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In der Ukraine toben die schwersten Kämpfe auf europäischem Boden seit 1945, in Israel ist ein Ende der Gewalt nicht abzusehen. Beide Kriege drohen sich zu größeren internationalen Konflikten auszuweiten. Die alte Weltordnung ist offensichtlich an ein Ende gekommen. Wie agieren die USA und der Westen in diesen geopolitischen Krisen? Welche Konflikte warten auf die nächste US-Präsidentschaft? Bob Woodward, zweifacher Pulitzer-Preisträger und einst Aufdecker der Watergate-Affäre, gibt einmalige Einblicke hinter die Kulissen der internationalen Politik: Telefonate zwischen Putin und Biden, hektische Diplomatie in Hinterzimmern, gewagte Geheimdienstoperationen. Sein Buch nimmt uns mit an die entscheidenden Schauplätze der Gegenwart und vermittelt ein Gefühl für die Komplexität und das Risiko politischer Entscheidungen in Zeiten des Krieges. Eine investigative Reportage aus dem Maschinenraum der Diplomatie, wie sie nur Bob Woodward schreiben kann.
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Seitenzahl: 600
Veröffentlichungsjahr: 2024
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In der Ukraine toben die schwersten Kämpfe auf europäischem Boden seit 1945, in Israel ist ein Ende der Gewalt nicht abzusehen. Beide Kriege drohen sich zu größeren internationalen Konflikten auszuweiten. Die alte Weltordnung ist offensichtlich an ein Ende gekommen. Wie agieren die USA und der Westen in diesen geopolitischen Krisen? Welche Konflikte warten auf die nächste US-Präsidentschaft? Bob Woodward, zweifacher Pulitzer-Preisträger und einst Aufdecker der Watergate-Affäre, gibt einmalige Einblicke hinter die Kulissen der internationalen Politik: Telefonate zwischen Putin und Biden, hektische Diplomatie in Hinterzimmern, gewagte Geheimdienstoperationen. Sein Buch nimmt uns mit an die entscheidenden Schauplätze der Gegenwart und vermittelt ein Gefühl für die Komplexität und das Risiko politischer Entscheidungen in Zeiten des Krieges. Eine investigative Reportage aus dem Maschinenraum der Diplomatie, wie sie nur Bob Woodward schreiben kann.
Bob Woodward
Krieg
Aus dem Englischen von Sylvia Bieker, Annika Domainko, Gisela Fichtl, Stephan Kleiner, Jürgen Neubauer, Hella Reese, Nikolaus Stingl, Anke Wagner-Wolff, Alexander Weber, Andreas Wirthensohn und Henriette Zeltner-Shane
Hanser
Für meinen lebenslangen Freund und journalistischen Partner Carl Bernstein
»Die technischen und wissenschaftlichen Leistungen des modernen Menschen verstellen ihm zumeist den Blick auf seine Menschennatur und bestärken ihn in allerlei prometheischen Ambitionen und Illusionen.«
George Kennan, amerikanischer Diplomat und Vater der Theorie der Eindämmungspolitik, die verlangte, dass sich die USA der Expansion der Sowjetunion entschieden in den Weg stellen sollten.
»Ich mache auf jeden Fall weiter«, höre ich ständig von Claire McMullen, meiner bemerkenswerten Vollzeit-Mitarbeiterin bei diesem Buch. Auf jeden Fall weiterzumachen ist ihr Motto.
Claire, eine 30-jährige hervorragende Autorin und Anwältin aus Australien, hat dieses Buch möglich gemacht. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Punkt. Sie ist ein Genie. Stets umgänglich und heiter, ist sie außerdem hartnäckig. Sie hält mich dazu an, den schwierigen Storys nachzugehen, Betätigungen und Belege zu suchen. Sie drängt freundlich, aber unaufhörlich. Sie erinnert mich regelmäßig an die neuen journalistischen Wege, die erkundet werden müssen. Sie versteht die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten vielleicht besser und umfassender als ich. Sie kennt unsere Dateien genauso gut wie die öffentlich zugänglichen Quellen und stellt ständig Verbindungen zwischen ihnen her. Wenn meine Energie nachlässt, erscheint sie früh zur Arbeit, geht spät und kommt auch am Wochenende. Sie denkt unentwegt. Lässt sich nicht durcheinanderbringen. Claire hat den Überblick über Hunderte von Dateien und Interview-Transkripte, die sie persönlich mit nicht nachlassender Geschwindigkeit und Genauigkeit anfertigt.
Oft denke ich: Warum kann ich nicht so sein wie sie? Die ehrliche Antwort lautet, dass es nur eine Claire McMullen gibt. Sie wird bald ihre eigenen Bücher schreiben. Ihr Beitrag zu diesem Buch ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Voller Zuneigung, Freundschaft und überwältigender Bewunderung.
Im Februar 1989 lief Carl Bernstein, mein journalistischer Partner bei der Watergate-Affäre, eines Abends auf einer Dinnerparty in New York Donald Trump in die Arme.
»Warum kommst du nicht auch«, drängte mich Carl. Er rief mich von der Party aus an, die Ahmet Ertegun, der türkisch-amerikanische Gesellschaftslöwe und Musikproduzent, in seinem Townhouse auf der Upper East Side gab. »Alle amüsieren sich prächtig«, sagte er. »Trump ist da. Es ist wirklich interessant. Ich habe mich mit ihm unterhalten.«
Bernstein war fasziniert von Trumps Buch The Art of the Deal. Etwas widerstrebend erklärte ich mich bereit dazuzukommen, hauptsächlich, wie Carl mich häufig erinnert, weil ich den Schlüssel zu seinem Apartment brauchte, in dem ich damals vorübergehend wohnte.
»Bis dann«, sagte ich zu ihm.
Es war 17 Jahre her, dass Carl und ich zum ersten Mal bei Storys zum Einbruch im Watergate Hotel am 17. Juni 1972 zusammengearbeitet hatten. Trump warf einen Blick auf uns, wie wir da beieinanderstanden — wir waren damals um die 45 —, und kam zu uns herüber. »Wäre es nicht toll, wenn Woodward & Bernstein Donald Trump interviewen?«, sagte er.
Carl und ich sahen einander an.
»Klar«, sagte Carl. »Wie wär’s mit morgen?«
»Ja«, sagte Trump. »Kommen Sie in mein Büro im Trump Tower.«
»Der Kerl ist interessant«, versicherte mir Carl, als Trump außer Hörweite war.
»Aber nicht in politischer Hinsicht«, sagte ich.
Trump, ein Unternehmer und Geschäftemacher mit einem sorgfältig genährten und gepflegten Image, das schon damals darauf angelegt war, andere gezielt und mit einer Spur Rücksichtslosigkeit zu manipulieren, weckte sofort mein Interesse.
Die Mikrokassette mit dem Trump-Interview und die maschinenschriftliche Transkription wurden zusammen mit einem Exemplar seines Buches in einen Umschlag gesteckt und gingen irgendwann in Unmengen von Unterlagen, Interview-Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitten verloren.1
Ich bin sammelwütig. Carl und ich haben über 30 Jahre lang danach gesucht.
Als ich ihn im Dezember 2019 für das zweite meiner drei Bücher über seine Präsidentschaft — Wut — im Oval Office interviewte, scherzte ich mit Präsident Trump über »das verloren gegangene Interview«.
»Wir haben an einem Tisch gesessen und uns unterhalten«, entsann sich Trump.2 »Ich kann mich noch gut erinnern.« Er sagte, ich solle versuchen, es zu finden, denn er glaube, es sei ein großartiges Interview.
Vergangenes Jahr, 2023, begab ich mich zu einem Depot, wo meine Unterlagen verwahrt werden, und sichtete Hunderte von Kartons mit alten Akten. In einer Schachtel mit verschiedenen Zeitungsausschnitten aus den 1980ern stieß ich auf einen schlichten, leicht ramponierten Umschlag — das Interview.
Es ist ein Porträt des jungen Trump im Alter von 42 Jahren, der sich ausschließlich auf seine Immobiliengeschäfte, aufs Geldverdienen und auf seine Prominenz konzentriert. Doch was seine Zukunft angeht, bleibt er wolkig.
»Ich habe wirklich vor, das tollste Hotel zu bauen«, sagte uns Trump 1989. »Deswegen setze ich auch Suiten obendrauf. Ich baue tolle Suiten.
Sie fragen mich, wohin die Reise geht, und ich glaube, das kann ich Ihnen gar nicht sagen«, sagte Trump. »Wenn alles so bleiben würde, wie es jetzt ist, könnte ich Ihnen wahrscheinlich ziemlich genau sagen, wohin die Reise geht.« Aber, betonte er, »die Welt ändert sich.« Das war nach seiner Überzeugung die einzige Gewissheit.
Außerdem sprach er davon, dass er sich unterschiedlich verhalte, je nachdem, in welcher Gesellschaft er sich befand. »Wenn ich mit Kerlen zusammen bin — also Bauunternehmern und so weiter —, reagiere ich auf eine bestimmte Weise«, sagte Trump und wies dann auf uns. »Wenn ich weiß, dass ich zwei gestandene Profis mit eingeschalteten Tape-Rekordern vor mir sitzen habe, verhalte ich mich natürlich anders.«
»Viel interessanter wäre, wie ich wirklich bin, im Gegensatz zur Fassade«, sagte er über sich selbst. Ich machte mir so meine Gedanken über das »wie ich wirklich bin«.
»Das ist viel interessanter. Das hat noch keiner zu sehen gekriegt«, fügte Trump hinzu.
Er inszenierte sich permanent selbst, und an diesem Tag waren wir die Empfänger seiner totalen Charmeoffensive.
»Es ist nie das Gleiche, wenn jemand vor einem sitzt und sich buchstäblich Notizen macht. Wissen Sie, da benimmt man sich, und das ist offen gesagt bei Weitem nicht so interessant, wie wenn man so richtig aus der Rolle fällt.«
Außerdem schien ihm sehr daran zu liegen, knallhart und stark zu wirken.
»Das Schlimmste am Fernsehen-Machen ist, dass sie einen dafür mit Schminke zukleistern«, sagte Trump. »Heute Morgen habe ich was gemacht, und sie schminken einem das Gesicht, und was dann? Geht man duschen und wäscht es sich ab, oder lässt man’s drauf? Und im Baugewerbe schminkt man sich nicht. Da kriegt man Probleme, wenn man sich schminkt.«
Wir baten Trump, uns die einzelnen Schritte eines seiner Immobiliengeschäfte zu erklären. Wie kommen sie zustande?
»Instinktiv«, sagte er sofort. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was das ist, verstehen Sie. Aber Instinkt ist viel wichtiger als jedes andere Element, wenn man die richtigen Instinkte hat. Und die schlechtesten Geschäfte, die ich gemacht habe, waren die, bei denen ich meinem Instinkt nicht gefolgt bin. Und bei den besten Geschäften, die ich gemacht habe, bin ich meinem Instinkt gefolgt und habe nicht auf die Leute gehört, die gesagt haben: ›Das kann unmöglich klappen.‹
Sehr wenige Leute haben richtige Instinkte«, sagte er. »Aber ich habe Leute mit richtigen Instinkten Dinge tun sehen, die andere Leute einfach nicht hinkriegen.«
Gibt es einen Masterplan?
»Ich glaube nicht, dass ich definieren könnte, was der große Masterplan ist«, sagte er in Bezug auf sein Leben. »Das verstehen Sie sicher. Aber instinktmäßig passt irgendwie alles zusammen. Ich sag Ihnen was: Wenn Sie’s rauskriegen, lassen Sie es mich wissen. Es würde mich interessieren. Es würde mich wirklich interessieren.«
Ich fragte nach seinem sozialen Gewissen. Ob es ihn »in die Politik oder irgendeine öffentliche Rolle« führen könne.
»Na ja, wissen Sie, für mich ist das alles sehr interessant«, sagte er. »Neulich habe ich mir in Atlantic City einen Boxkampf angesehen, und das sind raue Burschen, wissen Sie, körperlich raue Burschen. Und in gewissem Sinn auch mental stark, okay. Ich meine, die schreiben keine Bücher, aber sie sind in gewissem Sinn mental stark.
Und der Champion hat verloren, und er wurde von jemand besiegt, der zwar ein guter Kämpfer ist, von dem aber keiner erwartet hat, dass er gewinnt. Und nach dem Kampf wurde der Boxer interviewt, und sie haben ihn gefragt: ›Wie haben Sie das gemacht? Wie haben Sie gewonnen?‹
Und er hat gesagt: ›Ich bin einfach mit den Schlägen mitgegangen, Mann. Ich bin einfach mit den Schlägen mitgegangen.‹ Ich fand diese Formulierung großartig«, sagte Trump, »weil sie ebenso sehr das Leben wie das Boxen oder sonst irgendetwas betrifft. Man geht mit den Schlägen mit.«
Blickt man heute auf Trumps Leben zurück — auf seine Immobiliengeschäfte, seine Präsidentschaft, die Amtsenthebungsverfahren, die Ermittlungen, die Zivil- und Strafprozesse, eine Verurteilung, das fehlgeschlagene Attentat, die Kampagne zur Wiederwahl —, dann hat er genau das getan. Die Schläge ausgependelt.
»Jeder, der sagt, wo er in zehn Jahren sein wird, ist ein Schwachkopf«, fügte Trump hinzu. »Die Welt ändert sich. Es gibt Wirtschaftskrisen. Es gibt Rezessionen. Es gibt Aufschwünge. Es gibt Abschwünge. Es gibt Kriege. Dinge, die sich der eigenen Kontrolle und meistens auch der Kontrolle der Leute entziehen. Also muss man wirklich mit den Schlägen mitgehen, und es ist dumm, zu weit im Voraus vorherzusagen, wohin die Reise geht.«
Damals war er regelrecht besessen von kritischen Schlagzeilen über angebliche Verlustgeschäfte, die er gemacht habe.
»Wenn man verkauft, macht man mehr Geld, als wenn man kauft«, erklärte er. »Als Verkäufer ist man heutzutage ein Loser, habe ich festgestellt. Psychologisch gesehen. Und das ist falsch.
Ich sag Ihnen was. Ich habe jemand namens Merv Griffin so richtig nass gemacht«, sagte Trump. Griffin war ein Talkshow-Moderator und Medienmogul. »Ihn einfach nass gemacht. Er ist zu mir reingekommen — wo wir gerade von Schminke reden. Er ist reingekommen und war geschminkt, weil er im Fernsehen war, wissen Sie, er kommt also in mein Büro. Er bietet an, mir alles von Resorts International abzukaufen, was ich nicht haben will«, sagte Trump. »Ich sage immer nur Nein, Nein, Nein, und er geht mit dem Preis immer höher, immer höher, immer höher. Und ganz plötzlich ist das Ganze ein unglaubliches Geschäft für mich. Ein unfassbares Geschäft.«
»Und dazu«, fügte Trump hinzu, »habe ich noch das Taj Mahal gekriegt, und das ist das absolute Kronjuwel der Welt.« Er sprach von dem gleichnamigen Casino in Atlantic City, nicht von dem indischen Mausoleum.
»Die Sache ist die, dass die Leute dachten, ich hätte Verlust gemacht«, sagte er. »Passiert ist nämlich Folgendes: Es gibt seit fünf Jahren eine Stimmungslage in der Welt, dass man als Verkäufer ein Loser ist, auch wenn man mit riesigem Gewinn verkauft.«
Ich fragte Trump: Was lesen Sie, wenn Sie morgens aufstehen? Mit wem reden Sie? Auf welche Informationsquellen greifen Sie zurück?
»Das meiste ist ganz normal«, sagte Trump. »Ich lese das Wall Street Journal und die New York Times. Ich lese die Post und die News, nicht so sehr aus geschäftlichen Gründen, sondern weil ich nun mal in dieser Stadt lebe und die Zeitung über die Stadt berichtet.« Die New York Post war ein Boulevardblatt, das sich fast schon obsessiv mit Trump beschäftigte.
»Ich verlasse mich weniger auf Menschen als auf diesen allgemeinen Informationsfluss«, sagte er. »Außerdem rede ich mit Taxifahrern. Ich fliege in andere Städte und frage: Was halten Sie von diesem oder jenem? So habe ich Mar-a-Lago gekauft. Ich habe mich mit einem Taxifahrer unterhalten und ihn gefragt: ›Was ist in Florida angesagt? Was ist das tollste Haus in Palm Beach?‹
›Das tollste Haus ist Mar-a-Lago«, hat der Taxifahrer gesagt.
›Wo ist das?‹, habe ich gefragt. ›Fahren Sie mich hin.‹« Dann fügte Trump hinzu: »Ich war in Palm Beach, ich habe im Breakers gewohnt und bin vor Langweile fast gestorben.«
Trump kaufte Mar-a-Lago schließlich für sieben Millionen Dollar.
»Ich rede mit jedem«, sagte er. »Ich nenne das immer meine Meinungsumfrage. Die Leute sagen mir immer im Scherz, dass Trump bekanntlich mit jedem redet. Und das stimmt, ich rede mit den Bauarbeitern und den Taxifahrern, und das sind die Leute, mit denen ich in vielerlei Hinsicht auch am besten klarkomme. Ich rede mit allen.«
Trump behauptete, er habe 9,9 Prozent eines Casinounternehmens, Bally Manufacturing, gekauft und in kurzer Zeit 32 Millionen verdient. Dann sagte er, er habe »an die 100 Millionen dafür ausgegeben, Aktien von Bally zu kaufen«, was zu einem Prozess gegen ihn geführt habe. Die Anwälte der Gegenseite hätten Zugriff auf seine Unterlagen verlangt.
»Sie haben versucht zu beweisen, dass ich gigantische Recherchen über diese Firma angestellt hätte, dass ich Wochen und Monate damit zugebracht hätte, sie zu analysieren«, sagte Trump. »Und sie haben vermutet, die Akten dazu würden sich bei mir bis unter die Decke stapeln. Also haben sie die Herausgabe beantragt, aber Papiere haben sie von mir keine gekriegt. Es gab nämlich praktisch keine Akten. Also hat mich einer von ihren teuren Anwälten gegrillt.«
Trump imitierte den Anwalt: »›Wie lange im Voraus wussten Sie davon, Mr. Trump? Und wann haben Sie es erfahren?‹
Mit anderen Worten, die wollten das Ganze als große Verschwörung hinstellen«, sagte Trump. »Ich habe gesagt: ›Keine Ahnung, ich habe mich erst an dem Tag, an dem ich es gekauft habe, damit beschäftigt.‹
Der Anwalt war fassungslos. ›Wie viele Auskünfte haben Sie denn eingeholt?‹
›Gar keine, ich hatte einfach so ein Gefühl.‹
Die konnten einfach nicht glauben, dass jemand 100 Millionen nimmt und sie ohne richtige Recherche in eine Firma steckt«, sagte Trump. »Ich hatte das alles im Kopf, aber abgesehen davon konnten die sich einfach nicht vorstellen, dass so was passiert. Die Unternehmensdenkweise, die Unternehmensmentalität kann sich nicht vorstellen, dass so etwas passiert. Das sind meine besten Deals.«
Carl fragte Trump, ob er sich selbst in einem öffentlichen Amt sehen könne.
»Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher«, sagte Trump. »Ich bin noch jung. Theoretisch, statistisch bleibt mir noch viel Zeit. Ich habe Leute so viel weggeben sehen, dass sie nichts mehr haben, wenn schlechte Zeiten kommen.«
Er sagte, er wolle eine Stiftung gründen, die Donald J. Trump Foundation. »Wenn ich den Löffel abgebe — wie es so schön heißt —, möchte ich dieser Stiftung eine gewaltige Summe hinterlassen. Einiges meiner Familie und einiges der Stiftung. Man hat seiner Familie gegenüber eine Verpflichtung.«
Trump redete von »schlechten Zeiten«, als wären sie unvermeidlich. »Irgendwie bereite ich mich immer gern auf das Schlimmste vor. Und das klingt nicht nach einer sonderlich erfreulichen Feststellung«, sagte er. »Ich weiß, dass schlechte Zeiten kommen. Die Frage ist nur, wann.«
Er kam auf seine private 70-Meter-Jacht zu sprechen, die er dem reichen saudischen Geschäftsmann und Waffenhändler Adnan Khashoggi abgekauft hatte. Trump hatte das Schiff in Trump Princess umgetauft. »Sich heutzutage was Neues bauen zu lassen würde 150 bis 200 Millionen Dollar kosten. Wenn Sie beide wollen, machen wir mal eine Ausfahrt oder so … Das Schiff ist phänomenal. Wenn Sie das Time Magazine lesen, tue ich nichts anderes, als den ganzen Tag darauf herumzuschippern. So ist es aber nicht.«
Wer ist Ihr bester Freund?, fragte ich.
Er nannte ein paar Namen von Geschäftsleuten und Investoren, Leuten, die für ihn arbeiteten und die weder mir noch Carl etwas sagten, sowie seinen Bruder Robert. »Durch die Bank eher Geschäftskontakte«, sagte er. »Aber nur, weil das die Leute sind, mit denen ich zu tun habe.
Aber Freundschaft ist etwas Seltsames. Wissen Sie, Freundschaft beschäftigt mich ständig. Manchmal möchte man Leute auf die Probe stellen; im Augenblick will jeder mein Freund sein, aus welchem Grund auch immer. Na gut, aus naheliegenden Gründen.
Manchmal würde man sie gern auf die Probe stellen und eines Tages bloß eine Woche lang verbreiten, dass Trump auf die Schnauze gefallen ist, und dann ruft man sie an, lädt sie zum Essen ein und schaut, wer kommt. Das wollte ich schon oft tun. Alle Welt einen Monat lang glauben machen, dass ich auf die Schnauze gefallen bin, bloß um zu testen, ob die Freunde tatsächlich Freunde sind.
Ich bin ein sehr loyaler Mensch. Loyalität gegenüber anderen ist mir wichtig. Echte Freunde und echte Feinde zu haben ist mir wichtig. Ich habe Leute erlebt, die an der Spitze waren und nicht an der Spitze geblieben sind, und ganz plötzlich … sind dieselben Leute, die ihnen in den Hintern gekrochen sind, verschwunden. Einfach weg.
Ein typisches Beispiel war ein Banker. Ein echter Spitzenbanker bei einer der großen Banken — der Citibank. Und er war zuständig für die Vergabe von riesigen Krediten an sehr bedeutende Leute.
Mit diesen Krediten hat er eine Menge Leute reich gemacht, und zwei Jahre später hat er mich angerufen. Er hat gesagt: ›Weißt du, es ist unglaublich, dieselben Leute, die meine besten Freunde waren, die mich ständig angerufen haben und mir in jeder Hinsicht in den Hintern gekrochen sind, zu denen komme ich jetzt nicht mal mehr telefonisch durch … Als er bei der Bank ausgeschieden ist, haben sie seine Anrufe nicht mehr angenommen.
Mit mir wäre ihm das nicht passiert.«
Trump schilderte seine Strategie, die Zahlung von Strafen, die wegen Verstößen gegen die Bauordnung gegen ihn verhängt wurden, zu verweigern, bis die Inspektoren verschwanden oder die Sache vergaßen.
»Ich habe vom ersten Tag an gesagt, die können mich mal«, sagte Trump von ihnen.
»Als ich in Brooklyn war, sind Inspektoren aufgekreuzt und haben wegen Gebäuden, die absolut in Ordnung waren, Strafen gegen mich verhängt«, erinnerte sich Trump. »Ich habe gesagt: ›Ihr könnt mich mal.‹ Und sie haben noch mehr Strafen gegen mich verhängt. Und noch mehr. Und einen Monat lang ging es mir wirklich mies. Ich habe immer mehr Strafen gekriegt — und alle waren sie unbegründet. Aber sie verhängen sie trotzdem, denn es geht ihnen nur um eins: Wenn man bezahlt, kommen sie immer wieder. Was mir passiert ist, war, dass sie irgendwann einfach gesagt haben: ›Der kann uns mal, der Scheißkerl.‹ Und dann sind sie zu jemand anders gegangen.
Die Sache ist die: Wenn man einknickt, macht einem das viel mehr Ärger, als es wert ist«, sagte Trump.
»Das Gleiche gilt für die Mafia. Wenn man sich auf Geschäfte mit denen einlässt, kommen sie immer wieder. Wenn man ihnen sagt, sie sollen sich verpissen — oder in dem Fall vielleicht ein bisschen netter. Aber wenn man ihnen sagt: ›Vergiss es, Mann, vergiss es, da ist nichts zu holen‹, dann versuchen sie am Anfang vielleicht, einen unter Druck zu setzen, aber am Ende suchen sie sich ein leichteres Opfer, weil es ihnen zu viel Arbeit macht. Inspektoren. Gangster. Gewerkschaften. Okay?«
Das war Trumps grundlegende Philosophie.
Carl fragte: Wer sind Ihre größten Feinde?
»Also, das sage ich nur sehr ungern, weil Sie dann nämlich einfach hingehen und sie interviewen. Ich hasse es, die Rolle des Kritikers zu spielen.«
Tatsächlich spielte er sie furchtbar gern. »Ganz offensichtlich ist es Ed Koch«, sagte er. »Ed Koch war der schlechteste Bürgermeister in der Geschichte der Stadt New York.«
35 Jahre später kritisiert Trump Gegner immer noch mit dem gleichen übertriebenen Affekt. »Joe Biden ist der schlechteste Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten«, sagte er, nachdem Präsident Biden im Juli 2024 angekündigt hatte, dass er sich nicht zur Wiederwahl stellen werde.
Schon 1989 war Trumps ganze Persönlichkeit auf das Gewinnen, Kämpfen und Überleben fixiert. »Und das«, sagte er, »schafft man nur mit Instinkt.
Wenn die Leute wissen, dass man einknickt«, sagte er, »wenn die Leute wissen, dass man schwach ist, fallen sie über einen her.«
Es sei, sagte er, »eine komplette Inszenierung. Eine Art, sich zu inszenieren.
Man muss sein Publikum kennen und im Übrigen für manche Leute ein Killer sein und für manche ein Schätzchen. Für manche anders. Und für manche beides.«
Killer, ein Schätzchen oder beides. Das ist Donald Trump.
Was für eine bemerkenswerte Zeitkapsel aus dem Jahr 1989: das vollständige Psychogramm eines Mannes, damals ein 42-jähriger Immobilienkönig aus Manhattan. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Donald Trump einmal Präsident oder eine prägende politische Figur sein würde. Die gleichen Instinkte, über die ich während seiner Präsidentschaft berichtete, sind damals schon genauso sehr das Markenzeichen seines Charakters. Hier, in diesem 35 Jahre alten Interview, erkennen wir in Trumps eigenen Worten den Ursprung des Trumpismus.
35 Jahre später
Am 6. Januar 2021 sah sich Präsident Donald Trump in seinem privaten Speisezimmer neben dem Oval Office im Fernsehen an, wie Aufrührer das Kapitol stürmten. Sie kletterten auf die Mauer des historischen Gebäudes, schlugen Fenster ein und versuchten, die Eingangstür mit einem Rammbock aufzubrechen.
Draußen wurden Galgen errichtet. »Hängt Mike Pence. Hängt Mike Pence. Hängt Mike Pence«, forderten Trumps Anhänger. Der Vizepräsident hatte sich geweigert, die formelle Bestätigung von Bidens Wahlsieg 2020 zu blockieren.
»Wo ist der Präsident?«1 Der Oppositionsführer im Repräsentantenhaus, der Republikaner Kevin McCarthy, rief im Weißen Haus an und verlangte, mit dem Präsidenten verbunden zu werden. McCarthys Büro wurde verwüstet. Das der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, wurde geplündert. Anhänger von Trump fotografierten sich mit den Füßen auf ihrem Schreibtisch. Sie hinterließen eine Nachricht auf ihrer Computertastatur: WIR WERDEN NICHT NACHGEBEN.
Führende Kongressabgeordnete, darunter McCarthy und Pelosi, waren vom Sicherheitsdienst des Kapitols eilends aus dem Gebäude gebracht und zu einem sicheren Ort gefahren worden, Fort McNair, ein Militärstützpunkt ein paar Häuserblocks vom Stadion der Washington Nationals entfernt. Aber ihre Mitarbeiter befanden sich immer noch dort, versteckten sich bei ausgeschaltetem Licht in Büros, deren Türen sie mit Schreibtischen verrammelt hatten.
Präsident Trump kam schließlich an den Apparat.
»Sie müssen herauskommen und diesen Leuten sagen, sie sollen AUFHÖREN! Wir sind überrannt worden«, sagte McCarthy. Er war hochgradig erregt. »Gerade ist jemand angeschossen worden.«
Um 14:44 Uhr wurde Ashli Babbitt, eine ehemalige Angehörige der Air Force, im Kapitol von einem Polizeibeamten erschossen, als sie und andere versuchten, in der Nähe der Abgeordnetenbüros eine Tür aufzubrechen. Zu den Aufrührern gehörten Anführer rechtsradikaler Pro-Trump-Milizen wie etwa der Oath Keepers und der Proud Boys ebenso wie Verschwörungstheoretiker von Gruppen wie QAnon. Was als Trump-Kundgebung begann, war zu einem gewalttätigen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung der Vereinigten Staaten eskaliert.
»Ich setze einen Tweet ab oder so was«, erwiderte Trump.
»Die haben das Kapitol übernommen!«, schrie McCarthy ihn an. »Sie müssen ihnen sagen, sie sollen aufhören. Sie müssen sie hier rausschaffen. Schaffen Sie sie hier raus. Sofort.«
Der Präsident schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen. »Tja, Kevin, diese Leute regen sich wohl mehr über die Wahlen auf als Sie«, sagte Trump.
Späteren Schätzungen des FBI zufolge drangen am 6. Januar 2021 über 2000 Menschen ins Kapitol ein. Fünf kamen ums Leben. 172 Polizeibeamte wurden verletzt, und es gab über 500 Festnahmen. Die Kosten für die Schäden an dem historischen Gebäude beliefen sich auf über 2,7 Millionen Dollar.
Präsident Trump brauchte drei Stunden und sieben Minuten, um einen Tweet abzusetzen, mit dem er seine Anhänger aufforderte, »nach Hause zu gehen«.2
Zwei Monate zuvor hatte Donald Trump die Präsidentschaftswahlen von 2020 gegen Joe Biden verloren. Aber er weigerte sich, die Niederlage anzuerkennen. Stattdessen sagte er, die Wahlen seien »manipuliert«, »ein Betrug an der amerikanischen Öffentlichkeit« und »gestohlen«.
Noch jetzt, 35 Jahre nach unserem Interview, war Trump überzeugt, dass sich jede Niederlage — und sei es die bei einer Präsidentschaftswahl — einfach beiseiteschieben ließ, wenn er schlicht nicht einknickte.
Bei seiner »Save America«-Kundgebung am 6. Januar forderte er seine Anhänger auf, »wie verrückt zu kämpfen«.3
»Wir haben diese Wahl gewonnen, und zwar mit einem Erdrutschsieg.
Wir werden niemals aufgeben. Wir werden niemals klein beigeben.
Wir gehen zum Kapitol.«
Der Sonderausschuss des Repräsentantenhauses zur Untersuchung des Angriffs vom 6. Januar kam später zu dem Schluss, Trump habe »den erfolgreichen, aber betrügerischen Versuch unternommen, Millionen von Amerikanern davon zu überzeugen, dass ihm die Wahl gestohlen worden sei«.4
Garret Miller, ein Trump-Anhänger, der am 6. Januar eine Schusswaffe ins Kapitol mitbrachte, sagte: »Ich war überzeugt, dass ich die Anweisungen des ehemaligen Präsidenten Trump befolgte.«5
Ein anderer Anhänger, Lewis Cantwell, sagte aus, er habe im Fernsehen gesehen, wie Präsident Trump »der Welt sagte«, die Wahl sei gestohlen worden. »Was sollte ich als patriotischer Amerikaner, der für ihn gestimmt hat, denn sonst glauben?«
Stephen Ayres, der sich an diesem Tag ebenfalls am Sturm auf das Kapitol beteiligt hatte, sagte, er habe »an [Trumps] Lippen gehangen«. Er hatte auf Social Media gepostet, dass es »zum Bürgerkrieg kommen wird«, falls Trump nicht für eine zweite Amtszeit an der Macht bliebe.
»Sie müssen Joe Biden anrufen, und zwar noch heute«, sagte Kevin McCarthy, der Oppositionsführer, kurz nach dem Angriff zu Trump.6
Nein, sagte Trump. Er behauptete, Biden habe nur mittels Betrug gewonnen.
»Hören sie auf, das zu sagen«, sagte McCarthy. »Hören Sie einfach auf damit. Sie müssen Joe Biden im Schreibtisch einen Brief hinterlassen.«
Eine Tradition.
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Trump.
McCarthy war aufgewühlt und erschöpft. Die Gewalt vom 6. Januar lag ihm auf der Seele, hatte ihn erschüttert und traumatisiert.
»Wegen dieses Tages wird man Ihr Vermächtnis jetzt anders sehen«, mahnte ihn McCarthy. »Rufen Sie Joe Biden an.«
Nein, sagte Trump.
McCarthy sagte ihm, für das Land sei es wichtig, dass zwischen dem bisherigen und dem nachfolgenden Amtsträger so etwas wie ein Gespräch stattfinde. Ein Präsident solle seinen Nachfolger anerkennen.
»Okay, okay, okay«, sagte Trump schließlich. Er wollte McCarthy abwimmeln, doch der blieb dran.
»Was glauben Sie, was ihre Enkel einmal von Ihnen halten, wenn Sie das nicht tun?«, fragte McCarthy.
»Okay, okay«, wiederholte Trump.
Der Anruf bei Biden kam niemals zustande.
Doch an seinem letzten Abend im Oval Office, am 19. Januar 2021, schrieb Trump von Hand einen zweitseitigen Brief an Joe Biden.7 Um 22:00 Uhr wurde er damit fertig, unterschrieb ihn mit Donald J. Trump und legte ihn in den Schreibtisch. Später erzählte Biden seiner Pressesprecherin Jen Psaki, der Brief sei »entsetzlich huldvoll«.
Am frühen Morgen des 20. Januar 2021 verließ Trump zusammen mit der First Lady Melania das Weiße Haus mit dem Ziel Mar-a-Lago, dem Club und Anwesen in Palm Beach. An Bord der Air Force One bekam Trump einen Anruf von Ronna McDaniel, der Vorsitzenden des Republican National Committee. Sie wollte ihn im Namen des Gremiums verabschieden.
»Mir reicht’s«, schnitt Trump ihr das Wort ab.8 »Ich gründe meine eigene Partei.«
McDaniel erschrak. »Das dürfen Sie nicht«, beschwor sie ihn.9 »Wenn Sie das tun, werden wir nie mehr gewinnen.«
»Das ist nicht mehr deren Republikanische Partei. Das ist jetzt Donald Trumps Republikanische Partei«, hatte Trumps ältester Sohn Don Jr. auf der »Save America«-Kundgebung am 6. Januar vom Podium aus erklärt.10
»Genau. Ohne mich werdet ihr nie mehr gewinnen«, fauchte Trump sie an. »Und das haben die Republikaner auch verdient, weil sie nicht zu mir gehalten haben.« Er wollte die Partei niedermachen.
Später machte die Führung des Republican National Committee Trumps Beratern klar, dass die Rachsucht des ehemaligen Präsidenten nicht nur seinem Vermächtnis, sondern auch seinen Finanzen schaden würde. Die Partei drohte damit, seine Anwaltskosten nicht mehr zu bezahlen und den Wert der in seinem Wahlkampf verwendeten E-Mail-Liste mit den Adressen von 40 Millionen Trump-Wählern zu vernichten. Trump hatte die Liste an andere republikanische Kandidaten verkauft. Falls er versuchte, sie zu verwenden, würden sie sie kostenlos zur Verfügung stellen.
Trump gab nach. Später bestritt er gegenüber Jonathan Karl, einem Journalisten von ABC News, dass er je daran gedacht habe, seine eigene Partei zu gründen. »Ach was, das ist Quatsch. Das hat es nie gegeben«, sagte Trump. Karl veröffentlichte später den Mitschnitt seines Interviews mit McDaniel, in dem sie von Trumps Drohung berichtete.
In der Air Force One saßen Trump und Familie vorn im Flugzeug, eine Gruppe seiner engsten Berater und Mitarbeiter hinten.
»Sie sind kein einziges Mal nach hinten gekommen«, sagte ein Trump-Mitarbeiter. Weder der Präsident noch irgendein Mitglied seiner Familie. Selbst unter seinen engsten Beratern herrschte ein Gefühl von fast überwältigender Verstörtheit. Viele hatten keinerlei Plan dafür, was sie als Nächstes tun würden. Einige wussten gar nicht, wo sie leben würden. Üblicherweise blieben Mitarbeitern vom Wahltag bis zum 20. Januar etwa zweieinhalb Monate Zeit, sich auf das Leben nach dem Weißen Haus vorzubereiten.
»Für eine Menge Leute verkürzte sich diese Frist auf 13 Tage«, sagte ein Berater, weil ihnen erst nach dem 6. Januar klar gewesen sei, dass Trump das Weiße Haus räumen würde.
Am 20. Januar um 11:59 traf Trump in seiner riesigen Wohnung in Mar-a-Lago ein. Keine Tweets. Keine Reden. Um 12:01, während Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, begannen Secret-Service-Agenten, die strengen Sicherheitsvorkehrungen um Trumps Anwesen zu lockern.
Trump gefiel das nicht. Er blieb für den Rest des Tages in seinem Quartier.
»Hey, hier spricht Ihr absoluter Lieblingspräsident«, sagte Trump ein paar Tage später am Telefon zu Kevin McCarthy, dem Fraktionsvorsitzenden der Republikaner im Repräsentantenhaus. »Hören Sie, ich will mit Ihnen reden. Ich bin unten in Florida.«
Am 13. Januar hatte McCarthy im Parlament gesagt, Trump trage Verantwortung für den Angriff aufs Kapitol und forderte ihn auf, »seine Mitverantwortung einzuräumen«. Trump war vor Wut geplatzt, als er es im Fernsehen gesehen hatte, schien jedoch darüber hinweggekommen zu sein.
»Ich schaue vorbei«, sagte McCarthy. Er erzählte niemandem von dem geplanten Besuch, nicht einmal seinen Mitarbeitern. McCarthy wusste, dass Trump in jüngster Zeit nicht viele Republikaner gesprochen hatte. Er schmollte. Das Scheinwerferlicht der Medien über Mar-a-Lago hatte sich getrübt.
Der republikanische Wahlkampfstratege Ed Rollins sagte einmal von Trump: »Es gibt nur eins, was Sie über ihn wissen müssen. Er sieht den ganzen Tag fern, und abends tritt er dann im Fernsehen auf.«
Inzwischen kämpfte Trump um Aufmerksamkeit. Weder bei Twitter noch bei Facebook konnte er mehr posten, denn beide hatten ihn wegen seiner unzähligen Lügen in Zusammenhang mit den Wahlen gesperrt. Er tauchte immer öfter überraschend bei Hochzeitsempfängen in Mar-a-Lago auf.
Präsident Trump — dunkler Anzug und gelbe Krawatte — grinste, als er McCarthy am 28. Januar in Mar-a-Lago begrüßte.11 »Wissen Sie, Melania hat gesagt, die Sache hier sorgt für mehr Rummel als mein Treffen mit Putin«, sagte er. »Draußen sind vier Hubschrauber vom Fernsehen.«
McCarthys Besuch beim ehemaligen Präsidenten war überall in den Nachrichten. Dass der Spitzenmann der Republikaner im Repräsentantenhaus zum Lunch zu ihm kam, zeigte, dass Trump die Partei immer noch unter Kontrolle hatte.
»Sie wissen schon, dass das uns beiden nützt, oder?«
»Wie Sie meinen«, sagte McCarthy. »Kann sein.«
McCarthy kam in der Hoffnung, Trump weiterhin in die republikanische Fraktion im Repräsentantenhaus einbinden zu können, damit die Partei dort 2022 die Mehrheit zurückgewinnen konnte. Er musste Trump davon abbringen, unnötige Vorwahlkämpfe zu schüren und sich stattdessen für aussichtsreiche Kandidaten einzusetzen. Die beiden setzten sich zu Tisch.
»Wissen Sie, dass ich nicht mehr bei Twitter bin, hat mir irgendwie sogar geholfen«, sagte Trump.
»Ach wirklich?«
»Ja, eine Menge Leute haben gesagt, ihnen gefällt meine Politik, aber meine Tweets gefallen ihnen nicht.«
»Ja, das geht allen so.«
»Meine Zahlen sind gestiegen.«
Trump erkundigte sich nach dem bevorstehenden Amtsenthebungsverfahren im Senat. Man warf ihm Anstiftung zum Aufruhr vor.
»Ich glaube nicht, dass das zu irgendwas führen wird«, sagte McCarthy.
Er behielt recht. Am 13. Februar 2021 wurde Trump freigesprochen. Zwar stimmte eine Mehrheit von Senatoren, darunter auch sieben Republikaner, dafür, ihn für schuldig zu befinden, aber die für einen Schuldspruch notwendige Zweidrittelmehrheit wurde verfehlt. Das Ganze hatte lediglich symbolischen Charakter, da Trump nicht mehr Präsident war.
Präsident Bidens Stabschef Ron Klain, 59, mit dunkelbraunem Haar und freundlichem, energiegeladenem Auftreten, hatte Biden über 20 Jahre lang beraten. Als Biden beschloss, für die Präsidentschaft zu kandidieren, bat er Klain Anfang März 2019 zu sich nach Hause in Wilmington.
»Ich habe einfach das Gefühl, ich muss das tun«, sagte er. »Trump repräsentiert ein grundlegend anderes und falsches Politikverständnis.«
Bidens nächste Worte sollten für immer in Klains Gedächtnis haften bleiben: »Dieser Kerl ist einfach kein richtiger amerikanischer Präsident.«
Während des Wahlkampfs hatte er Trumps Charakter und politische Ansichten unaufhörlich angegriffen. Von seinem ersten Tag im Weißen Haus an erwähnte er Trumps Namen kaum noch. In der Öffentlichkeit sprach er nur noch von »meinem Vorgänger« und privat häufig von »diesem blöden Arschloch«.
Biden sagte seinen Beratern, er wolle der Präsidentschaft seinen eigenen Stempel aufdrücken. Trumps vierjährige Amtszeit, sein Umgang mit der Coronapandemie und der Aufruhr vom 6. Januar hatten das Amt selbst in Mitleidenschaft gezogen.
»Wir als Land müssen diese Trump-Geschichte immer noch ein wenig aufarbeiten«, sagte Klain. »Und das tun wir, indem wir dem amerikanischen Volk zeigen, dass die Präsidentschaft wieder funktionieren kann. Dass die Leute einen anständigen Menschen im Weißen Haus haben können.
Letzten Endes hat Donald Trump verloren, weil er die Pandemie und die Wirtschaft nicht in den Griff bekommen hat. Ungeachtet des Aktienmarkts haben sich die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen die Leute leben, in seiner Amtszeit verschlechtert.
Natürlich gibt es ein paar unentwegte Trump-Anhänger, die so sind, wie sie sind, und sie werden nicht verschwinden, und das gehört zu unserem Land«, sagte Klain. Aber Biden »ist gewählt worden, um dieses Land nach Trump voranzubringen, und genau das tut er auch. Das ist sein Auftrag.
Donald Trump kann in so vielen Arenen auftreten, wie er will, und sich so laut zu Wort melden, wie er will«, erklärte Klain. Er glaubte, dass sich Trumps anfängliche Versuche einer Schattenpräsidentschaft bis Herbst 2021 erledigt haben würden.
»Donald Trump wird ein Nebenschauplatz«, sagte er voller Überzeugung.
»Tschechows Gewehr«, war der erste Gedanke des Nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan bei der Durchsicht von Satellitenfotos, die einen beispiellosen Aufmarsch von 110.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine zeigten.
Wenn man im ersten Akt eines Bühnenstücks ein Gewehr an die Wand hängt, hatte der Dramatiker Anton Tschechow sinngemäß geschrieben, dann hat das einen Grund, und es wird irgendwann abgefeuert.
Es war April 2021, erst der dritte Monat von Bidens Präsidentschaft.1 Sullivan hatte sich noch kaum in seinem neuen Büro im Westflügel des Weißen Hauses eingerichtet.
Mit 44 war Sullivan, ein magerer Blondschopf, der jüngste Sicherheitsberater seit Henry Kissinger. Er besaß die Disziplin eines ehemaligen Marathonläufers und war für die operative Koordinierung von Bidens Außenpolitik zuständig. Als Biden ihn ernannte, attestierte er dem ehemaligen Rhodes-Stipendiaten, der sein Jura-Studium in Yale mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, einen »Intellekt, wie man ihn nur einmal im Leben triff«, und stattete ihn mit außerordentlichen Entscheidungsbefugnissen aus.
Geheimdienstinformationen zeigten außerdem die auffällige Verlegung von russischen Seestreitkräften ins Schwarze Meer, ein riesiges Binnengewässer, zu dessen Anrainerstaaten die Ukraine und Russland zählen. Man konnte Sattelschlepper sehen, die riesige Raketenwerfer und alte sowjetische Schützenpanzer transportierten. Weitere Satellitenfotos zeigten, wie russische Panzer, Artillerie, Raketen und Landungsboote auf der Krim, an der Nordküste des Schwarzen Meers, und entlang der 2000 Kilometer langen Landgrenze zwischen der Ukraine und Russland in Stellung gebracht wurden.
Laut dem jüngsten psychologischen Profil der CIA wurde Wladimir Putin, der autokratische russische Präsident, von seiner extremen Unsicherheit und seinen imperialen Ambitionen bestimmt. Putin war seiner eigenen Überzeugung nach der einzige Mensch, der Russland zu alter imperialer Größe zurückführen konnte. Er war auf die Ukraine fixiert.
Was hatte Putin vor?, fragte sich Sullivan. Handelte es sich lediglich um eine Übung, ein Kriegsspiel? War es ein reines Druckmittel, um sich gegenüber der Ukraine einen Vorteil zu verschaffen oder die USA zu zwingen, von jedweden Gesprächen über einen möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO, dem mächtigsten militärischen und diplomatischen Bündnis der Welt, Abstand zu nehmen?
Möglich war auch, dachte Sullivan, dass Putin diese Truppen dazu verwenden wollte, weitere Gebiete im Donbass einzunehmen.
Im Donbass, einer Region im Osten mit beträchtlichen Kohlevorkommen, standen sich Russland und die Ukraine seit 2014 feindlich gegenüber, als Russland die benachbarte Krim besetzt und die Kontrolle über etwa ein Drittel des Donezbeckens erlangt hatte.2 Auf beiden Seiten waren fast 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Es hatte 29 Vereinbarungen über einen Waffenstillstand gegeben, die allesamt gescheitert waren, ein Zeichen schwelender Instabilität.
Sullivan arbeitete in einem Zustand fast ständiger intellektueller Anspannung. Doch er konnte das Offensichtliche nicht ignorieren: Man verlegt nicht solche Mengen von Menschen und Material an die Grenze eines anderen Landes, wenn man nicht zumindest in Erwägung zieht, sie auch einzusetzen.
Hängte Putin gerade sein Gewehr an die Wand?
Präsident Biden und Sullivan hatten darüber debattiert, wie die Russlandpolitik der Regierung aussehen sollte. Biden hatte klare Vorstellungen.
»Es geht mir nicht um einen Neustart«, sagte Biden während seiner ersten Wochen als Präsident. »Es geht mir nicht um irgendeine Art von guten Beziehungen, sondern ich möchte zu einer stabilen und berechenbaren Vorgehensweise mit Putin finden.«
Doch bislang waren die Beziehungen zu Russland weder gut noch stabil noch berechenbar. Von ihren ersten Tagen im Amt an mussten sich Biden und Sullivan mit etlichen russischen Aggressionsakten auseinandersetzen: der nur knapp gescheiterte Giftanschlag auf Alexei Nawalny, die russische Einmischung in die US-Wahlen 2020, Hinweise darauf, dass Russen möglicherweise die Taliban dafür bezahlt hatten, Amerikaner in Afghanistan zu töten, der SolarWinds-Cyberangriff auf über 16.000 Computersysteme weltweit, darunter US-Regierungsbehörden und Schlüsselindustrien. Es war einer der schlimmsten Angriffe auf die Datensicherheit in der Geschichte der USA.
In einem Fernsehinterview auf ABC hatte Biden die Spannungen zusätzlich verschärft, als er gefragt wurde, ob er glaube, Putin sei ein »Killer«.3
»Ja«, antwortete Biden.
Der Kreml hatte den Affront als »beispiellos« bezeichnet.4 Um sein Missfallen kundzutun, berief Putin den russischen Botschafter aus Washington ab.
Jetzt trumpfte Putin mit einem spektakulären Manöver seines Militärs auf.
»Ist es überhaupt möglich, stabile und berechenbare Beziehungen zu Russland zu unterhalten?«, fragte Sullivan den Stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberater Jon Finer, während sie in seinen beengten Räumlichkeiten standen.
Finer, mit kurz geschnittenem, hellbraunem Haar und einem Kinn- und Schnurrbart, stand in der Rangfolge der öffentlichen Sichtbarkeit relativ weit unten, war jedoch von wesentlicher Bedeutung für die nationale Sicherheitsstrategie des Weißen Hauses. Er hatte als Stabschef für Außenminister John Kerry gearbeitet und davor, während des Dritten Golfkriegs und der Besetzung des Iraks, drei Jahre als ziviler Kriegsberichterstatter für die Washington Post verbracht. Wie Sullivan war er Rhodes-Stipendiat und Absolvent der Juristischen Fakultät der Yale University.
Die Chancen dafür stünden schlecht, räumte Finer ehrlich ein, war jedoch der Meinung, dass man es weiter versuchen müsse. Geheimdienstinformationen deuteten darauf hin, dass Russland noch keine Absichten hatte erkennen lassen, die Streitkräfte für eine Invasion der Ukraine einzusetzen. Doch ihr Zweck blieb unklar. Möglicherwiese handelte es sich lediglich um eine Drohkulisse, aber genau wissen konnte man das nicht.
»Putin ist sehr auf Würde und Respekt bedacht«, sinnierte Sullivan. Ein Gipfeltreffen entspräche Biden, der großen Wert auf persönliche Beziehungen legte.
Sullivan ging den Flur entlang zum Oval Office, um die Idee mit dem Präsidenten zu besprechen.
»Er will ein wichtiger Akteur auf der großen Bühne sein«, sagte Biden von Putin. »Nur darum geht es ihm.«
Sullivan schlug vor, Biden solle sich persönlich mit Putin treffen. Er wusste, dass sich der Präsident am liebsten von Angesicht zu Angesicht mit Leuten traf, vor allem mit führenden Staatsmännern.
Biden stimmte sofort zu. »Ich weiß, die Leute werden mich kritisieren und sagen, wenn Sie sich mit Putin treffen, werten Sie ihn auf, Sie legitimieren ihn«, sagte er. »Aber der Mann ist schon seit zwei Jahrzehnten eine wichtige Figur auf der Weltbühne. Wenn ich mich mit ihm treffe, verwandelt ihn das nicht in etwas, was er nicht ist.
Hören Sie, ich werde ihn nicht mit schönen Worten von irgendwas abbringen, aber vielleicht lässt sich die Dynamik der ganzen Sache verändern«, sagte Biden.
Aber wann sollte das Treffen stattfinden?
»Wenn wir ein Treffen im Juni anbieten«, sagte Biden — bis dahin waren es noch zwei Monate — »dann liefert ihm das einen Anreiz zu sagen: Hey, was haben die Amerikaner in der Hinterhand? Verstehen Sie? Das könnte Putin veranlassen, den Druck auf die ukrainische Grenze zu verringern, und ihn von einer möglichen Militäroperation im Frühjahr abhalten.«
Die Ukraine spielte eine dramatische, übergroße Rolle in der amerikanischen Politik. Bei einem Telefonat mit dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im September 2019 forderte der damalige Präsident Trump ihn auf, eine Untersuchung gegen Joe Biden und dessen Sohn Hunter einzuleiten, der im Verwaltungsrat einer ukrainischen Energiefirma saß. Im Gegenzug versprach er ihm Militärhilfe vonseiten der Vereinigten Staaten. Ein Memorandum des Gesprächs wurde veröffentlicht, und das Repräsentantenhaus leitete gegen Trump ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs ein.5 Später wurde er im Senat von den Vorwürfen freigesprochen.6 Die Republikaner drängten jedoch weiter auf eine Untersuchung gegen Biden, der in der Regierung Obama Sonderbeauftragter für die Ukraine gewesen war und sich besonders engagiert hatte.
Dr. Colin Kahl, ein Politologe und als Staatssekretär des Verteidigungsministers Lloyd Austin zuständig für Verteidigungspolitik, war von 2014 bis 2017 Nationaler Sicherheitsberater von Vizepräsident Biden gewesen. Ungemein verstandesbetont, hatte er seinen eigenen unverwechselbaren intellektuellen Stil und peppte seine tägliche Garderobe oft mit einem grellroten Brillengestell, einer gemusterten Krawatte oder bunten Socken auf. Kahl erinnerte sich, dass Biden sich dem Ressort Ukraine mit Hingabe gewidmet und die Hauptstadt Kiew während seiner Vizepräsidentschaft viermal besucht hatte.
»Hey, Petro«, sagte Biden bei einem Telefonat mit dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko. Die frischgebackene Demokratie der Ukraine war besonders fragil, und große Teile des Verwaltungssystems waren nach wie vor korrupt und verkommen.
»Ich weiß, das ist schwer«, sagte Biden mitfühlend. »Ich weiß, dass eure Politik da drüben die reinste Schlangengrube ist, das verstehe ich. Ich weiß, das ist schwer, und ich bin zuversichtlich, dass Sie das Richtige tun. Aber ich sage Ihnen, es wird wirklich schwer für uns, weiter für Zuversicht beim Westen zu sorgen, der Ihnen keinen Vertrauensvorschuss geben will.
Sie müssen mir helfen, Ihnen zu helfen, indem Sie die richtigen Dinge tun«, sagte Biden zu Poroschenko, den er drängte, Maßnahmen gegen die Korruption zu ergreifen. »Das könnten Reformen im Auftragswesen sein, das könnten Reformen im Bankwesen sein, das könnte die Einrichtung neuer Antikorruptionsbehörden sein oder dass Sie die Generalstaatsanwaltschaft dazu anhalten, aggressiver vorzugehen.
Wenn Sie das alles nicht tun«, betonte Biden, »dann wird es schwer für Sie werden, sich die Unterstützung unseres Kongresses, unseres Präsidenten und der Europäer zu erhalten, und die Russen werden Sie zum Frühstück verspeisen.«
Biden sagte, er habe sich zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass die politische Führung der Ukraine weiter den Weg der Demokratisierung beschreite — also genau das, was Putin nicht wollte.
»Ich habe tagtäglich mit Joe Biden in einem Zimmer gesessen, und als Vizepräsident hat er die Ukrainer wahrscheinlich ein, zwei Mal die Woche angerufen«, entsann sich Kahl. »Bloß zwecks Eheberatung zwischen [Präsident] Poroschenko und [Ministerpräsident Arsenij] Jazenjuk oder wer damals gerade zufällig Ministerpräsident war, und es gab kein einziges Telefonat, in dem er die Ukrainer in Sachen Antikorruptionsmaßnahmen nicht aus ihrer Komfortzone gescheucht hat.«
»Dicke Umarmungen und leichte Schläge« — das war Kahl zufolge Bidens Methode gegenüber den Ukrainern.
Jetzt, am 13. April 2021, telefonierte Biden als Präsident mit Präsident Putin.7
»Dass Sie mich einen Killer genannt haben, ärgert mich«, sagte Putin gleich zu Beginn.
»Man hat mir eine Frage gestellt. Ich habe eine Antwort gegeben. Es war ein Interview zu einem völlig anderen Thema. Und es war nichts Vorbedachtes«, sagte Biden, als wäre seine Äußerung damit negiert.
US-Geheimdienstanalytiker, die ein Profil von Putin erstellt hatten, nannten als seine wesentlichen Charakterzüge unter anderem, dass er »dünnhäutig«, »extrem unsicher« und sogar »sadistisch« sei.
Im Lauf des Gesprächs stritt Putin die Vorwürfe zur Einmischung in die Wahlen, zum Giftanschlag auf Nawalny und zu Russlands Cyberangriffen rundheraus ab.
Biden erinnerte Putin an das unbeirrte Eintreten der Vereinigten Staaten für die Souveränität der Ukraine und warnte ihn vor einem neuen militärischen Übergriff auf das Land.
»Sie liegen völlig falsch«, sagte Putin ganz nüchtern. »Sie haben keinerlei Beweise. Wir haben uns nicht in Ihre Wahlen eingemischt. Wir haben nichts von alledem getan.«
Biden ließ die Zurückweisung der Vorwürfe nicht gelten. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir folgende Reaktionen gegen Sie beschlossen haben.«
Dann schilderte er Putin die Maßnahmen, die gegen Russland ergriffen werden würden, und nannte im Zusammenhang mit dem SolarWinds-Cyberangriff ausdrücklich den russischen Auslandsgeheimdienst (SWR) als Täter.8 Wegen der Einmischung in die Wahlen 2020 und wegen der fortdauernden Besetzung der Krim würde er außerdem zehn russische Diplomaten ausweisen und eine Reihe von Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen.
»Das wird noch diese Woche geschehen, und ich möchte, dass Sie es direkt von mir erfahren. Und der Grund sind die konkreten Dinge, die Sie getan haben. Ich habe gesagt, ich würde reagieren, und jetzt reagiere ich.«
Dann schaltete er um. »Treffen wir uns«, sagte er in dem Bemühen, die angespannte Atmosphäre zu durchbrechen und einen anderen Ton anzuschlagen.
»Setzen wir uns an einen Tisch. Sie bringen Ihre Anliegen mit und ich meine«, sagte Biden. Zu sämtlichen Themen. »Und dann setzen wir uns einander gegenüber und reden über alles.«
»Nur damit ich Sie richtig verstehe«, sagte Putin mit einem Unterton von Verblüffung. »Sie wollen, dass wir uns treffen und über alle Probleme in unseren Beziehungen reden? Alle?«
Sullivan, der bei dem Gespräch mithörte, hatte den Eindruck, der grundsätzlich misstrauische Putin wolle sich vergewissern, dass es sich nicht um irgendeine Falle handelte.
Biden versicherte Putin, dass es ein offener Dialog sein würde. Ein Treffen auf globaler Ebene würde, wie Biden wusste, in Putins Augen zeigen, dass der amerikanische Präsident ihn respektierte.
Persönlich begegnet waren sie einander erst einmal, zehn Jahre zuvor, 2011, als Biden Vizepräsident gewesen war und Putin vorübergehend als Premierminister fungiert hatte.
Biden hatte später behauptet, er habe bei dieser Begegnung zu Putin gesagt: »Ich schaue Ihnen in die Augen, und ich glaube, Sie haben keine Seele.«9 Putin habe gelächelt und ihm über einen Dolmetscher geantwortet: »Wir verstehen einander.«
Für Biden war es normal, als amerikanischer Präsident mit einem führenden russischen Politiker zusammenzutreffen, so wie das auch seine Vorgänger getan hatten. Mit weniger als 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Vereinigten Staaten war Russland zwar eine absteigende Wirtschaftsmacht, besaß aber über 4400 nukleare Sprengköpfe, das größte Arsenal der Welt.10
»Okay«, erwiderte Putin schließlich, »Ich möchte das Gipfeltreffen ebenfalls. Lassen wir unsere Teams daran arbeiten.«11
Biden war sich darüber im Klaren, dass er vorbereitet sein musste. Wladimir Putin, ein 68jähriger ehemaliger KGB-Spion und seit über zwei Jahrzehnten als Präsident oder Premierminister an der Spitze Russlands, verstand es meisterhaft, große öffentliche Ereignisse als Bühne dafür zu nutzen, mit den führenden Politikern westlicher Länder Spielchen zu spielen oder die Oberhand über sie zu gewinnen.
2007, bei einem bilateralen Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Putins palastartigem Anwesen in Sotschi, rief der russische Präsident im Beisein von Journalisten und Kameras seinen großen schwarzen Labrador Konni herein.12 Es war allgemein bekannt, dass Merkel panische Angst vor Hunden hat.
Als das Tier herbeigetrottet kam und die Bundeskanzlerin beschnupperte, erstarrte sie in ihrem Sessel, die Lippen geschürzt und einen Knöchel fest hinter den anderen gehakt. Putin, der sich an ihrem Unbehagen weidete, lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Beine bequem vor sich ausgestreckt.
»Ich bin mir sicher, er wird sich benehmen«, sagte er grinsend.
»Immerhin frisst er keine Journalisten«, sagte Merkel, ohne zu zögern.13
Später sprach sie mit der Presse über den Vorfall.
»Ich verstehe, warum er das tun muss — um zu beweisen, dass er ein Mann ist«, sagte sie. »Er hat Angst vor seiner eigenen Schwäche. Russland hat nichts, keine erfolgreiche Politik oder Wirtschaft. Alles, was sie haben, ist das hier.«
Amerikanische Präsidenten wurden ebenfalls zum Ziel von Putins Psychotricks. 2018, eine Woche vor dem Gipfeltreffen des damaligen Präsidenten Trump mit Putin in Helsinki, wurden zwölf Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes in den USA unter Anklage gestellt.14 Unter anderem warf man ihnen vor, Computer der Wahlkampagne von Hillary Clinton, der demokratischen Präsidentschaftskandidatin, die gegen Trump im Rennen war, gehackt zu haben.
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am Ende des Gipfeltreffens schmeichelte Putin Trumps Ego und bauchpinselte ihn nach Kräften.15 Als man Trump nach der russischen Einmischung in die Wahlen von 2016 fragte, wurde Putin mit einer der ungewöhnlichsten Äußerungen belohnt, die ein amerikanischer Präsident je von sich gegeben hat.
»Er hat gesagt, Russland war’s nicht«, sagte Trump. »Ich sehe keinen Grund, warum es Russland gewesen sein sollte.«
Seite an Seite mit Putin, nahm Trump, so schien es, den russischen Präsidenten entschieden in Schutz und tat die Erkenntnisse der US-Nachrichtendienste, die einhellig zu dem Schluss gekommen waren, dass Russland sich eingemischt hatte, kurzerhand ab. Die Verurteilung folgte auf dem Fuße. Einige führende Berater schaudert noch heute bei der Erinnerung daran, wie sich Trump über die amerikanischen Nachrichtendienste hinwegsetzte und auf Putins Seite schlug. Wieder hatte Putin sich durchgesetzt. Trumps Leichtsinn zeigte sich in aller Deutlichkeit.
Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten setzte Trump einen Tweet ab, mit dem er den Patzer auszubügeln versuchte: »Ich habe GROSSES Vertrauen in MEINE Nachrichtendienste.«16
Trumps Unwille, Putin zu kritisieren, beschränkte sich nicht auf diesen einen Vorfall, sondern war ein durchgängiger Charakterzug.
»Ich will, dass Putin unser Land respektiert, okay?«, sagte mir Trump in einem Interview vor der Wahl von 2016.17
»Was würde er denn respektieren?«, fragte ich.
»Na ja, erst mal ist es schon irgendwie interessant. Er hat sehr gute Sachen über mich gesagt«, sagte Trump. »Er hat gesagt, Trump ist hervorragend und Trump wird der neue Staatschef und das alles. Und einige von diesen Clowns haben gesagt: ›Sie sollten sich von Putin distanzieren.‹ Ich habe gesagt: ›Warum sollte ich?‹«
Kein Berater und keine Beraterin spürte den Stachel von Helsinki so sehr wie Dr. Fiona Hill, unter den Präsidenten Gorge W. Bush und Barack Obama Geheimdienstanalytikern mit dem Spezialgebiet Russland.1 Sie war Ko-Autorin des Buches Mr. Putin: Operative in the Kremlin, hatte unter Präsident Trump dem Nationalen Sicherheitsrat angehört und war seine wichtigste Russlandexpertin.
In Helsinki hatte sie von der Hinterbühne aus voller Entsetzen mit angesehen, wie Trump in die von Putin gestellte Falle tappte.2 Sie erwog sogar, am Veranstaltungsort den Feueralarm auszulösen. Später sagte sie während des ersten Amtsenthebungsverfahrens im Repräsentantenhaus gegen Trump aus.
Laut Hill gab es keinen Zweifel, dass sich Russland in die Wahl von 2016 eingemischt hatte. »Präsident Putin und die russischen Sicherheitsdienste«, sagte sie aus, »operieren wie ein Super-PAC«, eine über unbegrenzte Mittel verfügende Lobbygruppe. »Sie setzen Millionen von Dollars dafür ein, unsere eigenen Recherchen über den politischen Gegner und falsche Narrative zur Waffe zu machen.«3
Trump war ein großer Bewunderer Putins, wie Hill glaubte, und das machte ihn extrem anfällig für Manipulation.4 »Er hatte ein sehr fragiles Ego«, sagte Hill über Trump. »Wenn man Präsident der Vereinigten Staaten ist, wird das zur verhängnisvollen Schwachstelle, weil Präsident Trump keine objektive, sachliche Distanz zu vielen Fragen einnehmen konnte, die maßgeblich waren und angegangen werden mussten. Als sich die Leute Sorgen über den russischen Einfluss auf die Wahl in den Vereinigten Staaten machten, dachte er nur darüber nach, inwieweit ihn das tangierte.«
Hill führte gerade im Park ihren Hund aus, als Präsident Biden sie aus heiterem Himmel anrief. Solch formloser Stil überraschte sie.
Der Präsident sagte, er wolle über Putin reden und ein Gefühl für die russische Denkweise bekommen.
Bald nach dem Anruf versammelte er eine Gruppe von Russlandexperten, darunter auch Hill, im Roosevelt Room des Weißen Hauses.
Bei seinem Amtsantritt konnte Präsident Biden auf über drei Jahrzehnte außenpolitischer Erfahrung zurückblicken: Er war von 2001 bis 2003 und dann noch einmal von 2007 bis 2009 Vorsitzender des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen gewesen. Er war mit drei sowjetischen Staatschefs und zwei russischen Präsidenten zusammengetroffen. Als Vizepräsident hatte er von Angesicht zu Angesicht und telefonisch mit Putin gesprochen. Er fand, er habe ein gutes Gespür für den Mann, aber er wollte sein Bauchgefühl überprüfen und über seine Auffassung von Putins Absichten diskutieren.
Er fragte die Gruppe: Habe ich mich geirrt? Ich habe den Mann schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Trifft meine Einschätzung von ihm weiterhin zu? Was entgeht mir?
Ob irgendetwas an seiner Einschätzung von Putin grundsätzlich nicht stimme, wollte der Präsident wissen. Hill fand Bidens Ansatz erfrischend. Einen Experten zu konsultieren lief für die meisten Präsidenten üblicherweise auf eine Übung in Malen-nach-Zahlen hinaus — eine Formalität, die keinem anderen Zweck diente als dem, dass der Präsident sagen konnte, er habe mit Experten gesprochen.
Hill hatte viele Male das »Ich werde darüber nachdenken« zu hören bekommen, während sich der Präsident in Wirklichkeit längst entschieden hatte. Hier jedoch hatte Biden eine Gruppe von Experten mit sehr unterschiedlichen Ansichten zu Russland versammelt. Er wollte eine Debatte.
Als sie das letzte Mal im Roosevelt Room gewesen war, hatte Präsident Trump während der gesamten Besprechung finster auf die dort aufgehängte Friedensnobelpreismedaille von Teddy Roosevelt gestarrt und war außerstande gewesen, sich zu konzentrieren. »Trump war stocksauer«, dachte Hill. Fand er es unfair? Fand er, dass er selbst auch so eine Medaille verdient hatte?
Biden richtete weitere Fragen an die Gruppe: Worum sollte es bei diesem Gipfeltreffen gehen? Sollten die bilateralen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, das strategische Gleichgewicht und Rüstungskontrolle auf der Tagesordnung stehen? Oder sei etwas anderes im Gange? Warum habe Putin an der Grenze zur Ukraine 110.000 Soldaten zusammengezogen?
»Wird er sich zurückziehen?«, fragte Biden. »Eher nicht, oder?«
»Putin sondiert«, sagte Hill. Er sondiert, um festzustellen, ob er mit Ihnen verhandeln kann. »Er will, dass Sie die Ukraine wegverhandeln. Im Grunde, dass der Westen seine Unterstützung der Ukraine aufgibt, damit Russland dort die Kontrolle übernehmen kann.«
Putin, glaubte Hill, beobachte Biden sehr genau — die innenpolitischen Probleme in den USA und die Pläne für den von Trump ausgehandelten, vollständigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan — und versuche, sich darüber klar zu werden, ob Biden jemand war, der die Ukraine beiseiteschieben und seiner Wege gehen würde.
Etliche der Experten am Tisch pflichteten ihr bei.
Dem russischen Staatschef gehe es um eine große, strategische Verhandlung über die Ukraine und die Zukunft der europäischen Sicherheit. Putin sei seit Jahren auf die Ukraine fixiert, die in seinen Augen ein Teil Russlands sei.
Aber Biden sagte der Gruppe, er denke nicht daran, zuzulassen, dass Russland einfach ein unabhängiges Land schlucke.
Außerdem sorgte er sich laut darüber, dass in den politisch tief gespaltenen Vereinigten Staaten mittlerweile kaum noch Einigkeit über irgendetwas herrschte, nicht einmal über außenpolitische Angelegenheiten. Früher habe ein Präsident in der Gewissheit, dass die andere Partei ihn unterstützen und sein Vorgänger sich nicht einmischen würde, ins Ausland reisen und mit Gegnern zusammentreffen können. Damit sei es vorbei. Putin wisse das und werde es zu Russlands Vorteil nutzen, um Kritik zu parieren. Es gehörte zu Putins Desinformationstaktik, Spaltungstendenzen in den Vereinigten Staaten zu schüren.
Wie Hill angesichts der Truppen an der ukrainischen Grenze mit Befremden feststellte, war Präsident Bidens größte Sorge nicht, dass Russland vielleicht im Begriff stand, in die Ukraine einzumarschieren, sondern dass die Uneinigkeit in den Vereinigten Staaten seinen Einfluss bei Putin schwächen würde. Putin würde versuchen, das auszunutzen.
Hill pflichtete bei: Genau das würde Putin tun.
Weiterhin bewegten sich unübersehbar russische Truppen von Sibirien und dem Ural aus quer durch das Land und legten auf dem Weg nach Westen, an die ukrainische Grenze, gewaltige Entfernungen zurück.5 Luftabwehrsysteme, Güterzüge mit Militärfahrzeugen und schwere Artillerie wurden auf die Krim verlegt. Feldlazarette wurden errichtet.
Nachts glitten russische Drohnen über die Ukraine und warfen Landminen ab. Russen hoben frische Schützengräben aus, und es wurden Kampflandungsschiffe bei der Überwachung der Küste beobachtet.
Am 21. April 2021 hielt Putin seine alljährliche Rede an die Nation.1 Entlang der Twerskaja-Straße, einer zum Kreml führenden Hauptverkehrsader, hatten sich Tausende von Russen versammelt, die »Freiheit für Nawalny« und »Putin ist ein Dieb« skandierten.
Der ehemalige russische Oppositionsführer Alexei Nawalny war im August mit Nowitschok, einem in der Sowjetunion entwickelten Nervenkampfstoff, vergiftet worden.2 Nawalny machte Putin für den Mordanschlag verantwortlich. Nach einer lebensrettenden medizinischen Behandlung in Berlin war Nawalny nach Russland zurückgekehrt und umgehend verhaftet worden. Er befand sich seit drei Wochen im Hungerstreik, während Putin seine Rede an die russische Nation hielt.
Was die Außenpolitik anging, gab sich Putin kämpferisch.3 »Manche Länder haben es sich ungehörigerweise zur Routine gemacht, sich aus irgendeinem Grund und meistens ohne jeden Grund mit Russland anzulegen«, sagte Putin. »Wir dagegen üben äußerste Zurückhaltung, ich würde sogar sagen Mäßigung, und das sage ich ohne jede Ironie.
Wie gesagt, ab und zu legen sie sich ohne Grund mit Russland an. Und natürlich scharwenzeln alle möglichen kleinen Schakale um sie herum wie Tabaqui um Schir Khan«, sagte Putin. Er sprach von Rudyard Kiplings Dschungelbuch, in dem der Schakal Tabaqui im Dschungel lebt und sich von den Resten ernährt, die Schir Khan — in diesem Fall die Vereinigten Staaten — ihm lässt.
»Alles ist genauso wie in Kiplings Buch«, sagte Putin. »Sie heulen mit, um ihren Herrscher glücklich zu machen.
Die Drahtzieher von Provokationen, die die Kerninteressen unserer Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten auf eine Weise bereuen, wie sie schon lange nichts mehr bereut haben«, warnte er.
»Aber ich hoffe, dass niemand auf den Gedanken kommt, in Bezug auf Russland die ›rote Linie‹ zu überschreiten«, sagte er. »Wir selbst werden in jedem einzelnen Fall selbst bestimmen, wo sie verläuft.
Am nächsten Tag, eine Woche nach dem Telefonat zwischen Biden und Putin, kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu an, dass sich russische Truppeneinheiten bis zum 1. Mai von der Grenze zur Ukraine zurückziehen würden.4 Russische Medien berichteten jedoch, dass Waffen und Ausrüstung, darunter Panzer, Artillerie, Lastwagen und gepanzerte Fahrzeuge, zur Vorbereitung auf Sapad 2021, das für den kommenden Herbst geplante gemeinsame Manöver der russischen und belarussischen Streitkräfte, auf »Übungsplätzen« entlang der Landgrenze zur Ukraine verbleiben würden.
Außerdem verlegte Russland dauerhaft große Truppenkontingente auf die Krim, was bedeutete, dass sich Zehntausende von Soldaten keineswegs zurückziehen würden.
Mitte Mai standen immer noch mindestens 80.000 Soldaten in der Nähe der Grenze.5 Dmytro Kuleba, der ungarische Außenminister, machte öffentlich darauf aufmerksam, dass der sogenannte Truppenabzug Russlands Augenwischerei war.
»Was hier stattfindet, lässt sich nicht als Truppenabzug bezeichnen«, sagte Kuleba öffentlich. »Die Bedrohung ist nicht vorüber.«6
US-Generalmajor Michael Repass, NATO-Berater von Spezialeinheiten in der Ukraine, zeigte sich ebenfalls skeptisch, was den angeblichen Truppenabzug anging.7
»Sie haben eine ziemlich schlagkräftige Streitmacht in der Region belassen und nur einige Truppen abgezogen«, sagte Repass.
»Das verrät mir, dass sie vielleicht später wiederkommen wollen, wenn Timing und Umstände für Russland günstiger sind«, sagte er. »Das wird sich wiederholen.«
Der ukrainische Präsident Selenskyj lud Putin zu Friedensgesprächen im ukrainischen Teil des Donbass ein. Putin erwiderte, Selenskyj müsse nach Moskau kommen, eine nur dürftig verschleierte Drohung.
Der pensionierte Generalleutnant Keith Kellogg, ein loyaler Trump-Berater und Nationaler Sicherheitsberater von Vizepräsident Mike Pence, hatte das Weiße Haus am 20. Januar 2021 verlassen und wegen der Ukraine keine schlaflosen Nächte gehabt.
»Als unsere Regierungszeit endete, stand die Ukraine nicht auf der Liste der echten Probleme«, sagte Kellogg. »Da gab es den Iran, der auf der Liste stand. Da gab es immer noch Nordkorea. Und es gab China, wegen der Sache mit Corona. Aber die Ukraine stand da nicht drauf.«
Putin, so glaubte Kellogg, war viel zu besorgt wegen des Coronavirus — er hatte Angst, dass er und sein kleiner Kreis aus loyalen Beratern sich anstecken könnten.1
Präsident Trump hatte Putin insgeheim ein paar Abbott Point of Care Covid-Testgeräte für seinen persönlichen Gebrauch geschickt, als das Virus sich in Russland rasch ausbreitete.
»Bitte verraten Sie niemandem, dass Sie mir die geschickt haben«, sagte Putin zu Trump.
»Ist mir egal«, erwiderte Trump. »Schön.«
»Nein, nein«, sagte Putin. »Ich will nicht, dass Sie es irgendwem sagen, weil die Leute dann sauer auf Sie sind, nicht auf mich. Ich bin denen egal.«
»Die Ukraine stand kein bisschen oben auf seiner Hitliste«, wiederholte Kellogg. Trumps Nationale Sicherheitsberater hatten keinerlei Anzeichen dafür gesehen, dass Russland sich auf eine Aggression gegen die Ukraine vorbereitete.
Selenskyj, der 2019 Präsident geworden war, war ein Newcomer auf der politischen Bühne. Trump versuchte immer noch, Selenskyj einzuordnen. Und nach Kelloggs Ansicht tat Putin genau das Gleiche.
»Für ihn, also Putin, war Trump ein Unbekannter«, sagte Kellogg. »Zum Teufel, wir wussten manchmal nicht, wie Trump reagieren würde. Im Grunde genommen war Trump wie Jekyll und Hyde.«