Kress - Aljoscha Brell - E-Book

Kress E-Book

Aljoscha Brell

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Beschreibung

Die Welt ist eine Zumutung, jedenfalls für Kress. Wohin er sieht, Mittelmaß, Dummheit, Ignoranz. Einzig die Universität ist in Grenzen ein erträglicher Ort, dort studiert Kress die Großen, Goethe, Kleist, Kant, eben was im 19. Jahrhundert Rang und Namen hatte. Nach dieser glanzvollen Epoche ging es im Grunde bergab, steil, für Kress bis nach Berlin-Neukölln. Dort lebt er in einer winzigen, unsanierten Hinterhofwohnung und führt bei Ketchuptoast und Multivitamintabletten philosophische Gespräche mit dem Tauberich Gieshübler, dem Einzigen, der ihn versteht. Aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Kress verliebt sich. Und sieht sich auf einmal gezwungen, all das zu tun, was andere in seinem Alter anscheinend so machen: Wochenendausflüge, Partys, Small Talk. Kress scheitert grandios, an der Welt, an sich selbst. Aber er macht weiter, scheitert wieder, scheitert besser, und am Ende gibt es selbst für jemanden wie ihn noch Hoffnung. Mit dunkler Komik und zarter Melancholie gelingt Aljoscha Brell ein beeindruckendes Debüt – und ganz nebenbei ein wunderbarer Berlin-Roman.

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Das Buch

Die Welt ist eine Zumutung, jedenfalls für Kress. Wohin er sieht, Mittelmaß, Dummheit, Ignoranz. Einzig die Universität ist in Grenzen ein erträglicher Ort, dort studiert Kress die Großen, Goethe, Kleist, Kant, eben was im 19. Jahrhundert Rang und Namen hatte. Nach dieser glanzvollen Epoche ging es im Grunde bergab, steil, für Kress bis nach Berlin-Neukölln. Dort lebt er in einer winzigen, unsanierten Hinterhofwohnung und führt bei Ketchuptoast und Multivitamintabletten philosophische Gespräche mit dem Tauberich Gieshübler, dem Einzigen, der ihn versteht. Aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Kress verliebt sich. Und sieht sich auf einmal gezwungen, all das zu tun, was andere in seinem Alter anscheinend so machen: Wochenendausflüge, Partys, Small Talk. Kress scheitert grandios, an der Welt, an sich selbst. Aber er macht weiter, scheitert wieder, scheitert besser, und am Ende gibt es selbst für jemanden wie ihn noch Hoffnung.

Mit dunkler Komik und zarter Melancholie gelingt Aljoscha Brell ein beeindruckendes Debüt – und ganz nebenbei ein wunderbarer Berlin-Roman.

Der Autor

Aljoscha Brell wurde 1980 in Wesel, NRW, geboren und lebt in Berlin. Er leitet ein Team von Webentwicklern in einem Berliner IT-Unternehmen. Er war Stipendiat der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und erhielt 2009 das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste. Kress ist sein Debütroman.

Aljoscha Brell

KRESS

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1187-6

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © Danae Munoz / Getty Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Kapitel 1

Als Kress an einem Morgen im Mai die Tür seiner Wohnung abschloss und die Treppe hinabschritt, stand unten, vor seinem Briefkasten, ein Fahrrad. Erbittert presste er die Lippen zusammen. Schon vergangene Woche hatte dieses Gefährt vor seinem Briefkasten gestanden. Vergangene Woche aber hatte er sich noch nachsichtig gezeigt: Jeder machte einmal einen Fehler, auch er, Kress, war – zumindest theoretisch – vor Fehlern nicht gefeit. Die Wiederholung der Tat bewies jedoch: Dem Fahrradabsteller war nicht lediglich ein Fehler unterlaufen. Er handelte aus Bosheit. Es war ihm an einer Störung des Hausfriedens gelegen. Möglicherweise lag sogar eine gezielte Attacke gegen ihn persönlich vor, den Studenten der Literaturwissenschaft Kress.

Wie einfach wäre es gewesen, die Reifen zu durchstechen oder das Schnappschloss mit Sekundenkleber zu zerstören. Stattdessen setzte Kress seine Tasche ab, entnahm ihr einen Bogen Papier und beschrieb ihn in großen Buchstaben mit den Worten: »FAHRRÄDER SIND LT. HAUSORDNUNG IM INNENHOF ABZUSTELLEN.« Das Ganze unterschrieb er mit »DIEMIETERGEMEINSCHAFT«.

Zwar war er sich nicht sicher, ob die Hausordnung das Abstellen von Fahrrädern im Flur tatsächlich verbot. Wo er darüber nachdachte, war er sich nicht einmal sicher, ob es eine Hausordnung überhaupt gab. Aber wie dem auch sei, es gab immer auch so etwas wie eine gefühlte Hausordnung, und diese gefühlte Hausordnung verbot das Abstellen von Fahrrädern nachdrücklich und stellte es sogar unter Strafe. Also klemmte Kress den Zettel auf den Gepäckträger und verstaute die Schreibutensilien wieder in seiner Tasche. Dann, routinemäßig, zückte er seinen Schlüsselbund und warf einen Blick in den Briefkasten.

Zu seiner Überraschung fanden sich unter den üblichen Wurfsendungen drei richtige, an ihn adressierte Briefe. Das war ungewöhnlich, beinahe niemand kannte seine Adresse. Er stopfte den Werbemüll in die Briefkästen seiner Nachbarn und nahm sich die Briefe vor. Der erste enthielt eine Nachricht seiner Bank. Offenbar war der Dauerauftrag, mittels dessen er seine Miete bezahlte, nicht ausgeführt worden. Die Bank verstieg sich zu der Behauptung, sein Konto habe nicht die notwendige Deckung aufgewiesen. Natürlich ein Irrtum. Beunruhigt ratschte er den zweiten Brief auf, der von seiner Hausverwaltung stammte, einer Eureka/Rivers Property Management GmbH. Die Hausverwaltung stellte das Ausbleiben seiner Miete fest. Zugleich wurde er aufgefordert, den offenen Betrag binnen sieben Tagen zu überweisen. Aha, dachte Kress und ließ seine Zunge über den linken Eckzahn gleiten. Das war irgendwie nicht so gut. Er schob die Briefe in seine Tasche und öffnete den dritten: »Profitieren Sie von ausgezeichneten Renditechancen und investieren Sie in die asiatischen Wachstumsmärkte.«

Er hätte mehr sparen müssen, dachte Kress, während er sich an einen Gummiriemen geklammert von der U-Bahn durchschütteln ließ. Beispielsweise die schöne, historisch-kritische Hamburger Goethe-Ausgabe: Die hätte, strenggenommen, nicht sein müssen. Anderseits, er war nun einmal ein Goethe-Forscher, beziehungsweise beabsichtigte ein solcher zu werden, und die Hamburger Goethe-Ausgabe gehörte zum Goethe-Forscher wie der Fleischerhammer zum Fleischer. Die Hamburger Goethe-Ausgabe war, bei Lichte betrachtet, sogar unbedingt notwendig gewesen, daran war nicht zu rütteln, dort zu sparen wäre unvernünftig, wäre perspektivisch sogar berufsschädigend gewesen.

Wirklich, U-Bahn-Fahren war das Letzte! Er hasste es, Schulter an Schulter mit all diesen Leuten stehen zu müssen, eingepfercht wie Schlachtvieh in einen Tiertransporter. Dienstagmorgens war die Situation besonders fatal. Dienstagmorgens krochen all jene Studenten aus ihren Löchern, die am Montag ihren Rausch vom Wochenende auszuschlafen pflegten. Mittwochmorgens entspannte sich die Lage ein wenig, weil die Studenten empfanden, bereits am Dienstag etwas geleistet und sich daher eine Pause verdient zu haben, und am Donnerstag war im Grunde schon Wochenende und Kress hatte die U-Bahn mehr oder minder für sich. Jetzt aber war erst einmal Dienstag und die Enge kaum auszuhalten.

Er hatte sich einen strategisch günstigen Platz an einer Plexiglaswand neben der Tür gesichert. Direkt vor ihm, keine Fingerlänge entfernt, standen zwei Frauen und erzählten einander in großer Ausführlichkeit von den Aventüren, die ihnen am Wochenende widerfahren waren. »Und denn«, sagte die eine, »waren wir was trinken im Alhambra, und denn …« Kress hatte das Gefühl, vom bloßen Zuhören dümmer zu werden. Ein Leuchtturm war er, einsam Wacht haltend auf dem Felsen der Exzellenz. Dagegen brandete die Gischt der Banalität.

Entsprechend froh war er, als am U-Bahnhof Dahlem-Dorf die Türen aufglitten und die Meute aus dem Waggon ins Freie drängte. Augenblicklich rempelte er sich an die Spitze der Bewegung.

Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, seit über einer Woche hatte sich am Himmel keine Wolke sehen lassen, und die Studenten, an denen er jetzt vorüberstapfte, hätten luftiger nicht gekleidet sein können: in kurze Hosen und T-Shirts und Röcke, aus denen die über lange Wintermonate entfärbten Glieder staken wie die weißen Tentakel von Tiefseequallen.

Irgendwie musste er an Geld kommen, überlegte er, während er das Ethnologische Museum passierte, einen grauen Klotz, dessen Inneres er selbstverständlich noch niemals besichtigt hatte. Ohne Geld ging es nicht. Zwar gab es eine eiserne Reserve, ein paar hundert Euro, die er in einer Tupperdose hinter einer Kachel im Badezimmer aufbewahrte. Aber die eiserne Reserve war eigentlich für andere Szenarien vorgesehen, Atomunfälle, Erdbeben, usw. Und selbst wenn er die eiserne Reserve jetzt anbrach, er würde trotzdem eine neue Geldquelle auftun müssen.

Mit Schaudern entsann er sich seines letzten Versuchs, herabzusteigen in die Sphäre der Werktätigen. Elf Jahre war das her. Sechzehn war er damals gewesen. Nachhilfeunterricht! Bestens konnte sich Kress daran erinnern, wie die kleinen, unendlich bornierten Nachhilfeschüler neben ihm am Küchentisch gesessen hatten, sabbernd und zappelnd und nicht in der Lage, Sachverhalte aufzufassen, die ein Schimpanse hätte begreifen müssen. Wie er sich hatte zwingen müssen, ruhig zu bleiben, wie aus der Unruhe langsam Verzweiflung und aus der Verzweiflung schließlich nackte Aggression geworden war; und allein die Aussicht auf den 10-Mark-Schein, der am Ende der ins Unendliche sich ziehenden Agonie den Besitzer zu wechseln versprach, hatte ihn davon abgehalten, die widerlichen kleinen Wesen mit dem Küchenmesser zu zerlegen.

Damals hatte er sich geschworen, niemals wieder zu arbeiten. Oder jedenfalls niemals wieder einer solchen kompletten Idiotenarbeit nachzugehen. Daran, dachte Kress, durfte auch die gegenwärtige Finanzkrise nichts ändern.

Er schob sich durch die Glastür der Rost- und Silberlaube, wie der riesige Gebäudekomplex genannt wurde, der neben der Mensa zahllose Seminarräume und Hörsäle beherbergte, und trat in den Eingangsbereich. Ringsum standen Studenten in Gruppen beisammen, lachten, plauderten, tranken aus Plastikbechern Kaffee, hier und da saß jemand im Schneidersitz auf dem Boden und bearbeitete einen Klappcomputer, dazwischen wurden Handzettel verteilt, es war das ganz gewöhnliche morgendliche Gemenge. Er brauchte eine Arbeit, dachte er, während er sich durch das Gewühl am Schwarzen Brett in den Gang zwängte, von dem aus die Seminar- und Vorlesungsräume abgingen. Kein Geld zu haben, das würde auf Dauer nicht gehen. Irgendwo hatte er aufgeschnappt, es gebe eine freie Stelle bei Herrn Doktor Schleicher. Herr Doktor Schleicher war derjenige Dozent, der das unmittelbar bevorstehende Seminar zu den Erzählungen Heinrichs von Kleist leiten würde. Während der vergangenen drei Jahre hatte Kress in jedem Semester bei Herrn Doktor Schleicher eine schriftliche Arbeit eingereicht, jede dieser Arbeiten hatte Schleicher mit Bestnote bewertet. Waren das nicht ideale Voraussetzungen für eine Anstellung als studentische Hilfskraft?

Zu seinem Leidwesen herrschte in dem Seminarraum, den er jetzt betrat, eine erdrückende Enge. Fast alle Tische waren in Beschlag genommen, einzelne Studenten waren bereits auf die tischfreien Stühle an der Wand und am Fenster ausgewichen. Was Kress besonders grämte: Sein Stammplatz, links in der letzten Reihe, war von einem riesigen Fettwanst belegt. Er bohrte dem Fettwanst einen bösen Blick in die Stirn, doch dieser sah nicht einmal auf, also postierte er seine Tasche auf einem Ausweichplatz nahe der Tür.

Er hatte eben begonnen, seine Utensilien auf dem Tisch auszubreiten – den dicken grünen Band, in den das gesamte Kleist’sche Werk eingebacken war, eine Ledermappe mit weißen Blättern und einen besonderen, für die Raumfahrt entwickelten Kugelschreiber, der sogar unter Wasser, über Kopf und in absoluter Schwerelosigkeit schrieb –, da wurde die Tür zugedonnert, und unter mächtigen Schnaufern stapfte Doktor Schleicher in den Raum. Schwer atmend ließ er seine Tasche auf das Dozentenpult fallen, fummelte ein Stofftaschentuch aus seinem Cordsakko und tupfte Stirn und Oberlippe ab, ganz so, als habe er eben einen Dauerlauf absolviert. In Wirklichkeit hatte er lediglich die sechzehn Stufen erklommen, die vom Erdgeschoss hinauf in die erste Etage führten, aber bereits diese Winzigkeit hatte ihn so in Anspruch genommen, dass Kress förmlich sehen konnte, wie der rosarote Herzmuskel, der den gewaltigen Seeelefantenkörper mit Blut versorgte, in einen Zustand unkontrollierten Hin- und Herflatterns geraten war.

»Damen und Herren«, sagte er, immer noch schnaufend, während er seine Brille ans Licht wühlte und sie auf seiner Nase platzierte. »Bevor wir anfangen: Ich habe die Protokolle gelesen, die einige von Ihnen nach der letzten Sitzung eingereicht haben. Schön, sehr schön. Also, nicht alle. Ein paar sind schön, ein paar sind in Ordnung. Alles andere klären wir in Einzelgesprächen. Aber es gibt so etwas wie ein übergreifendes Thema in Ihren Arbeiten, ein Leitmotiv, wenn Sie wollen, und ich möchte diese ersten Minuten dazu nutzen, mit Ihnen darüber zu reden.«

Schleicher ließ den Blick über die gespannten Mienen schweifen.

»Zwei Leidenschaften«, Zeige- und Mittelfinger sirrten in die Höhe, »zwei Leidenschaften habe ich in diesem Leben. Wenn Sie etwas länger an diesem Institut studieren, werden Sie wissen: Meine erste Leidenschaft gilt den Pralinen. Ich liebe Pralinen. Kleine, kunstvoll hergestellte Ingwer-Wasabi-Trüffel mit Krusten aus knackiger Milchschokolade; zarte Marzipankügelchen, in deren Innerem sich feiner Krokrantkrill verbirgt; von weißer Schokolade überzogene, erstarrte Gestirne mit einem Kern aus Rosenblüten in Grappa – Damen und Herren, ich liebe Pralinen, wenn Sie mich bestechen wollen, kommen Sie mit Pralinen vorbei.«

Er faltete die Hände vor seinem mächtigen Bauch.

»Meine zweite Leidenschaft, Damen und Herren, bezieht sich auf etwas, das wir Genitiv nennen. Kann mir jemand hier sagen, was das ist, so ein Genitiv?«

Er blickte in die Runde.

»Irgendjemand? Nein? Genitiv, was könnte das sein? Kann man das essen? Ist das ein Apparat zur Beobachtung der Sterne? Ein Bazillus, den man sich in Afrika einfangen kann? Ah, eine Wortmeldung. Wunderbar! Erleuchten Sie uns, was ist ein Genitiv?«

Auf der Fensterseite war schüchtern ein Zeigefinger in die Höhe gewachsen. Kress warf der dazugehörigen kleinen Frau einen missbilligenden Blick zu.

»Vielleicht so etwas wie eine grammatische Form?«

»Eine grammatische Form! Brillant! Und vielleicht wissen Sie auch, was genau mit dieser grammatischen Form angezeigt werden soll?«

Kress senkte den Blick auf seinen Tisch. Ganz genau die gleiche Rede hatte er bereits im vergangenen Semester gehört, ihm schwante, was als Nächstes kommen würde.

»Vielleicht jemand anderes? Ich bitte Sie, die junge Dame hier ist mutig nach vorne geprescht, vielleicht möchte einer der Herren? Nein, niemand? Herr Kress, würden Sie?«

Kress räusperte sich, streckte den Rücken durch, und mit gepresster Stimme erklärte er: »Der Genitiv ist in der deutschen Grammatik der zweite Fall und wird gebraucht, um Besitzverhältnisse zwischen zwei Nomen anzuzeigen.«

»Herr Kress, vielen Dank! Sehen Sie, Damen und Herren, Herr Kress, Sie werden ihn noch kennenlernen, ist einer der vortrefflichsten Studenten, die wir hier haben, aber er hat leider die Neigung, sich etwas kompliziert auszudrücken, nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Kress. Was Herr Kress eigentlich sagen will, ist dies: Der Genitiv ist die grammatische Form, die wir gebrauchen, wenn wir etwas haben. Ein Beispiel: Die Pralinen meines Professors. In diesem Fall steht meines Professors im Genitiv. Warum? Weil mein Professor die Pralinen hat. Der besondere Genitiv, über den ich heute mit Ihnen sprechen möchte, heißt Genitivus Auctoris.«

Schleicher erhob sich und stapfte an die Tafel.

»Wann verwenden wir den Auctoris, Herr Kress?«

»Wir verwenden den Auctoris, wenn wir Urheberschaft anzeigen wollen.«

»Episch, Herr Kress, episch!«

Er griff sich ein Stück Kreide und schrieb damit in großen, weit auseinanderstehenden Buchstaben an die Tafel:

KLEIST S ERZÄHLUNG

»Kleists, in diesem Fall, steht im Genitivus Auctoris. Jetzt aber stehen wir vor einer besonderen Herausforderung. Von unseren englischsprachigen Freunden wissen wir, dass es die Möglichkeit gibt, das S am Ende von Kleists mit einem Apostroph zu versehen. Das Apostroph ist das umgekippte Komma, das bisweilen zwischen zwei Buchstaben baumelt, fragt sich nur: Wo hängen wir es auf? Drei Möglichkeiten bieten sich an. Wir können unseren englischsprachigen Freunden folgen und das S am Ende des Worts abtrennen.«

Er kratzte einen Strich an die Tafel, so dass dort stand:

KLEIST’S ERZÄHLUNGEN

»Wir können es ans Ende des Wortes setzen.«

Er schrieb an die Tafel:

KLEISTS’ ERZÄHLUNGEN

»Und wir können kühn vorpreschen wie ein moderner Künstler und sagen: Weniger ist mehr und es gänzlich weglassen. Alle drei Varianten finden sich in Ihren Protokollen, aber leider, ich muss es Ihnen sagen, nur eine ist üblich im Deutschen. Damen und Herren, es stellt sich die Frage: Welche! Ich würde vorschlagen, wir stimmen ab.«

Es war in diesem Moment, dass die Tür aufgeschoben wurde und ein Nachzügler in den Seminarraum schlüpfte. Kress hasste Menschen, die sich verspäteten. Er drehte den Kopf zur Tür und wollte eben einen missbilligenden Gesichtsausdruck aufsetzen, da erblickte er die junge Frau, die hereingekommen war: Sie war nicht sonderlich groß und hatte wellige blonde Haare, und was ihm sofort auffiel, waren ihre Augen, die ein Stück aus dem Schädel ragten, wie bei einem Fisch, aber nicht so hässlich wie bei einem Fisch, sondern …

»Ist da frei?«, wisperte sie und deutete auf den Platz neben Kress. Der Platz war der einzige im ganzen Raum, der frei geblieben war. Halb widerstrebend, halb aufgeregt räumte Kress seine Tasche auf den Boden. Er konnte nicht widerstehen, er musste noch einmal zu ihr emporsehen und die seltsame Form dieser Augen begutachten. Aber schon im nächsten Moment rief er sich zur Ordnung und zwang sich, wieder zur Tafel zu blicken. Die Verspätung stellte ihren Rucksack ab und setzte sich. Es war ihm, als verströmte sie einen leichten Minzegeruch.

»Hi«, flüsterte sie und nickte ihm einen Gruß zu. »Ich bin Madeleine.«

Kress erwiderte ihr Nicken, verbat sich aber, sie anzusehen, und starrte weiter zur Tafel.

»Wie heißt du?«, flüsterte die Verspätung.

»Kress«, flüsterte er zurück. Sie nickte, drehte ihr Gesicht zur Tafel, schien eine Sekunde zu überlegen und wandte sich ihm wieder zu:

»Ist das dein Vorname?«

»Nachname«, wisperte Kress.

»Ah«, flüsterte die Verspätung und nickte und machte ein irritiertes Gesicht. »Und … was ist dein Vorname?«

Das ging nicht, er konnte sich nicht mit dieser Person unterhalten, selbst wenn er gewollt hätte, und er war sich keineswegs sicher, ob er wollte, immerhin war sie zu spät gekommen.

»Ich kann jetzt meinen Vornamen nicht sagen«, flüsterte er.

»Wie meinst du das, du kannst deinen Vornamen nicht sagen? Warum das denn nicht?«

»Weil wir in einem Seminar sind, und in einem Seminar sagt man seinen Vornamen nicht.« Er hatte noch nicht einmal zu Ende geflüstert, da war ihm schon klar, dass das Schwachsinn war, was er redete, er verstrickte sich da in eine Diskussion, die er nicht gewinnen konnte.

»Was ist das bitte für eine hirnrissige Regel«, flüsterte denn auch gleich die Verspätung, »ich bin Madeleine, verstoß ich jetzt gegen irgendein unausgesprochenes akademisches Gesetz, oder was?«

Auf der gegenüberliegenden Seite begannen ein paar Studenten zu tuscheln. Das ging wirklich nicht, das Letzte, was Kress wollte, war Aufmerksamkeit zu erregen, und in seiner Not griff er zu seinem Weltraumkugelschreiber und kritzelte auf seinen Notizblock: »ES WIRD UM RUHE GEBETEN.«

Die Verspätung musterte das Papier.

»Ist das dein Ernst?«

Kress blickte sie an – wieder diese seltsame Augenform – und nickte.

»Na, du scheinst ja nett zu sein«, flüsterte sie.

»Ich bin nett!«, flüsterte Kress zurück.

»Frau Fischer, gibt es da etwas Wichtiges zu besprechen, wollen Sie uns vielleicht teilhaben lassen daran?«, wandte sich Schleicher in diesem Moment an die Verspätung. Kress ballte seine Hände zu Fäusten, genau das hatte er vermeiden wollen.

»Gar nicht«, sagte die Verspätung. »Ich hab bloß gerade Herrn Kress kennengelernt, der hier neben mir sitzt.«

»Na wunderbar«, sagte Schleicher, »besser hätten Sie es wirklich nicht treffen können.«

»Mhm«, sagte die Verspätung. »Den Eindruck hab ich auch.«

Als er an diesem Abend am U-Bahnhof Leinestraße die Treppe emporkam, war sein Ärger über den morgendlichen Vorfall kein bisschen abgeflaut; im Gegenteil, Kress war sogar noch wütender auf die Verspätung geworden. Natürlich hatte er kein Wort mehr mit ihr geredet. Sobald Schleicher die Sitzung beendet hatte, hatte er seine Siebensachen zusammengeräumt und war erhobenen Hauptes entschwunden.

Was für eine unerhörte Frechheit das gewesen war! Er war nett! Sogar sehr! Eine sympathische, höchst liebenswürdige Persönlichkeit war er, und das war sogar empirisch erwiesen: Gerade einmal drei Tage war das her, da hatte er nach dem Erwerb zweier Brötchen in einer Bäckerei laut und vernehmlich »Danke« gesagt. Und die türkische Verkäuferin hatte geantwortet: »Gern.« Gern: Das bedeutete doch, dass die türkische Verkäuferin ihm das Brötchen gerne verkauft hatte. Und gerne verkaufte man seine Brötchen doch bitte sehr nur, wenn einem der Käufer sympathisch war.

Möglicherweise, dachte er, während er die Hermannstraße entlanglief, konnte er sich mit dieser Verkäuferin anfreunden. Nach Ablauf einer gewissen Frist konnte sie ihm ein Zertifikat ausstellen: Hiermit bescheinigen wir, die Angestellten des Backshops Gökhan (Hermann-/Ecke Thomasstraße), dass es sich bei Herrn Kress um eine sympathische, höchst liebenswürdige Persönlichkeit handelt.

Kress mochte die Hermannstraße. Zwar waren in letzter Zeit immer mehr junge Leute in seine Gegend gezogen, aber nach wie vor waren die meisten Menschen, die hier lebten, Arbeitslose und Ausländer. Sein Heimweg war gesäumt von türkischen Imbissen, in denen riesige Kebabspieße glänzendes Fett ausschwitzten, von grell erleuchteten Internetcafés und fremdländisch sprechenden Männern, die Tag und Nacht vor den Eingängen der Spielhallen standen, durch deren geöffnete Türen man bunte Spielautomatenlichter ein flackerndes Eigenleben führen sah.

Selbstredend hatte er keinen Kontakt zu den Leuten hier. Aber sie waren ihm immer noch lieber als das geschniegelte Volk in den anderen, den zurechtsanierten Vierteln, die Studenten und Studienräte, die in lauschigen Straßencafés vegetarische Pasta verzehrten. Jedenfalls fühlte er sich hier weit eher zugehörig als dort.

Unter leisem Klingel-di-Ding drückte er die gläserne Tür zu einem Internetcafé auf. Im Inneren herrschte ein ziemlich unfreundliches Kunstlicht. Vorne, im Eingangsbereich, gab es einen hölzernen Tresen, hinter dem ein junger Araber, eine Wollmütze auf dem Kopf und um den Hals einen Schal gebunden, in einer Zeitschrift blätterte. Er trug eine Brille, deren runde Gläser von einem Metallrahmen eingefasst wurden. Der Rest des Raums war mit Tischen vollgestellt, auf denen, eingekastelt in hölzerne Parzellen, die Computer standen.

»Ich grüße Sie, ich würde, wenn das möglich wäre, gerne Einsicht in das World Wide Web nehmen.« Kress, stolz auf die Kenntnis dieses Begriffs, mit dem in Fachkreisen das sogenannte Internet bezeichnet wurde, setzte sein verbindlichstes Lächeln auf.

Der junge Mann runzelte die Stirn und setzte sich aufrecht hin auf seinem Drehstuhl, in dem er, wie Kress bemerkte, zuvor eher gelegen hatte.

»Einsicht in das World Wide Web nehmen?«

»Ich suche eine bestimmte Webpage«, erläuterte Kress seinen Wunsch.

»Na, an mir soll’s nicht liegen. Die Zwei ist frei.«

Kress zog seinen Mantel aus, hängte ihn über den Stuhl, setzte sich an den ihm zugewiesenen Platz und betrachtete den Fernseher seines Computers. Er selbst war nicht Besitzer eines solchen Apparats und darüber genau so froh, wie er stolz darauf war. Seine Hausarbeiten verfasste er sämtlich auf einer fast fünfzig Jahre alten Hermes 3000, der vielleicht besten mechanischen Schreibmaschine, die jemals gebaut worden war. Also gut, dachte er, los geht’s, und ließ die verschränkten Finger knacken. Diese Geste hatte er sich in einem Film abgeschaut.

Der Fernseher vor ihm zeigte eine blaue Fläche, über die eine Reihe kleiner Bildchen verstreut waren, die alle eine Bildunterschrift hatten. Kress beugte sich vor und versuchte, in den Bildchen etwas zu entdecken, das in irgendeiner Weise mit dem Internet zu tun haben mochte. Als er etwas Passendes gefunden zu haben meinte, ergriff er das Gerät, das er als »Maus« zu bezeichnen gelernt hatte, und steuerte den damit verbundenen Zeiger über den Fernseher, bis der Zeiger auf einem Bildchen ruhte. Darauf musste man »klicken«. Er »klickte« also, indem er vermittels des Zeigefingers der Maus auf ihr Schnäuzchen schlug. Zu seinem Verdruss erschien daraufhin nicht das Internet. Stattdessen wurde das Bildchen von einem blauen Kasten umrahmt. Kress »klickte« erneut, aber diesmal geschah überhaupt nichts. Hm, das funktionierte offenbar nicht. Er blickte sich nach dem Mann am Tresen um, aber dieser beachtete ihn gar nicht. Also »klickte« er noch einmal, und als wiederum nichts geschah, noch einmal und dann noch einmal … ehe er ein Dutzend Mal kurzabständig auf das vermaledeite Ding einprügelte. Da – Magie! – erschien das Internet.

Im Umgang damit fühlte sich Kress sicherer. Oben gab es einen Kasten, in den er die Anschrift der Universität eintippen musste. Allerdings musste der Anschrift, um korrekt zu sein, eine Buchstabenkombination vorangestellt werden, die Kress sich behufs einer Eselsbrücke eingeprägt hatte: Hans-Theodors törichter Pudel! Tatsächlich erschien nach kurzer Wartezeit die Internetseite (Webpage!), unverkennbar gekennzeichnet durch das Wappen der Universität, das einen blauen Bären zeigte, der unterhalb einer Kuppel ehrwürdiger lateinischer Begriffe eine Art Fackel abzulecken versucht.

Das Gerücht, das Kress irgendwo aufgeschnappt hatte, entsprach den Tatsachen. Nach einigem weiteren Umhergeklicke entdeckte er die Ausschreibung für eine Stelle als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl Herrn Doktor Schleichers. Die Ausschreibung lief schon seit einer Weile, tatsächlich war für das Einreichen der Bewerbungsunterlagen nur noch Zeit bis zum Ende der Woche. Mit klopfendem Herzen übertrug Kress die Details vom Fernseher auf seinen Notizblock. Das war sie doch, die Lösung all seiner Probleme. Hatte Schleicher nicht noch heute Morgen gesagt, er, Kress, sei einer unserer vortrefflichsten Studenten?

Er war eben im Begriff zu gehen, hatte bereits seinen Notizblock verstaut und seinen Mantel angelegt, da kam ihm eine Idee. Mit einem plötzlichen Kribbeln im Bauch setzte er sich zurück auf den Stuhl. Er steuerte den Mauszeiger in den Suchkasten, klickte. Ein blinkender Balken erschien in dem Kasten. Er blickte sich über die Schulter. Der Mann hinterm Tresen blätterte in seiner Zeitschrift. Kress beugte sich vor und tippte:

madeleine fischer

Das Ergebnis war eine Seite mit zehn blau unterstrichenen Überschriften. Offenbar hatte die Verspätung eine Vielzahl von Namensvetterinnen, es fand sich sogar eine berühmte italienische Filmschauspielerin der fünfziger Jahre darunter. Er klickte weiter … Plötzlich machte sein Herz einen Sprung. Hastig sah er sich um. Der Mensch am Tresen war noch immer mit seiner Zeitschrift beschäftigt.

Das Bild auf dem Fernseher war kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück, ein Halbporträt, das die Verspätung in weißer Bluse vor einem hellblauen Bewerbungsfotohintergrund zeigte. Es befand sich auf der Seite des Deutschen Seminars der Universität Freiburg. Die Seite wies die Verspätung als studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur aus, konkreter als Mitarbeiterin eines Professors Heinrich Büsching. Kress kannte Büsching. Nicht persönlich, natürlich nicht. Aber er hatte alle seine Arbeiten gelesen. Büsching, Jahrgang 1948, hatte seinen Lehrstuhl seit 1988 inne, seine Dissertation hatte er im bemerkenswerten Alter von sechsundzwanzig Jahren über das Motiv des Echos in der Lyrik des Barock verfasst, er galt als einer der bedeutendsten Experten für die Literatur des Barock, der Aufklärung und der Goethe-Zeit. Allein die Tatsache, dass die Verspätung für diesen Mann gearbeitet hatte, war unfassbar. Kress spürte einen Anflug von Übelkeit.

»Entschuldigung«, wandte er sich mit heiserer Stimme an den Mann hinter dem Tresen, »ist Ausdrucken möglich?«

»Zehn Cent pro Seite«, erwiderte der Mann, kurz aufblickend.

»Und können Sie mir sagen«, sagte Kress und stand auf, trat fingerknetend näher, »wie das geht, ausdrucken?«

»Na ja, Datei, drucken«, sagte der Mann, hüstelte und rückte seinen Schal zurecht.

Kress nickte und setzte sich wieder, wusste aber nicht im Geringsten, wie das gehen sollte, Datei, drucken. Entsprechend brauchte es eine Weile, bis er die betreffenden Kommandos in den Computer eingeklickt hatte.

»Madeleine Fischer? Ist das deins?«, fragte der Mann, auf ein Papier blickend, das aus dem Drucker am Tresen gerollt war, nachdem Kress das Internet ausgeschaltet und an den Tresen getreten war.

»Was? Ach so, das hatte ich …«, sagte Kress errötend, aber dann sah er ein, dass es hier keinerlei Erklärungen brauchte, und er fischte sein Portemonnaie aus dem Mantel und zahlte schweigend den Betrag.

»Was ist denn jetzt mit Madeleine Fischer«, rief ihm der Mann hinterher.

»Ach so, natürlich«, sagte Kress, drehte sich um, riss dem Mann das Papier förmlich aus der Hand, ratschte unter klirrendem Klingel-di-Ding die Ladentür auf und entschwand auf die Straße.

So schnell es seine Würde gestattete, hastete er den Gehweg entlang. Er schloss die Haustür seines Wohnhauses auf, rannte im Innenhof beinahe den Mieter der Hinterhaus-Erdgeschosswohnung um, einen Glatzkopf mit einem rosaroten Schweinchengesicht, der eben im Begriff war, seinen Pinscher zur abendlichen Gassirunde auf die Straße zu führen, hastete die dreißig Stufen zu seiner Wohnung empor und knallte die Tür hinter sich zu.

O Gott, war das eine schöne Frau, dachte er, an seiner Wohnungstür lehnend, den Ausdruck in beiden Händen haltend. Sogar auf dem etwas arg förmlichen Bewerbungsfoto, sogar durch die schlechte Druckqualität hindurch war sie noch schön. Was waren denn das bloß für seltsame Augen, die sie hatte? Wirklich ein wenig hervorstehend. Aber nicht hässlich, gar nicht, sogar im Gegenteil. Er führte den Ausdruck ganz nah an sein Gesicht, bis seine Nasenspitze das Papier berührte und das Bild verschwamm.

Also, jaja, schön war sie, schon sehr schön, dachte er, während er über die Pfandflaschen hinwegstieg, die er im Wohnungsflur lagerte, um sie bei nächster Gelegenheit einmal in den Supermarkt zurückzubringen. Er knipste das Licht im Arbeitszimmer an. Aber Schönheit allein, das war ja kein Kriterium. Im Gegenteil, gerade bei Frauen wirkte sich Schönheit negativ auf den Charakter aus, das war bekannt. Allerdings, in diesem speziellen, hier vorliegenden Fall hatte er es immerhin mit einer Literaturwissenschaftlerin zu tun. Und sicher war diese Literaturwissenschaftlerin nicht eine jener geist- und seelenlosen Kreaturen, die sich dem Studium der Literaturwissenschaft lediglich aus Mangel an Alternativen verschrieben hatten, weil sie »ganz okay« gewesen waren im Deutsch-Leistungskurs. Nein, diese schöne, kleine blonde Verspätung war eine Vollblutliteraturwissenschaftlerin. Schließlich hatte sie für Professor Büsching gearbeitet!

Mit dem Fuß schob er einen der Umzugskartons zur Seite, der mitten im Zimmer stand und in dem er einen Teil seiner Kleider aufbewahrte, und sackte auf seinen Schreibtischstuhl, was dieser mit einem aufgeschreckten Knarzen quittierte. Sein Herz klopfte. Auf einmal bereute er es, derart ruppig gewesen zu sein. War das nötig gewesen? Nein! Viel freundlicher hätte er sein müssen, gentlemanlike.

Abrupt stand er auf. Also, wohin mit dem Bild? Er blickte sich in seiner Wohnung um. Wirklich, es musste hier einmal aufgeräumt werden. Überall standen aufgerissene Umzugskartons herum, in denen irgendwelche Dinge lagerten, Bücher, Kleider, Ordner, Stapel von Notizblöcken mit selbstverfassten Gedichten, ein kaputter Feuermelder, Skizzenbücher aus seiner künstlerischen Periode – das musste jetzt alles mal in Regale sortiert werden. Immerhin lebte er hier seit über sechs Jahren. Nachdenklich verzog er den Mund.

Vielleicht über den Schreibtisch? Ja, warum nicht über den Schreibtisch, überlegte er, nahm aus einem Wasserglas eine Pinnnadel und kletterte auf den Tisch. Er stemmte ein Knie auf einen Stapel Bücher und war eben im Begriff, die Nadel in das Papier zu drücken – da, plötzlich, rutschten die Bücher weg, Kress kreischte auf und fand gerade noch rechtzeitig Halt, um ein größeres Unglück zu vermeiden. Er blickte auf.

Die Nadel hatte das Papier durchlöchert, das Bild hing an der Wand. Allerdings hatte sie auch die Stirn der Verspätung durchlöchert.

Herr im Himmel, dachte Kress und zog sie heraus. Man durfte froh sein, dass das Leben kein literarischer Text war, in einem literarischen Text wäre so eine Szene geradezu übertrieben symbolisch dahergekommen. So gut es ging, glättete er das Loch und drückte die Nadel zurück in die Wand. So. Perfekt. Aufgewühlt und auf eigentümliche Weise beseelt, klatschte er in die Hände und verfügte sich in die Küche, wo er sich ein Ketchupbrot herzurichten beabsichtigte.

Als am folgenden Morgen das elektrische Fiepen des Weckers die Stille zerriss, lag Kress bereits wach. Ohnehin schlief er in letzter Zeit schlecht, aber die vergangene Nacht war in schlaftechnischer Hinsicht eine Totalkatastrophe gewesen. Schuld war die Frühlingssonne, die ihn bereits ab fünf Uhr früh mit ihrem bläulichen Schimmer belästigte. Er hatte sich eine Schlafbrille besorgt, wie sie in Flugzeugen verteilt wurden, aber die Schlafbrille hatte sich als Quatsch erwiesen, schlicht weil das Wissen darum, dass es draußen hell wurde, stärker auf ihn wirkte als die Dunkelheit unter der Brille. Infolgedessen hatte er sich die Schlafbrille irgendwann in der Nacht entnervt vom Gesicht gerissen, und während in seinem Kopf zehn kleine Doktor Schleichers mit zehn kleinen Verspätungen einen Reigen tanzten, hatte er sich hin und her gewälzt, vom Rücken auf den Bauch auf die Seite, hatte das Gesicht ins Kissen gedrückt, hatte den Kopf unter dem Kissen vergraben und trotz alledem keinen Schlaf gefunden. Als endlich das erlösende Weckerfiepen ertönte, hatte er bereits eine volle halbe Stunde lang einen schwarzen Brandfleck in die Zimmerdecke gestarrt.

Er wand sich aus dem Schlafsack, wankte in die Küche, wo der Wecker stand, und schaltete ihn aus. Sechs Uhr morgens. Er sank auf das einzige Möbelstück in der Küche, einen alten Fernsehsessel aus Kunstleder, den er an der Straße gefunden hatte, und stierte aus dem völlig verschlierten Fenster. Draußen gab es nichts zu sehen als die graue Vorderhauswand im dämmrigen Morgenlicht.

Die Wohnung, in der Kress lebte, bestand aus einem schmalen Flur, der die ziemlich heruntergekommene Küche, das schlauchförmige Bad und das einzige Zimmer, sein Arbeitszimmer, miteinander verband. Obwohl sie im dritten Obergeschoss des Hinterhauses lag, kam niemals direktes Sonnenlicht durch die Fenster. Sogar im Hochsommer, wenn die Hitze die Dächer zum Schmelzen brachte, blieb es hier dumpf und kühl.

Die Wohnung hatte bereits eine ganze Zeit lang leer gestanden, als Kress sie besichtigt hatte. Sieben Jahre war das her. Er war niemals zuvor in Berlin gewesen und wohnte seit knapp zwei Wochen in einer Jugendherberge am Wannsee, von wo aus er jeden Morgen aufbrach, um sich den peinigenden Auswahlverfahren sogenannter Wohngemeinschaften zu stellen. Er hatte bislang überhaupt nicht darüber nachgedacht, nach einer eigenen Wohnung zu suchen – eine eigene Wohnung, das hatte er bereits in Münster gehabt, das brauchte er nicht schon wieder. Doch nachdem er zum gefühlt neunhundertsten Mal aus einer verrauchten Küche gekommen war, wo er bei miserablem Kaffee Fragen zu seinen Essgewohnheiten hatte ertragen müssen, war ihm das Wohnungen-zu-vermieten-Schild im Fenster eines verwahrlosten Altbaus in einer Neuköllner Seitenstraße wie eine Engelserscheinung vorgekommen.

Herr Mittelbeck, der Angestellte der Hausverwaltung, ein schmaler Beamtentyp mit schütterem roten Haar, wirkte beinahe, als habe er ein schlechtes Gewissen, während er Kress durch die Wohnung führte. »Es versteht sich, wir würden ein Toilettenbecken einbauen und eine Dusche, und natürlich auch eine Vordertür.«

Kress ließ den Blick über die scheckigen minzgrünen Wände gleiten, über die Decke, wo ein breiter hellbrauner Fleck gewachsen war. »Nicht, was Sie denken«, beeilte sich der Verwalter zu erklären. Kress fuhr mit der Hand über die Kacheln des Kohleofens, trat zum Fenster. Im Innenhof waren drei schrottreife Fahrräder an einem Baumskelett festgekettet.

Das hier war der letzte Ort, an dem man hätte leben wollen. Heruntergekommen. Düster. Kalt. Und dennoch spürte Kress, dass ihm die massiven Altbauwände Sicherheit geben würden. Und war nach allem, was geschehen war, Sicherheit nicht viel wichtiger als die Gemeinschaft mit ein paar ranzigen Studenten?

Der Verwalter hielt Wort. Am Tag der Schlüsselübergabe war die Spanplatte durch eine schöne, weißlackierte Wohnungstür ersetzt worden. Die Hausverwaltung hatte eine Dusche eingebaut und ein Toilettenbecken, und so als wolle man Kress für die Unannehmlichkeit des Bezugs dieser Wohnung entschädigen, hatte man überdies einen Gasherd und eine klapprige alte Spüle montiert.

Volle anderthalb Stunden brauchte Kress, um unter den nervösen, zunehmend gereizten Blicken Herrn Mittelbecks den Vertrag zu lesen, beide Exemplare, drei Mal. Als er endlich unterschrieben hatte und Kress zum ersten Mal alleine in seiner neuen Wohnung war, trat er in sein Zimmer und betrachtete die minzgrün gestrichene Wand. Irgendjemand hatte mit Spraydose etwas an die Tapete geschmiert. Das musste man natürlich überstreichen. Ihm schwebte etwas in Dunkelrot vor. Er hatte den Verwalter noch fragen wollen, ob man den Ofen tatsächlich befeuern könne und wie das funktioniere. Aber gut, es würde sich herausfinden lassen.

Die Wohnung war noch vollständig leer. Seine paar Umzugskartons würden erst in einigen Tagen kommen. Er hängte seinen Mantel an die messingfarbene Klinke der Zimmertür und setzte sich auf den Boden. Gott, wie hoch diese Wände waren. So etwas gab es in Westdeutschland gar nicht. Er lehnte sich an die Wand.

Dort, unter das Fenster, da würde der Schreibtisch hinkommen. Und dorthin, in die Ecke neben den Ofen, das Bett. An den Wänden würde er Bücherregale aufbauen. Sollten einmal Gäste zum Essen kommen, konnte er den Schreibtisch in die Mitte des Zimmers rücken. Bei dem Gedanken kribbelte sein Bauch vor Euphorie. Dass er, Kress, jemand war, der Gäste empfing, das konnte er sich noch gar nicht vorstellen. Aber warum nicht? War er nicht im Kern eine freundliche, in hohem Maße sozialkompatible Persönlichkeit?

Als es Abend wurde, kletterte er auf das Dach seines neuen Wohnhauses. Zwar war er sich nicht sicher, ob das erlaubt war, aber in seiner Vorstellung hatte das immer dazugehört, am ersten Tag in seiner neuen Behausung auf das Dach zu klettern. Man musste durch den Hängeboden hindurch, wo es bis auf ein paar Ersatzziegel nichts gab als eine alte, von einer dicken Staubschicht überzogene Zimmertür. Er kletterte auf eine Leiter, entriegelte eine Luke und stieg auf den Dachrücken, der mit grauer Teerpappe ausgelegt war. Am Himmel kräuselten sich ein paar dünne Wolken, der untergehende Sonnenball ließ sie in einem gleißenden Orangerot erglühen.

Ein leichter Wind zauste ihm die Haare, während er vorsichtig, Schritt für Schritt, an den Rand des Daches trat. Weiter hinten tummelten sich ein paar Tauben, scheu nickte ihnen Kress einen Gruß zu. Was für ein Anblick das war! Antennen, Satellitenschüsseln, Schornsteine, Kräne, Kirchtürme, ein Meer aus rotgeziegelten Dächern. Weiter vorn, schien ihm, hatte jemand einen kleinen Garten angelegt. Einen Garten, auf dem Dach! So etwas gab es auch nur in Berlin. Und über allem wuchs der glitzernde Fernsehturm in den Abendhimmel. Hier, dachte Kress, würde alles anders werden. Er war unabhängig, niemand konnte ihm etwas befehlen. Er hatte ja einen Großteil seines Solds aus dem Zivildienst gespart, und natürlich besaß er die kleine Summe, die übrig geblieben war, nachdem sich die Bank zurückgeholt hatte, was ihr vom Verkauf des Hauses im Kranichweg zugestanden war. Wenn er sparsam lebte, würde er eine ganze Weile damit auskommen. Das hier – das war sechshundert Kilometer von den vergangenen zwanzig Jahren entfernt. Niemand würde ihn besuchen kommen. Niemand würde ihn anschreien, wenn er nicht schnell genug putzte. Niemand hatte seine Mutter gekannt. Das hier – das war Berlin.

Am folgenden Morgen kaufte er zwei Eimer mit weißer Farbe – rot war, für den Anfang, vielleicht etwas heftig. Er kaufte eine Leiter und montierte eine weiße Plastik-Fassung mit einer schwach vor sich hin glimmenden Glühbirne an der Decke. Einen nach dem anderen zog er die Nägel heraus, mit denen in der Küche der braune Noppenbelag am Boden befestigt war. Zu seiner Überraschung fanden sich darunter anstatt rotlackierter Dielen, wie sie im Flur und im Zimmer auslagen, gräuliche Spanplatten. Und seltsam: Die Spanplatten waren von weißlich-bläulichen Flecken überzogen – ein wenig, als betrachte man eine Karte der Fidschi-Inseln.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch wählte er auf seinem nigelnagelneuen Mobiltelefon die Nummer Herrn Mittelbecks. Herr Mittelbeck ging nicht ans Telefon. Also beschloss Kress, den Noppenbelag fürs Erste an seinem Platz zu belassen. Stattdessen schob er im Zimmer die Leiter an die Wand und begann, die grüne Tapete und das Graffito zu überstreichen. Den Boden zu bedecken lohnte sich nicht, schließlich beabsichtigte er, die Dielen abzuziehen.

Aber leider, nachdem er die ersten paar Quadratmeter Weiß aufgetragen hatte, stellte er fest, dass die grüne Farbe hindurchschimmerte. Auch schien sich die Tapete zu wellen. Er wartete, bis die Farbe einigermaßen angetrocknet war und machte sich daran, eine zweite Schicht anzupinseln. Vermutlich jedoch war der Anstrich noch feucht gewesen – sobald er mit der Rolle darüber fuhr, pellte sich die Tapete ab. Und mit der Tapete kam gleich der ganze Rest hinterher:

In handtellerbreiten Stücken knallte der morsche Putz auf den Boden. Darunter kam ein lehmgelbes, pulvriges Wandmaterial zum Vorschein. In Panik versuchte Kress, dem immer weiter fortschreitenden Ablösen der Wand Einhalt zu gebieten, indem er die Tapetenstücke zurück an die Wand matschte – da klingelte das Mobiltelefon. Herr Mittelbeck.

Mit angststarren Augen blickte Kress auf das winzige bernsteinfarbene Display des summenden Apparats, der auf einer Sprosse der Leiter lag. Auf keinen Fall durfte Herr Mittelbeck sehen, was hier geschehen war. Und also, mit dem kleinen Finger, der als einziger frei geblieben war von der klebrigen Melange aus Wandfarbe, Putz und Tapete, wollte er den Verwalter wegdrücken. Dabei rutschte das Telefon von der Leiter. Kress versuchte noch, es zu fangen. Vergeblich: Es landete im exakten geometrischen Zentrum des Farbeimers, wo es binnen weniger Sekunden versank, Bug voran, wie der Dampfer Titanic.

Kurz gab der Farbeimer ein schluckaufhaftes Bloppern von sich – dann wurde das Telefon für immer von seinen elektronischen Geistern verlassen.

Kress konnte es nicht fassen. Mit hängenden Schultern stand er vor dem Eimer und starrte die Stelle an, wo das Gerät verschwunden war. Auf diesem Telefon waren die Nummern all seiner Bekannten gespeichert! Viele waren es nicht, aber immerhin, die paar Leute, die er kannte, hatte er dort hinein geschrieben. Und all diesen Leuten hatte er diese Nummer gegeben. Er wischte sich die Finger an der Hose ab und ließ sich auf den Boden nieder.

Nun vielleicht … vielleicht war das gar nicht so schlecht. War das nicht genau das, was er wollte? Einen Neuanfang? Mit Herrn Weiner, seinem ehemaligen Nachbarn, hätte er sich ohnehin nicht mehr unterhalten. Was hätte er zu reden gehabt mit dem rollstuhlfahrenden Alkoholiker, dessen Brathähnchen bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Feueralarm ausgelöst hatten? Frau Johansson hatte ihm nichts mehr zu sagen, er war über achtzehn, sogar über zwanzig, nein: Diese Verbindung zu kappen war nur sinnvoll für ihn. Und die Nummer der Bank würde sich herausfinden lassen.

Ja, dachte Kress. Er war frei.

Jetzt musste er bloß diese Wandputzapokalypse in den Griff bekommen.

Während er an diesem Morgen sieben Jahre später das dampfende Wasser in den Papierfilter laufen ließ und dem leisen Knistern lauschte, mit dem das Kaffeemehl den Kontakt zum Wasser quittierte, fragte sich Kress, ob die Verspätung schon wach war. Ob sie wohl, nachdem sie gestern getrennter Wege gegangen waren, überhaupt noch einmal an ihn gedacht hatte? Andererseits, warum hätte sie an ihn denken sollen? Unzweifelhaft war er ihr lediglich durch seine Unfreundlichkeit aufgefallen. Das mit der Unfreundlichkeit war allerdings dumm gewesen, ein Ärgernis, sein Charakter hatte ihm im Weg gestanden, da musste er ran.

Er öffnete das Fenster und schaute hinaus in den Innenhof. Missbilligend nahm er zur Kenntnis, dass in einer der Nachbarwohnungen bereits Licht brannte. »Hm«, machte er und suchte die gegenüberliegende Fassade ab. Gieshübler war nirgends zu sehen. Wie ungewöhnlich. Normalerweise wartete Gieshübler um diese Zeit schon irgendwo in der Nähe.

Kress nahm einen Blechtopf und eine Schöpfkelle und neigte sich aus dem Fenster. Däng, däng, däng, däng, däng, hämmerte er Kelle an Topf. Er beugte sich nach oben und nahm prüfenden Blicks das Dach in Augenschein. Als nichts geschah, wiederholte er das Hämmern. Hinter einem Fenster gegenüber wurde das Licht angeknipst.

»Gieshübler!«, rief er. Seine Stimme hallte von den Wänden zurück. »GIESHÜBLER!«

Auf der gegenüberliegenden Seite wurde das Fenster aufgerissen.

»Sag mal, Alter, hast du ein Rad ab?«, rief von drüben der Nachbar, ein recht ungepflegt wirkender Mensch mit zerzausten dunklen Haaren. Kress machte ein unzufriedenes Gesicht. Er bevorzugte es, nicht zu antworten.

»Sag mal, hallo, ich rede mit dir! Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«

»Ich frage mich, wer Ihnen gestattet hat, mich mit dem vertraulichen Du anzureden«, rief Kress quer durch den Innenhof zurück. »Um aber Ihre Frage zu beantworten: Es ist sechs Uhr siebzehn.«

»Sechs Uhr siebzehn! Du hast ja wohl komplett den Arsch offen!«

Kress stemmte die Hände auf die Fensterbank, plusterte sich auf.

»Entschuldigen Sie mal, wie reden Sie denn mit mir?«

»Es ist sechs Uhr siebzehn! Wir versuchen zu schlafen!«

Kress wollte etwas erwidern in der Art, es dürfe sich nicht wundern, wer es im Leben zu nichts brachte, wenn man um sechs Uhr siebzehn noch schlief, kam aber nicht dazu, weil in diesem Moment zwei Stockwerke unter ihm ein weiteres Fenster geöffnet wurde.

»’tschuldigung, könnt ihr zwei das vielleicht irgendwann tagsüber austragen?«

Der erste Nachbar schien etwas erwidern zu wollen, verkniff sich seine Bemerkung jedoch und warf Kress stattdessen einen hasserfüllten Blick zu.

»Fick dich«, rief er herüber. Damit knallte er sein Fenster zu.

Kress, zitternd vor Empörung, hätte am liebsten eine Granate durch das verfeindete Fenster geschmettert.

»Mein Herr«, schrie er zurück. »Ficken! Sie! Sich! Selbst!«

Damit rammte auch er sein Fenster zu. Einige Augenblicke lang blieb er reglos in der Düsternis seiner Küche stehen. Dann, für den Fall, dass Gieshübler doch noch auftauchte, stellte er das Fenster auf Kipp und verfügte sich in sein Arbeitszimmer, wo er sich an den zu schreibenden Brief setzte.

Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,

mit diesem Schreiben bewerbe ich mich auf die von Ihnen ausgeschriebene Stelle als studentische Hilfskraft. Wie Ihnen unzweifelhaft bekannt ist, bin ich ein Experte für die deutschsprachige Literatur des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Aus diesem Grund halte ich mich für in besonderem Maße geeignet …

Nein! Stopp! Scheußlich! Geist- und seelenlos, Doktor Schleicher würde augenblicklich einen Brechkrampf erleiden. Er rupfte das Blatt aus der Schreibmaschine, knüllte den Zettel zusammen und schleuderte ihn in die Ecke. Inzwischen arbeitete er seit einer geschlagenen halben Stunde an dem vermaledeiten Bewerbungsschreiben, sieben Versionen hatte er geschrieben und wieder verworfen, alles Mist, nichts passte, im Übrigen, der Nachbar, dieses Riesenarschloch, ging ihm nicht aus dem Kopf, und zu allem Überfluss erwischte er sich ständig dabei, wie er den Kopf hob und nach dem Bild der Verspätung sah, das ihn von der Wand her anblickte.

Er schüttelte den Kopf. Noch mal.

Lieber Dr. Schleicher,

schon lange treibt mich der Wunsch um, ein Stück meines akademischen Weges gemeinsam mit Ihnen …

Es war in diesem Moment, dass er von der Küche her ein Geräusch wahrzunehmen meinte. Er hob den Kopf und lauschte. Ja, da war etwas, ganz leise, kaum mehr als das Ticken eines Uhrzeigers. Er stand auf, schlich auf Zehenspitzen in den Flur und lugte durch die Küchentür, die einen Spaltbreit geöffnet stand.

»Gieshübler!«, unwirsch zog er die Tür auf. »Sie haben keinen Begriff, was ich Ihretwegen für einen Ärger hatte. Es ist ganz und gar inakzeptabel, dass man sich auf Sie nicht mehr verlassen kann.«

So ärgerlich war Kress, dass er beinahe über den Dampfkochtopf stolperte. Mit zwei schnellen Handbewegungen hatte er das Fenster weit aufgerissen.

Der grau-weiß gescheckte Tauberich mit der türkis-violett schimmernden Brust, der auf der Fensterbank gesessen hatte, flatterte einige Augenblicke lang durch die Luft. Dann, während Kress an den brummenden alten Kühlschrank trat und ihm eine Packung Toastbrot entnahm, landete er wieder auf der Fensterbank und blinzelte ins Innere der Wohnung.

Kress, unzufrieden, teilte ein Toastbrot in der Mitte durch und näherte sich behutsam dem Fenster. Der Tauberich ließ ihn nicht aus den Augen. Auf jede seiner Bewegungen reagierte er mit einem leichten Zucken, als wolle er sofort auf und davon fliegen. Kress, der seinerseits den Blick auf das Tier gerichtet hielt, rupfte einen kleinen Fetzen aus dem Brot und warf ihn auf die Fensterbank. Etwas zu weit, der Fetzen kullerte über den Rand und verschwand im Innenhof. Beim zweiten hatte er mehr Glück. Sofort machte sich der Tauberich darüber her.

Als er nur noch die Rinden in den Händen hielt, goss sich Kress Kaffee in ein Glas und ließ sich in den Fernsehsessel fallen, der so gedreht war, dass er zum Fenster heraus blicken konnte.

»Es ist Folgendes, Gieshübler: Ich habe eine Frau kennengelernt.«

Der Tauberich sah kurz auf, wendete sich aber sofort wieder den Brotfetzen zu.

»Ich weiß, ich weiß«, Kress hob beschwichtigend seine Hand, »ausgerechnet ich, sagen Sie. Eine Frau, das passt überhaupt nicht in mein Leben, in meinen Alltag. Gut, Sie haben recht. Und natürlich wäre zu klären, was ich einer Frau zu bieten habe. Außer meinem Intellekt. Jedoch, die Frage, die man überhaupt zunächst einmal klären muss: Will man das, eine Frau?«

Unzufrieden musterte er den Tauberich, der keinerlei Reaktion zeigte, und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Ich denke, wie Sie wissen, viel über diese Frage nach, und ich komme zu widersprüchlichen Ergebnissen. Einerseits, man muss einsam sein. Einsamkeit ist die Daseinsvoraussetzung des geistig tätigen Menschen. Wer nicht einsam ist, wird niemals seinem Geist die Konzentration abringen können, die notwendig ist, um zu wirklich tiefen Einsichten zu gelangen. Und, nebenbei gesagt, kann man sich ernsthaft vorstellen, dass hier, in dieser Wohnung, ein zweiter Mensch sich aufhält? Also dauerhaft aufhält? Nein! Lächerlich! Beispielsweise, ich mache jeden dritten Morgen meine Gymnastik. Natürlich, man könnte den anderen Menschen für die Dauer der Gymnastik in der Küche deponieren, oder man geht selbst in die Küche und macht die Gymnastik hier. Wobei in der Küche, Sie sehen es ja selbst, eigentlich kein Platz ist dafür. Und das ist überhaupt nur ein Beispiel von Hunderten, die ich bringen könnte. Die Wahrheit ist: Das Leben mit einem zweiten Menschen ist unvorstellbar.«

Er beugte sich vor und streckte den Zeigefinger aus, woraufhin der Tauberich kurz innehielt und mit ruckendem Kopf in die Wohnung blickte.

»Und trotzdem, so einfach ist es nicht. Man will eben doch, dass ein zweiter Mensch da ist. Man kann es sich zwar nicht vorstellen, bei dem Gedanken an die praktischen Implikationen dreht sich einem sogar der Magen um. Und dennoch will man es, will es unbedingt und ist bereit, einiges aufzugeben dafür. Darin liegt die eigentliche Paradoxie.«

Der Tauberich war inzwischen zum Wasserschälchen hinübergestakst und schnabelte darin herum. Kress, die Stirn gerunzelt, beobachtete ihn. Er lehnte sich zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Sie müssten die betreffende Person einmal kennenlernen, Gieshübler. Die Frau, meine ich. Literaturwissenschaftlerin. Fachlich tipptopp. Hat in Freiburg bei Büsching gehört.«

Wiederum seufzte er.

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