Krankheitsursache Atlaswirbel - Siegbert Tempelhof - E-Book

Krankheitsursache Atlaswirbel E-Book

Siegbert Tempelhof

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Beschreibung

Kleiner Wirbel - große Wirkung.

Der Atlaswirbel ist ein wahres Wunderwerk: Auf kleinster Fläche balanciert unser oberster Halswirbel den Kopf und gibt ihm maximale Bewegungsfreiheit – und das in einem fein abgestimmten Zusammenspiel mit Sehnen, Muskeln, Nerven und Faszien. Durch ein Schleudertrauma, aber auch durch Mikro-Traumata, die oft unbemerkt geschehen, büßt der Atlas allerdings häufig unbemerkt seine optimale Position ein. Dies führt zu vielfältigen, teils massiven Beschwerden, die die Betroffenen auf eine Odyssee von Arzt zu Arzt bis hin zum Psychotherapeuten führen können; sie reichen von Nackenschmerzen, Sehstörungen und Migräne über Bewegungseinschränkungen der Arme und Beine bis hin zu Wahrnehmungsstörungen, Herzbeschwerden, Konzentrationsschwäche oder gar Burnout.

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Seitenzahl: 347

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© 2017 Arkana, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Lektorat: Cordula Speer Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München Umschlagmotiv: Röntgenbild: zokara/istockphoto Illustrationen: Nadine Schurr Röntgenaufnahmen, Computertomografien etc.: Siegbert Tempelhof Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering ISBN 978-3-641-19085-9V002
www.arkana-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Warum dieses Buch?

Zur Erinnerung an Dr. Schaumberger und Dr. Arlen

Als alles aus dem Lot geriet

Am Tag X … .

Der Leidensweg von Peter M.

Dreh- und Angelpunkt – die Kopfgelenke

Der Atlaswirbel – der Titan unter den Wirbelkörpern

Das Kopfgelenk – das wichtigste Gelenk in unserem Körper?

Die Kopfgelenke, ein unterschätztes Sinnesorgan?

Warum schmerzt der Atlas eigentlich?

Die Atlasregion als Sinnesorgan

Die Muskeln der Kopfgelenke

Die Nerven der Kopfgelenke

Die Kopfgelenke und die Gleichgewichtsorgane

Der Kopfschmerz aus den Kopfgelenken

Auf Muskelstraßen durch den Körper

Die Muskelfunktionsketten

Die Balance der Kiefer- und Kaumuskulatur mit den Kopfgelenken

Schmerz verändert Muskeln

Schmerzphänomene

Der Körper als Schwingungssystem

Die »instabile« und »funktionell instabile« Halswirbelsäule

Durchblutungsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule

Dysfunktionen aus osteopathischer und manualmedizinischer Sicht

Beschwerden im Bereich der Kopfgelenke

Das Atlassyndrom oder cervicocephale Syndrom

Atlas und Schleudertrauma

Schleudertrauma und Gehirnerschütterung

Atlasprobleme ohne Schleudertrauma sind weitaus häufiger

Falsch bewertete oder überbewertete Faktoren

Schmerz und Psyche

Ohne Schmerzsystem kein Überleben

Gefühl und Psyche

Die Kontrolle des Schmerzes im Körper

Wenn der Nerv selbst schmerzt – der neuropathische Schmerz

Wenn der Schmerz chronisch wird

Die obere Halswirbelsäule als Ort bevorzugter Schmerzentstehung?

Psychische Beschwerden nach Schleudertrauma

Krankheitsbilder mit Bezug zu Kopfgelenksstörungen

Traumata

Weitere Ursachen für Kopfgelenksstörungen

Chronische Erkrankungen und Multisystemerkrankungen

Zusammenhänge zwischen Kopfgelenksstörungen und chronischen Erkrankungen

Chronische Krankheitsbilder mit Kopfgelenksproblemen

Untersuchung der Kopfgelenke

Die klinische Untersuchung

Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren

Die Therapie der Kopfgelenksstörungen

Die Atlas-Symmetrie oder -Asymmetrie?

Die Muskelveränderungen bei Kopfgelenksstörungen

Wie wird nun therapiert?

Das »Oberstdorfer Therapieschema« bei Störungen der Kopfgelenke

Die Atlastherapie (nach Arlen)

Und nun sind Sie dran!

Das Halswirbelsäulen-Beschleunigungstrauma in der Begutachtung

Die Begutachtung – ein frustrierendes Erlebnis für viele Patientinnen und Patienten

Das deutsche Entschädigungsrecht

Wie es mit Peter M. weiterging

Anhang

Glossar

Ausgewählte Bücher und Publikationen

Hilfreiche Adressen

Register

Vorwort

Warum dieses Buch?

Schleudertrauma, Unfälle, Kopfschmerzen, Migräne, Schwindel, Tinnitus, Nackenschmerzen, Instabilitätsgefühl, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Wahrnehmungsveränderungen, Konzentrationsminderung, Müdigkeit … Alle diese Beschwerden können im Zusammenhang mit einer Fehlstellung des Atlas, des obersten Wirbels, stehen. Diese sogenannte Atlasblockade kann die gesamte Wirbelsäulenstatik negativ beeinflussen. Der Atlaswirbel ist das Bindeglied zwischen Kopf und Körper. Er formt zusammen mit dem zweiten Halswirbel, der umgebenden Muskulatur und den Kapsel- und Bandverbindungen ein eigenständiges Organ- und Sinnessystem: die Kopfgelenke. Obwohl die hochgradige Durchsetzung der Muskeln der Kopfgelenke mit Nervenstrukturen und deren Verbindungen mit Hirnnervenkernen anderer Sinnesorgane wissenschaftlich gesichert ist, tut sich die Medizin in der Einordnung der komplexen Symptome sehr schwer. Die umfangreichen Beschwerdebilder werden oft nicht erkannt, psychischen Ursachen zugeordnet oder schlicht ignoriert. Die obere Halswirbelsäule mit Atlas und Axis reagiert sensibler als andere Regionen mit einer Schmerzüberempfindlichkeit auf Traumata, wozu auch kleinere Unfälle, Anpralltraumata und Erschütterungen gehören, auf kleine Verletzungen und degenerative Veränderungen. Bedingt durch die zahlreichen am Atlas ansetzenden Muskeln nehmen Fehlhaltungen und Muskelungleichgewichte eine große beeinflussende Rolle ein. Auch psycho-emotionale Faktoren beeinflussen die Spannung und Koordination der oberen Halswirbelsäulenmuskulatur in besonderer Weise. Die Schmerzüberempfindlichkeit kann nicht nur lokal an der Halswirbelsäule auftreten, sondern auf Grund von Veränderungen der Schmerzhemmungssysteme im Gehirn den ganzen Körper betreffen und relativ rasch in chronische Schmerzsyndrome münden. Auffällig sind häufige Zusammenhänge von sogenannten Multisystemerkrankungen (z. B. Borreliose, Mitochondriopathie, Chronisches Erschöpfungssyndrom, Chemikalien- und Strahlen-Überempfindlichkeit, Fibromyalgie) mit Störungen der Kopfgelenksregion. Die Rolle, die die funktionelle Instabilität der oberen Halswirbelsäule spielt, wird immer noch unterschätzt.

Mit diesem Buch möchten wir die Besonderheiten von Atlas und Axis (»die Kopfgelenke«) herausstellen und die möglichen Störungs- und Erkrankungsmuster erklären. Wir beschreiben die zur Verfügung stehenden Diagnosemöglichkeiten und gehen auf Therapien zur Beseitigung von Schmerzen, Muskelungleichgewichten und Instabilitäten der oberen Halswirbelsäule ein, die schon vielen unserer Patientinnen und Patienten geholfen haben und die auch Ihnen helfen können. Lassen Sie sich auf der sicherlich zuweilen schwierigen Suche nach den richtigen Ärzten und Therapeuten nicht abschrecken. Dieses Buch soll Ihnen Wege und Möglichkeiten aufzeigen und einige Adressen an die Hand geben.

Dr. med. Siegbert Tempelhof

Anmerkung: Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich nur Patienten, Ärzte, Untersucher etc. geschrieben. Damit sind stets auch Patientinnen, Ärztinnen, Untersucherinnen etc. gemeint.

Zur Erinnerung an Dr. Schaumberger und Dr. Arlen

Dr. Klaus Schaumberger

Dr. Klaus Schaumberger (geboren 1939 in Oberstdorf, gestorben 2014 ebenda) eröffnete nach seinem Medizinstudium zunächst eine Praxis für Allgemeinmedizin in München, die er im Jahr 1976 zusammen mit der Übernahme der sportärztlichen Betreuung des Bundesleistungszentrums Eiskunstlaufen nach Oberstdorf verlegte. In späteren Jahren übernahm er die sportärztliche Leitung des neu geschaffenen Olympiastützpunktes in Oberstdorf. Immer wieder wurde er nach Stürzen von Wintersportlern mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Nackenbeschwerden, Tinnitus, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen konfrontiert. In den 1980er-Jahren wurde er auf Dr. Arlen und seine Behandlung des Atlas aufmerksam und absolvierte im Centre de Cure in Munster (Elsass/Frankreich) die Ausbildung zum Atlas-Arzt. Er erkannte, dass die Symptome seiner Sportler, aber auch vieler anderer Patienten durch Störungen des Atlas verursacht wurden und Dr. Arlen eine wirkungsvolle Methode entwickelt hatte, um diese Störungen zu heilen. Nach Beendigung seiner Ausbildung widmete Dr. Schaumberger sich in seiner allgemeinmedizinischen Praxis in Oberstdorf ausschließlich der Atlastherapie nach Arlen. Aus Deutschland und den umliegenden deutschsprachigen Ländern pilgerten Patienten mit Problemen des Atlas in seine Praxis.

Dr. Albert Arlen

Der elsässische Arzt Dr. Albert Arlen (1925–1992) hat die Therapie der sanften Manipulation auf den Atlas (Atlastherapie) begründet. Es ist eine Behandlung mit manuellen, mit den Fingerkuppen ausgeführten Impulsen auf den Atlas. Zu seinen Ehren trägt diese Therapie den Namen »Atlastherapie nach Arlen«. Dr. Arlen beschäftigte sich sehr intensiv mit der Manualtherapie und wurde neben anderen bekannten Manualmedizinern erheblich von Dr. Gottfried Gutmann an der Klinik für Manuelle Therapie in Hamm (gegründet 1963) beeinflusst. Dr. Gutmann verfasste unter Mitarbeit von Dr. H. Biedermann, dem späteren Beschreiber des KiSS-Syndroms bei Babys und Kindern mit Atlasblockaden, 1981 und 1984 zwei Grundlagenbücher der Diagnostik und klinischen Symptome der Halswirbelsäule und der Kopfgelenke. Dr. Gutmann war der erste Lehrbeauftragte für Manuelle Medizin der Universität zu Münster. Dr. Arlen entwickelte neben den bisher üblichen Methoden der Kopfgelenksmanipulation eine eigene sehr erfolgreiche und ungefährliche Methode mit Impulsen auf den Atlasquerfortsatz.

Im Jahr 2007 besuchte ich erstmals Dr. Schaumberger in seiner Praxis in Oberstdorf, nachdem ich über Patienten auf seine erfolgreichen Therapien bei Störungen der Kopfgelenke aufmerksam geworden war. Ich selbst verwendete nach meinen ersten Kursen der Atlastherapie im Jahr 1994 diese Therapie intensiv ab dem Jahr 1999 nach eigener Niederlassung in meinen orthopädischen Praxen in Königsbrunn bei Augsburg und München. Dr. Schaumberger hatte, wie ich fasziniert feststellen durfte, die Atlastherapie auf der Basis seines Lehrers Dr. Arlen nach dessen Ableben nochmals im Rahmen seiner über 15-jährigen Erfahrung und Behandlung von Tausenden von Patienten verfeinert. Im Jahr 2008, nach vielen Hospitationen, Demonstrationen und Gesprächen, war ich vollends überzeugt, die Praxis von Dr. Schaumberger, der mittlerweile mein Mentor geworden war, zu übernehmen. Auf der Grundlage meines orthopädischen Facharztes, meiner manualmedizinischen und chirotherapeutischen Ausbildung und des Studiums der osteopathischen Medizin in New York/USA wollte ich die Atlastherapie als Schwerpunkt bei Erwachsenen und Kindern im Sinne von Dr. Schaumberger weiterführen. Nunmehr sind neun Jahre vergangen. Ich habe zusammen mit meinem wenige Jahre später in die Praxis aufgenommenen Partner Dr. Marcus Gnad selbst Tausende von Patienten behandelt und möchte im Licht vieler neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse das Lebenswerk von meinem Lehrer Dr. Schaumberger und dessen Lehrer Dr. Arlen mit diesem Buch würdigen.

Dr. med. Siegbert Tempelhof

Oberstdorf und München, im März 2017

Als alles aus dem Lot geriet

Stellen Sie sich einen ganz normalen Tag in Ihrem Leben vor. Sie haben gut geschlafen und fühlen sich am Morgen frisch und ausgeruht. Sie räkeln sich noch etwas in den Federn und strecken und dehnen Ihren Körper vom Kopf bis in die Finger- und Zehenspitzen. Entspannt stehen Sie auf, ziehen Ihre Sportklamotten an und gehen zum Joggen. Während Sie leichtfüßig Ihre Runden drehen, denken Sie an die Aufgaben des Tages und erinnern sich an Termine oder Verabredungen. Beim Frühstücken unterhalten Sie sich mit Ihrer Familie und werfen ab und zu einen Blick in die Zeitung. Die danach folgende Arbeit geht Ihnen wie immer flott von der Hand. Selbst wenn Sie mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen, haben Sie keine Konzentrationsprobleme. Ein ganz normaler Tag also.

Am Tag X …

Auch die Tage von Peter M. verliefen in der Regel so problemlos. Bis zu jenem Tag, als ihm an der Ampel wartend ein anderes Auto von hinten auffuhr. Keine große Sache, nur ein Blechschaden. Peter M. tauschte mit dem Unfallverursacher die Daten aus, dann fuhr ein jeder seines Weges. Nach wenigen Stunden setzten bei Peter M. Beschwerden ein. Die Schultern und der Nacken schmerzten, die Muskeln dort fühlten sich steif an, seine Halswirbelsäule war nicht mehr so beweglich wie sonst. Peter M. beschrieb seinen Zustand wie einen Muskelkater nach einer ungewohnten Anstrengung, zusätzlich fühlte er sich müde und zerschlagen. In den nächsten Tagen kamen als weitere Symptome ein zeitweises Kribbeln der Hände, das mitunter regelrecht als Taubheit zu spüren war, sowie Schmerzen in der Brustwirbelsäule, vom Nacken aufsteigende Kopfschmerzen und ein unangenehmes Schweregefühl des Kopfes hinzu. Die darauf folgenden Tage verliefen wechselhaft, gute und schlechte Perioden wechselten miteinander ab. Zeitweise war ihm schwindlig, und er hatte das Gefühl, das Gleichgewicht nicht immer kontrollieren zu können. Flüchtige schwarze Punkte konnten vor seinen Augen auftauchen, die Welt erschien ihm manchmal wie hinter einem Schleier, farblos und verschwommen. Seine Stimme konnte sich von einem zum nächsten Moment verändern. Sie fühlte sich dann wie belegt und kratzig an, ein Kloßgefühl im Hals entstand. Beim Essen kamen mitunter Schluckbeschwerden hinzu, als ob der Hals zu eng geworden sei, die Kiefergelenke knackten und konnten sich beim Kauen unrund anfühlen. Störend war auch ein zuweilen auftretendes Rauschen im Ohr.

Er bekam das Gefühl, wie neben sich zu stehen, sein Körper gehorchte nicht mehr und fühlte sich seltsam entrückt an. Er war leicht reizbar, konnte nicht mehr mehrere Dinge gleichzeitig machen, Gesprächen mit mehreren Gesprächspartnern, auch in der Familie, konnte er kaum noch folgen. Hintergrundgeräusche in Kneipen störten ihn maximal, grelle Lichtreklamen am Abend in der Stadt taten ihm regelrecht weh. Das morgendliche Joggen hatte Peter M. aufgegeben, die Erschütterungen beim Laufen verursachten ihm zu viele Probleme. Sein ganzes Leben war mühevoll geworden, die Leichtigkeit war verflogen.

Der Leidensweg von Peter M.

Peter M. wartete zunächst mal ab, dachte, die Beschwerden würden schon wieder vergehen. Nach zwei Wochen suchte er seinen Hausarzt auf. Er benötigte eine Krankschreibung, da ihm das Arbeiten zunehmend schwerfiel. Peter M. wurde einige Tage krankgeschrieben, es ging auf und ab, die Beschwerden und Symptome wurden allerdings mehr, weshalb er in der darauffolgenden Woche den Hausarzt erneut um eine Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit ersuchte. Auch bekam er Physiotherapie (= Krankengymnastik) verschrieben. Peter M. ging wieder arbeiten. Unter der Physiotherapie besserte sich das Beschwerdebild, viele der beeinträchtigenden Symptome blieben aber. Der Hausarzt stellte aus diesem Grund eine Überweisung zum Orthopäden aus, anschließend zum Neurologen. Es erfolgte eine Röntgenaufnahme, eine Kernspinuntersuchung der Halswirbelsäule, später noch des Schädels. Bei allen Untersuchungen konnte kein Schaden festgestellt werden, alles war okay – o. B., also ohne Befund, wie der Mediziner sagt. Zumindest war Herr M. beruhigt, dass keine Gewebeschäden und auch keine Ausfallserscheinungen der Nerven bei den Untersuchungen gefunden wurden. Er organisierte seinen Alltag so gut wie möglich und hoffte auf eine allmähliche Besserung. Nach sechs Wochen war eine gewisse Stabilisierung eingetreten, allerdings auf einem niedrigen Niveau mit weiterhin deutlichen Beschwerden. Peter M. konnte mit Einschränkungen mühsam seinen Alltag bewältigen. Nach drei Monaten ging es ihm wieder ein klein wenig besser, gute und schlechte Phasen wechselten häufiger miteinander ab. Peter M. klagte weiterhin über seinen Beschwerdekomplex mit deutlicher Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit. Hausarzt und Fachärzte, die er wiederholt ohne neue Untersuchungsergebnisse konsultiert hatte, nahmen eine psychische Überlagerung an, möglicherweise ein Burn-out, woraufhin Peter M. eine ambulante Psychotherapie begann. Hier lernte er, besser mit seinen Beschwerden umzugehen, die Therapie schaffte eine gewisse Erleichterung, die Beschwerden allerdings blieben mit phasenhaften Verläufen und insgesamt zu verzeichnender Besserung noch immer auf einem sehr unangenehmen Niveau. Alle beruflichen Ambitionen hatte Peter M. zur Seite gelegt, es ging nur um die Alltagsbewältigung. Neben den klassisch schulmedizinischen Behandlungen bei Orthopäden, Manualmedizinern, Neurochirurgen, Schmerztherapeuten oder Psychologen hatte sich Peter M. mehrfach Physiotherapeuten, Osteopathen, Akupunkteuren, Homöopathen anvertraut. Alle Therapien konnten keine nachhaltige Verbesserung erzielen.

Nach einem Jahr geht Peter M. in eine stationäre Rehabilitation, orthopädisch mit psychosomatischer Komponente. Die Reha tut ihm gut, im Wesentlichen jedoch bleiben die Beschwerden weiterhin bestehen.

Peter M. ist zunehmend verzweifelt. Niemand kann ihm nachhaltig helfen, er hat das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden. Spezialisten in Praxen und auch in der Universitätsklinik erklären, dass die Halswirbelsäule diese Beschwerden nicht auslösen kann. Er müsse etwas anderes haben. Mit dem Unfall habe dies alles nichts mehr zu tun.

Peter M. zweifelt an sich selbst, an der Medizin, an den Ärzten, er weiß nicht, was er noch machen soll.

Dreh- und Angelpunkt – die Kopfgelenke

Unsere Wirbelsäule setzt sich aus vielen einzelnen Wirbelkörpern zusammen. Vermutlich kennen Sie noch die Namen der drei Abschnitte der Wirbelsäule: Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule. Nahezu alle Wirbelkörper tragen eine Nummer. So gibt es zum Beispiel den 3. Halswirbel, den 10. Brustwirbel oder den 5. Lendenwirbel.

Zwei Wirbelkörper machen eine Ausnahme, sie haben einen eigenen Namen. Dabei handelt es sich um den ersten und zweiten Wirbelkörper der Wirbelsäule, ganz oben am Hals, direkt unterhalb des Schädels: Atlas und Axis.

Der Atlaswirbel – der Titan unter den Wirbelkörpern

Bleiben wir vorerst beim Atlas, dem vielleicht wichtigsten Knochen unseres Körpers. Aus welchem Grund wird er Atlas genannt? Den Titanen Atlas kennen Sie aus den griechischen Heldensagen. Titanen sind mächtige Götter in Menschengestalt, die allerdings, wie unter den griechischen Göttern üblich, mit den Göttern des Olymp in einen Streit gerieten. Atlas wurde dazu verdammt, das Himmelsgewölbe zu tragen und für den nötigen Abstand zwischen Himmel und Erde zu sorgen. Später in der Geschichte wurde Atlas ganz allgemein zum Symbol des Tragenden. Und so ist es auch die Aufgabe des Wirbelkörpers mit dem Namen Atlas, für den notwendigen Abstand zwischen Schädel und Halswirbelsäule zu sorgen und den Schädel zu tragen. Und diese Aufgabe ist dermaßen schwer, komplex und wichtig, dass sie wahrlich von einem Titanen wie Atlas bewerkstelligt werden muss. Denn der Schädel ist nicht gerade ein Leichtgewicht, fünf bis sechs Kilo kommen schnell zusammen – grob gerechnet entfällt 1∕13 des Körpergewichts auf den Schädel.

»Tragen« beschreibt die Aufgabe des Atlas allerdings nur ungenügend, eher muss man es balancieren nennen, denn der Atlas verfügt nur über 1,5 bis 2 cm2 Fläche – so viel wie etwa zwei Daumenkuppen –, um den Schädel hoch oben auf dem Körper thronen zu lassen. Der Schädel liegt also wie auf einer flachen Schale auf dem Atlas und hat lediglich eine sehr kleine Kontaktfläche.

Auch Titanen brauchen Helfer

Je kleiner die Kontaktflächen zwischen den Knochen sind, desto größer wird die Beweglichkeit. Unser Kopf verfügt über eine außerordentlich große Bewegungsfreiheit, nur wenige Lebewesen wie die Eulen können ihren Kopf noch weiter wenden. Der schnelle Informationsgewinn, den diese Beweglichkeit ermöglicht, hat dem Menschen einen klaren Überlebensvorteil verschafft. Einen Nachteil hat dieses Konstrukt allerdings: Je kleiner die Kontaktflächen, desto labiler und verletzungsanfälliger wird das Ganze. Ohne eine spezielle Sicherung würde der Schädel auf Grund der Größe und des Gewichts glatt herunterfallen.

Unser Kopf ist mit dem Körper über ein kompliziertes Muskel-Band-Kapsel-System gesichert. Und hier kommt auch der Axis ins Spiel, der zweite Wirbelkörper der Wirbelsäule. Sein Name bedeutet »Achse«, und genau das ist seine natürlich nicht unwichtige Funktion, nämlich eine Achse zu bilden. Der Axiswirbel besitzt an der zur Körpermitte weisenden Seite einen zapfenförmigen Fortsatz, den sogenannten Dens (= Zahn), der in den ringförmigen Atlas hineinragt. Um diesen Fortsatz sind Drehbewegungen im Atlas-Axis-Gelenk möglich.

Atlas, Axis und die Gelenkflächen des Schädels bilden das Kopfgelenk. Dieses besteht eigentlich sogar aus zwei Gelenken, dem oberen Kopfgelenk zwischen Schädel und Atlas und dem unteren Kopfgelenk zwischen Atlas und Axis.

Die Kopfgelenke bilden den oberen Teil der Halswirbelsäule mit Atlas und Axis, der 3. Halswirbel stellt den Übergangswirbel zur unteren Halswirbelsäule dar. Auf den Gelenkflächen des Atlas ruht der Schädel.

Das Kopfgelenk – das wichtigste Gelenk in unserem Körper?

Natürlich sind alle Gelenke wichtig. Bereits eine kleine Verletzung an einem Fingergelenk schränkt unsere Handlungsfähigkeit stark ein. Dabei wird man sich schnell der Bedeutung eines funktionierenden schmerzfreien Körpers bewusst. Wichtig ist also immer relativ. Bei vielen Gelenkverletzungen und Verschleißerscheinungen kann man sich mehr oder minder gut mit den Einschränkungen arrangieren, Verletzungen der Kopfgelenke können einem das Leben aber zur Hölle machen. Warum das so ist, möchten wir im Folgenden ausführen.

Die kleine und flache knöcherne Auflagefläche des Atlas, auf der der Schädel thront, hat den bereits erwähnten Vorteil der vergrößerten Beweglichkeit, daneben gibt es aber einen weiteren Grund, warum das Gelenk so ungeheuer wichtig ist: Die Einstellung des Kopfes auf unserer Halswirbelsäule kann in ganz kleinen Schritten hochpräzise vorgenommen werden, und unser Gehirn bekommt sehr detaillierte Informationen über die genaue Stellung des Kopfes, weil die knöcherne Führung sehr gering ist.

Und jetzt kommen wir zum eigentlich Spannenden an den Kopfgelenken, nämlich zu den Weichteilverbindungen, den Muskeln, Bändern und Gelenkkapseln. Denn ohne sie säße der Schädel ohne Sicherung nur instabil auf der Halswirbelsäule auf. Erst die Weichteilverbindungen erlauben die große muskuläre Kontrolle und Feineinstellung. Das liegt daran, dass eine große knöcherne Führung relativ wenige Informationen in Form von Nervenreizen über die Bewegung vermittelt, da der Knochen selbst keine Nervensinneszellen aufweist. Unsere Weichteile verfügen jedoch über sehr viele Nervenzellen, selbst das Bindegewebe, wie die jüngste Faszienforschung gezeigt hat, verfügt über Wahrnehmungszellen.

Die Bewegungskontrolle der Kopfgelenke wird von über 20 Muskeln wahrgenommen, kein anderes Gelenk im Körper wird so präzise gesteuert. Bis auf wenige Winkelminuten genau kann der Kopf mit Hilfe der Kopfgelenke eingestellt werden. Um eine Winkelminute zu verdeutlichen: Ein Kreis besteht aus 360 Winkelgraden, ein Grad baut sich aus 60 Winkelminuten auf. So beeindruckend genau ist die Einstellung mit Hilfe der Muskeln. Um diese unglaubliche Leistung vollbringen zu können, benötigen wir auf der einen Seite viele fein reagierende Muskeln, auf der anderen Seite Muskeln, die mit vielen Wahrnehmungszellen die Feineinstellung auch messen können. Und das ist bei den kurzen Nackenmuskeln, die sich zwischen Hinterhaupt und Atlas befinden, tatsächlich gegeben: Es gibt wie erwähnt allein an dieser Stelle mehr als 20 Muskeln. Zum Vergleich: Das Knie, unser größtes Gelenk im Körper, wird von 18 Muskeln inklusive kleinerer Muskeln stabilisiert. Zudem haben die Muskeln der Kopfgelenke sehr viele Wahrnehmungsrezeptoren. Man hat dies recht genau untersucht: Pro Gramm Muskelmasse wurden 300 bis 500 Rezeptoren gefunden. Im Vergleich dazu hat ein normaler Muskel, etwa der Bizeps im Oberarm, weniger als 20 Rezeptoren pro Gramm Muskelmasse. Auf die genaue Funktion dieser Rezeptoren kommen wir noch zu sprechen.

Ähnlich fein reguliert sind nur noch wenige andere für den Menschen sehr wichtige Areale: Augen, Daumen und Füße – Bereiche also, die eine sehr feine Einstellung der Muskeln verlangen oder die wie im Fall der Füße für die Gleichgewichtseinstellung möglichst genaue und zahlreiche Informationen benötigen.

Zusammenfassend können wir Folgendes feststellen: Die Kopf-Hals-Übergangsregion, die sogenannten Kopfgelenke mit dem Atlas in der Mitte, verfügt über eine große Beweglichkeit und kann von unserem Körper in seiner Stellung äußerst fein justiert werden. Je komplizierter aber die Einstellung ist, desto größer können auch mögliche Störungen ausfallen.

Etwas Atlas-Latein

Für die gleiche Region findet man oft verwirrend viele Begriffe: Atlas – Kopfgelenke – obere Halswirbelsäule – Kopf-Hals-Übergangsregion. Der Begriff Atlas wird mit Sicherheit am häufigsten verwendet, er ist bei betroffenen Patienten sehr verbreitet. Wie Sie bereits erfahren haben, bilden Atlas und Axis, die beiden obersten Halswirbelkörper, mit dem Schädel die Kopfgelenke. Der Begriff der Kopfgelenke ist eher bei Medizinern verbreitet, da er richtiger das nicht zu trennende Bewegungsverhalten von Schädel, Atlas und Axis beschreibt. Die obere Halswirbelsäule und die Kopf-Hals-Übergangsregion sind weitere Begrifflichkeiten, zum einen, um besonders die obere von der sehr unterschiedlich gestalteten unteren Halswirbelsäule abzugrenzen, zum anderen, um bei der Kopf-Hals-Übergangsregion auch die Weichteilgewebe und besonders dort angesiedelte Teile des Nervensystems und des Gehirns miteinzubeziehen. Nicht allein der Wirbelkörper des Atlas ist entscheidend, sondern seine Position, seine Beziehung zu anderen Knochen, seine Verbindungen zu Muskeln und Nerven, wie er in das Regulationssystem des zentralen und peripheren Nervensystems eingebunden ist. Der Begriff Atlas steht für ein kompliziertes Regelsystem, die Region des Atlas wirkt wie ein Sinnesorgan des Körpers.

Wir werden in diesem Buch häufig den vereinfachenden Begriff »Atlas« verwenden, den man auch gut als Wirbelkörper vor Augen haben kann. Richtiger wäre es, von den Kopfgelenken bzw. von der Kopf-Hals-Übergangsregion (lateinisch: craniocervicale Übergangsregion) zu sprechen.

Die Kopfgelenke (Atlas und Axis) von oben. Wichtige Bänder (Lig. alaria und Lig. transversum atlantis) sichern die beiden sehr beweglichen Halswirbelkörper.

Die Bedeutung der Kopfgelenke für den aufrechten Gang

Schauen wir uns einmal die Entwicklung des Menschen vom Vierfüßler zum aufrecht gehenden Lebewesen an. Es wird deutlich werden, warum der Atlas diesen hohen Stellenwert hat. Bei den Vierfüßlern, etwa einem Wolf, hat der Kopf eine mehr längliche Form und ist in der Beweglichkeit im Vergleich zum Menschen deutlich eingeschränkt. Man kann ihn eher als Verlängerung der Wirbelsäule, des Rumpfes ansehen. Er dient der Unterstützung der Gliedmaßen beim Fangen der Beute, beim Halten und Fressen. Dagegen hat beim Menschen ein bedeutender Umbau stattgefunden. Durch die Aufrichtung der Körperachse bekommt der Kopf den Stellenwert eines eigenständigen Körperteils mit sehr freier Beweglichkeit. Er thront mittig, geradezu schwebend auf der Wirbelsäule und seinem obersten Wirbelkörper, dem Atlas. Dadurch konnte sich aus der länglichen Kopfform eine Kugelform entwickeln, wodurch der Inhalt, sprich das Gehirn, wesentlich mehr Raum zur Ausdehnung bekam. Der Kopf wurde zum hochspezialisierten Träger der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Die enorme Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns ist nicht zuletzt der Aufrichtung der Wirbelsäule und der Umformung des Schädels zu verdanken.

Neue Muskeln erfordert der aufrechte Gang

An unserem Skelett kann man sehr deutlich verschiedene Bereiche erkennen: den Rumpf mit der Wirbelsäule, das Becken, den Kopf und die Extremitäten. Der Rumpf ist von unserer Entwicklungsgeschichte her der älteste Teil. Sein Aufbau ist noch sehr ursprünglich, er besteht aus kreisförmigen Segmenten, zu denen jeweils ein Wirbelkörper gehört, der über ein eigenes Muskelsegment und ein Nervensegment verfügt. Gut zu erkennen ist die Segmentierung bei uns noch an den fast ringförmig angeordneten Rippen. Jede Rippe ist im Bereich der Brustwirbelsäule mit einem Wirbelkörper verbunden. Diese segmentierte Körperordnung haben wir noch mit den niederen Tieren wie zum Beispiel mit Würmern gemeinsam. So kann man bei einem Regenwurm deutlich die unterschiedlichen kreisförmigen Segmente als Ringe in der Haut sehen. Jedes Segment hat ein Stützgewebe, einen Muskel, einen Nerv und ein Gefäß. Das Grundschema dieser Ordnung ist, natürlich schon etwas komplizierter, bis heute auch bei uns im Bereich des Rumpfes zu finden.

Dagegen sind der Kopf, das Becken und die Extremitäten durch die Aufrichtung umorganisiert worden und dadurch entwicklungsgeschichtlich betrachtet neueren Datums – also typisch menschlich. Knochen, Muskeln und Nerven mussten einen komplizierten Umbau durchlaufen, um gegen die Schwerkraft den aufgerichteten Körper stabil und im Gleichgewicht halten zu können. Da hierbei die Statik eine große Rolle spielt, ist die Bewegungsfähigkeit der Wirbelsäule nach unten immer stärker eingeschränkt. Becken und untere Extremitäten sind besonders auf Stabilität und Erhalt der Aufrichtung ausgerichtet. Nach oben hin wird die Wirbelsäule immer beweglicher, der beweglichste Teil sind die Kopfgelenke mit Atlas und Axis, gefolgt vom Schädel, der ebenfalls einen sehr großen Bewegungsumfang aufweist.

Das Skelettsystem schafft also die Grundlage für unsere Beweglichkeit, ausgeführt werden die Bewegungen aber durch Muskeln. So ist es nicht verwunderlich, dass sich mit der Aufrichtung neue komplexe Muskelzüge ausgebildet haben. Die ältesten, nur über wenige Wirbelkörpersegmente verlaufenden Muskeln liegen weiter innen im Körper. Die langen Muskelstränge, die sich in der Menschheitsgeschichte später entwickelten, verlaufen über viele Segmente oder gar über die gesamte Wirbelsäule und sichern uns gegen die Schwerkraft. Sie sind unter der Haut zu finden. Die meisten und am stärksten differenzierten Muskeln haben sich am beweglichsten Teil des Körpers entwickelt: an der oberen Halswirbelsäule im Bereich der Kopfgelenke.

Die Muskeln der Wirbelsäule

Beim muskulären Aufbau an der Wirbelsäule müssen wir grundsätzlich zwei Schichten von Muskeln unterscheiden: eine tiefe und eine oberflächliche Schicht. Die tiefe Muskulatur besteht aus eher kurzen Muskeln, die zwischen zwei oder drei Wirbelkörpersegmenten aufgespannt sind. Sie sorgen dafür, dass sich die Segmente gegenseitig stabilisieren. Die oberflächlichen Muskeln verlaufen an der Oberfläche und überspannen mehrere bis viele Wirbelkörpersegmente. Sie können über eine lange Strecke verlaufen und sind in der Lage, kleine und große Bewegungen der Halswirbelsäule auszulösen.

Aus den unterschiedlichen Funktionen der Rückenmuskeln ergibt sich ein ganz klares, dem aufrechten Gang geschuldetes Konstruktionsprinzip. Im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Beckens sind die Muskeln kräftig und stark, die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule ist, um die Stabilität zu erhöhen, deutlich eingeschränkt: Es sind praktisch nur Beugebewegungen nach vorn und hinten möglich, ganz wenig kann man sich zur Seite neigen und rechts und links rotieren. In der Brustwirbelsäule sind hingegen vor allem Drehbewegungen (Rotationsbewegungen) möglich, Beugungen nach vorn und hinten sowie zur Seite nur in geringem Maße. Den größten Bewegungsspielraum hat die Halswirbelsäule. Wir können sie nach vorn beugen, nach hinten neigen, drehen und zur Seite neigen. Allerdings gilt das nicht für die gesamte Halswirbelsäule. Die Beweglichkeit der unteren Halswirbelsäule entspricht eher der der Brustwirbelsäule. Die obere Halswirbelsäule, also die Kopfgelenke, hat mit Abstand die größte Beweglichkeit, die am feinsten differenzierten Muskeln und die größte Anzahl an Muskeln.

Die Kopfgelenke stellen sozusagen die Krönung der gesamten Wirbelsäule dar. Sie sind in der Lage, jegliche Bewegung, Schwerkrafteinwirkung, Schwankung des Körpers sowie alle Bewegungen der Beine und Arme exakt auszugleichen, so dass der Kopf auf dem Atlas immer gerade steht, geradezu haarfein ausgerichtet ist und unsere Augenachse genau parallel steht.

Fassen wir auf Grund der enormen Bedeutung nochmals die wichtigsten Punkte zusammen: Beim Menschen ist also die Wirbelsäule im Gegensatz zu den Vierfüßlern nach unten zum Becken hin ganz auf Stabilität ausgerichtet. Die Bewegungsmöglichkeiten sind zu Gunsten des Stabilitätsgewinns eingeschränkt. Nach oben zum Kopf hin nimmt die Beweglichkeit zu, die Halswirbelsäule und insbesondere der Kopf-Hals-Übergangsbereich mit Axis-Atlas-Schädel weisen einen enorm großen Bewegungsumfang auf, der einem Kugelgelenk mit allen Freiheitsgraden entspricht. Die Stabilität der oberen Halswirbelsäule ist allerdings durch diese hohe Beweglichkeit deutlich herabgesetzt. Eine sehr große Anzahl von Muskeln ist an der Bewegungsführung der Kopfgelenke beteiligt, teilweise führen mehrere Muskeln ganz ähnliche Bewegungen aus, wodurch eine sehr feine Einstellung in wenigen Winkelminuten möglich ist.

Kopfgelenke und Emotionen

Diese große Beweglichkeit geht bei uns Menschen mit einer hohen emotionalen Ausdrucksfähigkeit einher, das feine Bewegungsspiel des Kopfes, der Halswirbelsäule und der oberen Extremitäten drückt immer und ausnahmslos auch unser psychisches Erleben mit aus. Die unteren Wirbelsäulenabschnitte, das Becken und die unteren Extremitäten sind deutlich weniger mit dem emotionalen Erleben gekoppelt, da ihnen die vielseitige Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeit fehlt.

Der Anatom Prof. Rohen spricht hier von einer zum Kopf hin zunehmenden »Individualisierung« der Muskeln, da die feine Bewegungsfähigkeit der Kopf-Hals-Übergangsregion in besonderem Maße auch unserem seelischen und emotionalen Ausdruck entspricht und diese Ausdrucksfähigkeit bei jedem Menschen individuell unterschiedlich ist.

Man denke nur an das Nicken und Schütteln des Kopfes beim Ja- oder Nein-Sagen, Kopfbewegungen werden bei jeglicher Kommunikation ausgeführt, jede Gefühlsregung geht mit bestimmten Muskelveränderungen im Bereich der Kopfgelenke einher. Jede Emotion, ob positiv oder negativ, findet ihre Entsprechung in einer ganz bestimmten Kopfstellung, die das Mienenspiel des Kopfes begleitet. So wippt beim Hören von Musik der Kopf über Bewegungen der Kopfgelenke begeistert mit, wohl nur wenige lassen die Lendenwirbelsäule mitwippen. Jeder kennt auch den Spruch, dass einem die Angst im Nacken sitzt. Viele Menschen empfinden ein Problem im Bereich der oberen Halswirbelsäule als existenziell bedrohend. Aus dem Beschriebenen können Sie jetzt vielleicht den Grund hierfür nachvollziehen. Die Kopfgelenke und ihre Muskeln spielen also in der Emotionalität eine große Rolle.

Ohne Kopfgelenke keine Entwicklung der Hände

Sie werden sich vielleicht die Frage stellen: Und was ist mit unseren sehr beweglichen, »sprechenden« Händen? Ganz richtig, auch die Hände verfügen über einen sehr großen und zugleich feinen Bewegungsspielraum, die Muskeln sind hochdifferenziert und tragen sehr stark zu unserer Emotionalität und persönlichen Ausdrucksfähigkeit bei. Wie kam es dazu?

Bei den Vierfüßlern sind die Hinter- und die Vorderbeine für die Fortbewegung zuständig, die Vorderbeine zum Teil auch für den Nahrungserwerb und die Nahrungsaufnahme. Durch die Aufrichtung haben beim Menschen ausschließlich die Beine die Aufgabe übernommen, die Last des Körpers zu tragen und ihn fortzubewegen. An den Enden der Arme fand eine Entwicklung hochdifferenzierter Werkzeuge statt, der Hände, die unter allen Lebewesen eine Einzigartigkeit darstellen.

Die muskuläre Ausrichtung der Arme ist vor allem auf Dynamik, Schnelligkeit und Wechsel der Bewegungen ausgerichtet. Aus diesem Grund setzen die Muskeln immer in Gelenknähe an, was einen Gewinn an Geschwindigkeit bedeutet. Große Kraft können die Arme nicht aufbringen, auch schwere Lasten können sie nicht tragen. Das Gleiche gilt für statische Arbeiten, also das Verharren in bestimmten Positionen oder die Ausführung immer wieder derselben Bewegungen. Vielleicht gehören Sie ja auch zu den Menschen, die viel im Sitzen arbeiten, z. B. am Computer, oder immer wieder ähnliche Tätigkeiten ausführen, wobei Sie die Arme leicht vor dem Körper halten. Dann wissen Sie jetzt, dass für diese statischen Positionen Ihre Arme nicht konstruiert wurden. Bei der dynamischen Arbeit wechselt die Muskulatur von der Spannung zur Entspannung, die Durchblutung ist gewährleistet. Bei der statischen Haltearbeit oder Wenigarbeit werden dagegen die Gefäße durch die Muskelanspannung komprimiert, die Durchblutung verschlechtert sich, der Stoffwechsel wird beeinträchtigt, das Gewebe übersäuert und wird schmerzhaft. Kopfgelenke und Arme erlangten beim Menschen einen ähnlich großen individuellen Spielraum. Dem überaus feinen Muskelspiel der Hände steht das genauso feine Muskelspiel des Kopfes auf dem Hals gegenüber, die Augen folgen dem Geschehen der Finger perfekt angepasst. Durch die große Beweglichkeit der Schultergelenke verfügen unsere Hände über einen fantastisch großen Arbeitsraum. Die Augen vermögen durch den großen Bewegungsraum der Kopf-Hals-Region den Händen fast überallhin zu folgen. Die Bewegungen zwischen Kopf – Halswirbelsäule und Hand – Finger sind sehr eng miteinander verbunden.

Die Oberfläche des Raums, den unsere Arme erreichen können, ist beeindruckend: im Durchschnitt 5,87 m3. Die Länge unserer Arme hat sich als für uns aus Sicht der Evolution perfekt geeignet ergeben.

Wie Sie bereits gelesen haben, ist diese hohe Beweglichkeit im Bereich der oberen Halswirbelsäule und der Arm-Schulter-Nacken-Region nur möglich, weil unser Rumpf mit der Wirbelsäule die Balance und das Zusammenspiel aller Körperteile gegen die Schwerkraft zu jedem Moment gewährleistet. Dafür verfügen wir über ein hochdifferenziertes Muskelsystem, das über zahlreiche Muskelschlingen über den ganzen Körper miteinander verbunden ist. Raten Sie mal, welcher Muskel sich als Erstes bewegt, wenn Sie nur ein klein wenig Ihren Arm anheben? Es ist kein Armmuskel! Die ersten Muskeln, die der Körper anspannt – und zwar Zehntelsekunden, bevor uns die Armbewegung überhaupt bewusst wird –, sind Rückenmuskeln. Sie sorgen dafür, dass unser Gleichgewicht gewahrt bleibt. Denn über die Armhebung entsteht eine Kraft, ein Hebel, der gegenreguliert werden muss.

Beschwerden im Bereich der oberen Halswirbelsäule können auf Grund dieser Verbindungen auch eine Ursache im Bereich der Arm-Schulter-Nacken-Region oder im Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule haben. Ein wichtiges Prinzip muss man sich vor Augen halten: Der Körper reagiert immer als Ganzes, das heißt, das Muskelsystem reagiert mehr oder weniger als Gesamtheit. Dies lässt sich noch sehr gut bei Babys beobachten. Bei Freude, also einsetzender Emotionalität, reagiert das Baby mit dem ganzen Körper. Die sich im Gesicht spiegelnde Freude drückt sich auch über Bewegungen am Rumpf, an den Armen, Beinen, Händen und Füßen aus. Will ein Baby einen Gegenstand haben, reagieren nicht nur die Hände mit einem Greifvorgang, auch die Augen, der Mund und die Füße sind an dem Greifprozess beteiligt. Ein Baby reagiert also bei Emotionen wie Freude, Weinen, Schreien immer mit dem gesamten Muskelsystem. Erst im weiteren Verlauf des Wachstums kommt es zu einer zunehmenden Kontrolle über das Muskelsystem. Nicht mehr alle Muskeln werden sichtbar bewegt, sondern nur noch bestimmte Regionen, andere dagegen werden gehemmt. Dieses Muster ist jedoch individuell und auch kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Würde man die Muskelaktivität messen, könnte man dennoch in sehr vielen Muskeln, obwohl nach außen hin nicht sichtbar, Muskelbewegungen wahrnehmen, da unser Körper stets als Ganzes reagiert.

Ohne Kopfgelenke keine Sprache

Den Menschen zeichnet seine Kommunikationsfähigkeit mit Hilfe komplexer Sprachen aus. Diese konnte sich nur dank der Aufrichtung ausbilden. Haben Sie nicht auch schon mal gedacht, dass es mit der richtigen Gehirnstruktur auch allen anderen Lebewesen möglich sein müsste zu sprechen? Natürlich haben Tiere die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren, und sie verfügen über verschiedene Lautäußerungen, auch fern unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Dennoch können Tiere komplizierte, komplexe Sprachen wie die der Menschen nicht artikulieren. Der Grund ist der Bau unserer Kiefergelenke. Sie verfügen über die einmalige Fähigkeit, sehr frei, locker und beweglich im Gesichtsschädel aufgehängt zu sein – wofür wiederum der aufrechte Gang die Voraussetzung war. In der Folge entwickelten sich die Vorderbeine zu Armen mit den Händen als feingliedrige Werkzeuge. Dadurch benötigte der Mensch keinen starken Kiefer mehr zum Fassen, Greifen und Zermalmen der Beute, der Kiefer konnte zurückgebildet werden. Der Unterkiefer wurde in seiner Beweglichkeit sehr frei, es bildeten sich viele kleine Muskeln, die den Kiefer im Kiefergelenk gut austariert am Gesichtsschädel aufhängten. Das ist für die Artikulation unserer Sprache Voraussetzung. Und weil der Schädel frei von anderen Aufgaben wie schwerelos auf dem Atlas ausbalanciert wurde, konnte sich der Mund-Rachen-Raum als Resonanzkörper ausbilden und konnten die Stimmritzen, das feine Zungenspiel und das perfekte Zusammenspiel aller Strukturen entstehen. Außerdem konnte sich ein neues hochspezialisiertes Muskelsystem zur Steuerung von Kiefer, Stimmritzen, Kehlkopf, Rachen und Zunge herausbilden, das uns die Bildung einer Vielzahl von Lauten ermöglicht, mit denen wir uns sprachlich äußern. Bei den Vierfüßlern hat der Kopf die besagte länglichere Form, der sehr kräftige Unterkiefer ist als Werkzeug für die Jagd und Nahrungsaufnahme ausgebildet und deshalb sehr wenig beweglich und nicht zum Sprechen geeignet.

Übrigens stehen Atlas und Kiefergelenk in einem feinen muskulären Gleichgewicht. Bei jeder Bewegung des Kiefers – egal ob beim Sprechen oder Essen – muss der Kopf über den Atlas neu austariert werden.

Wann entstehen die Kopfgelenke?

Sie werden staunen! Die Kopf-Hals-Übergangsregion ist der Teil des neu entstehenden Menschen im Mutterleib, der sich zuallererst entwickelt. Die Region um die Kopfgelenke gehört also im menschlichen Körper zur Keimzelle des neu entstehenden Menschen. Ein Teil dieser Region ist auch der Hirnstamm, der Bereich des Gehirns, der direkt an das Rückenmark anschließt. Er ist der älteste Teil unseres Gehirns. Die Unterschiede zwischen Mensch und Tier sind an dieser Stelle am geringsten: So haben zum Beispiel Fische und Reptilien nur den Hirnstamm als Gehirn. Viele der im Hirnstamm angesiedelten Steuerungsfunktionen laufen mehr oder weniger unbewusst im Hintergrund ab. Und das ist auch gut so, denn es sind lebenswichtige Funktionen, die wir am besten nicht willentlich beeinflussen sollten. Hier werden zum Beispiel Blutdruck, Herzfrequenz, Atmung oder Wärmeregulation (Schwitzen) gesteuert. Auch die Regulation anderer überlebenswichtiger Funktionen wie Schlucken, Husten oder Erbrechen geht von hier aus, ebenso Wachsein und Schlafen. Außerdem liegen im Hirnstamm wichtige Kerngebiete von Körpernerven, das sind Bereiche mit besonders starker Ansammlung von Nervenzellen. Sie steuern beispielsweise unsere Bewegungen. Bestimmte Schädigungen des Hirnstamms können Lähmungszustände oder Empfindungsstörungen im Rumpf und in den Extremitäten zur Folge haben. Nicht genug damit, im Hirnstamm finden sich die Kerne von zehn Hirnnerven, unter anderem diejenigen, die die Augen- und Gesichtsmuskulatur steuern, das Gleichgewicht aufrechterhalten und die Sinneseindrücke des Hörens und Schmeckens zu höheren Gehirnebenen übertragen. Insgesamt gibt es zwölf Hirnnerven. Sie haben hochspezialisierte Aufgaben in der Körpersteuerung und versorgen sich oft gegenseitig mit Informationen. In ihrer Funktion sind sie deutlich komplizierter als die Körpernerven.

Der Hirnstamm – die Schaltzentrale des Körpers

Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark und das periphere Nervensystem mit dem Kleinhirn, Zwischenhirn und Großhirn. Im unteren Bereich befindet sich die Pyramidenkreuzung, an der viele Nervenbahnen der rechten Körperseite auf die linke Gehirnseite überwechseln und umgekehrt, das heißt, die linke Hirnhälfte steuert die rechte Körpermotorik und die rechte die linke. Die Lage, die überaus wichtigen Nervenbindungen, die lebenserhaltenden Reflexe, die Steuerung von Herz und Atmung haben Forscher animiert, dieser Region Begriffe wie »Vitales Zentrum«, »Schaltzentrale«, »Technikraum« oder »Knotenpunkt« zu geben.

Von der Kopf-Hals-Übergangsregion aus wächst der Embryo nach unten und oben: Hals, Brust, Bauch, Lende, Becken entstehen durch Wachstum nach unten; nach oben-vorn wird der Kopf weiter ausgeprägt. Die Kopf-Hals-Übergangsregion selbst wird nicht mit in die Ausdehnungen einbezogen, sie bleibt als Steuerzentrum stabil. Interessanterweise sind bestimmte Nervenzellen der Kopf-Hals-Übergangsregion auch an der Entwicklung des Herzens, des Magen-Darm-Trakts und des Nierensystems beteiligt. Aus dem Hirnstamm kommt auch der überaus wichtige Nervus vagus, einer der längsten Nerven im Körper, der unter anderem die Organe der Brust- und Bauchregion steuert.

Es lassen sich daher viele der bei Kopfgelenksstörungen vorkommenden Symptome der Kopf-Hals-Übergangsregion mit dem Hirnstamm in Zusammenhang bringen.

Einfluss der Kopfgelenke auf die Entwicklung der Organe

Das Wissen darüber, dass während der Entstehung eines Menschen Nerven aus dem Hirnstamm an der Entwicklung von Organen (hier am Beispiel der Nieren erläutert) beteiligt sind, lässt Erkenntnisse alter Medizintraditionen oder der Erfahrungsmedizin spannend werden.

Nach der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Gehirn und Nieren. Gedächtnis und Konzentration werden bei guter Nierenenergie gestärkt. Ein Mangel an Energie kann zum Beispiel zu Schwindel und Tinnitus führen, aber auch zu Angst und Stress.Bei Kindern trifft man häufig einen Zusammenhang zwischen Atlasproblemen und Konzentrationsstörungen, aber auch Angstzuständen und Einnässen an. In der Osteopathie findet man oft bei Problemen der Kopfgelenke eine eingeschränkte Nierenbeweglichkeit.

Für eine Reihe der Befunde finden sich zunehmend auch wissenschaftliche Erklärungen.

Die Kopf-Hals-Übergangsregion ist ein sehr altes, wichtiges Gebiet des menschlichen Körpers, das die Aufnahme und Weitergabe von Informationen koordiniert und überlebensnotwendige Körperprozesse reguliert, die wie selbstverständlich im Hintergrund ablaufen, ohne unser Bewusstsein zu beanspruchen.

Die Kopfgelenke, ein unterschätztes Sinnesorgan?

Bislang haben wir uns die Anatomie von Atlas und Axis, den beiden Kopfgelenken, mit den knöchernen und muskulären Besonderheiten angeschaut und einen Ausflug in die Entwicklung des Menschen (Embryologie) unternommen. Die Nähe der Kopfgelenke zum Hirnstamm ist nicht zufällig, durch die gemeinsame Entstehungsgeschichte gibt es vielfältige Verflechtungen.

Bevor wir weiter über die Kopfgelenke als Sinnesorgane sprechen, möchten wir kurz auf die Funktion von Sinnesorganen und die Rolle des Gehirns eingehen. Stellen wir uns das Gehirn einmal vor: Es ist eine im Aussehen einem Blumenkohl ähnlich geformte, weißliche und graue Masse aus vorwiegend Fetten und Eiweißen, sein Gewicht beträgt etwa zwei Prozent des Körpergewichts. Um seine vielfältigen Aufgaben als Rechen-, Auswerte- und Befehlszentrum erfüllen zu können, ist es auf Input von außen angewiesen, denn eigentlich ist das Gehirn »blind«. Solche Informationen liefern beispielsweise die Sinnesorgane. Da gibt es zum einen Augen, Ohren, die Nase und die Zunge, mit deren Hilfe wir sehen, hören, riechen und schmecken können. Dazu kommt als fünfter Sinn das Fühlen, das wir mit der Haut verbinden und das Qualitäten wie Druck, Schmerz, Kälte und Wärme vereint. Diese klassischen fünf Sinne waren schon dem griechischen Naturforscher und Philosophen Aristoteles bekannt.

Gibt es noch mehr Sinne? Schließen wir doch einmal unsere Augen und versuchen, mit der Fingerspitze unsere Nase zu treffen. Super, ohne Probleme gelungen. Nächster Versuch: Wir berühren blind mit der Hand das linke Kniegelenk. Getroffen. Woran liegt es, dass wir ohne hinzuschauen exakt wissen, wo sich alle Teile unseres Körpers befinden? Selbst wenn wir beide Arme aufeinander zubewegen und die Fingerspitzen sich in der Mitte treffen lassen, schaffen wir das mit erstaunlicher Genauigkeit. Für diese Leistungen helfen uns die oben erwähnten Sinne nicht. Unser Körper scheint in seinen Gewebestrukturen über spezielle Rezeptoren zu verfügen, die über die Körperstellung und über Körperbewegungen informieren. Es muss also einen speziellen Sinn für die »Eigenwahrnehmung« des Körpers geben. Die Idee, dass es einen »Muskelsinn« zur Eigenwahrnehmung geben müsste, kam übrigens erst im 18. Jahrhundert auf. Noch später, nämlich erst im 19. Jahrhundert, wurde das Gleichgewichtsorgan im Innenohr entdeckt. Erst vor gar nicht so langer Zeit wurde also klar, dass der Körper auf ganz spezielle Sinnesrezeptoren angewiesen ist, um die eigene Positionierung im Raum wahrzunehmen und im Gleichgewicht zu halten.

Das vestibuläre System, wie das Gleichgewichtsorgan im Innenohr wissenschaftlich heißt, reguliert das Gleichgewicht im Körper. Der sogenannte Muskelsinn oder richtiger die Tiefenwahrnehmung (das propriozeptive System) nimmt unseren Körper im Raum wahr und weiß über die Stellung unseres Kopfes, Rumpfes und der Gliedmaßen exakt Bescheid. So wissen wir im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen stets, wo sich unsere Körperteile befinden. Bei den fünf klassischen Sinnen werden wir unmittelbar mit den Ergebnissen konfrontiert: Etwas ist bunt, laut, schmeckt oder riecht gut und fühlt sich warm und leicht rau an. Dagegen läuft das System der Tiefenwahrnehmung im Hintergrund so selbstverständlich ab, dass wir uns der überaus feinen Kontrolle über unseren Körper gar nicht bewusst sind. Die Tiefenwahrnehmung (Propriozeption) vermittelt uns ein Bild des momentanen Zustands unseres Körpers: wo sich unser Körper als Ganzes befindet, wo jede Untereinheit, zum Beispiel Finger, Ellbogen, Schulter, Hüfte, ist, welche Gelenkstellungen wir innehaben oder welche Muskelspannung in den einzelnen Bereichen vorhanden ist.

Wie kommt der Körper an diese Informationen? Richtig, wir sprachen schon von sogenannten Wahrnehmungsrezeptoren. Sie liefern diese Informationen. Nicht nur Rezeptoren in den Muskeln tragen zu den Informationen über die Stellung des Körpers bei, auch in den Bändern (Ligamente), Sehnen und Gelenkkapseln gibt es solche Rezeptoren, die wichtige Informationen liefern. Das Bindegewebe und bestimmte bindegewebige Platten und Züge, die Faszien, wurden noch vor wenigen Jahren als eher unwichtiges verbindendes Gewebe (»Binde-Gewebe«) angesehen, bis man auch dort verschiedene Rezeptoren entdeckt hat, die offensichtlich an der Regulierung der Muskelspannung und damit an der Haltung wie auch an der Schmerzentstehung beteiligt sind. Nicht zu vergessen die Rezeptoren in den inneren Organen, die uns über den Zustand unserer Innenwelt informieren.