Probleme unserer Gesellschaft
Emotionale Gewalt demütigt, sie macht hilflos und krank. Sie tritt in allen Lebensbereichen auf, im Job, in der Schule, in der Familie oder der Partnerschaft, und sie geschieht oft beiläufig. All das macht es so schwer, sich zur Wehr zu setzen – der Gesundheitsexperte und Bestsellerautor Werner Bartens zeigt, dass es trotzdem möglich ist.
Der Angestellte, den der Chef zum Rapport an den «Schadenstisch» ruft; das Kind, das mit Liebesentzug bestraft wird; die Frau, deren Mann sich vor versammeltem Freundeskreis über sie lustig macht – sie alle sind Opfer emotionaler Gewalt, und das meist mit gravierenden Folgen: Emotionale Gewalt kann seelische und körperliche Verletzungen hervorrufen, die nie wieder heilen. Stresshormone werden vermehrt ausgeschüttet, die Schmerzschwelle ist niedriger und die Immunabwehr geschwächt. Die Betroffenen neigen später oft zu Depressionen und Angststörungen.
Emotionale Gewalt ist eines der meistunterschätzten Probleme unserer Gesellschaft. Überall kann man Demütigung und Missachtung erleben, aber überall kann man sich auch wehren. Wie – das offenbart dieses Buch, einfühlsam, anschaulich und auf der Grundlage aktueller Forschung.
Dr. med. Werner Bartens ist leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der «Süddeutschen Zeitung». Er gilt als einer der einflussreichsten Publizisten zum Thema Gesundheit in Deutschland. Seine Bücher «Was Paare zusammenhält», «Glücksmedizin» und das «Ärztehasser-Buch» standen monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste.
Plötzlich fiel die Mutter um. Plötzlich und unvermittelt. Sie lag langgestreckt im Wohnzimmer auf dem Teppich und regte sich nicht mehr. Das kleine Mädchen stand fassungslos daneben. «Ich bin dann völlig verschreckt um sie herumgelaufen und habe versucht, sie hochzubekommen», erinnert sich die Tochter viele Jahre später, als sie längst erwachsen ist. «Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis sie wieder aufgestanden ist. Erst als ich irgendwann in der Ecke saß, heulte und nicht mehr konnte, rührte sie sich wieder.»
Das grausame Erziehungsritual der Mutter hat seinerzeit offenbar schnell die erwünschte Wirkung gezeigt. «Immer wenn ich mich nicht so verhalten habe, wie es Mama passte, hat sie tot gespielt. Ich habe dann bald alles haarklein genau so gemacht, wie sie es wollte.» Nichts war für das kleine Mädchen schlimmer als die Vorstellung, durch sein vermeintliches Fehlverhalten die Mutter zu verlieren. Die Tochter hätte sich lebenslang dafür verantwortlich gefühlt, wenn dem Menschen, den sie am meisten liebte, etwas passiert wäre. Davor hatte sie panische Angst. Der Grundstein für ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, sobald es anderen nicht gutgeht, wurde damit schon früh gelegt.
«Sie hätten ihr Kind doch nie geschlagen, ist von solchen Eltern typischerweise zu hören», sagt Karl Heinz Brisch über jene Mutter, die sich tot gestellt und ihre Tochter immer wieder in Panik versetzt hat. Brisch leitet die Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie am Haunerschen Kinderspital der Universitätsklinik München. Und es stimmt – körperliche Gewalt spielt oft gar keine Rolle, wenn Menschen seelisches Leid zugefügt wird. Brisch beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung der frühkindlichen Bindung, der Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern in den ersten Lebensmonaten und -jahren – und damit, was dabei alles schiefgehen kann. Mit den Konsequenzen einer brüchigen Bindung müssen die Betroffenen schließlich ein Leben lang umgehen.
«Die Folgen solcher Erziehungsmethoden sind ziemlich dramatisch», sagt Brisch. «Dadurch verändert sich das Gehirn, dadurch verändert sich das Bindungsverhalten, und die Anfälligkeit für verschiedene Krankheiten steigt. Oft spielen solche Patienten später, wenn sie erwachsen sind, selbst tot.» Die emotionale Gewalt wird auf diese Weise in die nächste Generation weitergetragen, oftmals zeigen die Betroffenen sogar ganz ähnliche Verhaltensmuster, wie sie sie von den eigenen Eltern oder anderen nahestehenden Menschen einst ertragen mussten.
Mehr als zwei Wochen hatte er sich nicht gemeldet. Sie hatte ihm Nachrichten geschickt – keine Reaktion. Mehrmals sprach sie auf seinen Anrufbeantworter. Nichts. Die beiden waren seit wenigen Monaten zusammen, so etwas hatte sie noch nie mit einem Mann erlebt. Dann stand er eines Tages vor ihrer Tür, als sei nichts gewesen. Blumen hatte er im Arm – und die Einladung für ein «romantisches Wochenende», wie er es nannte. Er erklärte sich nicht, entschuldigte sich nicht und wollte nicht zugeben, dass sein Verhalten nicht in Ordnung war. Im Gegenteil, er erwartete, dass sie sein Abtauchen als selbstverständlich hinnahm. «Stell dich nicht so an», sagte er zu ihr.
Sie ließ sich trotzdem wieder auf ihn ein, verbrachte ein intensives Wochenende mit ihm und war von seinem Charme angetan. Sie war beeindruckt von seinen Geschenken und dem Zauber, den er beim Abendessen versprühte. Schauten die anderen Hotelgäste nicht sogar ständig herüber, wie galant dieser Mann war?
Zurück im Alltag, ließ er erneut ewig nichts von sich hören. Sie schickte ihm einen kurzen Gruß – nichts. Sie schlug ein baldiges Treffen vor – nichts. Als sie ihm sagte, dass sie diese Ignoranz und Missachtung schlecht ertragen könne, schob er alle Schuld auf sie: «Du klammerst zu viel, ich brauche meine Freiheiten, dein Misstrauen ist krankhaft.» Bald begann sie, an sich selbst zu zweifeln, bis andere ihr bestätigten, dass sie sich von ihrem Freund manipulieren lasse und neuerdings alle Fehler bei sich suche. Dabei sei eindeutig er es, der ihre Gefühle missachte und sie immer wieder vor den Kopf stoße.
Die Assistenzärztin hatte bei der Chefarztvisite gerade «ihre» Patientin vorgestellt. Der Tross der Mediziner und Pflegekräfte stand schon wieder auf dem Gang und war kurz davor, das nächste Krankenzimmer zu betreten. Da ergriff der Chefarzt noch einmal das Wort: «Ein interessanter Fall», sagte er mit sanfter Stimme, den Blick auf die Ärztin gerichtet. «Verstanden haben Sie aber offenbar gar nichts, und Ihre Therapievorschläge grenzen an Körperverletzung.» Sein Tonfall klang besonders fürsorglich – und dafür umso gemeiner: «Vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie sich beruflich umorientieren. Das Beste für uns alle.»
Überall kann es zu emotionalen Übergriffen, zu groben Gemeinheiten und fiesen Machtspielen kommen. Sie passieren geradezu nebenbei, immer dann, wenn Menschen zusammen sind, tagtäglich, einfach so. Beispiele gibt es viele – im Beruf, in der Schule, in Cliquen, Freundeskreisen und Vereinen, in der Partnerschaft und erst recht in der Familie.
Kränkung, Erniedrigung und Missachtung sind nicht nur schmerzhaft und verletzend, sie können das Seelenheil massiv beschädigen und Menschen dauerhaft krank machen. Die Folgen emotionaler Gewalt für Psyche und Körper sind immens, sie werden jedoch noch immer unterschätzt.
Karl Heinz Brisch hat zu Beginn des Jahrtausends eine internationale Konferenz über frühkindliche Bindungserfahrungen in München ins Leben gerufen, die sich schnell zu einem renommierten Symposium entwickelte. Experten aus aller Welt diskutieren jedes Jahr im Oktober drei Tage lang darüber, wie sich Störungen der frühkindlichen Beziehungen im späteren Verlauf des Lebens auswirken und zu typischen Verhaltensmustern, krankhaften Veränderungen und Ängsten führen können.
Als Brisch die Konferenz im Jahre 2016 zum fünfzehnten Mal organisierte und diesmal das Thema emotionale Gewalt auswählte, geriet der übliche Ablauf durcheinander. Diesmal war die Veranstaltung schon ein halbes Jahr vorher ausgebucht. Zwar war sie auch in den Vorjahren gut besucht gewesen, aber nie zuvor war der Andrang so groß.[1] Etwa 1500 Menschen interessierten sich für das Thema emotionale Gewalt.
Offenbar ist es auch deshalb von so großem Interesse, weil die Häufigkeit, flächendeckende Verbreitung wie auch die weitreichenden Folgen emotionaler Gewalt noch immer bagatellisiert werden. Man kann von einer doppelten Verniedlichung sprechen: Einerseits wird unterschätzt, wie oft es zu emotionalen Grobheiten und Herabsetzungen kommt. Andererseits werden die Folgen dieser alltäglichen Gemeinheiten und Erniedrigungen zumeist für läppisch und nicht weiter erwähnenswert gehalten. Jenen, die zum Opfer werden, wird zugemutet, das mit emotionaler Gewalt verbundene Leid auch klaglos zu ertragen.
Der deutschamerikanische Psychiater Erwin Straus hat in seiner Schrift «Geschehnis und Erlebnis» schon 1930 deutlich gemacht, dass nicht jede Beleidigung und Kränkung zwangsläufig mit drastischen Folgen für Körper und Seele einhergehen muss. Das Geschehnis bezieht sich auf den tatsächlichen Sachverhalt, also beispielsweise die Zurückweisung durch die Eltern, die Erniedrigung durch den Lehrer oder die Ausgrenzung im Freundeskreis. Wie diese Geschehnisse erlebt und verarbeitet werden, hängt jedoch von der individuellen Disposition ab, das heißt davon, wie stabil das eigene psychische Korsett ist, über welche stärkenden Ressourcen und Widerstandskräfte man verfügt und in welche Lebensphase das Ereignis fällt.
Manchmal ist der Zusammenhang von Geschehnis und Erlebnis nämlich erstaunlich gering, und auch heftige Demütigungen werden gut weggesteckt. In anderen Fällen wirken leichte Erschütterungen hingegen womöglich lange nach. Wer vermag schon zu sagen, wie es den Opfern starker frühkindlicher emotionaler Gewalt tatsächlich geht? Sind sie sich überhaupt der Tatsache bewusst, dass sie in einer herzlosen Umgebung ohne Zuneigung und Trost aufwachsen – und nehmen sie spätere Versuche der Erniedrigung folglich überhaupt als Torturen der Seele wahr?
Wie viele Menschen emotionale Gewalt erdulden müssen, lässt sich nicht genau sagen. In der Fachliteratur ist oft von «aversiven», also feindseligen Erlebnissen die Rede, die etwa sechzig Prozent der Bevölkerung kennen. Damit sind allerdings nicht nur Kränkungen und Erniedrigungen gemeint, sondern auch einschneidende Erfahrungen wie etwa schwere Unfälle oder der Verlust geliebter Menschen. Auch die emotionale Last, die sich nach körperlichen oder sexuellen Gewalterfahrungen auftürmt, zählt dazu.
Ab wann Kränkungen, Missachtung und seelische Verletzungen als emotionale Gewalt zu bezeichnen sind, lässt sich nicht endgültig sagen. Dies hängt nicht zuletzt vom subjektiven Empfinden des Opfers ab. Manche Therapeuten sprechen von emotionaler Gewalt, wenn negative Erfahrungen über eine Dauer von vier Wochen oder länger immer wieder im Alltag auftauchen und die Erinnerung daran nicht verblassen will. Solche Zeitangaben sind allerdings schwierig, weil Kränkungen auch noch nach sehr belastenden Wochen überschrieben werden können und dann kaum bleibende Spuren hinterlassen. Umgekehrt können auch einzelne Erlebnisse sich immer tiefer in die Seele fressen und dort dauerhaft Schaden anrichten.
Selbst in der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychologie findet das Thema emotionale Gewalt noch relativ wenig Beachtung. Und wenn, dann wird zumeist an die Folgen von Kriegen, Folter und Vertreibung gedacht, an schwere Unfälle oder die Grausamkeiten und Lieblosigkeiten, wie sie Kinder aus Syrien erlebten, die im Bürgerkrieg ihre Eltern verloren haben und dann den Schrecken der monatelangen Flucht ertragen mussten. Oder es geht um systematische Misshandlungen, wie sie aus den rumänischen Kinderheimen unter dem Diktator Nicolae Ceauşescu dokumentiert sind. Bisweilen kommt das Thema auch infolge spektakulärer Kriminalfälle auf, wie etwa der Entführung von Natascha Kampusch. Aufgrund ihrer perfiden Grausamkeit beschäftigen sie manchmal monatelang die Öffentlichkeit. Kampusch war 1998 als Zehnjährige entführt und mehr als acht Jahre lang, genau waren es 3096 Tage, von ihrem Peiniger in einem Kellerverlies unter dessen Garage gefangen gehalten worden. Solche Traumatisierungen hinterlassen zumeist tiefe Spuren und Verwundungen, sind aber glücklicherweise sehr selten. Sie mit den alltäglichen Formen emotionaler Gewalt zu vergleichen, wird beidem nicht gerecht. Bei Letzterem geht es um unterschwellige Gemeinheiten, um Erniedrigungen und Kränkungen, um Vernachlässigung. Diese fiesen kleinen Torturen der Seele kennt fast jeder, sie ereignen sich in allen Lebensbereichen, überall, wo Menschen zusammenkommen, wo einer vom anderen abhängig ist und wo asymmetrische Machtverhältnisse ausgespielt werden können. Trotzdem gehen wir oftmals schnell über sie hinweg.
Dabei können die Folgen für die seelische wie körperliche Gesundheit gravierend sein, werden Menschen absichtsvoll gekränkt, verletzt und gedemütigt. Die gezielte Schädigung, die spürbare Wut und der Hass dabei wirken sich besonders zerstörerisch auf die Seele aus, denn so wird deutlich, mit welchem Ausmaß an Verachtung der andere entwertet werden soll. Drücken Eltern, andere nahe Angehörige oder wichtige Bezugspersonen ihr Missfallen auf diese destruktive Weise aus, ist das für die Opfer besonders verletzend.
Obwohl sie so häufig vorkommen, wird noch immer viel zu wenig über die kleinen und großen alltäglichen Gemeinheiten und Grausamkeiten gesprochen, zu denen Menschen in der Lage sind. Manchmal kann man sie tatsächlich schnell vergessen, besonders wenn sie im Affekt passierten, erkennbar nicht böse gemeint waren und man sich schnell wieder versöhnt. Gelegentlich führen sie jedoch zu tieferen Verletzungen – und trotzdem werden sie einfach hingenommen oder als gleichsam schicksalsgegeben angesehen.
In diesem Buch geht es um die alltägliche emotionale Gewalt, den Hagel an Gemeinheiten und Kränkungen, an Mobbing und Zurückweisung, dem viele von uns immer wieder und erstaunlich oft ausgesetzt sind. Denn auch diese Angriffe auf die Seele richten etwas mit uns an, sie kränken nicht nur, sondern machen manchmal sogar krank. Sie sind das Gift, das langsam in viele Familien und Paarbeziehungen einsickert, sie schädigt oder den Arbeitsplatz unerträglich macht.
Doch was genau ist emotionale Gewalt, in welchen Formen äußert sie sich, und wann wird aus Schroffheit und unfreundlichem Verhalten ein destruktives Vergehen? Emotionale Gewalt frühzeitig zu erkennen und zu unterbinden, das ist immer noch der beste Schutz. Doch wie kann man sich gegen derart übergriffiges Verhalten schon im Ansatz zur Wehr setzen?
Manchmal maßen sich der «Täter» oder die Tätergruppe an, selbst über die Intensität der Kränkungen zu urteilen. Waren sie überhaupt so heftig, dass sie zu Verletzungen führten? Jeder kennt die gängigen Sprüche, mit denen Angriffe verniedlicht, beschwichtigt und verharmlost werden sollen: «Stell dich doch nicht so an», «Sei keine Mimose», «Man wird doch wohl noch etwas sagen dürfen», «Das bildest du dir nur ein», «So war das doch nicht gemeint», «Du kannst wohl kein bisschen Kritik vertragen», «Hab dich doch nicht so», «Wer austeilt, muss schließlich auch einstecken können».
So oder ganz ähnlich lauten die Entgegnungen, wenn sich jemand doch mal darüber beschwert, dass er gekränkt worden ist, sich erniedrigt fühlt, fertiggemacht wurde. Dabei gilt: Allein der subjektive Leidensdruck zählt, nichts sonst. Schmerz lässt sich nicht objektivieren. Wie sehr jemand von einem bösen Wort oder einer garstigen Handlung verletzt worden ist, wie sehr die Zurückweisung schmerzt, das können Außenstehende nicht beurteilen. Das weiß und spürt nur der, der getroffen wurde.
Ein weiterer Punkt: Die Spuren emotionaler Gewalt sind unsichtbar und für Außenstehende meist nicht wahrzunehmen – auch wenn sie nur langsam verblassen. Eine Rippenserienfraktur oder ein kleiner Kinderkörper, der mit blauen Flecken übersät ist, sind hingegen ebenso klar als Folgen schwerer Misshandlung zu identifizieren wie ein Schütteltrauma oder Knochenbrüche, die in Krankenhäusern und Arztpraxen leider oft zu beobachten sind. Ärzte kennen die typischen Anzeichen für rohe Gewalt gegenüber Kindern genauso wie die Ausreden der Eltern oder anderer gewalttätiger Angehöriger.
Kränkung, Zurückweisung, beharrliches Schweigen, Demütigung oder offener Hass werden ähnlich schmerzhaft erlebt wie physische Verletzungen, lassen sich aber in ihren Auswirkungen auf den ersten Blick bei weitem nicht so eindeutig erkennen. Deswegen sprechen Ärzte und Therapeuten auch von emotionaler Gewalt als einer «unsichtbaren Keule». Die Verletzungen der Seele sind viel schwerer zu erahnen, verheilen aber teilweise nie oder brechen immer wieder auf. Wie man verhindern kann, dass emotionale Gewalt entsteht, und wie man mit ihren Folgen umgeht, wenn es dennoch passiert, das ist das Thema dieses Buches.
Emotionale Gewalt kann in vielen Spielarten vorkommen. Manchmal äußert sie sich in Vernachlässigung, Ausgrenzung oder Ignoranz, dann in offener Ablehnung und Feindseligkeit. Zudem gibt es verschiedene Formen manipulativen Verhaltens: Das Gegenüber soll zu einem anderen Empfinden bewogen werden, seine Gefühle werden abgewertet oder in eine bestimmte Richtung gelenkt. Emotionale Erpressung, «Gaslighting» und das Verhalten von «Energievampiren» sind dann an der Tagesordnung.
Zwar gibt es typische Muster dessen, wie Menschen anderen Menschen psychisch weh tun, aber dennoch sind die Ausformungen und Bilder individuell. Für die eine ist der Inbegriff emotionaler Gewalt die tadelnde Miene der Mutter, die das Verhalten der Tochter strengstens missbilligt. Für den anderen ist es der abschätzige Blick oder das Kopfschütteln des Vaters, der seinem Sohn mal wieder nichts zutraut. Beim Dritten ruft die Erinnerung an das hämische Lachen der Klassenkameraden, die er eigentlich für seine Freunde hielt, auch Jahre später noch eine Gänsehaut hervor.
Psychologen schätzen Ignoranz und emotionale Vernachlässigung als traumatisierende Erfahrung ein. «Nicht beachtet und nicht beantwortet zu werden, ist eine besonders schmerzliche Erfahrung», sagt Bindungsexperte und Kindertherapeut Karl Heinz Brisch. «Das gilt für Kinder und Erwachsene, für Paare und Alleinstehende, sowohl privat als auch im Beruf. Es gibt Familien, in denen es seit Generationen Tradition ist zu schweigen, wenn man böse auf den anderen ist. Ignorieren als Strafe.» Äußerlich mag es solchen Kindern zwar gutgehen, manchmal sind sie sogar materiell verwöhnt, aber seelisch verhungern sie. Sie bekommen keine Anerkennung und Achtung. Eine auf sie gerichtete Aufmerksamkeit erleben sie vor allem in Form von Beschimpfungen oder Missbilligung.
Manche Wissenschaftler halten die Verheerungen durch einen extremen emotionalen Rückzug der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspartner für ähnlich oder genauso gravierend wie jene durch körperliche oder sexuelle Gewalt. Dabei spielt es keine Rolle, aus welchem Grund die Eltern sich ihren Kindern nicht widmen, ob sie wegen Suchterkrankungen nicht in der Lage dazu sind, ob sie selbst an Persönlichkeitsstörungen leiden oder schlicht gefühlskalt sind. Menschen sind soziale Wesen, sie sind lebensnotwendig auf Austausch, Beziehung und Interaktion angewiesen. Zahlreiche grausame Beispiele aus der Geschichte, in denen Menschen (besonders oft waren es Kinder) ohne Zuwendung und Nähe leben mussten, zeigen, dass in der Folge bald nicht nur die Seele verkümmert, sondern auch der Körper.
Der Mensch gehört zu den Säugetieren, aber Homo sapiens hat sich auch deshalb weiter als die anderen Arten entwickelt, weil er die Fähigkeit zur Kooperation besitzt. Eingebunden zu sein, in Austausch miteinander zu treten und Resonanz vom Gegenüber zu erfahren, ist eine zentrale Voraussetzung der Gesunderhaltung.[1] «Einsamkeit macht fast alle Menschen krank, dafür gibt es mittlerweile etliche Untersuchungen und Beweise», sagt Harald Gündel, Chef der Abteilung für Psychosomatik am Universitätsklinikum Ulm.[2] «Mangelnde Akzeptanz und Wertschätzung wirken nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper, vor allem über erhöhte Entzündungswerte, und diesem Mechanismus liegen etliche körperliche und seelische Erkrankungen mit zugrunde.»
Schon Sigmund Freuds Schrift «Ein Kind wird geschlagen» aus dem Jahr 1919 legt nahe, dass eine schlechte Behandlung oder problematische Beziehung für einige Menschen weniger folgenreich ist als die absolute Vernachlässigung. Manche Betroffene geraten immer wieder in stark entwertende Beziehungen und haben ein Leben lang mit den Auswirkungen zu kämpfen. Keinerlei Reaktion hervorzurufen, im anderen nicht gespiegelt zu werden und nichts bei ihm zu bewirken, kann zu Gefühlen der existenziellen Selbstentwertung führen und jähen psychischen Vernichtungsschmerz auslösen. Man fühlt sich buchstäblich als nichts und niemand – ohne sozialen und emotionalen Halt im luftleeren Raum.
Körperliche Gewalt tut zwar weh und ist zudem mit einer groben Erniedrigung verbunden. Sie lässt sich jedoch manchmal womöglich einfacher ertragen, als überhaupt nicht beachtet zu werden, so die Schlussfolgerung etlicher Wissenschaftler. Natürlich sei physische Gewalt durch nichts zu rechtfertigen, doch immerhin komme es dabei zu einer Reaktion des Gegenübers. Man bezieht sich aufeinander, löst etwas aus, der Täter verhält sich zum Opfer – auch wenn es in diesem Moment hauptsächlich Aggressionen, Wut und Hass sind, die er ihm entgegenbringt.
«Vernachlässigung und Traumata hinterlassen biologische Narben, die wir nur schwer wieder loswerden», sagt Charles Nemeroff, Psychiater an der Universität Miami. «Die schlimmsten Folgen für Leib und Seele können entstehen, wenn Kinder vernachlässigt werden.» Auch wenn eine Hierarchisierung des Grauens seltsam anmutet – die Auswirkungen emotionaler Gewalt können gravierender sein als jene von körperlichem oder sexuellem Missbrauch. «Alles wird abgetötet, erscheint dumpf, und das Gefühlsleben ist runterreguliert», sagt Martin Sack, Traumaexperte und Arzt für Psychosomatik am Klinikum der Technischen Universität München. In den meisten Missbrauchsfällen hingegen entwickeln die Opfer Gefühle der Selbsterhaltung wie Wut und Aufbegehren, die sie gegen ihre Peiniger richten. Hier hat der Hass wenigstens ein Ziel.
Vernachlässigte Kinder haben jedoch kein Gegenüber. «Der Schaden durch das, was man nicht hat, ist womöglich der allergrößte», sagt auch Michael Rutter, Kinderpsychiater aus London. Psychiater aus Atlanta und Miami haben bereits vor ein paar Jahren gezeigt, dass die kognitiven Defizite von Erwachsenen, die als Kinder missbraucht oder vernachlässigt wurden, unterschiedlich stark ausgeprägt sind.[3] Bei den traumatisierten Probanden war nicht nur die Gefühlsverarbeitung beeinträchtigt, sondern auch das visuelle Gedächtnis und das zielorientierte Lösen von Aufgaben, wobei frühkindliche Vernachlässigung die stärksten emotionalen Störungen nach sich gezogen hatte. Neben der emotionalen Stabilität waren auch die Intelligenz und das Erinnerungsvermögen spürbar beeinträchtigt; zum seelischen Schaden kam ein kognitiver.
«Emotionaler Missbrauch ist wohl die häufigste und schädlichste Form des Missbrauchs», sagt Shelley Riggs von der Universität Denton in Texas. «Bei Kindern besteht die große Schwierigkeit darin, dass die Eltern sowohl die Ursache als auch die Lösung des Problems sind.» Die seelischen wie körperlichen Langzeitfolgen sind außerordentlich schwer, wenn man ausgerechnet von denen verletzt wird, die man liebt und auf die man in den ersten Lebensjahren – im Wortsinne – auf Gedeih und Verderb angewiesen ist. Eltern haben es in der Hand, ob sie die von ihnen zugefügten Wunden verheilen lassen oder ob sie sie immer wieder aufs Neue aufreißen und ihre Kinder so dauerhaft einschüchtern und kränken.
Unternehmen Mutter oder Vater keinerlei Versuche, die Erniedrigungen wiedergutzumachen und die Kränkungen oder ihr ablehnendes Verhalten zurückzunehmen, drohen Störungen, Irritationen und Beschwerden, und zwar nicht nur seelische, sondern auch körperliche. Das tägliche Miteinander, die Beziehungen zu anderen Menschen – für die Opfer von emotionaler Gewalt liegt auf alledem ein schwerer Schatten, der ihr Leben auf lange Sicht verdunkeln kann. Jeder, der so etwas durchlitten hat, reagiert unterschiedlich darauf, aber die Folgen können sich auch noch nach vielen Jahren bemerkbar machen und ein Leben chronisch beeinträchtigen oder gar zerstören.
Klar: Die, von denen man besonders geliebt werden möchte, weil man sie selbst so sehr liebt, will man am wenigsten enttäuschen. Für sie würde man alles tun. Insofern ist es besonders perfide und gemein, wenn jene Menschen, oft sind es die Eltern oder der Partner, mehr Gefühle, mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung einfordern, als man zu geben in der Lage ist – und im Gegenzug mal eben die Grundpfeiler der Beziehung in Frage stellen, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.
Häufig sind es die engen Beziehungen, die überfrachtet werden mit hohen Ansprüchen und festen Vorstellungen davon, wie man sich zu verhalten und was man zu geben hat. Wenn Kinder in die Pubertät kommen und sich langsam von zu Hause ablösen, ist die Wahrscheinlichkeit für die Kollision zwischen Anspruch und Wirklichkeit – und für eine nachfolgende Konfrontation – besonders groß.
«Ich dachte, du liebst mich!?» Was für ein Satz. Mit voller Wucht zielt er unter die Gürtellinie, zumindest unter die emotionale. Ein ganzer Strauß von nagenden Erwartungen und Anforderungen schwingt mit – wie auch der kaum zu überhörende Vorwurf, dass sie nicht oder längst nicht ausreichend erfüllt werden. «Ich hatte angenommen, dich interessiert es schon ein bisschen, wie es mir geht», ist ein weiterer Klassiker aus dem vielfältigen Arsenal der emotionalen Waffen, der immer wieder in der Familie oder in Paarbeziehungen fallengelassen wird. Genau wie dieser: «Überleg dir mal, warum ich so schlechter Laune bin, du wirst schon selbst darauf kommen.»
Sie alle zielen darauf ab, dass der andere sich mies fühlt und ein schlechtes Gewissen bekommt. Erst wird er beschämt, weil er dem Partner nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Und zur Strafe soll man dann auch noch herumrätseln, warum der offenbar Gekränkte jetzt unzufrieden ist. Dabei handelt es sich um ein abgekartetes Spiel. Es ist von vornherein festgelegt, wer hier zum Schuldigen erklärt werden soll.
«Weißt du eigentlich, welche Sorgen ich mir gemacht habe?», sagt die Mutter zu ihrem sechzehnjährigen Sohn. «Ich hatte gehofft, du würdest auch mal an mich denken und früher nach Hause kommen, aber das ist wohl zu viel verlangt. Kannst du dir vorstellen, wie es mir geht?» Nein, das kann sich der junge Mann vermutlich gerade nicht vorstellen, er selbst war ja kein bisschen in Sorge, sondern in unbeschwerter Stimmung mit seinen Freunden unterwegs.
Jetzt soll er sich irgendwie dafür verantwortlich fühlen, dass seine Mutter so aufgebracht ist. Er kann allerdings beim besten Willen nichts entdecken, was man an seinem Verhalten aussetzen könnte, fühlt sich aber erst mal schlecht. Wenn er diese Attacke wehrlos über sich ergehen lässt und erlaubt, dass seine Gefühle auf diese Weise manipuliert werden, wird er beim nächsten Mal wohl nur noch ungern abends ausgehen – oder ständig daran denken, dass er seiner Mutter «zuliebe» früher wieder heimkommen sollte. Und selbst wenn er das tut, wird er das ungute Gefühl haben, wieder irgendetwas falsch gemacht zu haben.
Um diese Situationen fair einschätzen zu können, spielen allerdings auch die Motive der Mutter eine wichtige Rolle. Handelt sie vor allem aus Liebe und dem Wunsch nach Nähe zu ihrem Sohn, ist ihre ständige Sorge zwar trotzdem anstrengend für ihn, aber noch einigermaßen verständlich. Wenn jedoch hauptsächlich ihre Befindlichkeit im Mittelpunkt steht und sie eigentlich traurig darüber ist, dass sie selbst kaum noch Möglichkeiten findet, auszugehen oder sich anderweitig zu vergnügen, geht sie mit den Gefühlen ihres Sohnes auf manipulative Weise um. Eine Weile wird er ihre gluckenhafte Sorge vermutlich noch ertragen und ihr zuliebe früher nach Hause kommen – um sich dann irgendwann abrupt von ihr abzuwenden. Dann hat er durchschaut, dass es ihr nicht primär um ihn, sondern um sich selbst geht.
Es gibt diese ewig fordernden Menschen, die vermutlich in jedem Bekannten- oder Freundeskreis ihren festen Platz haben. Sie schütten ihren Gesprächspartnern ebenso regelmäßig wie ungefragt ihr Herz aus, wollen sich endlich mal in Ruhe aussprechen. Vor allem aber erwarten sie, dass man sich permanent mit ihnen beschäftigt, sich ihnen widmet und immer ein offenes Ohr für ihre Probleme hat.
Sie haben ja auch ihr Kreuz zu tragen, das Schicksal hat sie hart getroffen: Ständig befinden sie sich in irgendwelchen verzwickten Situationen, skizzieren Zwangslagen, beklagen ihren emotionalen Ausnahmezustand – und finden nur selten allein wieder hinaus. Und dann ist man gefordert, soll Rede und Antwort stehen, gute Ratschläge geben und sich voll und ganz dem Menschen und seinem aktuellen Thema widmen. «Was würdest du denn machen?», «Wie soll ich mich nur entscheiden?», «Sag mir doch bitte mal, was du darüber denkst», lauten die Aufforderungen.
Unter guten Freunden, in der Familie und in der Partnerschaft ist man zunächst natürlich gern bereit, zuzuhören und dem anderen beizustehen. Es ist schließlich üblich, dass man sich mitteilt, wenn einen etwas bedrückt und die Sorgen allzu groß werden – und selbstverständlich steht man anderen dann bei. Der Dank dafür ist groß – «Du hast mir echt geholfen» –, aber damit ist es nicht gut und nie genug.
Wenn sie anruft, fragt sie nicht danach, ob sie stört und ob ihre Freundin gerade Zeit für sie hat. «Du, Klara, es ist ganz wichtig, ich muss dich unbedingt sprechen», sagt die 38-Jährige dann. «Er will sich von mir trennen, ich halte das nicht noch mal aus.» Klara kennt das Muster schon, sie weiß, wie diese Anrufe ablaufen, will beruhigen und beschwichtigen – und nebenbei darauf hinweisen, dass sie gerade dabei ist, ihre Kinder ins Bett zu bringen.
Aber Klara kommt gar nicht erst zu Wort. «Heute brauche ich dich wirklich, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll», sagt ihre Freundin dann. «Ich kann einfach nicht mehr.» So hart es klingt, auch diese Ausrufe der Verzweiflung gehören zur Routine der regelmäßigen Telefonate. Klara kann sich jedoch nicht dagegen wehren. Sie hört von der Not ihrer Freundin, lässt sich darauf ein. Ihr Mann rollt mit den Augen, bringt unterdessen die Kinder ins Bett. Es dauert fast zwei Stunden, bis das Gespräch beendet ist. Klara fühlt sich hinterher leer und erschöpft. Eine Lösung ist damit aber noch lange nicht gefunden. Das nächste Telefonat wird wieder nahezu identisch ablaufen.
Energievampire erkennen
Energievampire kennen fast nur Probleme, selten Lösungen
Ihre Themen sind meist die gleichen, beispielsweise klagen sie jahrelang über den miesen Partner oder den fiesen Chef, ohne einen Versuch zu unternehmen, etwas zu ändern
Sie nehmen in einer Beziehung viel, geben aber wenig
Antworten, Ratschläge, Standpunkte und Zeit fordern sie von anderen intensiv ein, manchmal ohne Aufschub – jetzt und sofort
Eventuell drohen sie mit Liebesentzug oder anderen manipulativen Techniken, wenn man sich ihnen nicht ausreichend widmet
Auch in engen Beziehungen bleibt nicht immer genügend Zeit und Raum, um sich anderen zu widmen. Manchmal passt es einfach nicht, und das Gegenüber sieht sich gerade nicht dazu in der Lage, auf den anderen einzugehen. Wird dann die Forderung penetrant weiter erhoben, stellt das Beziehungen schnell auf die Probe. Einige Menschen wollen partout nur über ihre Schwierigkeiten und Probleme reden und drängen sie dem anderen auf. Sie erkennen nicht die Signale, die anzeigen, dass es ihrem Gegenüber zu viel wird, dass er sich nicht immer auf die Sorgen des anderen einlassen kann – und es ab und an auch gar nicht will. Sie werfen immer wieder die gleichen Fragen und Probleme auf: «Was soll ich nur tun, wie würdest du dich entscheiden, ich weiß echt nicht mehr weiter.»
Klar kann es Phasen im Leben geben, in denen alles auf dem Kopf steht und sich vieles verändert. Dann tut eine enge Freundin oder ein wahrer Freund gut, ist manchmal sogar überlebenswichtig – irgendwo muss man sich ja fallenlassen können und einen sicheren Hafen haben. Wer aber immer weiter drängt und Lösungen und Antworten einfordert, setzt das Gleichgewicht von Geben und Nehmen unweigerlich aufs Spiel. Freundschaft und Beziehung beruhen zu großen Teilen auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit. Ausgewogen ist es nicht, wenn einer wieder und wieder alte Themen aufrollt und Stellungnahmen zu allem und jedem einholt. Der Adressat dieser Forderungen fühlt sich irgendwann erschöpft und ausgenutzt. Energievampire tun keiner Beziehung gut, denn sie benutzen ihr Gegenüber dazu, ihre eigene Egozentrik zu pflegen. Ohne es zu bemerken, kreisen sie fast ausschließlich um ihre eigenen Themen.
Gelegentlich kommen Vorwürfe und emotionale Erpressungen nach typischem Muster hinzu: «Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen. Es ist hart, dass du mich gerade jetzt im Stich lässt, wo ich dich so sehr brauche. Das hätte ich nicht von dir gedacht.» Je größer das Unglück des Energievampirs, desto höher auch seine Ansprüche an den anderen. Hier kommt es auf eine freundliche, aber deutliche Abgrenzung an. Wenn einem etwas an der Beziehung liegt, sollte man dem Energievampir klarmachen, dass Freundschaft nichts damit zu tun hat, den anderen unter Druck zu setzen und emotional auszusaugen.
Freundschaften sind nie vollkommen ausgewogen, mal braucht der eine mehr Unterstützung, mal der andere. Wenn das Verhältnis aber auf Dauer unausgewogen bleibt und aus der Freundschaft eine therapeutische Rettungsbeziehung zu werden droht, ist es höchste Zeit für eine Klärung – was man geben kann und zu geben bereit ist und wo die emotionale Einbeziehung ihre Grenzen hat.
«Was könnte ich heute nur wieder falsch gemacht haben?» – «Bestimmt hast du recht, dass der Fehler bei mir liegt.» – «Ob alles fertig vorbereitet ist, wenn sie nach Hause kommt?» – «Wahrscheinlich bin ich zu empfindlich, aber schon lange habe ich das Gefühl, dass ich nicht gut genug für ihn bin.»
Wenn sich jemand immer wieder mit diesen oder ähnlichen Fragen beschäftigt, sich für unnütz, fehlerhaft und schwach hält, liegt es nahe, dass er oder sie emotional manipuliert wird. Die Technik des Gaslightings besteht darin, den Gefühlen des Opfers ihre Berechtigung abzusprechen. Immer wieder behauptet der Täter, das Opfer hätte sich geirrt und etwas gesagt oder getan, woran es sich jedoch partout nicht erinnern kann. Diese Versuche der Manipulation kommen so häufig vor, dass das Opfer irgendwann selbst daran glaubt – oder gar befürchtet, den Verstand zu verlieren. Unwahrheiten werden verbreitet, Tatsachen verdreht, bis das Opfer den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen nicht mehr vertraut und dem Täter schutzlos ausgeliefert ist. Erst kommt der Zweifel, dann die Verzweiflung.
Der Begriff «Gaslighting» ist dem Film «Das Haus der Lady Alquist» aus dem Jahr 1944 entlehnt, der im amerikanischen Original «Gaslight» heißt. Im Mittelpunkt steht das Leben eines Ehepaares, in dem sich unheimliche Dinge zutragen. Paula (gespielt von Ingrid Bergman, die für diese Rolle den Oscar bekam) verliert eine Brosche, die ihr Mann Gregory (Charles Boyer) ihr zuvor geschenkt hatte. Ein Bild verschwindet von der Wand, woraufhin Gregory vermutet, dass Paula es weggenommen hat. Sie kann sich daran jedoch nicht erinnern. Paula hört Schritte auf dem Dachboden, der eigentlich verschlossen ist. Das Licht der Gaslampen flackert immer wieder während des Essens – was Gregory angeblich nicht sieht. Wertgegenstände verschwinden, Gewohntes steht nicht mehr an seinem Platz, an Gespräche erinnern sich beide völlig unterschiedlich.
Gregory hat keinerlei Verständnis für die Irritationen seiner Frau und redet ihr ein, dass sie sich die rätselhaften Vorkommnisse nur einbilde. Er schirmt Paula immer mehr von der Außenwelt ab und versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie – wie ihre bei der Geburt verstorbene Mutter angeblich auch – wohl langsam wahnsinnig werden würde. Paula glaubt irgendwann daran. Später zeigt sich jedoch, dass Gregory seine Frau mit Lügen und Täuschungen in den Wahnsinn zu treiben versucht, um im Haus nach den verschollenen Juwelen ihrer (ebenfalls von ihm) ermordeten Tante suchen zu können. Er versteckt Dinge, verrückt Möbel und manipuliert nicht nur Paulas Wahrnehmung, sondern auch die Gaszufuhr auf dem Dachboden, wodurch gelegentlich das Licht flackert und die Schritte dort zu erklären sind.
Die Techniken des Gaslightings sind perfide auf die Spitze getriebene Manipulationsversuche. Täuschen, Lügen, Verunsichern gehören zu den gebräuchlichen Werkzeugen. Nur selten steht wie im namensgebenden Film ein Verbrechen hinter dieser besonders hinterhältigen Form der emotionalen Gewalt. In jedem Fall geht es aber um Machtausübung und Einschüchterung. Zu bemerken, wie leicht sich das Gegenüber verunsichern lässt, bis es schließlich der eigenen Wahrnehmung misstraut, kann einen Zugewinn an eigener Stärke bedeuten. Wenn dann das Opfer einlenkt und zugibt, sich wohl getäuscht zu haben, ist die Manipulation schon bald gelungen.
Die amerikanische Psychologin Robin Stern hat zahlreiche Beispiele für Gaslighting beschrieben – und die verschiedenen Typen, die sich dieser manipulativen Technik bedienen, vom Charmeur bis zum dreisten Lügner.[1]US-Präsident Donald Trump ist offenbar einer jener Menschen, die sich des manipulativen Gaslightings bedienen, wie Stern in ihrem Buch berichtet. Auf Twitter behauptete er demnach, in die Talkshow des linksliberalen Comedians und Trump-Kritikers John Oliver eingeladen worden zu sein: «John Oliver hat seine Leute bei mir anrufen lassen, um mich zu seiner sehr langweiligen Talkshow einzuladen, die sich kein Mensch ansieht. Ich sagte NEIN DANKE. Reine Zeit- und Energieverschwendung!»
Ein kleines Detail stimmte hier nicht. Oliver hatte Trump nie eingeladen oder einladen lassen. Er wollte ihn keineswegs in seiner Talkshow haben. Trotzdem behauptete Trump das Gegenteil und erklärte in einer Radiosendung, dass es nicht nur eine, sondern vier oder fünf Anfragen gegeben habe. Diese dreiste Täuschung irritierte Oliver so sehr, dass er begann, seine eigene Wahrnehmung anzuzweifeln, und sich fragte, ob er den Präsidenten nicht vielleicht doch eingeladen hatte. «Es hat mich wirklich verunsichert, Ziel einer solch selbstsicheren Lüge zu sein», gab Oliver in seiner Talkshow später zu. «Ich habe sogar nachgeforscht, um sicherzugehen, dass niemand ihn versehentlich eingeladen hatte. Hatte aber natürlich niemand.»
Das Bemerkenswerte an dieser Geschichte ist, dass Oliver dem Präsidenten der USA in keiner Weise nahesteht, weder persönlich noch familiär, beruflich oder finanziell. Er ist auch keine verschreckte graue Maus, die sich leicht einschüchtern lässt, im Gegenteil. Und trotzdem lässt sich sogar ein selbstbewusster Fernsehstar wie er kurzzeitig von einer klaren Falschbehauptung dazu bringen, seine Wahrnehmung in Frage zu stellen. Das spricht keinesfalls dafür, dass Oliver charakterlich labil ist, es zeigt vielmehr die unheimliche Macht emotionaler Manipulationen.
Der Soldat ist nach langem Gefecht gefangen genommen worden und seinen Gegnern nun schutzlos ausgeliefert. Die beratschlagen sich allenfalls kurz, dann entscheiden sie, mit dem Feind kurzen Prozess zu machen. Ihm werden die Augen verbunden, und schon spürt er den Lauf einer Pistole an seinem Hinterkopf. Die Sekunden dehnen sich unendlich, die Zeit scheint stillzustehen. Manchmal macht sich das Opfer vor Todesangst in die Hose, was seine Peiniger erst recht amüsiert.
Es gibt verschiedene Spielarten dieser psychischen Tortur. Entweder ertönt der klickende Abzug der ungeladenen Pistole und lässt den Delinquenten in Panik verfallen. Oder die Sieger des Kampfes brechen in höhnisches Gelächter aus und nehmen dem Opfer die Augenbinde wieder ab. Sie haben gezeigt, dass sie fähig sind, die ultimative Macht auszuüben, die ein Mensch haben kann: Herrscher über Leben oder Tod zu sein. In einem willkürlichen Gnadenakt haben sie ihr Opfer zunächst überleben lassen. Es weiß aber, dass es jederzeit wieder so weit sein kann und dass der vorläufige Aufschub kein Ende seiner Gefangenschaft bedeutet. Seiner Unterlegenheit und des Ausgeliefertseins wird es sich so nur umso bewusster.
Solche oder ähnliche Szenen kommen in nahezu jedem Western und in vielen mittelmäßigen Krimis vor – und leider auch im richtigen Leben. Wer erlebt hat, im letzten Moment davongekommen und dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen zu sein, kann dauerhaft ein Trauma davontragen. Zu tief hat sich der Schrecken eingebrannt. Zu groß war die Überzeugung, dass nun das letzte Stündlein geschlagen hat.
Wenn sich der Schrecken dann auflöst und als makabres Spiel entpuppt, werden die psychischen Qualen womöglich nur noch größer. Dann zeigt sich die eigene Ohnmacht umso mehr: Vielleicht wird man ja doch im nächsten Moment erschossen, vielleicht misshandelt, vielleicht aber auch überraschend freigelassen.
Aus der Medizingeschichte ist der Fall eines zum Tode verurteilten Mannes überliefert, mit dem Ärzte in Indien in den 1930er Jahren ein grausames Experiment durchführen durften. Der Delinquent bekam die Augen verbunden, wurde mit Armen und Beinen an vier Bettpfosten gebunden, und dann sagten ihm die Mediziner, dass sie ihm nun an Händen und Füßen Schnittwunden zufügen würden. Er werde kaum Schmerzen haben, aber dadurch langsam verbluten.
Nachdem sie die Haut ihres Opfers eingeritzt hatten, stachen die Ärzte kleine Löcher in vier Wasserbeutel, die an den Bettpfosten angebracht waren. Darunter standen Blechschüsseln, sodass das Tropfen des Wassers deutlich zu hören war. Mit der Zeit rann es langsamer in die Schüsseln, der Atem des Mannes ging nun ebenfalls langsamer, irgendwann bewegte er sich gar nicht mehr. Er war tot – dabei hatte er höchstens ein kleines Glas voll Blut verloren. Er starb nicht an diesem Verlust, sondern daran, dass er glaubte, jetzt sterben zu müssen.
Emotionale Gewalt kann sich in vielen Ausprägungen zeigen. Seelische Vernachlässigung und Ignoranz können schlimmere Folgen haben als körperlicher oder sexueller Missbrauch. Der Mensch ist als soziales Wesen darauf angewiesen, im anderen eine Reaktion hervorzurufen.
Emotionale Erpressung kommt besonders häufig in Familien oder Partnerschaften vor. Erwartungen werden geäußert, Liebesbeweise eingefordert, und wenn die Bedürfnisse nicht erfüllt werden, stehen schnell die Nähe und Intensität der Beziehung in Frage. Der Grundstein für Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen wird auf diese Weise früh gelegt.
Energievampire wollen, dass man sich ihnen immer voll und ganz widmet. Sie bedrängen ihnen nahestehende Menschen, sich noch intensiver mit ihnen und ihren Gefühlen zu beschäftigen und permanent mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Einer gibt, der andere nimmt. Die Beziehung wird asymmetrisch – das kann auf Dauer nicht gutgehen.
Eine besonders perfide Technik der Manipulation ist das Gaslighting. Dem Gegenüber werden seine Wahrnehmung und seine Gefühle abgesprochen. Irgendwann sucht er die Fehler und die Schuld nur noch bei sich. Durch dreiste Lügen werden sogar selbstbewusste Menschen nach und nach verunsichert.
Vollkommen ausgeliefert zu sein und akut mit dem Tode bedroht zu werden, kommt einem seelischen Vernichtungsschmerz gleich. Die totale Ohnmacht und die Willkür der Peiniger, die jederzeit ihr Urteil vollstrecken oder sich gnädig zeigen können, führen zu einem Gefühl absoluter Hilflosigkeit, das lange anhalten oder immer wiederkehren kann.
Es ist ein liebgewonnenes jährliches Ritual. Jeden Sommer wieder treffen sich die beiden Männer, die seit Schulzeiten befreundet sind, in einem Gasthof am See. Dann verbringen sie ein paar Tage gemeinsam in der Natur, sie wandern bis zur körperlichen Erschöpfung, abends gibt es deftige Mahlzeiten, dann fasertiefe Müdigkeit. Die Ausflüge dienen jedoch nicht nur dem freudigen Wiedersehen und der sportlichen Betätigung. Jedes Mal aufs Neue erzählt einer der Freunde ausführlich von der gemeinsamen Schulzeit, von einem besonders fiesen Lehrer, der ihn wiederholt gedemütigt hat. Diese Erlebnisse liegen inzwischen mehr als vierzig Jahre zurück, aber sie beschäftigen ihn noch immer und kehren regelmäßig schmerzhaft in seine Erinnerung zurück. «Komisch, ich kann mich gar nicht mehr richtig an diesen Lehrer erinnern», sagt der andere. «Ich habe zwar vieles aus dieser Zeit vergessen und beschönige wohl auch manches, aber ich habe vor allem eine heitere und unbeschwerte Schulzeit vor Augen.»
Die beiden Männer haben es im Leben längst zu etwas gebracht. Im Beruf erfolgreich, eine Familie mit den üblichen Herausforderungen, es hätte schlechter laufen können. Keinem von beiden würde man größere seelische Verletzungen oder Verwerfungen attestieren. Die üblichen Eigenheiten und Macken, aber die gehören nun mal zur menschlichen Grundausstattung. Trotzdem wird der eine seine unguten Erinnerungen an den peinigenden Lehrer nicht mehr los und muss immer wieder davon erzählen. Und der andere, der – wie fast jeder – in der Schule auch einige Male von seinen Lehrern mit unfreundlichen Worten bedacht wurde, entsinnt sich vor allem einer glücklichen Jugend und Schulzeit.