Kriegsfibel 2023 - Alexander Kluge - E-Book

Kriegsfibel 2023 E-Book

Alexander Kluge

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Beschreibung

»Der Krieg ist wieder da.« Mit dieser ersten von sechs Stationen beginnt Alexander Kluge sein neuestes Buch, veranlasst durch einen Angriffskrieg, der zunächst auf europäischem Schauplatz, aber mit globaler Wirkung geführt wird. Der Autor zielt damit weder auf eine Parteinahme noch auf einen Appell. Vielmehr geht es ihm um den »Maulwurf Krieg«, um dessen zähes und oft unterirdisches Überleben, um das, was er aus Menschen macht und zu welchem Eigenleben er imstande ist.

Was der Autor, nach ikonischem Vorbild, im Schilde führt: eine Fibel. Für diese formuliert er einfache Geschichten und unterlegt sie mit Bildmontagen und Filmsequenzen. Zehn Jahre war der Autor alt, als er – auf der Schulbank und mit dem Finger auf der Landkarte – deutsche Panzer auf der Fahrt nach Stalingrad verfolgte. In der ganzen Zwischenzeit bis zu seinem 91. Geburtstag im Februar 2023 hat dieser »Chronist der Gefühle« die Kostümierungen des Krieges immer wieder studiert: Krieg ist sterblich, aber er stirbt nicht schnell. Wie können wir auf seine Zumutungen antworten?

»Die Unmöglichkeit, nicht zu weinen«, das ist eine unserer Stärken, heißt es in der sechsten und letzten Station des Buches. Das Versteinerte und der Charakterpanzer in uns sind eine Täuschung. Tränen in unseren Augen machen blind, aber auch hellsichtig. Wir Menschen sind für den Krieg ungeeignete Geschöpfe. Doch unsere Schwäche enthält eine Hoffnung.

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Cover

Titel

Alexander Kluge

Kriegsfibel 2023

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77675-9

www.suhrkamp.de

Motto

»ANGESICHTS DER MENSCHLICHEN NATUR KAPITULIEREN DIE BÄUME«

Ben Lerner, Die Lichtenbergfiguren

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Motto

Inhalt

Station 1. »Der Krieg ist wieder da«

Bei Betrachtung eines Kleinkindes im Jahre 1908

Wir Schüler hatten im Dezember 1944 keine Ahnung von der Gefahr, in der wir schwebten

Praktische Erfahrung beim Spielen mit Zinnsoldaten

»Frühling mit weißen Fahnen«

Ein Unglück unter Millionen

»An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat, sie soll nur aufhören«

Station 2. Die Utopie der Panzerung

Gespräch über die Schildkröte – das »gepanzerte Tier«

Charakterpanzer und Bewegungskrieg

Die sieben Häute (Panzer) des Ritterkreuzträgers von Hünersdorff. Szene aus dem Kriegsjahr 1943

Menschen sind für die Panzerung ihrer Herzen nicht geeignet

Götterdämmerung für eine Panzerwaffe

Die neueste Utopie der Panzerung:

THE

ASSURED

MUTUAL

DETERRENCE

DIE

NUKLEARE

ABSCHRECKUNG

Station 3. Kaukasische und ukrainische Geschichten / »Das Staunen der Tiere«

Ein einsamer

POETISCHER

CHRONIST

mit privilegiertem Blick auf die Krise der deutschen Heere im Dezember 1942

Leuchtfeuer im Osten / Austrian-Hungarian-Military-Line bis Astrachan

Warum gelang es 1918 nicht, die k. ‌u. ‌k. Monarchie um tausend Kilometer nach Osten zu versetzen?

Verweigerte Unterschrift unter einen Diktatfrieden

Blitzkrieg auf Schienen

Versorgung des Leibes

Die Front dehnt sich im Osten aus, weit über das Telegraphennetz hinaus

Zwei Seiten eines

glücklichen

Ausgangs

Wie schön, einander nach fünfzig Jahren lebend zu begegnen, wenn man doch hätte in eine tödliche Konfrontation geraten können

Was sind Backsteine beim Bau einer Nation?

Eine geographische Besonderheit der Ukraine, die wir Erwachsenenbildner stärker herausstellen sollten

Physik der »soldatischen Verlässlichkeit«

Wie erkundet man Heimatadresse und Truppenteil, wenn russische Einzeltäter in Raubaktionen verwickelt sind?

Wie sehr uns im Jahre 2022 Temperamente wie Präsident George Bush sen. und Präsident Gorbatschow fehlen / Meine Eindrücke von der Herstellung einer Sicherheitsarchitektur am 6. Dezember 1989 im Wintersturm vor Malta

Wie Botschafter Holbrooke, der verstorbene Sonderbotschafter der

USA

im Balkankrieg und in Afghanistan, als Geist noch einmal auflebte

Der geheimnisvolle »Traktat« des

Doktoranden

, in dem dieser seine unrealistischen Verhandlungsziele zusammengefasst hatte …

Was heißt

VERKNÄUELUNG

?

Stichwort »Dreiecksbeziehungen als Gleichgewichtsmodell« im sogenannten »Traktat«

Station 4. »Der

American Civil War

ist nicht tot« / Was wissen wir, was auf unserer Erde im Untergrund an unerledigten Kriegen bis heute wühlt?

Neue Welt, neuer Krieg (1861-1865)

Maulwurf Krieg

»Das dünne Eis der Zivilisation«

Die formvollendete Kapitulation in Fort Appomattox

Station 5. Nebel des Krieges

Ein Prüfungsthema in West Point

Kein Angriff im Nebel

»Nerven wie Drahtseile«

Die Bohrungen im Hügel von Vauquois

Der Kampf um die Karpatenpässe

Im Gefängnis der Pflicht

Stichwort Paradoxie

Krieg hat keinen Vorgesetzten. Krieg ist ein amphibischer Begriff, der zwischen Abstraktion und Konkretion wechselt

Die Machtergreifung der Dinge

Aspen im Sommer

Station 6. Die menschliche Natur und der bittere Krieg / Im Zoo der Aggressionen / »Die Fähigkeit, zu trauern«

Kriegsauslösung durch Depressive

Kriegsauslösung durch Aggressive

Artenvielfalt der Aggression

Generosität als Mythus einer Reichsgründung

Fatalismus der Vorausschau und Phantasien als Kriegsgrund

Umgang mit aggressiven, revisionistischen Mächten / Wie antwortet man auf aggressiven Revisionismus?

Zum Stichwort revisionistisch

»Die Haut weiß früher als der Kopf, wann Kriege enden«

Anekdote

Eine Antwort von Karl Marx zur Zeit des Krimkrieges (1853-1856), erteilt in einem Salon

Der Gegenbegriff zum Krieg ist nicht »Frieden«, sondern »Anti-Krieg«: eine dauerhafte Arbeit, die am besten bereits mitten im Krieg beginnt

Die Irrtümer des Königs Krösus

Filme

Die Entstehung der Moderne aus dem Geiste der Messtischblätter für Haubitzen

Ein libidinöser Grund für Sachlichkeit

Wie Bismarck weinte, weil er keine Siegesparade wollte

Hinweis

Nachweise

Dank

Fußnoten

Informationen zum Buch

Lenin trauert.

Station 1

»Der Krieg ist wieder da«

Bei Betrachtung eines Kleinkindes im Jahre 1908

In der Mittagssonne wehten die Gardinen wie Segel satt vom Wind. Die Fenster des Kinderzimmers zum Garten standen weit offen.

Das Kind schlief, die Arme über der Decke, dass es nicht schwitzte. Es pupste einige Male, verdaute. Die junge Mutter wartete auf ihren Mann, der das Haus pünktlich um 13 Uhr zum Mittagessen betreten würde. Die Enzyme seines Magens, der Zuckerhaushalt seines Blutes verhielten sich wie Uhren; in allem Übrigen war er ein generöser Mann. Damit nichts den pünktlichen Ablauf störte, hatte sie das Kind vorzeitig gesättigt, und jetzt hatte sie Zeit zu warten.

Die Gesichtszüge des Kindes erinnerten sie an ihren Lieblingsbruder. Was aber kann bei einem sich täglich wandelnden Geschöpf an untrüglichen Zeichen oder an Erinnerung an andere Mitglieder der Familie festgemacht werden? Sie würde die Züge dieses Kindes von allen anderen Kindern in der Welt unterscheiden können, wie aufgeregt, wie verdreckt auch das Gesicht sein mochte oder wie diffus das Licht wäre. Sie hätte aber nicht aufzählen können, auf welchen einzelnen Faktoren dieses Gesamtbild beruhte, das in ihr war. Es war ja schon das Gesicht des schlafenden Kindes mit dem, das tags greinte oder lachte, nicht zu vergleichen.

In 36 Jahren wäre dieses Lebewesen so alt wie sie jetzt. Das wäre im Jahre 1944. Die Wartende wusste nicht, dass junge Frauen in jenem fernen Jahr bei Alarm dem Zoobunker zueilen würden, einem Betonbau, der andere steinerne Denkmäler übertraf und wirksam erst drei Jahre nach Kriegsende gesprengt werden konnte.

Meine Mutter Alice, geboren 1908.

Wir Schüler hatten im Dezember 1944 keine Ahnung von der Gefahr, in der wir schwebten