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Seit ihrer Gründung 1955 ist die Bundeswehr ein Spiegel der bundesdeutschen Gesellschaft. Von Anfang an suchte sie ihren Platz zwischen Tradition und Neuausrichtung. Zugleich war sie immer eine Parlamentsarmee und fest eingebunden in europäische und transatlantische Bündnisse. Wilfried von Bredow, der »jahrzehntelange Beobachter deutscher Sicherheitspolitik« (FAZ), beschreibt die Geschichte der Bundeswehr von ihren historischen Wurzeln bis hin zu den Herausforderungen, vor denen sie heute als weltweit agierende Truppe steht. Er bettet die Entwicklungen in den gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen Zeit ein und spart auch Kritisches nicht aus.
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Seitenzahl: 295
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Wilfried von Bredow
Die Bundeswehr
Von der Gründung bis zur Zeitenwende
BeBra Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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E-Book im BeBra Verlag, 2023
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin, 2023
Asternplatz 3, 12203 Berlin
Umschlag: typegerecht berlin
ISBN 978-3-8393-0167-8 (epub)
ISBN 978-3-89809-212-8 (print)
www.bebraverlag.de
Einleitung: Wandel und Kontinuitäten
Kein Abschied vom Soldaten
Verspannungen
Schatten der Vergangenheit
Permanente Reformen
Nur im Bündnis
Politisch-militärische Kultur
1 Die militärische Vergangenheit
Vorläufer Preußen
Preußische Militärreformen
Blut und Eisen
Totaler Krieg
Die Reichswehr als Reichsverweser
Nationalsozialismus und Wehrmacht
2 Vorbereitung
Entmilitarisierung
Weltpolitischer Klimawechsel
Vorbehalte im In- und Ausland
Deutscher Wehrbeitrag zur europäischen Verteidigung
Kontakte, Probleme, Beratungen
Die Himmeroder Denkschrift
Das Paradox, das keines war
3 Aufbau und Unbehagen
Die ersten Jahre der jungen Bundeswehr
Das große Unbehagen: Anfangsprobleme, Pannen und Skandale
Der schwierige Minister
4 Eine neue politisch-militärische Kultur
Demokratische Kontrolle
Innere Führung und Staatsbürger in Uniform
Tradition und Selbstwertgefühl
Bündnisorientierung
5 Militärische Aufgaben im Kalten Krieg
Militärische Sicherheit
Landesverteidigung und nukleare Abschreckung
Gleichgewicht des Schreckens
Sicherheitspolitisches Dilemma
6 Gegenwind aus der Gesellschaft
Innere Distanz zur Wiederbewaffnung
Anti-Atombewegung
Autoritätskrise
Gegen die Neutronenbombe und den NATO-Doppelbeschluss
7 Bundeswehr und Wiedervereinigung
Die Nationale Volksarmee am Ende
Bundeswehr – Armee der Einheit?
Europäische Sicherheit nach 1990
8 Runderneuerung
Die Bundesrepublik als »Sicherheitsproduzent«
Die Parlamentsarmee
Kleine Schritte zur Transformation
Reformsprung
9 Das Ende der Wehrpflicht
Rückblick auf die Wehrpflicht
Die Wehrpflicht am Ende
Konsequenzen für Bundeswehr und Gesellschaft
10 Wieder Krieg, aber anders
Der Afghanistan-Einsatz
Die Bundeswehr und Neue Kriege
Vernetzungen
Auf dem Weg zur europäischen Armee?
11 Umbrüche und Fehlentwicklungen
Das paradoxe Jahrzehnt
Das große Knirschen
Toxische Verlockungen
12 Zeitenwende 2022
Breites Bedrohungsspektrum
Landes- und Bündnisverteidigung, neu
Das Sondervermögen
Nationale Sicherheitsstrategie
»Eine Riesenherausforderung«
Ausblick
Zäsuren
Wie weiter?
Anhang
Die Bundesminister der (bis 1962: für) Verteidigung
Die Generalinspekteure der Bundeswehr
Weiterführende Literatur
Chronologie
Abbildungsnachweis
Der Autor
Hilfseinsatz im eigenen Land: Bundeswehr-Hubschrauber beim Oder-Hochwasser von 1997.
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 drückte das Sturmtief Vincinette riesige Wassermassen in die Elbe und löste so in Hamburg eine Sturmflut aus. Viele Dämme der Elbe brachen, etwa ein Fünftel des Hamburger Stadtgebiets stand unter Wasser. In den besonders tief gelegenen Gebieten der Stadt zerstörten die Fluten Häuser und Wohnungen. Viele Menschenleben waren in Gefahr. Auf eine solche Katastrophe waren die Behörden nicht vorbereitet. In dieser Situation alarmierte der erst ein paar Monate im Amt befindliche Innensenator Helmut Schmidt die Bundeswehr. Ohne deren Sturmboote, Schlauchboote und Hubschrauber, ohne den Einsatz von Kampftauchern und Soldaten, die bei der Reparatur der Deiche mithalfen, wäre das Ausmaß der Hamburger Flutkatastrophe viel schrecklicher, wäre die Zahl ihrer Opfer viel höher gewesen. Im siebten Jahr nach ihrer Gründung wurde die Bundeswehr und wurden ihre Soldaten wegen dieses Einsatzes in der deutschen Öffentlichkeit zum ersten Mal richtig gefeiert – bezeichnenderweise nicht wegen einer militärischen Heldentat, sondern als Lebensretter und effiziente Katastrophenhelfer.
Gut 35 Jahre später, Ende Juli 1997, drohte ein Hochwasser das Oderbruch in Brandenburg zu überschwemmen. Wären die teilweise schon arg ramponierten Deiche vollends gebrochen, wären Tausende von Menschen gefährdet gewesen. In einer groß angelegten und mitunter hochgefährlichen Hilfsaktion bewahrten 30 000 Soldaten der Bundeswehr gemeinsam mit der Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk das Oderbruch und seine Bewohner vor diesem Schicksal. Im siebenten Jahr nach der deutschen Vereinigung bewirkte das »Wunder von Hohenwutzen«, dass die Bundeswehr sich auch im Bewusstsein der Menschen in den »neuen« Bundesländern als Retter und Helfer fest einprägte.
Neue Aufgaben: Registrierung eines Geflüchteten auf dem Gelände des Fliegerhorstes Erding am 12. Januar 2016.
So wichtig und folgenreich diese beiden Einsätze der Bundeswehr im Innern auch waren – primär sind die Streitkräfte für anderes zuständig. Dabei kommt es gar nicht so selten vor, dass Soldaten Aufgaben übernehmen, für die sie eigentlich nicht gedacht sind, die sie aber häufig besser machen als andere. Etwa Anfang 2016: Da unterstützte die Bundeswehr, zeitlich befristet, mit mehreren Tausend Soldaten die Bundesländer und Gemeinden bei der Registrierung, Versorgung, Verteilung und Unterbringung von Asylbewerbern. Oder zwischen März 2020 und März 2022, als ein umfangreiches Hilfskontingent von Soldatinnen und Soldaten in Gesundheitseinrichtungen half, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Solche »zivilen« Tätigkeit ergänzen auch etliche der »eigentlichen«, nämlich der militärischen Missionen der Bundeswehr. In solchen Missionen geht es um Eindämmung gewalttätiger Konflikte, Krisenmanagement sowie Überwachung, Sicherung oder Wiederherstellung von Frieden. Auslandseinsätze der Bundeswehr hat es auch vor 1990 nicht wenige gegeben – sie fanden meist in kleinerem Rahmen statt. Auf so gut wie alle von ihnen passt das Etikett Katastrophenhilfe.
Seit den frühen 1990er-Jahren kamen mehr und mehr militärische Auslandseinsätze hinzu. Die bislang schwierigsten und langwierigsten dieser Einsätze, auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien sowie in Afghanistan, haben das Selbstbild der Bundeswehr und ihr Bild in der Öffentlichkeit geändert. Blickt man von den Erfahrungen, die deutsche Soldaten bei ihren Einsätzen in Syrien, in Mali und an anderen Konfliktherden der Welt machten, auf die Vorgeschichte und die frühen Jahre der Bundeswehr, wird erkennbar, welch weiten Weg sie durchlaufen hat.
Der Publizist Wolf Schneider hat jüngst eine »Weltgeschichte des Soldaten« über alle Kulturen und Zeiten hinweg publiziert, ein anregendes Buch, an dem nur die Grundthese des Autors irritiert. Er will seine Ausführungen als »Nachruf« verstanden wissen. Die Ära des Soldaten gehe zu Ende. Schon für Hiroshima habe man Soldaten im überlieferten Wortsinn nicht mehr gebraucht. Heute würden die Bomben durch Drohnen ersetzt und die Kämpfer demnächst durch Kampfroboter. Zum Siegen taugten Soldaten längst nicht mehr; stattdessen seien Söldner, Partisanen, Selbstmordattentäter oder menschliche Kampfmaschinen wie die Navy Seals fürs Töten zuständig.
Das ist alles andere als überzeugend und nur dann verständlich, wenn man ein sehr eng gefasstes Bild vom Soldaten und dem Soldatenberuf hat. Jedoch hat sich in der Vergangenheit dieses Bild vom Soldaten immer wieder verändert, beeinflusst von der Waffenentwicklung, den geografischen Gegebenheiten, den Bedrohungskatalogen, der Entwicklung taktisch-operativen und strategischen Denkens sowie nicht zuletzt von den politischen Zielvorgaben für die Streitkräfte.
Als Deutschland 1945 aufgeteilt wurde, schien tatsächlich ein »Abschied vom Soldaten« und von Streitkräften als Mittel staatlicher Politik in der Luft zu liegen. Auch nach der Vereinigung Deutschlands 1990 kam der Gedanke wieder auf. Der flott-ironische Spruch eines Regierungsmitglieds, Deutschland sei »von Freunden umzingelt«, fand viel positiven Widerhall. Besonders in eher links eingestellten politischen Milieus meinten manche, Deutschland könnte künftig auf den Beitrag des Militärs zur Sicherheit des Landes verzichten.
Beide Male kam es ganz anders. Als sich der Ost-West-Konflikt zum Kalten Krieg zuspitzte, waren es zuerst die Besatzungsmächte, von denen der Anstoß zur Aufstellung militärischer Verbände ausging. Und nachdem sich der Ost-West-Konflikt aufgelöst hatte, begann keineswegs das erhoffte Zeitalter friedlicher Kooperation und allseitiger Sicherheit zu niedrigem Preis. Stattdessen stiegen die Erwartungen der Verbündeten und der Vereinten Nationen an Deutschland, es möge in der globalisierten Welt einen höheren Anteil an der Festigung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernehmen. Die Bundeswehr wurde daraufhin in einem mühseligen Prozess zu einer Armee umgewandelt, welche die Fähigkeit zur Erfüllung sehr unterschiedlicher Missionen besitzt. Dieser Vorgang ist auch Anfang der 2020er-Jahre noch nicht ganz beendet.
All das läuft überhaupt nicht darauf hinaus, dass Soldaten und Streitkräfte längerfristig überflüssig werden. Eine Ära allumfassenden Friedens ist nicht in Sicht, schön wär’s. Und sich selbst lenkende Waffensysteme, Roboter und seelenlose Kampfmaschinen werden auch in Zukunft die Gewaltkonflikte nicht eigenmächtig und automatisch entscheiden können.
Wenn es um die Bundeswehr geht, stößt man nach wie vor auf eine ganze Reihe von sozialen und politischen Verspannungen. Das betrifft einmal das Verhältnis der politischen Führung zu den Streitkräften, das immer gekennzeichnet war von dem Widerspruch zwischen nüchternen bis pathetischen Bekenntnissen zur Landesverteidigung und zu den Soldaten und dem Drang, beim Militärhaushalt alle Einsparmöglichkeiten auszunutzen. Das hat dazu geführt, dass wir »die kleinste und marodeste Bundeswehr aller Zeiten« haben, wie in einem Kommentar zum Jahresbericht 2015 des Wehrbeauftragten zu lesen war.
Auch das Verhältnis der zivilen Gesellschaft insgesamt und der Öffentlichkeit zur Bundeswehr wies von Anfang an Verspannungen auf. Die Mehrheit der Bevölkerung sah der Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren mit viel Skepsis und inneren Vorbehalten entgegen. Nicht immer nur kleine Minderheiten haben zudem bei allen möglichen Gelegenheiten vehement gegen die Bundeswehr und ihren sicherheitspolitischen Auftrag öffentlich demonstriert. Trotz der schon seit Jahrzehnten beachtlich hohen Zustimmungsraten zur Bundeswehr gibt es bis heute eine gewisse Skepsis und Distanz in der Mitte und Ablehnung am linken Rand des politischen Spektrums. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat diese eigentümliche Widersprüchlichkeit so auf den Punkt gebracht: »Gewiss, die Bundeswehr ist gesellschaftlich anerkannt; aber was heißt das eigentlich genau? Die Deutschen vertrauen der Bundeswehr, mit Recht, aber ein wirkliches Interesse an ihr oder gar Stolz auf sie sind eher selten. Noch seltener sind anscheinend der Wunsch und das Bemühen, den außen- und sicherheitspolitischen Wandel zu verstehen und zu bewerten, der da auf die Bundeswehr einwirkt.« Mehr als ein »freundliches Desinteresse« sei das nicht.
Das war in den ersten Jahren des Bestehens der Bundeswehr zeitweise anders. Damals wurde in der Öffentlichkeit über das Profil und das Binnenverhältnis der Streitkräfte mitunter leidenschaftlich gestritten, etwa über die Innere Führung und die Auseinandersetzungen zwischen den eher reformoffenen und den solchen Neuerungen gegenüber eher unwillig eingestellten Offizieren. Dabei ging es um das zeitgemäße Bild des Soldaten, die Bedeutung der deutschen militärischen Traditionen, die Innere Führung, militärstrategische und verteidigungspolitische Fragen sowie die meist unter der Oberfläche bleibende Konkurrenz der Teilstreitkräfte Heer, Marine und Luftwaffe.
Nicht zuletzt wird die Geschichte der Bundeswehr auch durch eine verspannte und eigentümlich halbierte historische Diskontinuität bestimmt. Eigentümlich daran ist vor allem ihr Ursprung in dem tiefen Bruch mit der Vergangenheit. Dieser Bruch von 1945 betraf die ganze Gesellschaft und ihr politisches System, die gesellschaftlichen Eliten ebenso wie die Bevölkerung insgesamt. Er war einschneidend. Die Rede vom politischen und ökonomischen Neuanfang als der »Stunde null« klang unmittelbar überzeugend. Wichtiger Bestandteil dieses Neuanfangs war eine deutliche, nicht nur rhetorische Distanzierung von den rassistischen Vorstellungen und den diktatorischen Politikmustern des Nationalsozialismus.
Zu den Organisationen, die nach 1945 besonders tief im Schatten der Vergangenheit standen, gehörten die Wehrmacht und ihre Angehörigen. Der von den Siegermächten mit viel Druck erzeugte Bruch mit der bösen Vergangenheit wurde von einer Minderheit der Deutschen ohne Einschränkungen begrüßt, von der Mehrheit hingenommen und wiederum einer Minderheit innerlich abgelehnt. Wer weiß, was aus dieser Gemengelage geworden wäre, wenn nicht sehr bald nach dem Tag der totalen Niederlage Deutschlands der weltpolitische Struktur- und Ordnungskonflikt zwischen den westlichen Staaten und der Sowjetunion sich zu verschärfen und die länger andauernde, sicherheitspolitisch gefährliche Phase des Kalten Krieges begonnen hätte?
Brüchige Traditionslinien: Eingangsbereich einer nach dem Wehrmachtsoffizier Erwin Rommel (1891–1944) benannten Bundeswehrkaserne in Augustdorf, Kreis Lippe.
Unter dem Vorzeichen des Ost-West-Konflikts gingen die Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs in China in einen Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang über. In Europa war das anders. Hier teilte eine erst locker kontrollierte, aber dann immer weiter aufgerüstete Grenze (»Eiserner Vorhang«) Europa und Deutschland in eine sowjetisch kontrollierte und eine in der Hauptsache amerikanisch kontrollierte Hälfte. Diese Teilung vollzog sich nicht unmittelbar, aber doch erstaunlich rasch.
Die auf den letzten Kriegskonferenzen der vier Alliierten in Jalta (4. bis 11. Februar 1945) und Potsdam (28. Juli bis 2. August 1945) gefassten Beschlüsse über die Zukunft Deutschlands verloren, weil sich der Kalte Krieg verschärfte, weitgehend ihre gemeinsame Basis. Das hatte für das besiegte Deutschland viele unerwartete Folgen. Auch das Urteil über den »deutschen Militarismus« war davon betroffen. Das »Potsdamer Abkommen« hatte noch die Ausrottung des deutschen Militarismus sowie die völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands postuliert. Wer in der Reichswehr und der aufgelösten Wehrmacht gedient hatte, sollte nie wieder deutscher Soldat werden.
Die politische Ost-West-Eiszeit steigerte spätestens seit 1947 die kollektiven Bedrohungsgefühle im Westen. Erst militärische Experten, bald auch Politiker begannen, auf einen militärischen Verteidigungsbeitrag der Deutschen zu dringen. Dazu benötigte man freilich gerade jene Soldaten, die noch kurz vorher und ohne, dass diese Auffassung gänzlich über Bord geworfen worden wäre, als Bannerträger oder Werkzeuge der nationalsozialistischen Aggression stigmatisiert worden waren. Die neu konzipierte Bundeswehr beruhte einerseits auf einer personellen und militärfachlichen Kontinuität. Andererseits sollte sie viele Versatzstücke aus der militärischen Kultur der Vergangenheit gerade nicht übernehmen. Dieser Gegensatz bewirkte in den ersten drei Jahrzehnten der Bundeswehr eine oft als ätzend empfundene innere Spannung.
Im Rückblick auf die Geschichte der Bundeswehr sticht ins Auge, dass sich die deutschen Streitkräfte nach einer längeren Planungs- und anschließenden Gründungsphase, beide etwas holprig, fast immer im ununterbrochenen Prozess der Veränderung und Anpassung an das politische und militärstrategische Umfeld befunden haben. Dass bei permanentem Druck auf die Organisationsstrukturen und angesichts der entsprechenden Belastungen für die Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr Pannen kaum zu vermeiden waren, ist leicht einzusehen. Außerdem reagieren Menschen, gleichviel ob in Uniform oder in Zivil, auf solche Herausforderungen ganz unterschiedlich, die einen flexibel und den neuen Anforderungen gegenüber aufgeschlossen, viele aber auch eher nervös und widerwillig, mit innerer Reserve oder sogar hinhaltendem Widerstand.
Für längere Konsolidierungsphasen war nie Zeit. Von allen mehr oder weniger einschneidenden Zäsuren in der Geschichte der Bundeswehr war das Jahr der Vereinigung Deutschlands 1990 die tiefste und folgenreichste. Einige Beobachter sprachen davon, die Bundeswehr müsse jetzt noch einmal neu gegründet werden. Das war nur wenig übertrieben. Schon allein die vielen einander ablösenden und jeweils kurzfristig im Vordergrund stehenden Leitbegriffe und -konzepte für Veränderungen in den Streitkräften nach 1990 illustrieren die Ernsthaftigkeit der Herausforderungen: Ressortkonzept (1995), Bestandsaufnahme (1999), Neukonzeption (2004), Transformation (2006), Neuausrichtung (2012), Trendwende (2015). Auch schon vor 1990 gab es Reformen, unter anderem der Wehrstruktur oder des Bildungs- und Ausbildungsbereichs der Bundeswehr, die von allen Beteiligten viel Ausdauer und Geduld forderten.
Es war von Anfang an klar, dass westdeutsche Streitkräfte keine rein nationale Angelegenheit sein konnten. Erst sollten sie in der »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« (EVG) einen Beitrag zur Verteidigung des Territoriums der 1949 aus den drei westlichen Besatzungszonen hervorgegangenen Bundesrepublik Deutschland und der westeuropäischen Verbündeten leisten. Nachdem die EVG nicht zustande gekommen war, wurde die Bundesrepublik Mitglied im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO). Die bestimmende Macht in der NATO waren – und blieben bis in die Gegenwart – die Vereinigten Staaten von Amerika. Die hatten zur Beendigung des Krieges gegen Japan im Sommer 1945 Atombomben eingesetzt. Danach wurden diese Waffen und weitreichende Trägermittel wie Bomber und Raketen im Eiltempo weiterentwickelt. Großbritannien, aber bald auch die Sowjetunion, später dann Frankreich verfügten ebenfalls über Atombomben. Die unvergleichliche Zerstörungskraft dieser Waffen versprach ihren Besitzern einen großen Machtvorteil. Würde aus dem Kalten Krieg vielleicht ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Ost und West entstehen? Welche Folgen würde das für Deutschland haben? Die frühen Jahre der Bundeswehr waren nachhaltig beeinflusst von der Entfaltung der amerikanischen Nuklearstrategie der Abschreckung (deterrence) und ihrer nicht völlig widerspruchsfreien Verknüpfung mit der Verteidigung des eigenen Territoriums und dem der NATO-Verbündeten. Das zum Glück virtuell gebliebene nukleare Kriegsbild trat mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts in den Hintergrund.
Die Bundeswehr wurde in den frühen 1990er Jahren zu einer, wie es im Bundeswehr-Jargon heißt, »Armee im Einsatz«. Sie erfüllte eine Fülle verschiedenster Aufgaben jenseits der traditionellen Landesverteidigung, out of area, also »Auslandseinsätze« zur multinationalen Krisenintervention, überwiegend mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgestattet, in unterschiedlich großen Kontingenten von einer Handvoll bis zu mehreren tausend Soldaten. In den USA hießen solche Aufgaben Military Operations Other Than War (MOOTW), was aber nicht auf alle von ihnen zutraf, denn die Fähigkeit zu Kampf und Kriegsführung wurde auch immer benötigt. Hierin waren die Bundeswehr und ihre Soldaten erst einmal Neulinge.
Spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim durch Russland 2014 sowie der von Moskau aus gesteuerten militärischen Aufheizung der Konflikte in den östlichen ukrainischen Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk wurde das sicherheitspolitische und militärstrategische Verhältnis zwischen Russland und der NATO konfrontativer. Im Februar 2022 überfielen russische Streitkräfte die Ukraine mit dem von Präsident Putin vorgegebenen Ziel, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine zu beenden und deren westlicher Ausrichtung von Politik und Gesellschaft einen geopolitischen Riegel vorzuschieben.
Angesichts der immensen Zerstörungen ukrainischer Städte und der insbesondere für die osteuropäischen NATO-Mitglieder bedrohlichen Situation begann die NATO damit, ihre Verteidigungsfähigkeit auszubauen und der Ukraine militärische Hilfe bei der Verteidigung ihres Territoriums zu leisten. Für Deutschlands Sicherheitspolitik und die Bundeswehr brachte dies eine tiefe Zäsur mit sich. Hoffnungen auf einen europäisch-russischen »Wandel durch Handel« hatten sich als trügerisch erwiesen. Bei der Versorgung mit Gas, Öl und Kohle zeigte die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland unnachsichtig eigene politische Schwächen auf. Um den expansionistischen Machtanspruch Russlands einzudämmen, musste die Bundeswehr nun schnellstens die angestauten Mängel bei der Bewaffnung und Ausrüstung abbauen. Nach dem jahrzehntelangen und letztlich erfolglosen Einsatz in Afghanistan war unübersehbar geworden, dass die Bundeswehr Deutschlands Sicherheit weniger am Hindukusch oder sonst wo weit weg verteidigen können muss, sondern vor allem an den Grenzen des Bündnisgebietes. Das bedeutete erhöhte militärische Anstrengungen, materiell wie personell.
1957 traten die ersten Bundeswehrsoldaten ihren Dienst in den Kasernen an. Die Bundeswehr verstärkte in der Zeit des Ost-West-Konflikts als wichtiger Partner in der NATO das Abschreckungs- und Verteidigungspotential des Westens gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt. Trotz etlicher kriegerischer Konflikte in Europa nach 1990 schienen die Grundstrukturen europäischer Sicherheit stabil. Die Bundeswehr beteiligte sich jetzt an zahlreichen multinationalen Missionen der Krisenintervention und Krisenstabilisierung. Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine mit seinen Implikationen für die baltischen und andere ostmitteleuropäische NATO-Mitgliedsstaaten verlagerte sich das sicherheitspolitische und militärische Augenmerk des Westens wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung.
Multinationale Einsätze: Bundeswehrsoldaten halten Wache im Lager Belet Uen in Somalia, 1993.
Neben den vielen Veränderungen, welche der Soldatenberuf, seine politische Rahmung, das Auftragsspektrum, Organisation, Ausbildung und Ausrüstung durchlaufen haben, gibt es freilich auch Kontinuitäten – auch über den historischen Bruch von 1945 hinaus in die militärische Vergangenheit. Das Wechselspiel von Veränderungen und Kontinuitäten ist faszinierend. Es soll in diesem Buch unter vier Gesichtspunkten beschrieben werden: Militär als Sicherheitsinstrument (west-)deutscher Politik, Einpassung der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft, multinationale Eingebundenheit der Bundeswehr seit ihrer Gründung und permanente Organisationsreformen, nicht zuletzt wegen der Veränderungen im militärischen Aufgabenspektrum.
All dies zusammengenommen ergibt eine im Verhältnis zu früher neue politisch-militärische Kultur. Um sie herauszuarbeiten, ist es nötig, die Schilderung der Entwicklung so anzulegen, dass der Blick sich nicht allein auf die Organisationsgeschichte der Bundeswehr, ihre »Firmengeschichte« sozusagen, oder nur auf die strategischen und operativen Aspekte ihrer Entwicklung konzentriert. Ebenso wenig reicht es aus, sich auf das zu beschränken, was im Fachjargon »Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft« genannt wird, aber aus verschiedenen Blickwinkeln ganz unterschiedlich interpretiert werden kann.
Alle oben aufgeführten Aspekte in einer Zusammenschau zu präsentieren, informativ, nüchtern, kritisch, aber auch respektvoll gegenüber den Leistungen der Bundeswehr, ihrer Soldaten, ob als Wehrpflichtige, Soldaten auf Zeit oder Berufssoldaten, und ihrer zivilen Mitarbeiter, ist das Ziel dieses Buches.
Dabei werden Methoden aus der Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften kombiniert. Es geht darum, die gesellschaftliche und politische Vergangenheit systematisch zu erfassen und zu analysieren, also nicht nur die verschiedenen Ereignisse und Abläufe zu schildern, sondern auch die in Gesellschaft und Staat vorherrschenden politischen Weltbilder und Wertprioritäten, kollektiven Bewusstseinsinhalte und Verhaltensnormen sowie ihre Veränderungen über die Zeit herauszuarbeiten – also die politische Kultur dieser Gesellschaft, ihr soziales, politisches und kulturelles Profil.
Zur politischen Kultur gehören auch Einstellungen zu und Vorstellungen über Militär und Gewalt, Krieg als Mittel der Politik, zum Verhältnis zwischen der Organisation der Streitkräfte und den übrigen Teilen der Gesellschaft oder zum Sozialprestige des Soldatenberufs. Man kann dieser Unterabteilung den Namen militärische Kultur geben. Sie blieb in der Nachkriegsgeschichte immer auf besondere Weise von der internationalen Politik beeinflusst und eng mit ihr verknüpft. Das hat sich heute nicht geändert.
Überblendet man die organisationsinterne, die politisch-gesellschaftliche (nationale) und die internationale Ebene der Bundeswehrgeschichte, entsteht nicht nur ein Bild der Streitkräfte und der Soldaten in ihrer Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg, sondern zugleich auch ein aufschlussreiches und vielsagendes Selbstbild der deutschen Gesellschaft und ihrer Vorstellungen über Politik und Sicherheit.
Krieg als Mittel der Politik: Deutsche Soldaten in der Schlacht bei Königgrätz (1866) gegen Österreich.
In Deutschland kann man über die eigene Vergangenheit als Volk oder Nation nicht so entspannt reden, wie das bei anderen Nationen der Fall ist. Angesichts der wenig rühmlichen deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwundert das nicht.
Nicht nur in Deutschland, sondern in sehr vielen der heute auf der Weltkarte verzeichneten Staaten spielten Gewalt und Krieg eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Ausgestaltung des Gemeinwesens und seiner politischen Kultur. Die Ereignisse selbst können weit zurückliegen oder nur wenige Jahrzehnte. In den jeweiligen Kollektiverinnerungen der meisten Staaten im heutigen Europa nehmen häufig auch ins Mythische verklärte Ereignisse oder Figuren der Vergangenheit einen zentralen Platz ein. In Frankreich etwa ist das Jeanne d’Arc und ihr Kampf um die Unabhängigkeit des Landes vom englischen Königshaus Lancaster. Blutige Gewalt durchtränkt in aller Regel solche Gründungs- und Festigungsmythen. Sie sind, ebenso wie einschneidende kollektive Kriegserlebnisse in der Vergangenheit – vor allem Siege, aber zuweilen auch Niederlagen –, wesentlich für die Konstruktion der eigenen Geschichte. Mitbestimmt wird diese durch die Erzählungen der Historiker, die ihrerseits nicht immer unbeeinflusst bleiben vom politischen Tagesgeschehen.
Eine Bilanz dessen, was aus der Vergangenheit für die politisch-militärische Kultur der deutschen Demokratie und speziell für die Bundeswehr erkennbar von Belang ist, fällt zwiespältig aus. Keineswegs gehören alle militärischen Traditionen in den historischen Giftschrank. Auch in der Geschichte Deutschlands und seiner politischen Vorläufer stößt man auf Staatsklugheit, gediegenen militärischen Professionalismus und militärstrategische Intelligenz. Zugleich jedoch findet sich auch das Gegenteil: politische und militärische Kurzsichtigkeit und Borniertheit, Rücksichtslosigkeit und Fahrlässigkeit militärischer Vorgesetzter gegenüber ihren Untergebenen, uniformierter Hochmut und Verbrechen gegenüber Zivilisten.
Im Grunde sind alle politisch-militärischen Bilanzen, gleichviel um welches Land es sich handelt, zwiespältig. Die Situation Deutschlands nach 1945 ist allerdings zusätzlich durch einen besonders dunklen Schatten gekennzeichnet. Der Fehlschlag der Demokratie von Weimar und die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft und deutscher Aggression haben entscheidend auf die Neukonstruktion der politisch-militärischen Kultur des Neuanfangs eingewirkt.
Der Dreißigjährige Krieg (1618–48) hat tiefe Wunden in der kollektiven Erinnerung der Menschen in den vielen größeren und kleineren politischen Einheiten Mitteleuropas hinterlassen. Die Geschichte dieses Krieges, der ganze Gegenden entvölkerte, muss auch verstanden werden als eine Ära, in welcher sich die Streitkräfte über ihren dienenden Status zur Durchsetzung politischer Herrschaftsinteressen hinwegsetzten. Der Krieg verselbstständigte sich. In der Phase des Wiederaufbaus nach 1650 überwanden die Menschen dieses kollektive Trauma nur sehr langsam.
Seit dem 17. Jahrhundert stieg Brandenburg-Preußen zur kleinsten unter Europas damaligen Großmächten auf. Entscheidendes Symbol und wirksamstes Instrument dieses Aufstiegs war die Armee. Mit ihr entwickelte sich die typisch preußische politisch-militärische Kultur. Als der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm, der »Große Kurfürst«, 1640 sein Amt antrat, verfügte er über ca. 2500 Soldaten, für deren Unterhalt kein Geld vorhanden war. Als er 1688 starb, hinterließ er seinem Nachfolger Friedrich III. (1688–1713, ab 1701 als Friedrich I. König in Preußen) eine Armee von 30 000 Soldaten. Preußen gab sich als Militärmonarchie.
Unter der Herrschaft von Friedrich Wilhelm I., dem »Soldatenkönig« (1713–40), und seinem Sohn Friedrich II., »Friedrich dem Großen« (1740–86), war Preußen ein machtvoller, zentralisierter und absolutistischer Großstaat, dessen Staatsgedanke sich in der Armee verkörperte. Die innen- und außenpolitischen Erfolge Preußens wurden in Gang gehalten durch einen streng fürsorglichen, bei Friedrich II. dann »aufgeklärten« Absolutismus. Der eine wie der andere zeigte gegenüber den eigenen Untertanen allerdings ein gelegentlich brutales Gesicht.
Friedrich II. soll gegen Ende der Schlacht von Kolin am 18. Juni 1757 seine fliehenden Dragoner beschimpft haben: »Hunde, wollt ihr ewig leben?« In der Schlacht von Kolin im zweiten Jahr des Siebenjährigen Krieges (1756–63) standen sich etwa 35 000 Soldaten auf preußischer und etwa 54 000 Soldaten auf österreichischer Seite gegenüber. Die Bilanz des Abends: Die Preußen, die die Schlacht verloren haben, zählten knapp 14 000 Tote und Verwundete, die Österreicher verzeichneten über 8000 Tote und Verwundete …
Unter den Nachfolgern Friedrichs II. stand es weniger gut um die Militärmonarchie. Das Bürgertum verlangte nach Mitspracherechten. Zudem kam der Wunsch auf, die absolutistischen Fürstenpartikularitäten zugunsten einer politisch einheitlichen deutschen Nation zu überwinden. Vor allem der preußische Offiziersadel wehrte sich jedoch noch gegen Reformen.
Den Attacken Napoleons war die europäische Großmacht Preußen schließlich weder politisch noch militärisch gewachsen. Dafür gab es viele Ursachen: Den aufgeklärten, das heißt vor allem auch modernisierungsbereiten Absolutismus gab es kaum noch. Stattdessen stemmten sich seine Vertreter ebenso hartnäckig wie vergeblich gegen alle sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen. Sie verpassten den Wandel des Kriegsbildes mit seinen erhöhten Anforderungen an die Soldaten. Die politische Landkarte Europas veränderte sich ebenfalls. Napoleon ordnete sie neu nach seinem Gusto. Die deutschen Kleinstaaten in der Mitte Europas konnten ihren eigenen Gestaltungswillen in dieser Ordnung nicht zur Geltung bringen und wurden zum Objekt napoleonischer Politik. Nach der verheerenden Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 war der Weg für Napoleons Einzug in Berlin frei.
Die Militärführung der Preußen erwies sich als verknöchert, und so wurde immer deutlicher, dass die Armee drastisch umorganisiert werden musste. Die Militärreformer um Gerhard von Scharnhorst, August Neidhardt von Gneisenau, Hermann von Boyen und Karl von Grolman waren jedoch weitsichtig genug zu erkennen, dass es damit nicht genug sei. Darüber hinaus kam es darauf an, die tiefe Kluft zwischen Armee und ziviler Gesellschaft zu überbrücken. Die Reformen erfassten das Militärwesen und den Staat insgesamt. Der Vordenker für die Staatsreform war Karl Freiherr vom und zum Stein, der in seiner Nassauer Denkschrift von 1807 die Belebung des Bürgersinns, die Abflachung des hierarchischen Gefälles zwischen Obrigkeit und Untertanen sowie eine deutliche Ermunterung zu gemeinschaftsbezogenem Engagement gefordert hatte.
Soldatische Traditionen für die Bundeswehr
»Jede Armee braucht Wurzeln in die Vergangenheit, Anknüpfung und Abstützung an überlieferte Werte, die sich bewährt haben und die heute helfen können, die Aufgaben der Gegenwart zu erfüllen. Wir nennen das Tradition. Die Traditionen der Bundeswehr reichen durch die Wehrmacht hindurch weit in die Vergangenheit hinein. Sie stützt sich auf die preußischen Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals forderte der General Gerhard von Scharnhorst die innige Verknüpfung von Volk und Armee. Das war das Gegenteil der Söldnerarmee des 18. Jahrhunderts. Die Einführung der Wehrpflicht, die Abschaffung der Prügelstrafe, die Öffnung der Offiziersstellen für bürgerliche Bewerber leiteten sich aus diesem Ziel ab. Auch die überlieferten unverzichtbaren Tugenden des Soldaten sind in das Soldatengesetz unserer Republik übernommen worden. Hierzu gehören vor allem der treue Dienst, Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft, beispielhaftes Verhalten der Vorgesetzten und Fürsorge für die Untergebenen. Sie sind heute gesetzliche Pflichten.
Der spätestens seit Helmuth von Moltke gepflegte Führungsstil der Auftragstaktik verbindet die Forderung einer gewissenhaften Auftragserfüllung mit der Freiheit in der Durchführung und entspricht damit auch demokratischen Vorstellungen. Nicht zuletzt ist die handelnde Rolle von Soldaten der Wehrmacht im Widerstand gegen Adolf Hitler ein grundlegendes Element der Tradition der Bundeswehr. Das Gewissen steht über dem Gehorsam, wenn Befehle Recht und Menschenwürde brechen oder verachten sollen.«
Ulrich de Maizière, 2005
Nicht zufällig knüpfte man knapp 150 Jahre später bei der inneren Ausgestaltung der Bundeswehr an genau diese Sichtweise an. Der politisch-militärische Zusammenbruch der preußischen Militärmonarchie 1806 war zwar längst nicht so dramatisch wie die Niederlage Deutschlands 1945. Aber richtig ist, dass sich in den Jahren um die damalige Jahrhundertwende tief greifende Veränderungen des Kriegsbildes und der gesellschaftlich-politischen Herrschaftsformen vollzogen, auf die man mit politischen und militärischen Reformen antworten musste, um den Niedergang aufzuhalten. Diese Veränderungen liefen in ihrer Summe auf eine Industrialisierung und Technisierung des Krieges hinaus. Der Krieg beschränkte sich nicht mehr auf Schlachten an der Front, sondern bezog tendenziell das gesamte Territorium und die gesamte Wirtschaftskraft der Kontrahenten ein. Um dem gerecht zu werden, brauchte es ein neues Gesamtkonzept zur Integration des Militärs in die Gesellschaft, zur Erzeugung staatsbürgerlicher Verantwortung für die Streitkräfte sowie ein neues Bild vom Soldaten mit einer gefestigten Kampfmoral.
Zu den innermilitärischen Reformen zählten unter anderem die Abschaffung der brutalen Körperstrafen und des Adelsprivilegs für Offiziersstellen, die erhebliche Verbesserung der Ausbildung des Offiziersnachwuchses, die Einführung gemischter Heeresbrigaden mit Kontingenten verschiedener Waffengattungen, das Einüben neuer taktischer Grundformen, die Neuordnung der Militärverwaltung und die Schaffung eines Kriegsministeriums.
In der nach 1815 einsetzenden Restaurationsperiode blätterte viel von dem Reformlack wieder ab. Dennoch blieb der Modernisierungsdruck auf Wirtschaft, Wissenschaft und Weltanschauung stark spürbar.
Das, was für uns heute Deutschland ist, nahm erst nach einem langen historischen Vorlauf im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts politische Gestalt an. Die gegen Napoleons Heere ausgefochtenen Befreiungskriege zwischen 1813 und 1815 waren motiviert von nationaler Begeisterung für ein einiges und postfeudales Deutschland. Damals griff man weit in die Vergangenheit zurück, um den Mythos der Nation zu beleben: Zum Beispiel bemühte man den Kampf der Cherusker gegen die römische Fremdherrschaft, der seinen Höhepunkt in der Schlacht im Teutoburger Wald gefunden habe.
Nach 1815 setzten sich bei der Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung jedoch die partikularen Interessen der Fürsten durch, die mehrheitlich dem Ziel der nationalen Einheit skeptisch gegenüberstanden oder sich gegenseitig blockierten. Der Weg zur Gründung des Deutschen Reiches führte durch drei Einigungskriege: den deutsch-dänischen Krieg 1864, den preußisch-österreichischen Krieg 1866 und den deutsch-französischen Krieg 1870/71.
Das von Historikern als »Macht- und Militärstaat« bezeichnete Reich wurde mit »Blut und Eisen« zusammengebracht – so die seinerzeit überwiegend zustimmend bis enthusiastisch aufgenommene Formulierung von Bismarck, die dieser in einer Rede vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses Ende September 1862 geäußert hatte: Nicht durch »Reden und Majoritätsbeschlüsse« würden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch »Blut und Eisen«, also durch gut ausgerüstete Streitkräfte und Soldaten, die ihr Leben einsetzten.
Ohne das direkte Zutun Bismarcks entwickelte sich im Kaiserreich ein breit gefächerter gesellschaftlicher Militarismus, für den es ungezählte Beispiele gibt: von der Sitzordnung bei Hofe über die herausgehobene Stellung des Reserveoffiziers bis hin zu solchen Vorgängen wie der Aktion des Hauptmanns von Köpenick im Oktober 1906. Der Schuhmacher Voigt hatte sich dabei als Hauptmann verkleidet und mithilfe eines Trupps Soldaten den Bürgermeister von Köpenick verhaftet sowie die Stadtkasse entwendet.
Wie ein Echo auf diese Eskapade klingen die Worte des Reichstagsabgeordneten Elard von Oldenburg-Januschau vom 29. Januar 1910: »Der König von Preußen und Deutsche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.« Das war gewiss nicht repräsentativ für die ganze wilhelminische Gesellschaft, schon gar nicht für die Sozialdemokratie. Aber während diese den preußisch-deutschen Macht- und Militärstaat kritisierte und seinen Untergang prophezeite, hielt die Mehrheit diese Konstruktion erstens für zukunftsträchtig und zweitens für einen angemessenen Ausdruck des »deutschen Wesens«.
Das 19. Jahrhundert ist durch eine merkwürdige Schieflage gekennzeichnet. Auf der einen Seite entwickelten sich Wirtschaft und Industrie sowie die Wissenschaften mit großem Schwung. Modernisierung und Technisierung beflügelten überoptimistische Zukunftsentwürfe aller Art. Das Militär hatte regen Anteil an diesen Prozessen. Manche Innovationen im Verkehrswesen und der Kommunikationsinfrastruktur wären ohne den Bedarf des Militärs in Deutschland nicht so rasch vorangekommen, zum Beispiel der Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Telegrafie.
Mobilmachung: Soldaten in Berlin auf dem Weg zum Bahnhof, Sommer 1914.
Auf der anderen Seite luden sich die gesellschaftlichen Konflikte weiter auf. Gar nicht so wenige Überbleibsel feudaler Herrschaftsstrukturen, ein politisch und ökonomisch selbstbewusster werdendes Bürgertum und die über ihre gewerkschaftlichen und parteipolitischen Organisationen erstarkende Arbeiterschaft waren nicht auf einen Nenner zu bringen. Deshalb blieben politische und soziale Modernisierungsprozesse oft auf halbem Weg stehen.
Am eindrucksvollsten ist diese Schieflage in der Figur von Kaiser Wilhelm II. verkörpert: einerseits in seinem Selbstverständnis »von Gottes Gnaden« legitimiert, andererseits ein Förderer der angewandten Wissenschaften und der Zukunftsindustrien.
Die durch und durch militarisierte politische Kultur des wilhelminischen Reiches besaß zwar auch ihre zivilen, ja antimilitärischen Enklaven. Aber letztlich war der Militarismus in allen Gesellschaftsschichten verankert, vergleichsweise am wenigsten noch in der klassenbewussten Arbeiterschaft. Die schon in den Schulen verbreitete Vorstellung vom Krieg als der entscheidenden und edelsten Form der Politik zwischen Staaten war Allgemeingut.
Der imperial ausgreifende Nationalismus mit seinen kolonialen Ambitionen erweiterte das Aufgabenspektrum der Streitkräfte. Dies war im Übrigen kein auf Deutschland beschränkter Vorgang, sondern ließ sich überall in Europa und, mit Einschränkungen, auch jenseits des Atlantiks beobachten. Eine Ära der Massenarmeen hatte begonnen, die starke Impulse durch die machtpolitischen Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten erhielt.
Der Begriff des totalen Krieges kam in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914–18) in Gebrauch, etwa in einer kleinen programmatischen Schrift des Generals a. D. Erich Ludendorff aus dem Jahr 1936. Tatsächlich aber war schon der Erste, ebenso wie dann der Zweite Weltkrieg (1939–45), in voll ausgeprägter Weise ein totaler Krieg, also eine gewalttätige Konfrontation nicht nur von Streitkräften, sondern von ganzen Gesellschaften mit all ihren Ressourcen. Alles wurde ausnahmslos in den Dienst der Kriegsführung gestellt, die Differenz zwischen ziviler und militärischer Sphäre wurde zugunsten letzterer eingeebnet.
Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte Ernüchterung, aufseiten der Verlierer sowieso, aber auch bei den Siegermächten, jedenfalls in Europa. So wie der Krieg die »gesamte Kraft eines Volkes« (Ludendorff) beansprucht und mit ihr Raubbau getrieben hatte, so waren nun überall Ermattung und Erbitterung zu beobachten. Der Erste Weltkrieg ist in gewissem Sinne völlig zu Recht als die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden. Ähnlich empfanden das viele Menschen in Europa. Allerdings reichte der Schock nicht so tief, um eine Wiederaufnahme des Kampfes nach denselben Mustern, nur mit noch zerstörerischeren Waffen, nach etwas mehr als 20 Jahren zu verhindern.
In Deutschland fanden sich die wenigsten mit der militärischen Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg ab. Dadurch kam die sogenannte Weimarer Republik, entstanden nach der Abdankung des Kaisers und einem quasi-revolutionären Regimewechsel, von Anfang an in Bedrängnis – vor allem, was ihre Legitimität und die Akzeptanz von Parlament und Regierung betraf. Die von Ludendorff und Hindenburg am Kriegsende in die Welt gesetzte »Dolchstoßlegende«, wonach das kaiserliche Heer nicht vom Gegner auf dem Schlachtfeld, sondern durch innenpolitischen Verrat besiegt worden war, stieß auf mehr Zustimmung als Zurückweisung.
Die monarchistischen Eliten waren zwar teilweise entmachtet, aber nach wie vor stark genug, um einen effizienten »Druck von rechts« auszuüben, dem auch ein »Druck von links« nichts anzuhaben vermochte. Stattdessen warfen sich Rechte und Linke meistens ungewollt, zuweilen aber auch absichtlich die politischen Bälle zu und vermehrten so zielbewusst die Hilf- und Erfolglosigkeit der Anhänger der Weimarer Republik.
Was die Rolle der Reichswehr angeht, so wurde und wird sie meist als ein »Staat im Staate« bezeichnet, als eine Organisation, die sich nicht so sehr als Teil und schon gar nicht als Verteidiger der Republik sah. Ihre Soldaten waren der Mühe enthoben, sich ernsthaft auf die neue Demokratie und ihre Spielregeln einzulassen, denn im Zentrum ihrer Loyalität standen nicht die Einrichtungen des neuen Staates – sei es die Verfassung, der Reichspräsident oder das Parlament –, sondern vielmehr eine aus dem Kaiserreich herübergezogene »Idee des Reiches«. Dennoch stimmt die Formulierung von der Reichswehr als einem »Staat im Staate« nur halb. Eher könnte man das Selbstverständnis ihrer Führung als das eines Reichsverwesers beschreiben. Ein Reichsverweser vertritt den Monarchen in der Zeit der Thronvakanz, für die es verschiedene Gründe geben kann.
Am 10. November 1918 kam es zu einem mündlichen Abkommen zwischen General Groener, Nachfolger Ludendorffs in der Obersten Heeresleitung, und dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Vertreter des Rates der Volksbeauftragten, in dem das Militär seine Loyalität gegenüber der Regierung erklärte und dieser militärische Unterstützung zusicherte. Diese Übereinkunft richtete sich gegen einen drohenden Putsch der Kommunisten und befestigte zugleich nachdrücklich die Selbstvorstellung der Streitkräfte als Reichsverweser.