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Kriege prägen noch immer die Welt, aber sie werden zunehmend anders ausgefochten als früher. Wilfried von Bredow zieht eine Bilanz der letzten zwei Jahrzehnte und wirft zugleich einen Blick in die Zukunft. Er macht deutlich, wie stark Ursachen und Auswirkungen militärischer Konflikte sich globalisiert haben, beleuchtet die Rolle von Warlords, privaten Söldnertruppen und Rüstungsunternehmen, und analysiert, wie Drohnen, Desinformation und andere Mittel der asymmetrischen Kriegführung das Gleichgewicht der Kräfte verändern. Das Buch bietet einen Überblick über die aktuell wichtigsten Konfliktregionen und macht die grundlegenden Mechanismen moderner Kriege in einer multipolaren Welt verständlich – von den Anschlägen internationaler Terrorgruppen bis hin zum scheinbar klassischen Territorialkrieg Russlands gegen die Ukraine.
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Seitenzahl: 242
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WILFRIED VON BREDOW
KRIEGE
IM 21. JAHRHUNDERT
Wie heute militärische Konflikte geführt werden
BeBra Verlag
Prolog: Krieg, Krieg, Krieg
Kriege im 20. Jahrhundert
Der Erste Weltkrieg – Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg – Kriege nach 1945 – Enttäuschte Friedenshoffnungen nach 1990 – Kriege der Gegenwart
Staaten, Globalisierung und lokale Kriege
Staat und Souveränität – Militärische Globalisierung – Staatsabschwächung – Räume geronnener Gewalt
Der Westen und die anderen
Weltordnung und Werteordnung – Missglückte Ordnungspolitik – Humanitäre Intervention und internationale Schutzverantwortung – Externe Demokratieförderung und Regimewechsel – Die Zukunft des Westens
Macht – Konflikt – Krieg
Krieg als Normalität – Gewalt, Krieg und Politik – Kriegsmotive, Kriegstypen, Kriegsformen und Kriegsbilder – Neue, asymmetrische Kriege – Hybride Kriegführung
Rüstungstechnologische Neuerungen
Quantensprünge in der Rüstungstechnologie – Aktuelle rüstungsrelevante Technologiebereiche – Künstliche Intelligenz – Unbemannte militärische Systeme – Disruption – Hyperschallwaffen und Drohnen – Alte und neue Waffen
Krieg als Geschäft
Rüstungsindustrie und Rüstungshandel – Söldner und Kindersoldaten – Private Militärfirmen – »Privatarmeen« in Putins Russland – Warlords
Terrorismus und Krieg
Macht und Ideologie – Bürgerkrieg mit religiösem Hintergrund – Islamistischer Terrorismus – Geopolitik des Terrorismus – Terrornetzwerke weltweit – Innerislamische Feindschaften – Terroristische Kriegführung – Der globale Krieg gegen den Terrorismus
Kriegszone Naher Osten
Israelis und Palästinenser – Der Niedergang des Irak – Syrien und der Arabische Frühling – Jemen – Libysche Zerrüttungen – Der Angriff der Hamas
Kriege in Afrika
Konflikt-, Gewalt- und Kriegspanorama – Somalia, Eritrea und Äthiopien – Sudan am Abgrund – Instabile Sahelzone – Der Kongo und seine Nachbarn
Tragödie Afghanistan
Die Ziele des Westens – Das besondere Engagement Deutschlands – Zivil-militärische Defizite – Die Taliban – Taktik und Strategie der Taliban – Methoden der Aufstandsbekämpfung – Die internationale Dimension
Russlands Kriege
Die Tschetschenien-Kriege – Der Krieg mit Georgien – Annexion der Krim und der Krieg im Donas – In Syrien und Afrika – Der Überfall auf die Ukraine
Deutschland, Europa und die aktuellen Kriege
Ach, Europa – Kriege in der Nachbarschaft – Deutschland und der Ukraine-Krieg – Russland, die Hamas, Israel und wir – Deutschland – eine Friedensmacht?
Ausblick: Politische Herkulesaufgaben
Kriegsverhinderung – Eindämmung von Kriegen – Beendigung von Kriegen
Anhang
Wer es heute wagt, in die Zukunft zu blicken, sieht düstere politisch-militärische Horizonte. Soziale und politische Polarisierungen haben in den letzten Jahren fast überall in der Welt zugenommen. Manche haben sich derart verschärft, dass die Konflikte in spontane oder organisierte Gewalt und Krieg eskaliert sind. Einige Machthaber drehen bewusst an der Eskalationsschraube und nehmen die Folgen in Kauf – Folgen, die nicht nur die eigene Gesellschaft betreffen, sondern auch andere. Krieg vernichtet Menschenleben und Lebensräume. Krieg bringt Elend über ganze Gesellschaften. Deren Neuaufbau nach Kriegsende bürdet den Überlebenden über Jahre hin enorme Anstrengungen auf. In allen Ländern prägen Schmerz und Trauer die Erinnerungen an vergangene Kriege. Auch dort, wo sie mit einem militärischen Sieg beendet wurden. Krieg – das Wort und die damit verbundenen Vorstellungen haben eine dunkle Aura. Dennoch hat in der Vergangenheit kaum etwas anderes den Verlauf der Menschheitsgeschichte so nachhaltig beeinflusst wie der Krieg in unterschiedlicher Gestalt.
Daran hat sich bis heute nichts geändert und vieles spricht dafür, dass sich auch künftig nichts daran ändern wird. Das 21. Jahrhundert begann, so hat es der britische Militärwissenschaftler Colin S. Gray ausgedrückt, als another bloody century – genauso von Kriegen geprägt wie die vorigen. Allerdings werden, so viel ist sicher, Kriege heute und in Zukunft auf andere Weise, mit anderen Waffen ausgefochten als noch im vergangenen Jahrhundert. Das lehrt uns die systematische Beschäftigung mit den Kriegen der letzten 25 Jahre. Auch wenn sich daraus in aller Vorsicht einige Entwicklungen für das Kriegsgeschehen und die Kriegführung in den vor uns liegenden Jahren ableiten lassen – sehr weit reicht ein präziser und zuverlässiger Blick in die Zukunft nicht. Realistische Prognosen sind allenfalls für zehn bis fünfzehn Jahre möglich. Und selbst innerhalb dieses Zeitrahmens kann es zu unvorhergesehenen Entwicklungen kommen.
Im Mittelpunkt dieses Buches steht der weite Bogen der Konflikt- und Kriegsentwicklung im 21. Jahrhundert, wie er sich bis heute darstellt. Weil die Kurve dieses Bogens bereits im 20. Jahrhundert beginnt, wird eingangs ein knapper Überblick über die wichtigsten Kriege zwischen 1914 und 2000 gegeben. In den folgenden Kapiteln kann es nicht um eine lückenlose Bestandsaufnahme aller bisherigen Kriege im 21. Jahrhundert gehen. Auch wird der Fokus nicht auf dem Militärischen liegen. Der Blick auf die Methoden der Kriegführung ist (selbstverständlich) für die Streitkräfte und ihr Führungspersonal von großer Wichtigkeit. Aber selbst sie dürfen den Zusammenhang nicht vernachlässigen, der zwischen ihren militärischen Missionen und deren politischem Bedingungsgefüge besteht.
Es ist absehbar, dass die vor uns liegenden Jahrzehnte von zahlreichen Konflikten geprägt sein werden. Viele davon haben das Potenzial, sich zu Brandherden von Kriegen zu entwickeln. So werden sich die Auseinandersetzungen um die für moderne Technologien unabdingbaren Rohstoffe verschärfen. Die lebenswichtige Ressource Wasser wird in vielen Regionen der Welt auf dramatische Weise knapper. Aus unterschiedlichen Gründen ausgelöste Migrationswellen (Krieg, Hunger, demografische Ungleichgewichte, Folgen des Klimawandels) bewirken an ihren Zielorten soziale und politische Spannungen. Ethnische und religiöse Spannungen können leicht in kollektive Gewalt eskalieren. Die Liste mit potenziell kriegsauslösenden Konflikten ist noch um einiges länger.
Vor 200 Jahren prägte Carl von Clausewitz (1780–1831) den Satz, der Krieg sei ein »wahres Chamäleon«. Clausewitz gehörte am Beginn des 19. Jahrhunderts dem Kreis der preußischen Militärreformer an. Sein Werk »Vom Kriege« gilt weltweit als Klassiker militärstrategischen Denkens. Im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts trifft seine Kennzeichnung des Krieges noch mehr zu als für die Epochen davor. Das Kriegsgeschehen der Gegenwart umfasst höchst unterschiedliche Vorgänge: von den Anschlägen internationaler Terrorgruppen bis zu dem, oberflächlich betrachtet, »klassischen« Territorialkrieg Russlands gegen die Ukraine. Das Spektrum der Mittel, die heute im Kriegsgeschehen eine Rolle spielen, hat sich enorm verbreitert. Es reicht inzwischen weit über herkömmliche militärische Aktionen hinaus. Zuweilen scheint es nur um lokale und geografisch eng begrenzte gewalttätige Auseinandersetzungen zu gehen, deren Verbindung mit größeren Konfliktherden oft erst auf den zweiten Blick zutage tritt. Bei vielen Konflikten heizt die ökonomische und mediale Globalisierung die Auseinandersetzungen an, und so werden auch Menschen, die weitab von solchen Brennpunkten leben, mit den Auswirkungen konfrontiert. Manchmal, ohne dass sie die Zusammenhänge wirklich durchschauen können.
Um diese Zusammenhänge besser sichtbar zu machen, werden hier die brisantesten Konfliktregionen und die folgenschwersten gewaltsamen Auseinandersetzungen in der globalisierten Staatenwelt beschrieben und nach ihren Ursachen befragt. Eine geografische Konzentration war dabei aus pragmatischen Gründen nicht zu vermeiden. Auch wenn die Entscheidung schwerfiel, bleiben die ost- und südostasiatischen sowie die lateinamerikanischen Konfliktlandschaften weitgehend ausgespart.
Trotz aller Entwicklungen, die mit Begriffen wie Staatsabschwächung, Staatsversagen oder Failed States umschrieben werden, ist auch im 21. Jahrhundert die Staatenwelt die entscheidende Ebene für Krieg und Frieden geblieben. Allerdings sind viele Gewaltkonflikte und kriegerische Auseinandersetzungen nicht mehr auf die Territorien der direkt beteiligten Staaten begrenzt, sondern haben sich, zumindest was ihre Auswirkungen betrifft, quasi globalisiert. Sie sind keine Weltkriege, wie es die beiden großen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren, aber dennoch sind die wirtschaftlichen, politischen und humanitären Wirkungen lokaler Konflikte und Kriege fernab von ihrem Ausgangspunkt auf anderen Kontinenten spürbar.
Die große Variationsbreite der Kriegsformen und die Vielzahl der Optionen, sie zu kombinieren, macht es schwerer, erfolgreiche Rezepte für die Deeskalation von gewaltsamen Konflikten und ihre verlässliche Beendigung zu entwickeln und durchzusetzen. Die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und vereinbarte Waffenstillstände werden oft nicht respektiert. Der Begriff Friedensvertrag mutet heute wie ein Artefakt aus dem Museum der Vergangenheit an. Trotzdem und gegen alle wohlbegründete Skepsis wird es gerade im 21. Jahrhundert darum gehen, nicht zuletzt angesichts der vielen anderen Bestandskrisen des Zeitalters, Kriege zu deeskalieren und Übergänge zum Frieden zu finden und zu gestalten – und damit eine für die Menschen friedliche Zukunft jenseits von Gewalt und Zerstörung zu schaffen. Das ist eine Herkulesaufgabe, auf die wir schlecht vorbereitet sind.
Ausgangs- und Zielpunkt dieses Buches sind die folgenden Leitgedanken:
Trotz der »dunklen Aura« des Kriegs – die nicht in allen Kulturen gleich stark ausgeprägt ist – hat es in der Vergangenheit nie an Anlässen und Motiven gefehlt, mit organisierter Gewalt gegen echte oder vermeintliche Feinde vorzugehen. Das wird heute und in absehbarer Zukunft nicht anders sein.
Auch im 21. Jahrhundert ist Krieg meist die Fortsetzung politischen Handelns mit anderen, gewaltsamen Mitteln. Doch hat sich als Folge der technischen und sozialen Entwicklung die Bandbreite der Mittel erheblich vergrößert. So wie sich in Konfliktsituationen die Unterscheidung von »zivil« und »militärisch« teilweise aufgelöst hat, ist auch die Grenze zwischen Krieg und Frieden aufgeweicht worden. In vielen Regionen ist der Krieg zum Dauerzustand und Frieden zur leeren Versprechung geworden.
Schon im 20. Jahrhundert haben Kriegsakteure nicht nur die Streitkräfte des Gegners, sondern zunehmend auch dessen zivile Einrichtungen ins Visier genommen und zu zerstören oder funktionsunfähig zu machen versucht. Diese Tendenz verstärkt sich weiter.
Angriffe auf zivile Einrichtungen werden heute nicht nur mit militärischen, sondern auch mit anderen Mitteln jenseits physischer Gewalt durchgeführt. Cyberattacken und eine Informationspolitik der Deep Fakes zur Lähmung der gegnerischen Infrastruktur werden Kriege im 21. Jahrhundert vorbereiten und begleiten.
Das Kriegsgeschehen der Gegenwart ist all-inclusive. Neben modernsten Waffen und Zerstörungsszenarien finden sich auch solche aus vergangenen Epochen. Je nach Lage können sie neu kombiniert und ausgebaut werden.
Lokale oder regionale Kriege haben Auswirkungen weit über das Kriegsgebiet hinaus. Selbst der absehbare teilweise Rückbau der Globalisierung wird daran kaum etwas ändern.
Die Zahl möglicher Kriegsparteien ist heute größer denn je. Ihr rechtlicher und politischer Status variiert beträchtlich. Die zeitweise propagierten Hoffnungen auf ein Verschwinden von Kriegen zwischen Staaten haben sich nicht erfüllt.
Die Regulierbarkeit von Kriegen war nie besonders groß. Auch im 21. Jahrhundert haben alle Bemühungen, Kriege durch rechtliche Vorschriften, Verträge und internationale Institutionen einzugrenzen, wenig erreicht.
Jeder Entschluss zum Angriffskrieg birgt das Risiko, diesen zu verlieren. Wie hoch dieses Risiko ist, lässt sich im Vorhinein schwer kalkulieren. Aber ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass Aggressoren dazu neigen, dieses Risiko als gering einzuschätzen oder zu verdrängen. Den Opfern von Angriffskriegen bleibt nur die Wahl zwischen Kapitulation und Gegenwehr.
Eine friedliche Welt gibt es auch im 21. Jahrhundert nicht und wird es nicht geben. Aber alle Anstrengungen zur Deeskalation von organisierter Gewalt und von Attacken aus dem Cyberraum, zur Vermittlung zwischen den Kriegsparteien und zur kompromissbereiten Abmilderung von Interessenkonflikten verdienen Respekt und Unterstützung. Mehr noch: Pragmatische Schritte zur Kriegseindämmung und -verhinderung sind die unabdingbare Voraussetzung dafür, Lösungen zu finden für die globalen Probleme der nächsten Generationen, über die viel gesprochen wird, die aber durch Kriege und ihre Begleiterscheinungen drastisch verschärft werden.
Kriege kommen nicht aus heiterem Himmel über die Menschen. Sie haben immer einen Vorlauf, in den allermeisten Fällen eine Konfliktgeschichte. Der berühmte Satz von Clausewitz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik unter Beimischung anderer – nämlich militärischer – Mittel, wird häufig nur als Klischee zitiert. Er ist aber mehr. Denn der Einsatz organisierter Gewalt erfolgt selten ohne darüber hinausreichendes Kalkül, wie falsch dies auch immer sein mag.
Im Kampfgeschehen eines Kriegs – früher hätte man gesagt: auf dem Schlachtfeld – stehen zwar militärtaktische und operationelle Entscheidungsgründe im Vordergrund. Aber in aller Regel entwickeln sich Kriege aus politischen Konflikten zwischen den Kontrahenten, weil diese bestimmte, einander ausschließende Ziele verfolgen und mehr oder weniger rational kalkulieren, dass die Kriegsgewinne die Kriegskosten definitiv überschreiten werden. Mit der Rationalität solcher Kalküle ist es oft nicht weit her, aber das ist in der Politik bekanntlich häufig der Fall. Nicht nur der Einsatz von Streitkräften zum Angriff oder zur Verteidigung wird von politischen Zwecken bestimmt. Jeder Krieg hat nachhaltige Auswirkungen auf die betroffenen Gesellschaften und ihre Politik, die selbst längere Zeit nach der Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen Nachkriegspolitik bleibt.
Nicht nur in Deutschland haben sich die Wunden und Schäden dreier »großer« Kriege der Vergangenheit, des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648), des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und des Zweiten Weltkriegs (1939–1945), über Generationen hinweg in das kollektive Bewusstsein eingebrannt. Die Erinnerungen an den seinerzeit als besonders zerstörerisch erlebten Dreißigjährigen Krieg mit seinen noch lange spürbaren Folgen für die Menschen in Mitteleuropa sind inzwischen weitgehend in die Geschichtsbücher verbracht. Hingegen ist der Erste Weltkrieg noch präsent – in lebhaften Kontroversen der Historiker und in Romanen, Filmen und anderen kulturellen Zeugnissen. Im März 2023 etwa gewann der nach dem Roman von Erich Maria Remarque gedrehte deutsche Film »Im Westen nichts Neues« den Oscar als bester internationaler Film 2022.
Über die politischen Ursachen des Ersten Weltkriegs herrschen bis heute unterschiedliche Ansichten. Auch die Historiker sind sich nicht darüber einig, ob die europäischen Groß- und Mittelmächte in den Krieg »hineingeschlittert« oder ob einige von ihnen das Kriegsrisiko bewusst eingegangen sind. Beides muss sich im Übrigen nicht ausschließen. Weitgehende Einigkeit gibt es in der Frage, ob die politischen und militärischen Führungen der europäischen Mächte bei Kriegsbeginn zutreffende Einschätzungen vom Verlauf des Kriegs gehabt haben. Die Antwort ist uneingeschränkt: Nein, das hatten sie nicht. Dass es zu furchtbaren, sich ergebnislos immer länger hinziehenden Schlachten kommen würde, allen voran die bei Verdun von Februar bis Dezember 1916, davon hatten die Politiker und die Militärführung vor dem Krieg keine Vorstellung.
Zwischen 1914 und 1918 wurden etliche neue Waffensysteme und Vernichtungsmittel erprobt und systematisch in die Kriegführung einbezogen: Flugzeuge, U-Boote, Panzer, Giftgas. Zugleich weiteten alle beteiligten Mächte ihre Propagandaanstrengungen aus. Dieser Propaganda-Offensive verdanken die Massenkommunikationsmittel Radio und Film ihren Aufschwung. Außerdem setzte sich im Ersten Weltkrieg die Tendenz zur Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche in die Kriegsanstrengungen durch, von der Wirtschaft über die Kultur bis hin zur Wissenschaft.
Auch wenn die Zahlen letztlich nur Schätzungen sind – auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs starben ungefähr 9,5 Millionen Soldaten. Darüber hinaus war der Tod von etwa 13 Millionen Zivilisten zu beklagen. Die Entwicklung, wonach die Zahl der Nicht-Soldaten unter den Kriegstoten die der Soldaten übersteigt, hat sich im 20. Jahrhundert weiter fortgesetzt. Nicht direkt vom Krieg verursacht, jedoch letztlich von ihm verstärkt, verbreitete sich zwischen 1918 und 1920 weltweit die Spanische Grippe, die bislang opferreichste Pandemie der Geschichte. Auch hier gibt es nur Schätzungen über die Zahl der von ihr dahingerafften Menschen. Laut Angaben von Experten handelte es sich um mindestens 20 Millionen Grippetote. Andere setzen diese Zahl fünfmal höher an.
Die zwei Jahrzehnte zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren alles andere als friedlich und stabil. In Russland und im östlichen Teil Europas zogen sich Bürgerkriege und gewaltsam aufgeladene Konflikte um die Verläufe der staatlichen Grenzen noch ein paar Jahre hin. In den 1930er Jahren kam es zu drei besonders folgenreichen Kriegen, deren Auswirkungen direkt oder indirekt in den Zweiten Weltkrieg mündeten und darüber hinaus spürbar blieben.
Im September 1931 begann die Annexion der Mandschurei durch Japan. Daraus entstand der zweite Japanisch-Chinesische Krieg zwischen 1937 und 1945. Zum Ende hin ging er in einen Bürgerkrieg in China über, der schließlich 1949 mit dem Sieg der Kommunisten unter Mao Tse-tung und der Flucht seines Gegenspielers Chiang Kai-shek und dessen Mitstreitern nach Taiwan endete. Der Konflikt zwischen der seither zu einer Weltmacht aufgestiegenen Volksrepublik auf dem chinesischen Festland und dem Inselstaat Taiwan könnte heute jederzeit in einen Krieg eskalieren.
Im Herbst 1935 überfielen Truppen des faschistischen Italien das nordafrikanische Kaiserreich Abessinien. Dabei kam auch Giftgas zum Einsatz. Der wenige Monate später vom italienischen Diktator Mussolini verkündete militärische Sieg verhinderte allerdings nicht die Fortsetzung der Kampfhandlungen als eine Art Guerillakrieg. Die Kämpfe dauerten bis 1941 an, dann wurden die italienischen Besatzer mithilfe britischer Truppen aus Abessinien (heute: Äthiopien) vertrieben.
Die dritte große kriegerische Auseinandersetzung der 1930er Jahre war der Spanische Bürgerkrieg von Mitte 1936 bis April 1939. Wegen der Beteiligung deutscher und italienischer Truppen auf der Seite General Francos und seiner Anhänger sowie zahlreicher in Internationalen Brigaden kämpfender Freiwilliger aus vielen Ländern (die sich freilich nicht immer auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten) sowie der sowjetischen Unterstützung der republikanischen Kräfte gilt der Spanische Bürgerkrieg als eine Art Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg.
Der begann mit dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 als zunächst noch auf Europa konzentrierte Auseinandersetzung. Das nationalsozialistische Deutschland verfolgte zunächst das Ziel, sein Territorium nach Osten zu erweitern und die territorialen Verluste im Versailler Friedensvertrag von 1919 rückgängig zu machen. Dieses Vorgehen wurde durch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion (Hitler-Stalin-Pakt) wenige Wochen vor Kriegsbeginn abgesichert. Der Vertrag umfasste ein geheimes Zusatzabkommen über die Aufteilung Polens; mit seinem Abschluss verfolgten beide Parteien eigene Interessen. Er wurde am 22. Juni 1941 durch den Befehl Hitlers zum Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion zu Makulatur. Globale Ausmaße erreichte der Krieg am 7. Dezember 1941 mit dem japanischen Angriff auf den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbour. Von 1941 bis 1945 kämpften die »Achsenmächte« Deutschland, Italien und Japan gegen die alliierten Truppen Großbritanniens, der USA und der UdSSR; viele andere Länder wurden in diesen Krieg freiwillig oder unfreiwillig hineingezogen. In Europa endete er mit der Kapitulation Deutschlands am 8./9. Mai 1945. In der Pazifik-Region dauerte er bis zum 2. September 1945, als Japan, geschockt durch den Einsatz von zwei amerikanischen Atombomben auf Hiroshima am 6. und Nagasaki am 9. August 1945, jeden militärischen Widerstand aufgab.
Die Opferbilanz des Zweiten Weltkriegs ist entsetzlich. Die Sowjetunion verlor etwa 10 Millionen Soldaten und beklagte mehr als 14 Millionen zivile Opfer. 3,5 Millionen chinesische Soldaten und circa 16,5 Millionen Zivilpersonen starben. Die Wehrmacht verlor mehr als 5,5 Millionen Soldaten; in Deutschland starben zudem etwa 2,1 Millionen Zivilpersonen. Auch die Zahl der Kriegsopfer in anderen Ländern ist deprimierend hoch: Man geht heute von 60 bis 65 Millionen Toten durch direkte Kriegseinwirkungen aus. Diese Zahlen beruhen auf Schätzungen, aber vermutlich sind sie eher zu gering als zu hoch veranschlagt. Hinzu kommen die vielen Millionen Verwundeten, die aus ihrer Heimat Vertriebenen, die Kriegsgefangenen und die Opfer von Holocaust und Völkermord und anderen staatlichen oder nichtstaatlichen kriminellen Anschlägen – von den materiellen Schäden in den Kriegsgebieten oder an den jeweiligen Heimatfronten gar nicht zu reden.
Die totale Niederlage nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, die Hälfte davon Kriegsjahre, hat schließlich bewirkt, dass Parolen wie »Nie wieder Krieg« hierzulande großen Widerhall fanden. Jedenfalls sollte, so die etwas unbeholfene Formel, »nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen«.
Der Zweite Weltkrieg war weit davon entfernt, der »letzte Krieg in der Geschichte« zu sein. Kurze Zeit nach dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte erwuchs aus der Anti-Hitler-Koalition der Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite eine erbitterte politische und wirtschaftliche Konkurrenz. Sie heizte einen Rüstungswettlauf an, insbesondere bei den nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen. Rasch verflogen alle Illusionen über eine friedliche Zukunft der zu »einer Welt« vereinten Nationen. Der Ost-West-Konflikt wurde zum bipolaren Strukturkonflikt der Weltpolitik und offenbarte rasch auch seine militärische Dimension. Sie zeigte sich unverhüllt im Korea-Krieg (1950–1953) und in den folgenden Jahrzehnten in Form von sogenannten Stellvertreterkriegen auf mehreren Kontinenten: bewaffnete Auseinandersetzungen, an denen sich die Führungsmächte des Ost-West-Konflikts nur indirekt beteiligten, zum Beispiel mit Waffenlieferungen und der Ausbildung von Soldaten.
Im Schatten des Ost-West-Konflikts verstärkte sich nach 1945 das Streben der Kolonien westeuropäischer Staaten nach politischer Unabhängigkeit. Antikoloniale Befreiungsbewegungen forderten die Kolonialmächte auch militärisch heraus – und setzten sich durch, oft nach erbitterten Kämpfen. Es bildete sich, beginnend 1955, in der Weltpolitik neben dem östlichen Lager um die Sowjetunion und dem westlichen Lager um die Vereinigten Staaten von Amerika als jeweiliger Führungsmacht die sogenannte Dritte Welt heraus. Vielen der unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien gelang allerdings der Übergang zu stabil geordneten Staatswesen nur schlecht oder gar nicht. Sie blieben in Territorial- oder Bürgerkriege verstrickt, in die sich die westlichen und östlichen Mächte aus unterschiedlichen Gründen weiter einmischten.
Im geteilten Nachkriegseuropa herrschte spätestens von 1947 an ein Kalter Krieg zwischen den mittlerweile verfeindeten Blöcken. Dabei fanden alle Mittel der Auseinandersetzung Verwendung – mit Ausnahme der direkten militärischen Konfrontation. Sowohl in Washington als auch in Moskau fürchtete man in einem solchen Fall die Eskalation in einen Nuklearkrieg. Seit den frühen 1960er Jahren konnte von einem »nuklearen Patt« oder einem »Gleichgewicht des Schreckens« zwischen Ost und West gesprochen werden, das, wenn auch auf recht ungemütliche Weise, den Ost-West-Konflikt stabilisierte. In der Berlin-Krise 1961 (Bau der Mauer) und der Kuba-Krise 1962 blieb die Eskalation in direkte militärische Konfrontation der »Supermächte« USA und UdSSR aus. Abwesenheit von Krieg – ja; aber alles andere als Frieden.
Zwischen 1965 und 1975 fand im geteilten Vietnam ein heftiger Krieg zwischen dem kommunistisch regierten Norden und dem von den USA politisch und militärisch unterstützten Süden statt. Er endete mit der Niederlage des antikommunistischen Regimes in Saigon, dem überstürzten Rückzug der amerikanischen Truppen und der Vereinigung Vietnams unter kommunistischer Herrschaft. Dadurch wurden viele antiwestlich eingestellte politische Gruppierungen in Asien, Afrika und Lateinamerika in ihrem militanten revolutionären Vorgehen ermutigt. Auch die in einen Völkermord an der eigenen Nation mündende Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha zwischen 1975 und 1979 war eine direkte Folge des Vietnamkriegs.
1989/90 gingen nach dem Niedergang des Kommunismus der Ost-West-Konflikt und der sich seit der Mitte der 1970er Jahre zeitweise entspannende Kalte Krieg zu Ende. Im Grunde war damit das »kurze 20. Jahrhundert« vorüber, das im Rückblick vieler Historiker mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Beides, der Erste Weltkrieg und das Ende des Ost-West-Konflikts, stellen in der Tat tief reichende Zäsuren der Weltpolitik dar.
Das 20. Jahrhundert wurde durchgängig von kollektiver Gewalt und von Krieg geprägt. Alle Versuche von Staaten und ihren Regierungen, beides durch einvernehmlich akzeptierte Regelwerke, durch Kooperation und friedliche Kompromisse hinter sich zu lassen, führten nur ansatzweise zu Erfolgen. Der Völkerbund vermochte nicht, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Und die 1945 gegründeten Vereinten Nationen blieben im Kalten Krieg weitgehend gelähmt. Es erscheint hochgradig paradox, aber die prekäre Bedrohungslage im Ost-West-Konflikt wirkte sich in Europa zugleich auch kriegsverhindernd aus.
Viele Zeitgenossen des Umschwungs in der internationalen Politik erwarteten oder erhofften zumindest, dass nach 1990 eine neue, friedliche und weniger bedrohliche Zeit anbrechen würde. Die Grundsätze und Leitlinien der westlich-liberalen Weltordnung, so die Vorstellung, würden die Interessenunterschiede von Staaten und Gesellschaften durch zielgerichtetes Verhandeln ausgleichen können. Streitkräfte würden nur noch für »weltpolizeiliche« Aufgaben benötigt, über die im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einvernehmlich entschieden würde. Im Herbst 1992 machte in Deutschland ein flapsiger Satz des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe als geflügeltes Wort die Runde: Das Land sei »von Freunden umzingelt«. Wer die Dinge so sah, legte keinen großen Wert mehr auf zahlenmäßig starke Streitkräfte, und so sollte der im Zuge der Wiedervereinigung durch die Übernahme der Nationalen Volksarmee der DDR zunächst angewachsene Personalbestand bei der Bundeswehr abgebaut werden. Die Truppe sollte sich künftig primär auf stabilisierende Maßnahmen in Krisenregionen und Friedensmissionen vorbereiten.
Diese in vielen westlichen Staaten gehegte optimistische Vorstellung von einer künftigen Weltordnung, in der es allenfalls ausnahmsweise zu gewaltsamen Konflikten kommen würde, beruhte von Anfang an auf Selbsttäuschung und Wunschdenken. Schon die frühen 1990er Jahre nämlich waren geprägt von Kriegen. Der erste begann zeitgleich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Am 2. August 1990 marschierten irakische Truppen in Kuweit ein und annektierten das Land völkerrechtswidrig trotz internationaler Proteste. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erteilte daraufhin ein Mandat für den militärischen Einsatz der Streitkräfte einer internationalen Staatenkoalition unter Führung der USA. Deren Sieg über die irakischen Truppen Ende Februar 1991 stellte zwar die territoriale Unabhängigkeit von Kuweit wieder her. Frieden brachte er jedoch nicht. Im Gegenteil – dieser Teil des Nahen Ostens ist bis heute eine Konfliktregion geblieben, in der anhaltend Gewalt herrscht.
In den Folgejahren kam es zu Gewaltausbrüchen auf verschiedenen Kontinenten; viele davon in Afrika. Dabei handelte es sich meist um Bürgerkriege, etwa in Somalia, Liberia, Sierra Leone und dem Kongo. Der schrecklichste, der Krieg zwischen den verfeindeten Volksgruppen der Tutsi und Hutu in Ruanda, eskalierte 1994 in wenigen Wochen zum Völkermord mit fast einer Million ermordeter Tutsi. Andere Kriege wurden auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion ausgefochten.
All das hätte schon genügen können, um die Friedenshoffnungen nach 1990 als Illusionen zu erkennen. Zusätzlich kam es auch in Europa in den 1990er Jahren zu einer Reihe von Kriegen, die den Zerfall Jugoslawiens bewirkten. Gegen diese Entwicklung sträubte sich mit allen Mitteln die serbische Führung in Belgrad, konnte das Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderation jedoch nicht verhindern. Die Kriege um die Unabhängigkeit Sloweniens (1991), Kroatiens (1991–1995), Bosnien-Herzegowinas (1992–1995) und des Kosovo (1998–1999) fanden aus deutscher (und österreichischer) Sicht unmittelbar »vor der eigenen Haustür« statt. Diese Wahrnehmung unterschlug die vielfältigen Auswirkungen dieser Kriege auch auf andere westeuropäische Gesellschaften. Außerdem offenbarte sich hier die Kraftlosigkeit der diplomatischen und militärischen Institutionen Europas. Weder die sich als großregionale Führungsmächte verstehenden westeuropäischen Staaten Frankreich, Großbritannien und – eher schwankend – das wiedervereinigte Deutschland, noch die Europäische Union mit ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), schon gar nicht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Ursprünge noch in der Zeit des Kalten Krieges liegen, konnten die Eskalation dieser »neuen« Kriege eindämmen.
Die Rückkehr des Kriegs nach Europa: Zerstörungen in Mostar in Bosnien-Herzegowina, 1992
Aufmerksame Beobachter in Deutschland bezeichneten das Kriegsgeschehen auf dem Balkan als »Rückkehr des Krieges nach Europa« (Eckart Conze) und diskutierten die Frage, welche Konsequenzen aus dieser Entwicklung zu ziehen seien. Es gelang jedoch nicht, die weit verbreitete und im kollektiven Bewusstsein tief verankerte Abneigung gegen eine ernsthafte und offene Beschäftigung mit kollektiver Gewalt und Krieg zu überwinden – und etwa die eigene militärische Verwundbarkeit kühl zu analysieren. Wer das unternahm, stand schnell im Verdacht, ein »Bellizist« zu sein.
Nachdem fast ein Viertel des 21. Jahrhunderts vergangen ist und Russlands Absicht, sich die Ukraine einzuverleiben, sich über mehrere Jahre immer weiter zugespitzt hat, ist nicht mehr zu übersehen: Krieg gehört nicht nur anderswo zum Alltag, sondern auch in Europa. Nicht überall in gleicher Weise und jederzeit, aber doch so, dass seine Auswirkungen überall spürbar sind. In einer globalisierten Welt lassen sich die politischen, wirtschaftlichen und oft auch die militärischen Auswirkungen des Kriegsgeschehens nur schwer eingrenzen. Ganz abgesehen davon, dass manche Kriegsparteien das gar nicht wollen.
Die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert bedeutet also keine tiefe Zäsur in der Geschichte von Kriegen. Das »große« Kriegsbild hat sich zunächst nicht dramatisch verändert. Dennoch aber hat insbesondere ein Ereignis zu Anfang des 21. Jahrhunderts den Blick auf bis dahin eher verdeckt gebliebene Horizonte organisierter Gewalt freigegeben und eine Reihe von Kriegen ausgelöst oder neu entfacht. Dieses Ereignis war der lange und sorgfältig geplante Terrorangriff durch ein Kommando des islamistischen Terrornetzwerks al-Qaida auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001. Die Mehrzahl der Kriege im folgenden Jahrzehnt kann man zwar kaum als Etappen im von den Vereinigten Staaten als Antwort auf 9 /11 ausgerufenen globalen Krieg gegen den Terrorismus (Global War on Terrorism, GWOT) ansehen. Trotzdem begannen Vorstellungen von einem international lose vernetzten, islamistisch motivierten und dezidiert antiwestlichen Terrorismus als Grundgefahr für die Stabilität der liberalen Weltordnung den Kriegsdiskurs zu bestimmen – und zwar auf politischer, militärstrategischer, rüstungstechnologischer und taktisch-operationeller Ebene.
Bei näherer Betrachtung stellte sich allerdings bald heraus, dass die Konfliktursachen, die Antriebsfaktoren der staatlichen und nichtstaatlichen Gewaltakteure, deren Ziele sowie die Intensität der Kriegführung von Region zu Region, ja von Einzelfall zu Einzelfall voneinander abweichen. Die Konzentration auf die militärische Bekämpfung terroristischer Gruppen wie al-Qaida, Boko Haram oder später Islamischer Staat und die auf der Grundlage des siegreichen Einsatzes militärischer Macht begonnenen Konzepte für den (Wieder-)Aufbau von staatlichen Strukturen, bei denen politische mit militärischen Anstrengungen kombiniert wurden, erbrachten nur oberflächliche Erfolge, zum Beispiel im Irak und in Afghanistan. 2014 eröffnete die russische Besetzung der Krim eine neue Perspektive auf die von vielen eigentlich schon als überwunden geglaubten Kriege zwischen souveränen Staaten.
Unsere Vorstellungen vom Gefüge und den Abläufen gegenwärtiger internationaler Politik werden von dem Bild eines engmaschigen Beziehungsgeflechts zwischen unterschiedlichen Akteuren geprägt. Unter der Vielzahl von Gruppen, Kollektiven und Organisationen, die hier mit-, gegen- oder unabhängig voneinander handeln, um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen, kommt den modernen Staaten eine entscheidende Bedeutung zu.
Das Verständnis davon, was einen Staat ausmacht, hat sich in der Geschichte immer wieder den jeweiligen geografisch-politischen und kulturellen Bedingungen angepasst. Die Variationsbreite reicht von kleinen Stadtstaaten bis zu Imperien mit riesiger Ausdehnung. Der Typus des modernen Staates hat sich in der frühen Neuzeit herausgebildet, und mit ihm auch das moderne Staatensystem.
Mitentscheidenden Anteil an diesem Prozess hatten das Auseinanderrücken der Sphären von Politik und christlicher Religion, der Expansionsdrang europäischer Staaten in bis dahin unbekannte (»unentdeckte«) Länder auf anderen Kontinenten, in denen großer Reichtum vermutet wurde, und die Durchsetzung rechtlicher Regeln sowohl im Inneren als auch für den Umgang der Staaten miteinander.
Der moderne Staat definiert sich über seine Macht zur Steuerung der auf seinem Territorium lebenden Menschen. Dazu gehören in erster Linie der Anspruch auf das Monopol organisierter physischer Gewalt, wofür er Polizei und Streitkräfte unterhält, der Anspruch auf das Monopol zur Erhebung von Steuern und schließlich der Anspruch auf das Monopol bei der Gestaltung und Überwachung der Rechtsordnung. Die Stabilität des Staates beruht zuvörderst darauf, dass und wie diese drei Ansprüche durchgesetzt werden können. Sie bleibt immer prekär.