KRANK oder GESUND: Wie man es sieht - Florian Ploberger - E-Book

KRANK oder GESUND: Wie man es sieht E-Book

Florian Ploberger

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe Leserin, lieber Leser, auch nach jahrelanger Tätigkeit in meiner Ordination gibt es Fragen, die ich nicht ohne weiteres beantworten kann. Erst unlängst wurde ich von einer Patientin – bei ihr war wenige Jahre zuvor eine Krebserkrankung diagnostiziert worden – nach der gut verlaufenen Operation und Chemotherapie mit Fragen konfrontiert, um deren Antwort sie auch selbst rang: Warum ist sie krank geworden? Wie kann sie in ihrem weiteren Leben von den gemachten Erfahrungen profitieren und diese konstruktiv nutzen? Was kann sie unternehmen, um gesund zu bleiben? Fragen, die auch mich seit Jahren, ja sogar Jahrzehnten beschäftigen. Gesundheit ist ein Thema, das jeden Menschen betrifft. Aber was bedeutet Gesundheit eigentlich? Seit langem interessiert mich, wie es möglich ist, trotz Krankheit, Alter oder anderen herausfordernden Faktoren liebevoll, freudvoll, mitfühlend und gleichmütig zu sein. Daher habe ich für dieses Buch Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Berufes, ihrer Berufung oder persönlicher Erlebnisse einen starken Bezug zu dem Thema haben, eingeladen, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Die Texte lassen uns eintauchen in die tiefere Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Tod, stellen aber auch bewährte Wege für Prävention und Heilung vor. Die Beiträge der 25 Autor:innen fügen sich zusammen wie die Teile eines Mandalas und zeugen von der Vielfalt der Wege, auf denen man sich den Themen Gesundheit und Krankheit nähern kann. Jeder Text eröffnet neue Blickwinkel, jeder kann dazu beitragen, das Gesamtbild zu vervollständigen. Vom Wissen über – teils sehr alte – Weisheitslehren und Medizinsysteme führt der Weg über persönliche Lebensreisen zu der fürsorglichen Begleitung von Kranken und Sterbenden, um schließlich in mögliche Synthesen zwischen Krankheit und Gesundheit zu münden. Ich danke von Herzen allen, die das Buch durch ihre Beiträge bereichern. Es war eine große Freude, gemeinsam an diesem Band arbeiten zu dürfen. Speziell bedanken möchte ich mich bei Mag. Walter Fehlinger vom BACOPA-Verlag, der von Beginn an das nun vorliegenden Werk mit viel Erfahrung begleitet und ermöglicht hat. Barbara Günther-Seggl hat nach Durchsicht des ersten Manuskriptes wichtige konstruktive Anregungen gegeben. Als es Zeit war, über die Gestaltung des Buchumschlags nachzudenken, hat Constanze Kukulies mit gekonnter Leichtigkeit und großem ästhetischen Vermögen das Buchcover gestaltet. Mein besonderer Dank gilt Margarete Donner, die als Lektorin mit Engagement und wunderbarer Klarheit das Entstehen dieses Buches begleitet und bereichert hat. Das Werden des Buches, welches wir nun in Händen halten, ist zu einem großen Anteil ihrem angenehmen, unterstützenden Wirken zu verdanken. "Atme und lächle", dieses Zitat von Thích Nhất Hạnh kommt mir öfter in den Sinn, wenn ich über Gesundheit und natürlich auch Krankheit nachdenke. Der vietnamesische buddhistische Mönch, Schriftsteller und Lyriker wollte uns mit dieser Aussage aufmerksam machen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 488

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, der Übersetzung, des Vortrags,

der Radio- und Fernsehsendung und der Verfilmung sowie jeder Art der

fotomechanischen Wiedergabe, der Telefonübertragung und der Speicherung

in Datenverarbeitungsanlagen und Verwendung in Computerprogrammen,

auch auszugsweise, vorbehalten.

© 2023 BACOPA Handels- & Kulturges.m.b.H., BACOPA Verlag

4521 Schiedlberg | Austria, Waidern 42

e-mail: [email protected] | [email protected]

www.bacopa.at | www.bacopa-verlag.at

Lektorat: Margarete Donner

Umschlaggestaltung: Constanze Kukulies

Satz: Kerstin Badic, Mili Badic

Printed in the European Union

ISBN: 9783991140405

1. Auflage, 2023

Ebook ISBN: 9783991140818

„Gesundheit ist kein Zustand,

sondern eine Geisteshaltung.“

Thomas von Aquin (1225-1274)

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Unterwegs – ein Begleitwort

Wolf-Dieter StorlDas Mysterium des Siechtums

Roland UrbanWege der Balance

Sarah MoritzHeilende Verbundenheit

Sylvia WetzelGesundheit als Mythos und Krankheit als Wegbegleiter

Herbert SchwablWir leben in einem entzündeten Zeitalter

Karl-Heinz SteinmetzGesundheit! – Provokationen aus der Traditionellen Europäischen Medizin

Renée SchroederAltern im 21. Jahrhundert

Miguel Herz-KestranekEs lohnt sich

Karin FürhapperMeine Heldenreise

Michael HudecekParallelmontage

Sr. Heidrun Bauer SDS…sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund

Angela CooperBurnout und ich

Jutta FlatscherGesund krank

Jens TönnemannDurch die Zeit

Sepp Bodo FegerlUngezählte Wege

Gerhard TucekMusik in der Therapie und die Bedeutung emotionaler Resonanz für den Genesungsprozess

Ingrid MarthLeben, was ist – Annehmen, was kommt

Richard GeierHeilende Präsenz

Mike MandlEinfach bleiben und das Lachen der Seele

Arnold MettnitzerTabula Saltandi –Vom Umgang mit Gesundheit & Krankheit

Ute Karin HöllriglWunden mit Wundern verbinden

Georg FrabergerGesundheit als Geisteshaltung

Sabine Weber-TreiberGesundheit und Sport – eine Frage des Mindsets

Ursula BaatzIn der Balance. Übers Glücklichsein

Florian PlobergerEin Reiswäscher in Indien

Kurzbiographien

Bücher von Florian Ploberger im BACOPA Verlag

Vorwort des Herausgebers

Liebe Leserin, lieber Leser,

auch nach jahrelanger Tätigkeit in meiner Ordination gibt es Fragen, die ich nicht ohne weiteres beantworten kann. Erst unlängst wurde ich von einer Patientin – bei ihr war wenige Jahre zuvor eine Krebserkrankung diagnostiziert worden – nach der gut verlaufenen Operation und Chemotherapie mit Fragen konfrontiert, um deren Antwort sie auch selbst rang:

Warum ist sie krank geworden? Wie kann sie in ihrem weiteren Leben von den gemachten Erfahrungen profitieren und diese konstruktiv nutzen? Was kann sie unternehmen, um gesund zu bleiben?

Fragen, die auch mich seit Jahren, ja sogar Jahrzehnten beschäftigen.

Gesundheit ist ein Thema, das jeden Menschen betrifft. Aber was bedeutet Gesundheit eigentlich? Seit langem interessiert mich, wie es möglich ist, trotz Krankheit, Alter oder anderen herausfordernden Faktoren liebevoll, freudvoll, mitfühlend und gleichmütig zu sein.

Daher habe ich für dieses Buch Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Berufes, ihrer Berufung oder persönlicher Erlebnisse einen starken Bezug zu dem Thema haben, eingeladen, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Die Texte lassen uns eintauchen in die tiefere Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Tod, stellen aber auch bewährte Wege für Prävention und Heilung vor.

Die Beiträge der 25 Autor:innen fügen sich zusammen wie die Teile eines Mandalas und zeugen von der Vielfalt der Wege, auf denen man sich den Themen Gesundheit und Krankheit nähern kann. Jeder Text eröffnet neue Blickwinkel, jeder kann dazu beitragen, das Gesamtbild zu vervollständigen. Vom Wissen über – teils sehr alte – Weisheitslehren und Medizinsysteme führt der Weg über persönliche Lebensreisen zu der fürsorglichen Begleitung von Kranken und Sterbenden, um schließlich in mögliche Synthesen zwischen Krankheit und Gesundheit zu münden.

Ich danke von Herzen allen, die das Buch durch ihre Beiträge bereichern. Es war eine große Freude, gemeinsam an diesem Band arbeiten zu dürfen.

Speziell bedanken möchte ich mich bei Mag. Walter Fehlinger vom BACOPA-Verlag, der von Beginn an das nun vorliegenden Werk mit viel Erfahrung begleitet und ermöglicht hat.

Barbara Günther-Seggl hat nach Durchsicht des ersten Manuskriptes wichtige konstruktive Anregungen gegeben.

Als es Zeit war, über die Gestaltung des Buchumschlags nachzudenken, hat Constanze Kukulies mit gekonnter Leichtigkeit und großem ästhetischen Vermögen das Buchcover gestaltet.

Mein besonderer Dank gilt Margarete Donner, die als Lektorin mit Engagement und wunderbarer Klarheit das Entstehen dieses Buches begleitet und bereichert hat. Das Werden des Buches, welches wir nun in Händen halten, ist zu einem großen Anteil ihrem angenehmen, unterstützenden Wirken zu verdanken.

„Atme und lächle“, dieses Zitat von Thích Nhât Hanh kommt mir öfter in den Sinn, wenn ich über Gesundheit und natürlich auch Krankheit nachdenke. Der vietnamesische buddhistische Mönch, Schriftsteller und Lyriker wollte uns mit dieser Aussage aufmerksam machen auf den jetzigen Moment. Nun atmen wir. In diesem Moment. Und können selbstverantwortlich entscheiden, wie wir diesen einen Augenblick verbringen möchten. Thích Nhât Hanhs Empfehlung lautet: „Mit einem Lächeln im Gesicht“.

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre der Texte,

Herzlichst,

Florian Ploberger

Baden bei Wien, im Sommer des Wasser-Hasen-Yin-Jahres 2023

Unterwegs – ein Begleitwort

Was für eine Reise, auf die mich Florian Ploberger eingeladen hat. Fast ein Jahr lang unterwegs mit mir unbekannten Menschen, die mir erlauben, ihren Weg ein Stück weit mitzugehen. Mit jedem Beitrag tauche ich ein in eine Welt, ein Leben, einen Wissensschatz und versuche zu verstehen oder zu erfühlen, was dieser Mensch von sich und seinen Erfahrungen teilen möchte.

Kaum ein Text lässt mich unberührt: Passagen, die ich mitnehme in schlaflose Nächte. Fragen, die ich mit meinem Mann und meinen Kindern diskutiere. Gedankenansätze, die mich in meine eigene Vergangenheit katapultieren. Dazwischen wieder Textstellen, die ich stehend bearbeiten muss, weil der schmerzende Rücken es nicht anders toleriert. Oder ein wunderbarer Text über „Burnout-Marker“, den ich mir eigentlich an die Wand pinnen sollte.

Die Konfrontation mit Krankheit und der Wunsch nach Gesundheit sind keine optionalen Themenkreise, solange wir uns in diesem menschlichen Körper befinden. Den Tod kann man nicht vermeiden, aber mit viel Geschick lebenslang verdrängen. Doch vor Schmerzen, Dysfunktionen, Einschränkungen und Verfall ist niemand gefeit. Mag unsere Ernährung noch so vollwertig sein, unser Schlaf gut, unsere Beziehungen gelungen; und wenn wir jeden Tag Bewegung machen, an unseren Traumata arbeiten und zu dem besten aller Ärzte pilgern: Es gibt kein Patent für Wohlbefinden, keine Garantie für Gesundheit.

So mühsam, ermüdend, bedrückend diese Tatsache fallweise wirkt, so tröstlich erscheint der Gedanke, mit anderen Wesen darin verbunden zu sein. Wir alle teilen das Ringen um den Umgang mit Krankheit und die Sehnsucht nach einem „gesunden“ Dasein. Mit diesem Buch geben die Autor:innen einen – teilweise sehr persönlichen – Einblick in die Wellenbewegungen ihres Lebens und die Erfahrungsschätze, die sie dabei gehoben haben.

Einen Einblick, der den Horizont ein wenig verschieben kann, den Blick weiten. Einen Einblick, der meinen Weg bereichert hat. Ein Geschenk. Darum wünsche ich auch Ihnen eine gute Reise mit diesem exzellenten Reiseführer durch die Berg- und Talwanderungen unseres Lebens.

Margarete Donner

Das Mysterium des Siechtums

Wolf-Dieter Storl

Der Körper ist eine von Naturgesetzen gesteuerte, komplizierte Bio-Maschine, der Arzt ein professioneller Dienstleister, das Krankenhaus ein Reparaturbetrieb. Dank empirisch-analytischer Forschungsmethoden, etwa der randomisierten, Placebo-kontrollierten Doppelblind-Studien, lässt sich das Korn (die physisch wirksamen Medikamente und Behandlungsmethoden) von der quacksalberischen Spreu trennen. Wir erleben einen kontinuierlichen Fortschritt in der Pharmakologie, im Impfwesen, bei den Diagnosetechniken und in der Chirurgie. Noch nie wurde so viel Geld für das Gesundheitswesen ausgegeben wie heutzutage. Jeder Mensch sollte heute dementsprechend kerngesund sein und Krankheiten aller Art ein für alle Mal überwunden.

Schön, wenn es so wäre. Stimmt aber leider nicht. Chronische Erkrankungen nehmen rapide zu, darunter an erster Stelle Herz-Kreislaufleiden, metabolische Syndrome, Diabetes, Krebs und Autoimmunerkrankungen wie Neurodermitis.

Als Völkerkundler oder Kulturanthropologe wird einem bewusst, dass das Alleingültigkeitsdogma der westlichen Medizin seine Lücken hat. Indigene Heilerinnen, echte Schamanen und die abschätzig als „Hexenmediziner“ (witch doctors) bezeichneten Medizinleute Afrikas haben oft Erfolg, wo unsere Pillen und Spritzen versagen. Es gibt eben viele verschiedenen Arten des Heilens. Unsere naturwissenschaftliche Erkenntnismethode ist möglicherweise zu begrenzt, zu reduktionistisch, um viele Vektoren und Variablen – insbesondere die nichtmateriellen, seelischen Aspekte des Krankheitsgeschehens – zu erfassen.

Das wurde mir etwa bei den Cheyenne-Indianern klar, mit deren Medizinmännern ich befreundet war. In den 70er Jahren etablierte die Regierungsbehörde, Bureau of Indian Affairs (BIA), im Reservat der Northern Cheyenne eine Gesundheitsklinik (Community Health Center) zur Behandlung von Diabetes, Kreislaufbeschwerden, Krebserkrankungen, Entzündungen, Psychosen, Alkoholismus und anderen gesundheitlichen Leiden, die alle erst auftraten, nachdem diese Prärieindianer in die Reservate gezwungen wurden und ihre traditionelle Lebensweise aufgeben mussten. Auch Familienplanung und die Impfung der Kinder standen auf dem Programm. Die Behandlungsmethoden der Klinik, die Verfahren zur Diagnostik und der Umgang mit den Patienten war den Indianern jedoch völlig fremd und stieß auf Widerstand. „Die kennen uns nicht persönlich; sie bevormunden uns; sie kennen keine Gebete, Heilrituale und Opfer; sie haben keinen Respekt vor den Ahnen“, hieß es. Viele Kranke weigerten sich, in die Klinik zu gehen, denn – so sagten sie – „da sterben die Menschen!“

Georg Elkshoulder, ein führender Medizinmann des Stammes, erklärte mir: „Sie können uns nicht heilen, denn sie lieben uns nicht. Im Grunde genommen ist es die Kraft der Liebe, die heilt.“ Auch erklärte er, die Kranken müssten sich entscheiden, welche Art Medizin sie wollen. Beide Medizinsysteme zugleich funktionierten nicht, denn sie würden einander ausschließen. Er und andere traditionelle Medizinleute leisteten harten Widerstand und erzwangen schließlich die Schließung der Klinik.

Unsere reduktionistische Sichtweise klammert leider den größten Teil der vielfältigen Faktoren aus, die zum ganzheitlichen Wesen des Menschen gehören: die kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die Beziehung zur natürlichen Umwelt und zu den metaphysischen Dimensionen des Seins – den Göttern, Geistern und Ahnen. Letztere sind real, egal wie sie in der jeweiligen Kultur symbolisiert, benannt oder dargestellt werden. Wir sind nämlich nicht nur mechanistisch funktionierende, biologische Organismen, sondern beseelte Wesen in einem beseelten Universum.

Die Heiler der Cheyenne, wie auch jene der anderen Native Americans, werden übrigens Medizinmänner oder Medizinfrauen genannt. Das übersetzte Wort „Medizin“ bedeutet in diesem Kontext nicht, wie bei uns, ein Wissen um pharmakologische Wirkstoffe, sondern den Besitz von viel spiritueller Energie. Allein die Anwesenheit einer Medizinperson genügt, um Dinge in Ordnung zu bringen, etwa, um einen unguten Geist, der einen Kranken besetzt, zu verjagen. Sie sind keine Schamanen. Das bedeutet aber nicht, dass Medizinleute nicht auch oft schamanisch arbeiten, sich auf andere Bewusstseinsebenen begeben und mit Geistwesen verhandeln. Heilpflanzenkundig sind die meisten; neben den traditionell verwendeten Hausmitteln sind sie in Besitz von Kräuterwissen, das ihnen die Pflanzengeister persönlich in Visionen zukommen ließen.

Krankheiten als Lehrmeister

Alle Krankheiten, die ich im Leben erdulden, erleiden und ertragen musste, waren schrecklich. Jedes Mal war ich heilfroh und Gott dankbar, wenn sie vorüber waren. Und dennoch würde ich auf keinen Fall auf sie verzichten wollen. Aus jeder Krankheit habe ich etwas gelernt; jede hat mich reifer gemacht, hat mich tiefer in das Mysterium des Seins schauen lassen. Wie ein unerbittlicher Zen-Meister, wie ein strenger Guru wirkte das Kranksein auf mich.

Um ein Beispiel zu nennen: Ich war mal wieder ausgebrannt, hatte Urlaub nötig. Am Meer kann ich mich immer erholen. Meine Wahl fiel auf die Strände in Oaxaca. Am Tag vor dem Flug entzündete sich ein Backenzahn. Der wurde gezogen. Auf meinen Reisen habe ich immer Kamillentee aus unserem Garten mit dabei. Kamille ist – wie die Indianer sagen würden – ein pflanzlicher Freund und Verbündeter für mich. Schon meine Großmutter konnte praktisch alles mit dem wohlriechenden Korbblütler heilen. Er ist also Teil meines „morphogenetischen Feldes des Heilens“. Der Flug nach Mexiko ging gut, ich kaute die ganze Zeit die kleinen wundheilenden, antiseptischen Blüten. Nach einer Woche Ciudad de México musste man den Bus nach Oaxaca nehmen. Auf keinen Fall wollte ich über mehrere Stunden in einem Bus mit Klimaanlage fahren. Nicht nur ist es viel zu kalt, die Fenster sind immer geschlossen, sodass man stundenlang den Atem der anderen Passagiere einatmen muss. Ich wusste, das kann man mit angeschlagener Gesundheit nicht verkraften. Die Fahrkartenverkäuferin versicherte: „Keine Sorge, aire acondicionado no hay!“ Stimmte leider nicht. Erschöpft und unterkühlt kam ich am Abend an. Ich freute mich schon auf den endlosen Sandstrand und die wunderbar für Wellenreiten geeigneten Wellen in der kleinen von Zapoteken bewohnten Ortschaft.

In der Nacht hatte ich einen luziden Traum. Da saß ein älterer Mann in dem Raum. Er hatte seinen Rücken mir zugedreht. Er sah aus wie Albert Hofmann, mit dem ich befreundet war. Ich ging auf ihn zu, berührte seinen Rücken und sagte „Albert!“. Es war aber nicht der alte Baseler Chemiker, sondern ein Ghul, ein Dämon. Aus einem verwesten Gesicht tropfte Eiter und Schleim. Noch ehe ich ihm ausweichen konnte, berührte er mich. Am nächsten Morgen entwickelte ich ein heftiges Fieber, die Glieder und die Lungen schmerzten fürchterlich. Ständig musste ich zähen gelben Schleim abhusten. Warum, verdammt noch mal, warum musste ich wieder einmal so etwas ertragen? Als ich dann doch mal mein Lager verlassen musste, um mir etwas Wasser zu besorgen, sah ich am Wegrand eine große Werbetafel, darauf stand geschrieben: „Schleimiger Auswurf! Gehen sie sofort zum Arzt, es könnte Tuberkulose sein!“

Antibiotika hätten mir wahrscheinlich sofort geholfen. Aber ich bin nicht der Typ, der leichtfertig zum Arzt geht und sich die Symptome wegzaubern lässt. Auch wenn es schwer ist, beobachte ich lieber den Krankheitsverlauf, vertraue auf die vis medicatrix naturae, das Selbstheilvermögen des Körpers, und auf die Intuition. Für mich ist Krankheit nicht etwas, das einem zufällig durch Ansteckung oder Kontamination geschieht, sondern es hat mit dem persönlichen Schicksal zu tun, es gehört zu einem, es ist ein Lehrmeister. Es gibt einem Rätsel auf, die es zu lösen gilt.

Immer wieder konnte ich erleben, was mir auch indigene Heiler gesagt hatten, dass es jenseits der empirischen Symptome so etwas wie Krankheitsgeister gibt, die sich im Traum oder in der Vision kundtun und einen Krankheitsbefall ankündigen. Es sind diese Geister, die die Schamanen sehen, wenn sie sich in Trance oder in einem erweiterten Bewusstseinszustand befinden, und mit denen sie verhandeln können. Auf diese Weise vermögen sie es, Krankheiten abzufangen, ehe sie sich auf der materiellen, physischen Ebene manifestieren. Hätte ich der Berührung „Albert Hofmanns“ ausweichen können, wäre ich wahrscheinlich nicht krank geworden. Ich war aber nicht schnell genug oder wach genug, also musste ich die Krankheit durchmachen.

Die Krankheitsgeister, wenn sie dem geistigen Auge erscheinen, sind meistens selbst leidend, verkrüppelt und gestört. Sie machen den meisten menschlichen Seelen Angst und man versucht, ihnen zu entkommen, sie zu bannen, ihnen zu entfliehen. Aber genau das macht einen anfällig. Klüger wäre es, ihnen standzuhalten und sie – wie ein guter Arzt – zu fragen: „Was fehlt euch denn?“ Die Antwort darauf wäre, es fehlt die Liebe, das Licht des göttlichen Geistes. In der westlichen Volksheilkunde sagte man, wenn man diesen zombiehaften, siechen Geistern begegnete: „Hier ist kein Platz für euch; zieht weiter nach Osten, geht ins Licht, geht nach Jerusalem!“

Manchmal können die Krankheitsgeister auch bezaubernd „schön“ und verführerisch sein. Sie können der männlichen Seele etwa als blasshäutige, junge, rothaarige und dennoch unheimliche Frau erscheinen, als Sukkubus, deren Kuss das Siechtum bewirkt. Oder der Frau als Inkubus, als betörender Liebhaber, der sie mit Krankheit schwängert.

Als ich zufällig nach ungefähr zwei Wochen Leiden und Schmerzen aus dem Fenster schaute, zog ein Baum meine Aufmerksamkeit auf sich. Es schien als winke er mir zu. Ich kannte doch diese Baumart! War es nicht ein Niem-Baum, ein Azadirachta indica, den ich einst in Indien kennengelernt hatte? In Südasien gilt seine Rinde praktisch als Allheilmittel; die Ayurvedische Medizin verwendet sie seit Jahrtausenden als wirksames antivirales und antibiotisches Mittel. Ich kostete einen Zweig. Ja, er schmeckte bitter. Ich kannte den Geschmack, denn im Ganges-Tal hatte ich mir oft die Zähne mit den zerfaserten Zweigen geputzt. Ich nahm einige Zweiglein mit, kaute daran und in kürzester Zeit war mein Leiden vorüber. Mir wurde sogar noch eine Woche geschenkt, in der ich noch Wellenreiten gehen konnte.

Wieder einmal hatte sich ein pflanzlicher Verbündeter bei mir gemeldet, um mir in meiner Not zu helfen. Naturwissenschaftlich geschulten, westlichen Lesern kommt das Gerede von pflanzlichen Verbündeten wahrscheinlich eher wie abgehobene, esoterische Fantasterei vor. Aber bei den Cheyenne und anderen naturnahen Völkern hatte ich gelernt, dass sich das Wesen der Pflanzen weder in ihrer botanischen Bestimmung noch in den in ihnen enthaltenen Wirkstoffen erschöpft. Pflanzen haben nicht nur einen lebenden Körper – sagen die Indianer –, sie haben, wie wir auch, eine (Gruppen-)Seele und einen Geist. Nur ist diese Seele nicht materiell verkörpert; sie befindet sich in einer anderen Dimension und wirkt auf ihren physischen Körper von außen ein. Deswegen muss der Pflanzenkundige die Fähigkeit haben, in diese „metaphysische“ Dimension – „in das Tipi des Pflanzenhäuptlings“ – mit seiner Seele zu reisen, um sie um Hilfe zu bitten. Auch in Indien gilt, der wahre Pflanzenkundige muss ein Yogi sein.

Erlebnisse dieser Art, wo Krankheiten eine seelische Metamorphose auslösten, hatte ich immer wieder mal. Etwa bei einer schweren Leberentzündung, die mein Leben völlig veränderte.

Obwohl ich sie anderswo ausführlich beschrieben habe,1 will ich die Geschichte hier noch einmal kurz erzählen. In den frühen 80er Jahren lebten wir in einer einfachen Hütte in einem Dorf am Ganges. Eines Tages wurden meine Augäpfel gelb wie Zitronen, mein Stuhlgang weiß wie Kreide und ich schwitzte Galle aus sämtlichen Poren, sodass sich meine weiße Baumwollkleidung kaffeebraun färbte. Ich hatte absolut keine Energie mehr, legte mich hin und driftete in die Anderswelt, in die Traumzeit. In einem Zustand, der fast sechs Wochen anhielt, hatte ich kaum mehr ein Bewusstsein der „realen“ Welt. Meine Frau kümmerte sich während dieser Zeit um mich. Ob ich überhaupt ab und zu Darm und Blase entleerte oder etwas aß oder trank, war mir nicht bewusst. Die Innenwelt war wirklicher: Ich flog über den Ganges, aber meine Flügel waren aus Blei; Totengeister setzten sich auf meinen Rücken und drückten mich hinab ins Wasser. Ich glaubte, ich würde ertrinken und schnappte nach Luft. Drei Mal wurde ich untergetaucht. Einmal, gegen Ende dieser zeitlosen Zeit, in der ich daniederlag, schwebte ein großer giftgrüner Wurm, der einem Skolopender ähnelte, wabernd durch den Raum. Ich stand auf, packte ihn, öffnete die Tür und schob ihn hinaus. Es muss mein Geistleib gewesen sein, der das tat, ich war gar nicht in der Lage, physisch aufzustehen. Aber irgendwie wusste ich, dass ich damit die Krankheit aus meinem Körper hinausbefördert hatte. Als ich das erste Mal die Hütte verließ und zum ersten Mal wieder bewusst Stuhlgang hatte, sah ich mich – oder meine Seele – aus dem Stamm der mächtigen Dattelfeige (Ficus religiosa) heraustreten und in meinen Körper hineinschlüpfen. Da war ich – obwohl es noch fast ein halbes Jahr dauerte, bis ich mich wieder erholte – wieder heil, wieder da im Dasein.

Diese Krankheit veränderte mein Leben bis auf den Grund. Rückblickend kann ich sagen, dass ich zuvor eher berechnend und ichbezogen war, eher rücksichtslos verfolgte ich meine Karriere als Ethnologe. Nun aber erkannte ich, dass es eine tiefere Wirklichkeit gibt, eine Art geistige Führung, die weiser ist als all das kluge Ränkeschmieden des um seine Sicherheit und Vorteile bemühten Egos. Dieser geistigen Führung vertraute ich mich an und mein Leben wurde zum Abenteuer. Dank der Krankheit erkannte ich – wie die Buddhisten es sagen würden – mein Dharma, meine Lebensaufgabe.

Hätte ich mich, wie es eigentlich ein vernünftiger Mensch tun sollte, der Obhut der medizinischen Fürsorge hingegeben, wäre das nicht geschehen.2 Aber wir wohnten relativ weitab von der urbanen Zivilisation; außerdem ist die Medizin gegen eine Leberentzündung weitgehend palliativ, es gibt kaum wirkliche Therapie. Somit konnte ich mich ohne Ablenkung dem Geschehnis hingeben. In Hospitälern läuft über dem Krankenhausbett oft der Fernseher, sodass die Reise in die Seelentiefen schwer möglich ist.

Würmlein klein, ohne Haut und Bein

Noch etwas lernte ich. Ich verstand nun, was mit den wurmförmigen Krankheitsdämonen gemeint ist, von denen unsere keltisch-germanisch-slawischen Vorfahren sprachen und die den Schamanen und Medizinleuten der indigenen Völker ebenfalls bekannt sind – diese „Würmlein klein, ohne Haut und Bein, ohne Corpus und Substanz“, wie sie der große Arzt Paracelsus beschrieb, diese „Würmer“, die einem über die Leber kriechen, die sogenannten Herzwürmer und Hirnwürmer, diese Nesso, wie sie im altdeutschen Wurmsegen genannt werden. Dieser Zauberspruch beschwört die Krankheitswürmer, Gang ut Nesso mit nigun Nessikilon (Gehe hinaus Wurm, mit deinen neun Würmlein).

Der Heilspruch lockt sie aus dem Mark in die Ader, aus der Ader in die Haut und dann auf einen Pfeil, den der Heiler ins Nirgendwo, ins Nimmerland abschießt. Diese Entsorgungsmethoden sind fast weltweit bekannt. Auch gibt es fast überall bei den indigenen Völkern sogenannte „saugende Schamanen“, die diese Geisterwürmer aus den Patienten heraussaugen.

Wenn Krankheitsgeister einen Krankheitsbefall im Traum ankündigen, dann erscheinen sie meistens als zombieähnliche Gestalten. Aber wenn sie sich einnisten, wie der Holzwurm unter der Rinde des Baumes, dann nimmt der Hellsichtige sie in Wurmgestalt wahr. Der Wurm, der sich da in den finsteren Leibestiefen windet, dreht, Schmerzen verursacht und den Organen ihre Lebenskraft wegsaugt, wird am besten – so die alten vorchristlichen Heiler – mit Wort und Wurz bekämpft: Das therapeutische Wort (der Zaubergesang) vermag in die dunklen Räume der Seele einzudringen; und genauso, wie eine Pflanzenwurzel in den dunklen Erdboden eindringen kann, kann sie in die dunklen Körpertiefen mit ihrer Lichtkraft eindringen.

Einweihungskrankheiten

Eine extreme Form der Persönlichkeitsmetamorphose, die durch eine akute Erkrankung bewirkt werden kann, ist die sogenannte schamanische Einweihungskrankheit. Dabei handelt es sich um besonders schwere Erkrankungen, die den Betroffenen, den potentiellen Schamanen – egal ob Mann oder Frau – befallen, ihn aus dem normalen Leben der Gesellschaft hinausschleudern und in metaphysische Dimensionen hineinkatapultieren. Dieser, meistens von den Göttern oder Ahnen berufene, Schamanenkandidat verliert das Bewusstsein, fiebert heftig, schwitzt, zittert, hat Krämpfe und erleidet Blutstürze. Meistens schwebt er zwischen Leben und Tod.

So wenigstens sieht es von außen aus. Innerlich befindet sich seine Seele in der Anderswelt, oft in einem tiefen, dunklen Wald. Dämonen jagen ihn, strecken ihn mit ihren Pfeilen nieder, zerstückeln und kochen ihn im Kessel oder braten ihn. Während sie sein Fleisch fressen, seine Knochen abnagen und achtlos wegwerfen, kann er dem grusigen Geschehen zuschauen, denn die Geister haben seinen abgetrennten Kopf auf einen Stab gespießt, wodurch er einen Überblick auf das Geschehen bekommt. Nachdem eine Zeit vergangen ist und die Dämonen sich verzogen haben, erscheint ein großer weiblicher Vogel. Sie sammelt seine Knochen auf, nimmt diese mit zu ihrem Nest in einen großen Baum – es ist der Weltenbaum –, kleidet seine bleichen Gebeine wieder in Fleisch und zieht den künftigen Schamanen wie eines ihrer Küken auf. Wenn er schließlich flügge wird, verlässt er das Nest seiner „Vogelmutter“, fliegt zurück zu seiner menschlichen Gemeinschaft und wacht auf seinem Lager in der Hütte auf. Nun ist er kein einfacher Mensch mehr, sondern er hat Flügel und kann, wenn notwendig, in die Geisterwelt fliegen, kann dort verlorene Seelen wiederfinden und zurückbringen, kann mit den Tier- und Pflanzengeistern sprechen und die Krankheitsdämonen abwehren, noch ehe sie sich auf der materiellen Ebene manifestieren. Über alle Geister, die beim Festschmaus anwesend waren und von seinem Fleisch gegessen haben, wird er Macht haben.

Über jene Dämonen, die nicht mit dabei waren, hat er keine Macht. Als Heiler nimmt er sich nur jener Kranken an, die von Geistern angefallen oder besetzt sind, die er kennt. Wenn er die Dämonen nicht kennt, sagt er den Patienten, sie sollen sich einen anderen Schamanen suchen. Es wird also nicht blind herumexperimentiert. Der Schamane weiß, wen er heilen kann und wen nicht. Diese Geschichte einer schamanischen Einweihung verdanken wir dem großen Religionsethnologen Mircea Eliade, der übrigens das tungusische (ewenkische) Wort, Schamane in unsere Sprache eingeführt hat.3

Schamanentum ist praktisch universal, wobei sich seine klassische Ausprägung vom euro-asiatischen Raum bis in die Neue Welt erstreckt. Es handelt sich dabei um die – kulturanthropologisch gesehen – älteste Art der Therapie und Heilpraxis. Sie lässt sich bis in die Eiszeit zurückverfolgen. Auch in unserem Kulturkreis spielte sie eine Rolle. Der angelsächsische Text Lacnunga (10. Jh.) beinhaltet den Zaubergesang eines schamanischen Heilers (laece), der den Angriff von Krankheitsdämonen abwehrt, dann die Geisterpfeile aus dem Körper des Patienten heraussingt und schließlich den Befallenen mit einer Salbe aus in Butter gekochten Kräutern ausheilt.

Laece, althochdeutsch Lahhi, nordisch Laeknir, ist die alte Bezeichnung für „schamanische“ Heiler dieser Art.4 Die Kräuterheilkunde spielte im germanischen Lâchentoum (angelsächsisch laecedom) eine unverzichtbare Rolle. Erst kam das Heilungs- und Seelenreinigungsritual, anschließend wurde der Kranke mit Medizinpflanzen (Salben und Tees) wieder gesund gemacht.5Lächnerinnen, Frauen, die mit Zaubersprüchen und Kräutern heilten und von staatlichen Behörden und der Ärzteschaft aufs Ärgste bekämpft wurden, gab es in der ländlichen Schweiz noch lange.

Heilerpersönlichkeiten

Schamanentum gehört nicht nur der Vergangenheit an oder den schriftlosen Völkern. Schamanische Persönlichkeiten mit der Gabe zu heilen gibt es noch heute. Auch in unserem Kulturkreis. Zu erwähnen wäre zum Beispiel Sebastian Kneipp (1821-1897). Der Sohn bettelarmer Weber aus dem Allgäu saß schon als kleiner Junge im feuchten Keller am Webstuhl. (Der Raum musste feucht sein, damit die Wollfasern nicht spröde werden konnten.) Bei einem Feuer verlor die Familie Haus und Habe.

Und als die Eltern starben, musste er sich als Knecht verdingen. Ein Kaplan erkannte die Begabung des Jungen und ermöglichte ihm den Besuch des Gymnasiums und schließlich der Universität Ulm. Durch die harten Lebensumstände war er jedoch gesundheitlich angeschlagen. Kaum hatte er sein Studium angefangen, begann er Blut zu husten. Offensichtlich Lungenschwindsucht! Zur damaligen Zeit praktisch ein Todesurteil. Er versuchte seinen Zustand zu verheimlichen. Durch Zufall entdeckte er – oder war es die „geistige Führung“? – in der Bibliothek ein Buch, Unterricht von Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen..., geschrieben von einem Johann Siegmund Hahn (1696-1773). Er folgte dem Rat, badete daraufhin, auch im eiskalten Winter, in der Donau und genas nach einigen Monaten. Trotz vieler Widerstände der kirchlichen Behörden wurde er zum berühmten Heiler. Nicht nur für seine Güsse aus der Gießkanne wurde er bekannt, sondern auch für sein Heilkräuterwissen. Keine biotopfremden Klosterkräuter waren das, sondern ganz ordinäre, einheimische Wildkräuter, Unkräuter sozusagen. Er entdeckte die Heilkraft alter, vergessener Heilpflanzen wieder, wie etwa den Ackerschachtelhalm oder den Giersch, den er „Baumtropf“ nannte. In seiner Biografie (1890) gab er zu: „Jahrelang habe ich ausschließlich mit Kräutern und weniger mit Wasser kuriert und dabei die schönsten Erfolge erzielt.“

Eine weitere „schamanische“ Persönlichkeit ist Maria Treben (1907-1991). Sie ist wohl die bekannteste Kräuterfrau unserer Zeit. Sie wurde in der Hopfenstadt Saaz im Egerland geboren, arbeitete als junge Frau in der Redaktion des Prager Tagblattes, heiratete, bekam einen Sohn – ein ganz normales Leben also. Aber nach dem Krieg, als alle deutschsprachigen Bewohner Böhmens vertrieben wurden, wurde sie, getrennt von ihrem Mann, durch verschiedene bayrische Flüchtlingslager geschleust. In einem Sammellager erkrankte die erschöpfte Frau 1947 an Bauchtyphus (Typhus abdominalis). Als eine Delegation des Roten Kreuzes das Lager inspizierte, hörte sie, wie sich der Chefarzt über ihren Zustand äußerte; dieser sei so gravierend, dass es keinen Sinn machen würde, die wenigen Medikamente, die zur Verfügung stünden, an ihr zu verschwenden.

Eine anwesende Krankenschwester fragte dennoch, ob es nicht irgendetwas gäbe, was der Typhus-Kranken helfen könnte? Ja, antwortete der Arzt, er hätte gehört, dass der Saft von Schöllkraut eventuell helfen könne; aber wo solle man das finden? Da machten sich die Krankenschwestern– Gott segne sie! – auf, sammelten das Kraut und gaben ihr den ausgepressten, gallebitter schmeckenden, gelben Saft zu trinken, und zwar in Mengen, die einen gesunden Menschen wohl umgebracht hätten. Tatsächlich fing es an, ihr besser zu gehen. Als sie später von einer alten Frau noch ein Fläschchen Schwedenbitter bekam, wurde sie wieder hergestellt.

Auch hier war eine schwere Erkrankung das Schlüsselerlebnis. Solch ein lebensbedrohlicher Zustand bringt den Menschen an die Grenzen seiner Kraft; man ist sozusagen mit seinem Latein am Ende. Die Seele kann sich nun öffnen und Inspirationen aus den Tiefen des Seins empfangen. Oft wird das als Gnade Gottes erlebt. Maria Treben glaubte, es sei die Mutter Gottes, die sie führte und zu einer begnadeten Kräuterheilerin machte. Später schrieb sie für das Pfarrblatt der Kirchengemeinde Grieskirchen (Oberösterreich) jeden Monat ein Portrait einer Heilpflanze. Eigentlich hatte sie nie im Sinn gehabt, ein Buch zu schreiben, aber ihre Beiträge im Kirchenblatt wurden zusammengeheftet und ein kleiner, relativ unbekannter Verlag (Ennsthaler) brachte das Büchlein Gesundheit aus der Apotheke Gottes heraus. Es wurde in 27 Sprachen übersetzt und über neun Millionen Mal verkauft.

Krankheit als Verzauberung

Die meisten von uns kennen die Kelten aus den Asterix-und-Obelix-Cartoons, in denen der Druide Miraculix seine Zaubergebräue mixt. Oder, wenn wir zu lange die Schulbank drückten, kennen wir die Kelten aus den Gallischen Kriegen von Julius Caesar, den wir mit einiger Mühe übersetzen mussten. Das Weltbild dieser in weiten Teilen Europas indigenen Bevölkerungsgruppe war tatsächlich ein magisches. Man erklärte Krankheiten und Siechtum weniger als das Ergebnis organischer Fehlfunktionen und schon gar nicht als Befall durch irgendwelche Mikroorganismen, sondern vor allem als eine Verzauberung. Ein negativer Zauber oder Blendwerk, ausgehend von Feinden, bösartig gesinnten Hexen und Hexern, aber auch von Feen oder Elfen, die in einer Parallelwelt leben, galten als Krankheitsursachen.

Das englische Wort Spell kommt diesem Gedanken der Täuschung am nächsten. Spell ist verwandt mit dem deutschen Wort Spiel. Ein Spielmann kann mit seiner Stimme oder seiner Fiedel seine Zuhörer, selbst den König, in seinen Bann ziehen, kann sie zum Lachen bringen oder zum Weinen. Im Gegensatz zu den Tieren, die von Trieben und Instinkten geleitet werden, leben Menschen in einem Universum der Sprache und Symbole. Sie sind offen für Suggestionen. Das fängt schon bei den Kindern an. Ihr Spiel mit den jeweiligen Rollen, die sie annehmen, ist für sie ganz real, es verzaubert sie. Sie sind völlig in ihren Imaginationen (make-believe) befangen, bis das Spiel aus ist.

Wie lange hält ein derartiger Spell an? Es kommt darauf an, wie stark die Suggestion ist, wie fest sie „gewoben“ wurde. Er kann einige Tage, einige Monate, sieben Jahre, zwölf Jahre oder noch länger andauern, oder, bis der Bann „gebrochen“ ist (till the spell is broken).

Heilung ist – im Sinne der Kelten – nur möglich durch einen Gegenzauber, der stärker ist als der Fluch oder der Schadzauber. Der Heiler muss im Besitz magischer Kräfte sein, um den Fluch zu lösen. Dazu gehört das Meistern magischer Techniken, wie das wiederholte Singen (chanting) und das im Zauberton Aufsagen von magischen Sprüchen; dazu gehört die rituelle Anwendung der Urelemente, Feuer und Wasser, auch das Räuchern; dazu gehört Pantomime und das Schauspielern. Wichtig ist vor allem auch die Anwendung von Heilpflanzen, denn diese sind – wie mir ebenfalls indianische, mongolische und nepalesische Schamanen zeigten – mächtige Geistwesen, die im Zustand des erweiterten Bewusstseins ansprechbar sind.

Dem modernen Zeitgenossen kommt all das sicherlich recht abgehoben und esoterisch vor. Es wird als unseriös abgelehnt. Aber da ist die für hartgesottene, naturwissenschaftlich geschulte Mediziner eher peinliche Angelegenheit mit den Placebos, mit Scheinmedikamenten, die bei Patienten Wirkungen erzielen, obwohl sie keine wirklichen Wirkstoffe enthalten. Zum Beispiel belegen Statistiken, dass 40 Prozent der Kopfschmerzpatienten positiv auf ein Placebo ansprechen. Die Hälfte der Patienten mit Colitis fühlen sich nach einer Placebo-Behandlung besser als zuvor. Bekannt sind ja auch die chirurgischen Scheinoperationen an arthritischen Kniegelenken, wobei die Resultate genauso befriedigend sind, wie bei tatsächlichen Eingriffen.6

Als Anthropologie-Student in Ohio faszinierte mich die im Jahr 1942 im American Journal of Public Health publizierte Studie über den psychosomatischen Tod (Voodoo Death), der bei indigenen Völkern durch Suggestion hervorgerufen werden kann. Der Autor, der Harvard Ethnomediziner Walter B. Cannon, beschreibt darin das Ritual des bone pointing, das von den Stammesältesten durchgeführt wird, um einen uneinsichtigen Übeltäter zu töten. Die Zauberer richten dabei einen mit Flüchen beladenen Emu-Knochen auf den Delinquenten. Bei dem Opfer dieses Rituals fängt das vegetative Nervensystem an, verrückt zu spielen. Das Herz schlägt wie wild, Adrenalin und andere Stresshormone werden ausgeschüttet, es kommt zu Blutdruckabfall; der Verfluchte kann weder essen noch schlafen. Tatsächlich stirbt er innerhalb von ein bis höchstens drei Wochen. Als weiteres Beispiel beschreibt Prof. Cannon den Tod einer Maori-Frau, die, nachdem sie aus Versehen eine tabuisierte Speise gegessen hatte, innerhalb von 24 Stunden verstarb. Tabu ist ein Zentralbegriff der polynesischen Kultur und bezieht sich auf bedingungslose Verhaltensverbote.

Kein Gift oder physische Gewaltanwendung führten in diesen dokumentierten Fällen zum Tod, sondern allein die Vorstellung. Daher würde man hier nicht von einer Placebo-Reaktion sprechen, sondern von einem Nocebo-Effekt.

Diese Beispiele zeugen von der Kraft der Suggestion. Das ist auch bei uns in der westlichen Welt im positiven wie auch im negativen Sinn nicht viel anders. Unsere Ärzte heilen nicht nur durch empirisch-wissenschaftlich getestete Verfahren und Medikamente. Der Arzt selbst wirkt auf den Patienten als Placebo. Seine im Medizinstudium angeeignete griechisch-lateinische Fachsprache ist die Sakralsprache eines Priesters; die Röntgenbilder und Tomographien lassen ihn wie einen Hellseher ins Körperinnere blicken; sein weißer Kittel, die Instrumente, die Spritzen7 und die Diplome an der Wand, sein Habitus und seine Gebärdensprache machen ihn zu einem der „Götter in Weiß“. Schon, dass er im Ritual der Diagnose einen komplizierten, für den Laien fast unaussprechlichen Namen für die jeweiligen Beschwerden findet, weist ihn als jemand aus, in den man Vertrauen haben kann. Indem er die Krankheit bei Namen nennen kann, scheint er sie in den Griff bekommen zu können.

Andrew Weil, ein Harvard Absolvent und Medizinprofessor an der University of Arizona, ist wohl der bekannteste Arzt in den USA. In einem Symposium in München sagte er, dass die meisten seiner Kollegen sich nicht dessen bewusst seien, dass sie für das einfache Volk eine priesterliche Rolle spielten. Ihr Wort würde todernst genommen, es habe die Qualität eines Orakels. Indem sie eine Diagnose stellten und diese dem Patienten mitteilten, könnten sie – ohne es zu beabsichtigen – ihre Patienten regelrecht verhexen („Doctors hex their patients.“). Die Mediziner stellen etwas fest und verdinglichen es: Diabetes, Krebs, Alzheimer, usw. Und die Patienten glauben fest daran. Wohlmöglich schauen die Verängstigten in einem medizinischen Nachschlagewerk, etwa dem Pschyrembel, nach. Darin sehen sie die gruseligen Bilder und prägen (bilden) sich die Symptome ein. Das wirkt wie eine starke Suggestion. Der Schreck bohrt sich dann wirklich tief in Leib und Glieder ein. Allein schon die Diagnose Krebs kann wie ein Todesurteil wirken. Der Arzt, so Andrew Weil, sollte vorsichtig sein: Eine Krankheit sei schließlich kein fixer Gegenstand, sondern ein fließender, wandelhafter Prozess, bei dem seelische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle spielten; Spontanheilungen würden häufiger geschehen als allgemein geglaubt.8

Ansteckung

Wie oben erwähnt glaubte man einst, dass Krankheiten auf Verfluchungen oder böse Dämonen zurückgehen. Heutzutage sind wir dagegen überzeugt, dass es pathogene Mikroorganismen sind, die unsere Abwehrkräfte überwinden und uns infizieren können. Man hat also endlich die – auf empirische Beobachtungen begründete – Erklärung für die Übertragungen von Infektionen gefunden und kann auf übersinnliche Erklärungen verzichten. Das stimmt zwar, aber die Anwendung des Begriffs Ansteckung kann weiter gefasst werden. Auch Bilder und Suggestion können ansteckend wirken. Studenten, die ein Medizinstudium anfangen, entwickeln oft selbst Symptome der Krankheiten, mit denen sie sich gerade in ihrem Studium befassen. Man nennt das die sogenannte „Medizinstudenten-itis“. Auch hier haben wir es mit der Kraft der Einbildung zu tun.

So etwas ähnliches konnte ich als Freshman im ersten Semester an der Ohio State University erfahren. Ein Studienkamerad entwickelte, wahrscheinlich wegen des Stresses im Studium, plötzlich eine schmerzhafte Parodontose. Das Zahnfleisch zog sich zurück und setzte bei ihm die Zahnhälse frei. In der Studentenklinik konnte er sich kostenlos behandeln lassen, und zwar als Versuchskaninchen für eine neue Therapiemethode. Diese bestand darin, dass man ihm Gewebe aus dem Gaumen schnitt und mit ausgeklügelter Mikrochirurgie über die entblößten Zahnhälse nähte. Er ließ mich in seinen Mund schauen. Was ich sah, war dermaßen schrecklich, dass es auf mich übergriff. Über Nacht zog sich auch bei mir das Zahnfleisch in meinem Mund zurück und legte die Zahnhälse frei. Erst Wochen später wurde mein Zustand wieder normal.

Diese Art von Übertragung ist ein seelischer Vorgang, der häufiger vorkommt als allgemein angenommen. Bei Kindern, deren Ich-Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist, geschehen solche Übertragungen häufiger als bei Erwachsenen. Wenn so etwas geschah, sprach man früher von „Berufung“ oder „Beschreiung“. Oft war ein neidischer, „böser Blick“ Auslöser der Verhexung. Die Großmütter oder die Kräuterfrauen, die sich in seelischen Angelegenheiten gut auskannten, setzten sogenannte Berufkräuter oder Beschreikräuter dagegen ein. Diese Kräuter wurden zu Sud gekocht, dem Badewasser zugefügt, dann das Wasser samt der Verzauberung – meistens unter dem Hofholunder – weggeschüttet. Auch Schwangere, hieß es, seien für solch destruktive Einbildungen eher zugänglich, denn ihre Seele befände sich weniger im Hier und Jetzt, da sie dem Kindlein, das auf dem Weg zur Verkörperung ist, entgegenträumten. Aus diesem Grund wird in fast allen Kulturen darauf geachtet, was die Schwangere isst oder was sie sich anschaut. Bei den Slawen heißt es etwa, sie sollte keine Erdbeeren Essen, damit das Kind kein rotes Muttermal bekomme, oder keinen Fisch essen, damit es nicht eine schuppige Haut bekomme. Das sind natürlich recht krasse Beispiele, dennoch stecken in solchen Tabus, auf einer tieferen Ebene, einige richtige Ansätze, was Ansteckung und Übertragung betrifft.

Auch für Therapeuten und insbesondere schamanisch arbeitende Heiler ist die Frage der Übertragung von Bedeutung. Schamanen und ländliche Volksmediziner gehen oft in Resonanz mit ihren kranken Patienten, um deren Leiden zu verstehen. Sie reisen sozusagen in die Körper und in die Seelen ihrer Klienten hinein. Sie müssen aber wissen, wie man sich von der Einstimmung wieder löst, damit sie nicht selbst „angesteckt“ werden. Ein mir bekannter Allgäuer Heiler gibt die Krankheit, die er aufgenommen hat, dann an den „Herrgott“ ab. Andere waschen sich die Hände oder beräuchern sich. Cheyenne Medizinleute unterbrechen die Krankenbehandlung, indem sie wiederholt den Erdboden berühren und dann die Handfläche zur Sonne hinhalten. Damit leiten sie die negativen Schwingungen ab. Zuletzt beräuchern sie sich mit dem Rauch des getrockneten Steppenbeifußes (Artemisia spp.), um sich zu reinigen. Moderne Mediziner haben meistens dank ihrer „objektiven“ Angangsweise weniger Probleme mit der Übertragung oder dem Aufnehmen von Krankheiten.

Sie haben gelernt, den Patienten und seine Symptome gegenständlich zu betrachten. Und noch etwas nebenbei: Hundefreunde haben öfters bemerkt, dass ihre vierbeinigen Gefährten sich dermaßen auf die Familienmitglieder oder auf Frauchen/Herrchen einstimmen, dass sie deren Krankheiten aufnehmen, dass sie sich dabei manchmal selbst opfern und das Leiden somit entsorgen.

Schlussworte

Krankheit, Siechtum oder Pandemien, welche die Menschen befallen können, sind und bleiben, trotz Aufklärung und naturwissenschaftlichen Untersuchungen, ein Mysterium. Wissen wir wirklich alles über ihre Ursachen und ihren Sinn? Kann man ihnen überhaupt einen Sinn zuschreiben? Oder geschehen sie zufällig? Ist es die Strafe Gottes oder die „Ursünde“, wie die Christen einst glaubten? Oder der Zorn vernachlässigter Ahnengeister, wie man es in China oder auch in den afrikanischen Kulturen annimmt?

Und was ist mit Karma? Unsere gegenwärtige westliche Philosophie mag getrost den Karma-Begriff als eine Fiktion, als eine kulturelle Konstruktion abtun. Aber für die Ostasiaten, für Hindus und Buddhisten, wie auch für viele sogenannte Naturvölker und ebenso für die vorchristlichen, indigenen Europäer war es keine Frage, dass jeder Mensch (auch jedes Tier) mit den Folgen seiner Taten aus früheren Leben konfrontiert wird.

Alles, was wir tun, sprechen, denken und wünschen, hat eine Wirkung, und diese kommt irgendwann auf uns zurück. So kann man vermuten, dass die Ursachen vieler Krankheiten in vergangenen Leben zu suchen sind. Auch die äußeren Umstände, in die ein Mensch hineingeboren wird und welche auch die empirische Ätiologie als krankmachend anerkennt – gesellschaftliche und psychische Probleme, unsauberes Wasser, Hygiene, Ernährung, elektromagnetische oder radioaktive Bestrahlung, Toxine, Erbfaktoren, usw. – , haben nach dieser Sichtweise karmische Wurzeln.

Der Karma-Begriff beruht nicht unbedingt auf Glauben, auf unbegründetem Wähnen. Er lässt sich zwar nicht mit der naturwissenschaftlichen Methode erklären, wird aber untermauert durch ausgefeilte Versenkungsmethoden (Meditationspraktiken), die viele Jahrtausende alt sind und die innere Welt in ihren Tiefen erforschen. Diese Art der Ursachenerkundung habe ich auch bei naturnahen Völkern, etwa den Cheyenne, erleben können. Es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, diese Ansätze weiter zu verfolgen. Dazu nur noch eine Aussage eines anthroposophischen Arztes, über die es sich lohnen könnte nachzudenken: „Der Arzt sollte nicht nur versuchen, den Körper zu heilen, sondern vor allem auf den Ätherleib der nächsten Wiederverkörperung günstig hinwirken.“

Heute schwebt den globalen Gesundheitsbehörden die Idee der absoluten Gesundheit vor. Diese soll möglich werden durch die atemberaubenden wissenschaftlichen Fortschritte, wie etwa die Fähigkeit, mittels einer „Gen-Schere“ (CRISPR/Cas9) die DNS-Bausteine zu zerschneiden, neu zusammenzusetzen und zu verändern. Erbgutdefekte könnten so eliminiert und Designer-Babys geschaffen werden. Auch Nano-Technologie – winzige Roboter (Nanobots), die als „Putzkolonie“ in den Blutbahnen aktiv sind, Krebszellen aufspüren und töten sowie Medikamente an Zielorte bringen – ist im Gespräch. Hinzu kommt eine anvisierte Totalüberwachung sämtlicher Körperfunktion eines jeden Bürgers mittels implantierten, mit Datenbanken verbundenen Chips. Ebenso wird die Idee einer Verschmelzung der Technologie mit dem menschlichen Organismus propagiert, wobei abgenutzte Organe durch implantierte künstliche Prothesen ersetzt werden können. Schließlich, so der Traum der Technokraten, werden wir sogar den Tod besiegen.

Für mich sind diese materialistischen, transhumanistischen „Visionen“ nicht nur schrecklich, sie verkennen die Tiefen des Seins. Sie sind aus Angst geboren. Daher das Verlangen nach absoluter Kontrolle.

Es handelt sich dabei um totalitäre Visionen, denen die wahre Natur des Menschen und des Universums fremd sind. Es sind Visionen, die schließlich zum Scheitern verurteilt sind.

Wege der Balance

Roland Urban

„Von den frühesten Generationen bis zu uns, die wir heute leben, haben unsere Vorfahren ein Wissen weitergegeben, das uns Orientierung bietet und anweist, uns regelmäßig zu versammeln, um zu singen, zu tanzen, zu beten und all unsere negativen Gefühle und Gedanken abzulegen. Uns wurde gesagt, wir sollen dieses uralte Rezept befolgen, um so unserem Volk und unserem Land Glück zu bringen und gute Medizin an die Kranken, Schwachen und Alten weiterzugeben. Es ist ein Prozess, der unser eigenes Leben wieder ins Gleichgewicht bringen wird. Wir sind aufgefordert, diesen Anweisungen Jahr für Jahr zu folgen.”

Julian Lang9

Geschichtenerzähler, Poet, Künstler, Grafikdesigner und Autor

des Karuk/Wiyot Volkes, Kalifornien, USA

Es ist erstaunlich und faszinierend, was die moderne Medizin zu leisten imstande ist. Es ist beruhigend zu wissen, dass man, wenn ein Notfall eintritt, in Intensivstationen oder mittels chirurgischer Interventionen am Leben erhalten werden kann. Und doch, die Sorge um unsere materielle Substanz – unseren Körper – ist nur eine Seite der Medaille. Das gesamte Leben betrachtend – das wissen wir letztlich alle – geht es um mehr.

Seit Jahrzehntausenden, über zahllose Kulturen auf allen Kontinenten hinweg, gilt als gesichert, dass es neben unserer physikalischen Wirklichkeit, in der wir den Großteil unseres Alltagslebens verbringen, eine geistige gibt.

Diese kann durch konventionell wissenschaftliche Instrumentarien (noch?) nicht sichtbar gemacht oder quantitativ nachgewiesen werden.10

Sie ist aber ebenso real wie die alltägliche Wirklichkeit und in bestimmten, veränderten Bewusstseinszuständen zugänglich. Ihre Existenz ist über die Zeit hinweg, transkulturell, durch direkte Erfahrung überprüft.11 In dieser „nicht-alltäglichen Wirklichkeit“12 stehen zusätzliche Erkenntnisquellen zur Verfügung: Ressourcen, die wir nutzen können, um das Überleben unserer Gemeinschaften zu unterstützen und unser eigenes Dasein gelingender zu gestalten. Dies galt für die Menschen der Steinzeit, so wie es für uns Menschen im 21. Jahrhundert gilt.

Core Schamanismus – eine moderne Übersetzung klassischer Prinzipien

In Europa – wie andernorts in der sogenannten „Westlichen Welt“ – haben wir den Zugang zu diesen Dimensionen des Seins großflächig verloren. Mit den Entwicklungen der Moderne, die uns (relativ gesehen) Sicherheit, Demokratie und Wohlstand ermöglicht haben, dem Christentum, der Wissenschaft und Technologie sowie der Säkularisierung und Globalisierung als dominante gesellschaftliche Strömungen seit der industriellen Revolution haben wir in den letzten knapp 250 Jahren einen Verlust spirituellen Wissens erlitten. Insbesondere seit Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts – wesentlich angefeuert durch zwei Weltkriege und enorme technologische Fortschritte – ist ein substanzieller Teil schamanisch relevanter Traditionslinien13 verschwunden. Vereinzelte Praktiken sind nach wie vor vorhanden, werden aber oft dekontextualisiert, als „Brauchtum“ bezeichnet und hauptsächlich zu folkloristischen und/oder touristischen Zwecken „dargeboten“. Über die genuin spirituellen Hintergründe (etwa welche Wesen mit bestimmten Praktiken in Verbindung stehen) wissen wir nur mehr wenig bis gar nichts. Was bleibt, sind bloße Abläufe, Hüllen ohne Essenz, ohne Seele.

Parallel dazu hat ein gesamtgesellschaftlicher Prozess stattgefunden, der (unter anderem) in zunehmendem Habitat- und Artenverlust, Umweltverschmutzung und -zerstörung sowie insgesamt ökologischen Transformationen epochalen Ausmaßes mündete.

In einem derartigen Klima scheint der Core-Schamanismus14 als moderne „Übersetzung“ des klassischen Schamanismus prädestiniert dazu, eine Wiederbelebung schamanischer Arbeit vor allem in „westlichen Kulturen“ zu ermöglichen. Von dem U.S.-amerikanischen Anthropologen Michael Harner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesensmäßig herausgearbeitet und auf transkulturellen Studien sowie universalen Prinzipien des Schamanismus beruhend, zielt der Core-Schamanismus darauf ab, Menschen in unmittelbaren Kontakt mit ihren eigenen spirituellen Helfer:innen zu bringen. Dies ist der wesentliche Schritt im Schamanismus. Die Grundlage dafür ist die direkte Erfahrung, weswegen (Core-)Schamanismus kein Weg des Glaubens, sondern ein Weg des Wissens ist.15

Aufgrund seiner kulturunabhängigen Konzeption ist der Core-Schamanismus gerade für jene Menschen geeignet, die Gefahr laufen, ihre schamanischen Traditionen zu verlieren oder diese bereits verloren haben. Mittels einer sicheren, kohärenten und effektiven Methodologie können Praktizierende ihre spirituellen Quellen und Ressourcen eigenständig und selbstbestimmt erschließen, ohne andere Kulturen imitieren oder gar Gurus folgen zu müssen. Damit repräsentiert der Core-Schamanismus einen Weg der Ermächtigung (Empowerment16), basierend auf den Prinzipien des Schamanismus, des Humanismus, der westlichen Kulturgeschichte und der Demokratie.17

Das Weltbild: Alles, was ist, ist lebendig

„Die Natur besteht für die Tyva nicht aus gesetzmäßigen Naturkräften, sondern aus einer Vielzahl von intelligenten Wesen, die über einen freien und starken Willen verfügen.“18

Die Grunderfahrung im Schamanismus lautet: Alles, was ist, ist lebendig. Dies trifft auf Menschen in gleichem Maße zu wie auf Tiere, Pflanzen, Steine, Orte, Landschaften oder die Erde.19

Alles, was lebendig ist, hat Seele oder Geist.20 Ausgangspunkt ist nicht zwingend die Materie, sondern der Geist – die immaterielle Essenz, die vitale Kraft, die einer Lebensform innewohnt und sie zu dem/der macht, die er oder sie ist.21

Geister sind per definitionem „metaphysische Entitäten“22, also wesenhaft und im Sinne von Gestalten wahrgenommene „Einheiten“ geistiger Substanz. Geister können, müssen aber nicht mit Materie in Verbindung stehen. Wo dies der Fall ist, bilden Körper und Geist für die Dauer des irdischen Lebens eine komplementäre Einheit. Mit dem physischen Tod vergeht der Körper, während der Geist weiter existiert. Dies bedeutet: Auch wir Menschen sind „Geister“ und führen unser Leben selbst dann fort, wenn unsere Körper bereits „das Zeitliche gesegnet haben“.

Alles, was lebendig und beseelt ist, ist miteinander verbunden – und letztlich Eins. Ähnlich wie in der Ökologie ist es nicht möglich oder sinnhaft, Wesen vereinzelt und separiert (im Sinne des Individualismus) zu betrachten. Vielmehr ist alles miteinander verbunden und interdependent. Entsprechend ist die Frage, welche Spezies „dominant“ oder „überlegen“ sei, obsolet und geradezu töricht. Wesentlich ist vielmehr, wie wir die Beziehungen zwischen den Arten bestmöglich und zum Nutzen aller gestalten können. Denn – und das müssen wir in Zeiten des Klimawandels auf bereits dramatische Art und Weise erkennen – das Ökosystem Erde funktioniert nur, wenn die Verhältnisse ausgewogen sind, wenn Reziprozität gelebt und die Balance aufrechterhalten wird.

Die Welt besteht aus alltäglicher und nicht-alltäglicher Wirklichkeit. Wir können beide wahrnehmen und nutzen.

Die alltägliche Wirklichkeit ist stark von der Materialität der Dinge dominiert. Die nicht-alltägliche ist die Sphäre des Immateriell-Geistigen. Die nicht-alltägliche Wirklichkeit liegt parallel zur alltäglichen; die beiden verhalten sich komplementär zueinander, wie zwei Seiten der gleichen Medaille. Die alltägliche Wirklichkeit ist in den uns bekannten Bewusstseinszuständen wahrnehmbar, die nicht-alltägliche in spezifischen, veränderten Bewusstseinszuständen. Alltägliche wie nicht-alltägliche Wirklichkeit sind integraler Teil der natürlichen Welt.

Transkulturell betrachtet scheint eine Dreiteilung des Kosmos zu existieren, bestehend aus sogenannter Unterer, Mittlerer und Oberer Welt.23 Obere und Untere Welt liegen jenseits der Mittleren Welt, beschreiben transzendentale und rein immaterielle Bereiche. Die Mittlere Welt zeichnet sich durch das Zusammenwirken von alltäglicher und nicht-alltäglicher Wirklichkeit aus.

Der gesamte Kosmos wird als belebt und bewohnt erfahren. Dies gilt für das physikalische Universum genauso wie für die gesamte Mittlere, Untere und Obere Welt. Geister sind omnipräsent, in Unterer und Oberer Welt als rein immaterielle Wesen, in der Mittleren Welt zu einem großen Teil in einem Körper wohnend beziehungsweise mit einem solchen assoziiert. Sie können, so die schamanische Erfahrung, intentional und zielgerichtet kontaktiert, konsultiert und um Unterstützung gebeten werden. Ihr Wissen und ihre Kraft können genutzt werden. Die partnerschaftliche Kooperation mit allem, was ist, der gesamten belebten Natur, ist der zentrale Ansatzpunkt im Schamanismus.

Mehr als Therapie

Folgerichtig geht es im Schamanismus nicht nur um Therapie. Dies wäre zu kurz gegriffen. Der Schamanismus repräsentiert vielmehr eine simple, gleichzeitig elegante und ausdifferenzierte Beschreibung des Natürlichen – ein Narrativ der Natur an sich.24 Er handelt vom Zusammenspiel aller Lebensformen. Die Aufgabe der Schamanen und Schamaninnen liegt dabei darin, was mit dem Wort therapeía (griech.) ursprünglich ausgedrückt wurde: dem Dienen.

Schamanen und Schamaninnen dienen nicht nur den „Hilfsbedürftigen“. Sie haben das Wohl des Einzelnen genauso im Fokus wie jenes des größeren Ganzen, der Gemeinschaft, der sie angehören.25 Ihre Bemühungen zielen – übrigens ganz in Einklang mit der Definition von Gesundheit der WHO26 – nicht nur auf Funktionalität oder das bloße Fehlen von Krankheit ab, sondern auf die Förderung und Unterstützung individueller, sozialer und ökologischer Balance. Schamanen und Schamaninnen sind „seekers of balance“27, der Schamanismus ist in der Essenz eine Praxis der Gesundheitsförderung.28

Schamaninnen und Schamanen wollen natürliches Gleichgewicht aufrechterhalten oder wiederherstellen. Sie wissen, dass Gleichgewicht kein statischer, sondern ein dynamischer Zustand ist, der ständigen Veränderungen unterworfen ist – so wie das Leben an sich von fortlaufenden Transformationen gekennzeichnet ist, entlang derer die schamanische Arbeit geleistet wird. Natürliche Prozesse sollen dabei nicht manipuliert oder behindert, sondern bestenfalls gefördert werden.29 Das heißt, Schamaninnen und Schamanen agieren nicht interventionistisch, sondern wie Geburtshelfer:innen: Sie unterstützen natürliche Abläufe und greifen nur dann ein, wenn es nötig ist.

Der Mensch wird dabei nicht als bio-psycho-soziale Einheit gesehen, deren Teile fragmentiert behandelt gehören, sondern als bio-psycho-sozio-spiritueller Organismus. Schamanische Arbeit setzt am spirituellen Aspekt des Lebens an. Gleichzeitig wäre eine Versorgung ausschließlich des geistigen Anteils nicht hinreichend, weswegen Schamanismus genuin interdisziplinär beziehungsweise komplementär konstituiert ist: Eine Kooperation mit Medizin, Psychologie / Psychotherapie, Sozialer Arbeit sowie allen anderen Gesundheitsdisziplinen ist aus Sicht des Schamanismus nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Die Verantwortung für Gesundheit – oder Krankheit – ist eine gemeinsame.

Das Ziel schamanischer Intervention beim Menschen ist dessen seelische Integrität und Komplettheit. Dieser Zustand – im Vollbesitz seiner seelischen Kraft zu sein – wird Gesundheit genannt. Er birgt Resilienz und relative Resistenz in sich. Ist man mit destruktiven Einflüssen konfrontiert, kann Kraft verloren gehen und Vulnerabilität entstehen; ist die Seele substanziell verletzt, kann sich Krankheit ausbreiten.

Krankheit ist ein natürlicher Teil des Lebens, ein Übergangssyndrom, einer Transformation gleichend, die Notwendigkeit progressiver Entwicklungsschritte anzeigend.30 Der finale Schritt im irdischen Leben, der physische Tod, repräsentiert die endgültige Überwindung von Krankheit und eine Art der Heimkehr in die Gemeinschaft der Ahn:innen. Das Leben ist damit nicht zu Ende, der „Aggregatzustand“ verändert sich jedoch maßgeblich, man tritt in eine andere Seinsqualität ein.

Diener und Dienerinnen der Gemeinschaft

So wie die schamanische Praxis nicht auf kurative Aspekte reduziert werden kann, ist auch das Spektrum der Aufgaben von Schamanen und Schamaninnen nicht auf die „therapeutischen“ einzuschränken.

Schamanen und Schamaninnen gehen ihren Tätigkeiten im Dienst der Gemeinschaft nicht zum Selbstzweck nach, sondern erbringen wichtige soziale, ökonomische und ökologische Leistungen: Sie finden Antworten auf drängende, teils (über-)lebenswichtige Fragen und identifizieren Lösungsansätze für existierende Herausforderungen (Aspekt der Divination); führen Heilarbeit für Individuen, Gemeinschaft und Land durch; fungieren als Begleiter:innen der Seelen Verstorbener (klassische Psychopompos-Arbeit); manifestieren mittels kultureller und künstlerischer Aktivitäten spirituelle Kraft; und gestalten Übergänge sowie transformatorische Prozesse.31

Schamanen und Schamaninnen sind spirituelle Praktiker:innen, die durch langjährige Ausbildung und lebenslanges Lernen spezifische Kenntnisse und Kompetenzen erwerben, die ihre Expertise charakterisieren und sie von anderen Gesundheitsdisziplinen unterscheidbar machen:

Sie können bewusst, kontrolliert und je nach Intention ihren Bewusstseinszustand verändern, um in die nicht-alltägliche Wirklichkeit einzutreten – eine Fähigkeit, die bis Mitte / Ende des 20. Jahrhunderts missinterpretiert, skeptisch beäugt oder als pathologisch eingestuft wurde32, heute aber als menschheitsimmanent anerkannt ist.33

Schamanen und Schamaninnen sind Expert:innen der Navigation durch die nicht-alltägliche Wirklichkeit. Sie verfügen über differenzierte Kenntnisse hinsichtlich Topographie und Beschaffenheit dieser Parallelrealität, bewegen sich sicher und zielgerichtet in dieser beziehungsweise durch diese.

Sie besitzen Wissen um die Existenz von Geistern, sind in der Lage, diese aufzusuchen und mit ihnen zu kommunizieren. Sie unterhalten Kontakte zu spezifischen Geistern, mit denen sie vertrauensvoll und zuverlässig kooperieren (sogenannte Verbündete der Schaman:innen) und von denen sie Unterstützung für ihre Klient:innen und die Gemeinschaft gewinnen können.

Schamanen und Schamaninnen entwickeln im Zuge ihrer Tätigkeit differenzierte Kenntnisse über die Natur und das Leben, die weit über das alltägliche Maß hinausgehen: Sie erhalten Einblick in das Sein vor der Geburt sowie nach dem physischen Tod, erkennen Wechselwirkungen oder Beziehungen zwischen den Lebensformen und dadurch profunde ökologische Zusammenhänge.

Auf diese Weise transzendieren Schaman:innen konventionelle Gesundheitskonzepte und agieren im Sinne einer spirituellen Ökologie.34

Schamanen und Schamaninnen sind Vermittler:innen – zwischen verschiedenen Gruppen, Professionen und Konfessionen, zwischen Menschen und anderen Lebensformen, inklusive der Geister, zwischen alltäglicher und nicht-alltäglicher Wirklichkeit: „Als Vermittler ist der Schamane ein Wiederhersteller des Gleichgewichts. Mit anderen Worten, er hält ein schamanisches Äquilibrium im Wechselspiel der Kräfte innerhalb seiner Gemeinschaft und in der Außenwelt aufrecht.“35

Spirituelle Kraft – das zentrale Agens im Schamanismus

Wie wird das Gleichgewicht, wie wird Gesundheit durch schamanische Arbeit nun konkret hergestellt beziehungsweise aufrechterhalten? Zur Beantwortung dieser Frage, muss zuerst geklärt werden, was das zentrale Agens im Schamanismus ist, nämlich spirituelle Kraft.

„Kraft ist für das Wohlergehen des Menschen bedeutsam; hat er keine, wird er krank. [...] Am besten zeigt sich Kraft in der Verbindung mit Dingen und Personen – analog der physikalischen Erfahrung, dass Kraft etwas ist, das zwischen Körpern wirkt.“36

Spirituelle Kraft kann – in Analogie zur Kraft in der Physik – als gerichtete Größe (Vektor) und Ursache von Bewegungs- oder Formveränderungen eines Körpers verstanden werden. Vor simpler Gleichsetzung sei jedoch gewarnt: Spirituelle Kraft ist etwas anderes als „Masse mal Beschleunigung“, schlicht deswegen, weil sie nicht an Materie gebunden ist. Die Analogie zur Physik hilft dennoch, um die fundamentalen Qualitäten der Geschwindigkeits- beziehungsweise Richtungsänderung, des Impulses sowie der Dynamik und des Wirkprinzips spiritueller Kraft zu verdeutlichen.37

Spirituelle meint geistige Kraft. Diese wird aus der nicht-alltäglichen Wirklichkeit bezogen, mittels bewusster, intentionaler und kontrollierter Kooperation mit geistigen Verbündeten.

Die Schamanen und Schamaninnen übermitteln diese Kraft und – dies ist das Entscheidende – setzen damit einen Impuls, der Wirksamkeit entfaltet. Das heißt, es wird über die auf die Empfänger:innen einwirkende Kraft eine Bewegungs- oder Formveränderung initiiert (analog wie wenn physikalische Kraft auf uns einwirken würde). Der weitere Verlauf kann seriös nicht prognostiziert werden. Die Integration dieser Kraft – und damit die Beantwortung der Frage, ob sich tatsächliche Gesundung beziehungsweise Gesundheit im Sinne eines nachhaltigen Geschehens einstellt – obliegt letztlich den Klient:innen.38 Anders ausgedrückt: Die Arbeit der Schamaninnen und Schamanen endet mit der Manifestation spiritueller Kraft. Folgerichtig gelten Schamanen und Schamaninnen in erster Linie als Expert:innen der Arbeit mit spiritueller Kraft.

„Without power you cannot do anything out of the ordinary. With power you can do anything.“39

Die schamanische Vorgangsweise – ein Prozessmodell40

Ausgangspunkt jeglicher core-schamanischen Arbeit ist ein Auftrag, erteilt von einzelnen Klient:innen oder der Gemeinschaft. Dieser basiert auf einem konkreten und aktuellen Anliegen und kann sämtliche Aspekte des Lebens betreffen – (lebens-)wichtige Fragen ebenso wie manifeste Krankheiten, Konfliktsituationen oder allgemeine sozio-ökologische Imbalancen.

Nach Auftragserteilung versetzt sich der/die Schamane/in in einen veränderten Bewusstseinszustand. Hierin besteht einer der maßgeblichen methodischen Schritte, die es zu beherrschen gilt. Veränderte Bewusstseinszustände kennen wir alle, sie sind Teil des gesunden und normalen Lebens. Erfahrene schamanisch Praktizierende können ihren Bewusstseinszustand jedoch im Sinne eines strukturierten Geschehens aktiv steuern: Schamanen und Schamaninnen arbeiten – entgegen weitverbreiteter Mythen – in der Regel in kontrollierbaren Zuständen.

Die Art und Weise, wie Schaman:innen den veränderten Bewusstseinszustand herbeiführen, ist kulturell determiniert und vielfältig: von Fasten, exzessiver körperlicher Bewegung oder spezifischen Atemtechniken über die Einnahme psychoaktiver Substanzen bis hin zu Gebeten und Anrufungen. Die (auch bei uns) am häufigsten eingesetzten Mittel sind diejenigen, die uns Menschen unmittelbar und seit sehr langer Zeit oder schon immer zur Verfügung stehen, nämlich Trommeln, Rasseln, Gesänge und Tänze.

Mit der Veränderung des Bewusstseinszustandes treten die Schaman:innen in die nicht-alltägliche Wirklichkeit ein. Das wichtigste erkenntnisrelevante Moment entfaltet sich an diesem Punkt, in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit, im unmittelbaren Kontakt mit den spirituellen Verbündeten: die Aufnahme jener Information beziehungsweise Kraft, die für die Beantwortung des Anliegens wesentlich scheint.

Dies erfolgt im Rahmen zweier prinzipieller Zugangsweisen, zweier zentraler „Bewegungen“: Entweder manövrieren die Schaman:innen im Rahmen einer schamanischen Reise41 intentional und zielgerichtet durch die nicht-alltägliche Wirklichkeit, kommen so mit den relevanten Geistern in Kontakt und kehren, ausgestattet mit Information und/oder Kraft, in die alltägliche Wirklichkeit zurück. Sie sind also orientiert, wissen, welche ihrer Verbündeten sie aktiv aufsuchen und konsultieren müssen und wie sie den Rückweg strukturiert bewerkstelligen können. Oder sie rufen ihre spirituellen Helfer:innen zu sich herbei, um deren Kraft in der Mittleren Welt zur Verfügung zu haben.

Beide Handlungsstrategien können sowohl für die Wiederherstellung von Gesundheit im Sinne klassischer Heilarbeit (kurativer Aspekt der schamanischen Arbeit) als auch für die Aufrechterhaltung, also die Prophylaxe (präventiver Aspekt) angewandt werden. Dies bedeutet, dass es in erster Linie nicht die Methode ist, die die Richtung des Effekts bestimmt, sondern die Intention, welche per Auftrag durch den/die Klient:in definiert wird.

Spirituelle Kraft kann erst dann Wirksamkeit entfalten, wenn diese in der alltäglichen Wirklichkeit für die Klient:innen verfügbar wird, das heißt, nachdem der eigentliche Impuls gesetzt wurde. Dies erfolgt im letzten Schritt der schamanischen Arbeit, der Manifestation von Kraft.

Wege der Balance

Die kontrollierte Veränderung des Bewusstseinszustandes, die absichtsvolle und aktiv gestaltete Kooperation mit den Geistern sowie die gezielte Arbeit mit und die Transmission von Information sowie spiritueller Kraft zählen zu den Kernkompetenzen von Schaman:innen.

Die konkreten Modalitäten, wie Schamanen und Schamaninnen mit spiritueller Kraft arbeiten und diese für die Klient:innen oder die Gemeinschaft verfügbar machen, sind mannigfaltig und auf den konkreten natürlichen wie kulturellen Gegebenheiten basierend. Zugrundeliegend können drei Ansatzpunkte oder Ebenen ausgemacht werden, die durch unterschiedliche Zielrichtungen definiert sind. Diese drei Wege der Balance repräsentieren Methodologien der Arbeit mit spiritueller Kraft, die letztlich der gleichen Absicht dienen: drängende Fragen zu beantworten und dafür zu sorgen, dass genügend Kraft für die Lebensbewältigung bereitsteht und jene unterstützt werden, die in Not sind. Sie sollen Leid mindern, Gesundheit fördern, darüber hinaus die Entwicklung von Perspektiven, Stärke, Kompetenzen und Zuversicht zulassen.42

Divination

Die Divination (von lat. divinatio: weissagen, wahrsagen, voraussagen) ist das „Ein-mal-Eins des Schamanismus“. Sie betrifft fundamentale Fähigkeiten, die jede:r Schamane/in beherrschen muss: eine sichere und effektive Kommunikation mit den Geistern und damit die Fähigkeit, Antworten auf bestehende Fragen und Lösungen zu existenten Problemen oder Herausforderungen zu identifizieren.

Es gibt eine Unzahl divinatorischer Techniken. Eine der wichtigsten – und ein distinktives Merkmal des Schamanismus per se – ist die schamanische Reise durch die nicht-alltägliche Wirklichkeit. Wesentlich erscheint: „Jede Art von Wahrsagen wurde [und wird; Anm. d. Verf.], ganz gleich welche Methode man auch anwandte, mit dem Einfluss der Geister in Verbindung gebracht.“43

Schamanische Heilarbeit

„Zu heilen – das ist eine der wesentlichsten Funktionen des Schamanen.“44

Das schamanische Modell von Gesundheit und Krankheit45