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Kritik - Selbstaffirmation - Othering E-Book

Karin Hostettler

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Beschreibung

Die Rassentheorie, die Geschichtsphilosophie, die Ästhetik und die Naturteleologie haben eine Gemeinsamkeit: In all diesen Themengebieten entwickelte Immanuel Kant ein Denken der Zweckmässigkeit. Die Fokussierung auf diesen Strang macht eine Verbindung sichtbar, die von seinen frühen Schriften zu den unterschiedlichen »Rassen« der Menschen hin zur Kritik der Urteilskraft und damit zu seiner Selbstreflexion über die kritische Philosophie reicht. Karin Hostettler arbeitet das mit diesem Denken verbundene Othering und die damit einhergehende Selbstaffirmation heraus und zeigt so die Selbstverortung der kritischen Philosophie in einer kolonialen Episteme auf.

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Karin Hostettler ist Lehrbeauftragte an den Universitäten Basel und St. Gallen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind feministische und queere Postkoloniale Studien sowie die Philosophie der Aufklärung.

Karin Hostettler

Kritik – Selbstaffirmation – Othering

Immanuel Kants Denken der Zweckmässigkeit und die koloniale Episteme

Ich danke dem Schweizerischen Nationalfonds und der freiwilligen Akademischen Gesellschaft für die finanzielle Förderung der Studie. Die Publikation wurde durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziell unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld

© Karin Hostettler

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5176-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5176-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-5176-8https://doi.org/10.14361/9783839451762

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1Einleitung

2Auftakt: Vorkritische Schriften zu physiologischen, ästhetischen, nationalen und kulturellen Differenzen und Geschlecht

2.1Die Kartografierung der menschlichen Diversität: Die Physische Geographie

2.2Kant und das ›wilde‹ Begehren: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen

2.3Foucault und der Umbruch von der klassischen zur modernen Episteme

3Entwicklungen und Verwicklungen des Begriffs der ›Menschenrasse‹

3.1›Rasse‹, Rassismus und Eurozentrismus

3.2Kritische Entwicklungen des Begriffs der ›Menschenrasse‹

3.2.1Mannigfaltigkeit, Verwandtschaft und Einheit: Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775/77)

3.2.2Zeit, focus imaginarius und quantum discretum

3.3Verortungen: Klima-, Präformations- und Epigenesistheorie

3.4Verwicklungen: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785)

3.5Kritik der Grenzüberschreitungen: Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788)

3.6Fazit

4Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie

4.1Natur & Kultur | Anti-Imperialismus

4.2Der sichere Boden: Natur, Freiheit und Kultur

4.3Natur & Vernunft: Menschheitsgeschichte und Kulturkritik

4.4Rassendenken und Geschichtsdenken: Übergänge

4.5Die doppelte Aufklärung

4.6Die dynamische Entfaltung der Geschichte: Antagonismus

4.7Die kritische Grundierung: Leitfaden

4.8Fazit

5 Die Kunst des kritischen Denkens: Kritik der ästhetischen Urteilskraft

5.1Post_koloniale und feministische Kontextualisierung

5.2Der Abschluss der Kritik und innere Kohärenz

5.2.1Von der Nutzbarmachung des Meeres: Kritik reconsidered

5.2.2Die lustvolle Verwechslung des reflektierenden Urteils

5.3Von der Einstimmung des Gemüts und der Zustimmung der anderen: Das Schöne

5.3.1Standpunkt

5.3.2Die Verbindung des Schönen mit dem Guten: Zur moralischen Erweiterung des Sensus communis

5.3.3Das Fortschrittsnarrativ in der empirischen Entwicklung des Schönen

5.4Das Erhabene

5.5Fazit

6Der Ort der kritischen Philosophie: Kritik der teleologischen Urteilskraft

6.1Kritische Naturteleologie

6.1.1Die Vernunft als organische Einheit

6.1.2Die Selbsterkenntnis der Vernunft als regulatives Urteil und die Selbstpositionierung der Vernunft

6.2Kritische Materialität, Objektivität und überschwängliche Ideen

6.2.1Das Vorbild des intuitiven Verstandes

6.2.2Die Normativität teleologischer Urteile

6.2.3Fortpflanzung und der Sonderstatus von Geschlecht

6.3Selbstpositionierung oder: Von der inneren zur äusseren Zweckmässigkeit

6.3.1Von der ersten Ursache und dem letzten Zweck

6.3.2Die Selbstaffirmation ...

6.3.3... und das Othering des Zweckdenkens

6.4Fazit

7Schluss

8Danksagung

Literatur

1Einleitung

Beim Recherchieren zu meiner Lizentiatsarbeit, die ich zum politischen Denken Immanuel Kants verfasste, stiess ich unerwarteterweise auf Schriften, in denen Kant über den Begriff ›Menschenrassen‹1 nachdachte. Nach der Lektüre dieser Aufsätze fragte ich mich, warum es mich überraschte, diese Texte bei einem der kanonisierten Autoren der Philosophie zu finden. In meinem Studium tauchte der Name Kant dort auf, wo es um Ethik- und Moralphilosophie, Erkenntnistheorie oder Geschichtsphilosophie ging. Zugleich war Kant auch in meinem zweiten Studienfach, den Gender Studies, ein Thema: Denn einerseits hat er sich in durchaus problematischer Weise zu Frauen geäussert, andererseits dienen die Schriften Kants nach wie vor als Ausgangspunkt zur Formulierung feministischer Positionen. Doch auch in diesen kritischen Aufsätzen zum deutschen Aufklärer fanden die Reflexionen zum Begriff der ›Menschenrassen‹ zumeist keine Erwähnung.

Im Rahmen meiner Lizentiatsarbeit schien es mir jedoch nicht möglich, dieses Thema aufzugreifen: Zu sehr befürchtete ich, dass diese Textauswahl als nicht philosophisch genug erachtet werden würde – eine These, die ich nicht bereit war, im Rahmen meiner universitären Abschlussarbeit zu testen. Dass diese Furcht nicht ganz unbegründet war, wurde während der Lektüre von Aufsätzen und Büchern zu Kant deutlich, die ich für die vorliegende Arbeit vornahm: So stellte ich fest, dass oftmals die Aufsätze zu den ›Menschenrassen‹ auch dann nicht in den Blick geraten, wenn es um anthropologische Fragen bei Kant geht. Darüber hinaus finden sich auch Stimmen, die diese Schriften zwar berücksichtigen, jedoch argumentieren, dass nicht alle Äusserungen dieses Autors gleichermassen ernst zu nehmen seien, da einige Aufsätze nicht das hohe Niveau zu halten vermögen, das Kant mit der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe. Auch sei Kants Konzept des kategorischen Imperativs viel relevanter und würde so seinen Rassismus übertrumpfen. Kant unterliege den Vorurteilen seiner Zeit, die jedoch nur durch einen anachronistischen Blick in ihrer Problematik sichtbar würden. Solche Schriften könnten also ruhig dem Vergessen überantwortet werden (vgl. zusammenfassend Kleingeld 2007: 582f. oder Mills 2005). Solche Stimmen machen deutlich, dass die Thematisierung von ›Rasse‹ nicht nur die historische Frage betrifft, wie diese Debatte im 18. Jahrhundert verortet werden muss, sondern auch eine gegenwärtige Artikulation des Selbstverständnisses der akademischen Disziplin vornimmt: Denn während es für Kant möglich war, sich als Philosoph zu diesem Thema zu äussern, wird dies nun retrospektiv als Überschreitung der Disziplin der Philosophie eingeordnet. Damit wird eine Grenze installiert, die problematische Aspekte in diesem Werk in einem Ausserhalb des disziplinären Feldes verortet. Dass sich jedoch von diesem ›Ausserhalb‹ unbequeme Fragen ergeben, die sich letztlich nicht so einfach von der Hand weisen lassen, mag die Vehemenz erklären, mit der das Urteil gesprochen wird: ›Dies ist keine richtige Philosophie‹.2

In der Folge habe ich mich verstärkt in Ansätze der post_kolonialen3 Theorie eingelesen. Ein wichtiger Ausgangspunkt bildet dabei die Einsicht, dass die Herausbildung der Moderne konstitutiv mit dem Kolonialismus verbunden ist. Nimmt man diese Verbindung der Moderne mit dem Kolonialismus ernst, führt dies beispielsweise nach Gilroy (1993) dazu, dass das Taufbecken der Moderne weniger an einem festen Ort, also in Europa zu finden ist, sondern vielmehr in der Verbindung zwischen Afrika, Amerika, der Karibik und Europa, zwischen denen durch Schiffe Menschen, Güter und Ideen transportiert und ausgetauscht wurden. Damit verschiebt und dynamisiert Gilroy die Ursprungserzählung der europäischen Moderne. Chakrabarty (2000) geht der Frage nach, was es für nicht-westliche Gesellschaften bedeutet, Teil der politischen Moderne zu sein. Der Kapitalismus, die Moderne und die Aufklärung werden als Ereignisse gesehen, die ausschliesslich in Europa stattfanden, womit eine komplett internalistische Geschichtsschreibung installiert wird. Zugleich dient dieses westliche Entwicklungsnarrativ als Massstab zur Messung kultureller Differenzen für nicht-westliche Gesellschaften, die so lediglich über ihre Distanz zu diesem angenommenen Idealzustand wahrgenommen werden. Die Vorstellung einer politischen Moderne für nicht-westliche Gesellschaften kann nach Chakrabarty somit nur durch einen widersprüchlichen Prozess vorgestellt werden: Eine Geschichte der politischen Moderne in Indien kann nicht geschrieben werden, ohne dass zugleich eine Kritik an grundlegenden Kategorien der (kritischen) Geschichtsschreibung und an der Natur der historischen Zeit geübt wird.

Ausgehend von solchen Überlegungen stellte ich mir die Frage, was es für die Lektüre europäischer Philosoph_innen4 bedeutet, diese mit einer solchen Kritik an der Erzählung der Moderne und der internalistischen Geschichtsschreibung zu konfrontieren. Wie lässt sich diese internalistische Geschichtsschreibung aufbrechen? Ein Vorgehen liegt meines Erachtens darin, Texte als Ausgangspunkt zu wählen, die im akademischen Mainstream als ›irrelevant‹ überlesen werden. Denn ein internalistisches Geschichtsnarrativ stützt sich unter anderem auf eine bestimmte Auswahl von Texten, die die Verflechtung Europas mit dem ›Rest‹ der Welt unsichtbar macht. Die Nicht-Thematisierung von Aufsätzen Kants über ›Menschenrassen‹ lässt sich so als Beitrag zu einer internalistischen Geschichtsschreibung in der Philosophie verstehen.

Diese wichtigen post_kolonialen Interventionen weisen zudem auf die Gefahr hin, die darin lauert, sich einem einzelnen europäischen Autor zu widmen: Denn sie werfen indirekt die Frage auf, wie eine Befragung der Aufklärung von den Rändern her möglich sein soll, wenn der Fokus auf Texten eines weissen, männlichen, europäischen Philosophen liegt. Chakrabarty (ebd.: 4) macht jedoch darauf aufmerksam, dass eine Befragung kanonisierter europäischer Autor_innen durchaus notwendig sei, da ein einfaches Zurückweisen der Aufklärung ebenfalls keine Antwort sein könne. Diese Autor_innen als Teil einer europäischen Tradition zu verstehen, wird der Tatsache nicht gerecht, dass diese Theorien einen globalen Einfluss ausgeübt haben und nach wie vor ausüben. Zudem findet sich in diesen Schriften ein starkes Fundament, auf dem gerade auch eine Kritik an der Moderne aufbaut. Doch wenn die europäische Moderne zugleich eine starke Grundlage für die post_koloniale Kritik an dieser Moderne enthält, wie ist dann Kant in diesem Spannungsfeld zu verorten? In den folgenden Abschnitten arbeite ich einige Aspekte heraus, die sich aus dem Versuch, post_koloniale Einsichten5 auf Kant zu beziehen, ergeben haben.

Nach wie vor ist es in der Philosophie üblich, zentrale philosophische Texte unabhängig von ihrem Entstehungskontext zu diskutieren: Die Überlegungen und Argumente sind logisch und allgemeingültig, weshalb die Gültigkeit losgelöst von jeglichem Kontext besteht. Die Sub-Disziplin der Philosophiegeschichte nimmt sich den historischen Verflechtungen der Texte zwar an, doch hat dies keinen Einfluss auf den Gültigkeitsanspruch, der beispielsweise der Kritik der reinen Vernunft zugeschrieben wird. Die post_koloniale Kritik an der Moderne nimmt demgegenüber eine grundlegendere Kontextualisierung vor, da die Texte als europäische Erzeugnisse verstanden werden. Damit wird durch das Mitbedenken des Kolonialismus zudem eine andere Kontextualisierung vorgenommen.6 Diese veränderte Kontextualisierung hat Auswirkungen darauf, welche Aspekte des kantischen Werks thematisiert werden. Die philosophisch-historischen Debatten über Kant fokussieren hauptsächlich auf die Kenntnisse der zeitgenössischen europäischen Aufklärung und diskutieren die kantischen Schriften fast ausschliesslich in diesem Rahmen. Aus einer post_kolonialen Perspektive stellt sich jedoch die Frage, welches Wissen Kant zur aussereuropäischen Welt oder von nicht-weissen Schriftsteller_innen (wie beispielsweise Phillis Wheatly, einer der ersten afro-amerikanischen Dichterinnen, die publiziert hat, oder Anton Wilhelm Amo, einem afro-deutschen Philosophen; beide Zeitgenoss_innen Kants) zur Verfügung stand und ob oder wie er dieses in sein kritisches Denken integriert hat. Auch Reiseberichte wie jene Georg Forsters, die in der Kant-Rezeption berücksichtigt werden, müssen kritisch begutachtet werden, da diese von Europäer_innen und für ein europäisches Publikum verfasst wurden; nicht-europäische Menschen erscheinen in dieser Diskussion lediglich als Objekte. Dennoch bilden solche Schriften eine wichtige Quelle zur aussereuropäischen Welt. Diese grundsätzliche Verschiebung des Kontextes zieht mit sich, dass innerhalb von Kants Werk andere Texte ins Zentrum rücken: So bilden die Aufsätze zum Begriff der ›Menschenrassen‹, aber auch allgemein die überall im Werk verstreuten Bemerkungen zu aussereuropäischen Menschen, zu ›Wilden‹ und ›Unzivilisierten‹ sowie Äusserungen zur Sklaverei oder zum Kolonialismus den Ausgangspunkt meiner Lektüre.

In der Geschichtsschreibung zum Kolonialismus wird der Aufklärungszeit insofern eine spezifische Rolle zugeschrieben, als dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein epistemischer Umbruch vollzog. So standen in dieser Periode des Kolonialismus die kulturellen und wissenschaftlichen Interessen im Vordergrund (vgl. Lüsebrink 2006). Anthropologische und naturkundliche Untersuchungen gewannen im 18. Jahrhundert an Bedeutung und auch Entdeckungsreisen dienten weniger ökonomisch-imperialen als wissenschaftlichen Zwecken (vgl. Meyer 2017: 85f.). Doch lässt sich nicht nur eine Intensivierung dieser wissenschaftlichen Interessen feststellen, sondern weitergehend ein epistemischer Umbruch. So spricht Hall (2002) von »einer entscheidenden epistemischen Verschiebung innerhalb des Kolonisierungsprozesses« (ebd.: 235), die in der Aufklärung stattfand. Er skizziert, dass mit der Aufklärung ein panoptisches Auge installiert wurde, durch das »alle Formen des menschlichen Lebens über den universalen Leisten einer einzigen Seinsordnung geschlagen« (ebd.) wurden, und dass dadurch »Differenz in Form eines fortwährenden Markierens und Neumarkierens von Positionen innerhalb eines einzigen diskursiven Systems (différance) neu gefaßt werden mußte« (ebd.).

Meine These ist, dass diese Charakterisierung durchaus auf Kant zutrifft; bei ihm lässt sich die Herausbildung eines Denkens beobachten, das den Bezugspunkt der endlichen, abgeschlossenen Welt wählt und darin die Menschen in neuer Weise verortet. So diskutiert Kant die Möglichkeit eines Denkens, das von einer Einheit ausgeht und innerhalb dieses Rahmens wesentliche und unwesentliche Differenzen zu bestimmen mag (vgl. zur Herausbildung Kapitel 2, zur Einheit der Menschengattung und den ›rassischen‹ Differenzen darin Kapitel 3). Dennoch muss für Kant eine nicht unwichtige Variation dieses universalen, überschauenden Blicks betont werden, da Kant eine kritische Philosophie entwickelt und damit eine bedeutungsvolle Relativierung vornimmt. Der Zusammenhang zwischen einem überschauenden Blick und der kritischen Philosophie soll hier in aller Kürze umrissen werden.

Die Kritik bestimmt Kant in der Vorrede zur ersten Auflage in der Kritik der reinen Vernunft als Bestimmung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen des Vernunftvermögens (vgl. KdrV A: XII). Damit benennt er bereits unterschiedliche Aspekte von Kritik. In der Vorrede zur zweiten Auflage gewichtet Kant den Moment der Grenze stärker, wenn er festhält, dass der Nutzen der Kritik der reinen Vernunft primär ein negativer sei (vgl. KdrV B: XXIV). So nimmt er – durch die Vernunft selbst – eine Eingrenzung des Vernunftgebrauchs vor, indem er den Vernunftgebrauch auf den Bereich der möglichen Erfahrungen beschränkt. Die Vernunft erkennt also, dass sie nur in bestimmter Hinsicht Erkenntnisse produzieren kann, und zwar nur, wenn sie sich auf die Erscheinung von Dingen bezieht – auf die Phaenomena. Demgegenüber können keine widerspruchsfreien Aussagen über das Ding an sich, das Noumenon, oder das Unbedingte getroffen werden – hier überschreitet die Vernunft ihre eigene Begrenzung in unzulässiger Weise. Die Selbsterkenntnis der Vernunft (vgl. ebd.: A XI) führt also zunächst zu einer Selbstbegrenzung – eine Begrenzung, die Kant in einer Fussnote als »Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft« (KdrV B: XL) bezeichnet, da die Existenz der Dinge ausserhalb unserer Wahrnehmung nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann. Konzentriert man sich auf diesen Aspekt von Kritik, wird deutlich, dass Kant den universalen, allumfassenden Blick auf die Welt kritisiert und ihm seine Legitimität abspricht, sofern damit Aussagen getroffen werden, die sich auf die Welt an sich beziehen.

Kant entwickelt jedoch in seinen Schriften, die er zur Theorie von ›Menschenrassen‹ verfasst, und in seiner Geschichtsphilosophie eine andere Bestimmung des kritischen Unternehmens. Denn obwohl er eine grundlegende Beschränkung der möglichen Erkenntnis vornimmt, konstatiert er zugleich ein Begehren der Vernunft, die Grenze zu überschreiten. In der Kritik der Urteilskraft ergründet Kant diese Möglichkeit. Er untersucht die Begründung für ein Denken, das zwar auf der Einsicht der Kritik der reinen Vernunft und deren grundlegender Einschränkung in erkenntnistheoretischer Hinsicht basiert, doch zugleich auch darüber hinausreicht. Kant findet in diesem kritischen Denken, das auf dem Prinzip der Zweckmässigkeit beruht, eine Möglichkeit, wie über die Grenze hinausgegangen werden kann. Denn obwohl jenseits dieser Grenze keine sichere und damit vom Verstand legitimierte Erkenntnis gewonnen werden kann, gibt es dennoch ein Begehren der Vernunft, Fragen zu Gott, zu den Dingen an sich, zur Freiheit und zum Unbedingten aufzuwerfen und mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Dieses Begehren nach einem Unbedingten ist auch verbunden mit der Frage nach einer Einheit der Natur: eine Einheit, die sich dann postulieren lässt, wenn ein Anfang angenommen werden kann, der wiederum nicht von einem anderen Anfang bedingt ist und so einen Endpunkt in einer ansonsten endlosen Reihe von Kausalverbindungen setzt.

Die Vorstellung einer solchen Einheit überschreitet aber immer schon den Bereich des möglichen Wissens. Doch Kant findet in der Form des regulativen Urteils ein Vorgehen, wie trotz der Beschränkung durch die Vernunft ein solches Denken von Einheiten möglich wird. Das regulative Urteil wird dabei in Abgrenzung zum konstitutiven erläutert: Ein konstitutives Urteil nimmt eine Subsumption einer empirischen Beobachtung unter einen allgemeinen Begriff vor, wobei die Zuordnung zwischen dem Konkreten und dem Begriff eine notwendige ist. Kant spricht deshalb auch von einem bestimmenden Urteil. Im Gegensatz dazu findet im regulativen Urteil eine losere Verbindung statt, da zwischen einem konkreten Gegenstand und einer Idee keine notwendige Verbindung hergestellt werden kann. Die Idee nimmt lediglich eine anleitende Funktion ein. Obwohl es durch regulative Urteile möglich ist, die Grenze des sicheren möglichen Wissens zu überschreiten, kann dennoch nicht mit der gleichen Sicherheit Wissen gewonnen werden. Mit diesem Verständnis von Kritik lassen sich hypothetische Aussagen treffen, deren Reichweite nicht durch eine klare Grenze angegeben wird, sondern durch den Bezug auf eine Annahme von einem Ursprung und einem Ziel – also mittels zweier Bezugspunkte, die nur angenommen, aber nicht bewiesen werden können. Für die Betrachtung der lebendigen Natur bedeutet dies, dass eine solche Erkenntnis im Rahmen eines regulativen Urteils angeleitet ist durch einen Bezugspunkt, der den Bereich der Naturerkenntnis überschreitet. Wenn also Kant im Rahmen des Denkens der Zweckmässigkeit die Einheit der Welt thematisiert, lässt sich diese Bestimmung durchaus dem panoptischen, kolonialen Blick, der zu seiner Zeit installiert wurde, zuordnen. Jedoch machen gerade seine kritischen Überlegungen deutlich, dass Aussagen über einen solchermassen abgeschlossenen Bereich Mutmassungen bleiben müssen.

Die grundlegende These der vorliegenden Arbeit ist, dass ausgehend von den Aufsätzen zum Begriff der ›Menschenrassen‹ das Denken der Zweckmässigkeit7 ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden muss. Dieses Denken der Zweckmässigkeit untersuche ich durch ein Close Reading verschiedener kantischer Texte. So entwickele ich meine Interpretation dezentriert, ausgehend von der genauen Lektüre der jeweils im Zentrum stehenden Texte. Der Zusammenhang zwischen den Kapiteln ergibt sich, weil die kantische Philosophie den Anspruch verfolgt, systematisch aufgebaut zu sein. Allerdings verstehe ich die kantische Philosophie nicht als geschlossenes System, das auf logische Widersprüche hin abgeklopft werden muss. Vielmehr folge ich der Charakterisierung von Mikkelsen (2013: 1f.): In jedem Bereich, den Kant als Teil seiner kritischen Philosophie neu ausarbeitet, überprüft er jene Konklusionen, die er vorher in Bezug auf andere Bereiche gezogen hatte. Anders gesagt, versteht Kant die einzelnen Beiträge als (funktionale) Teile einer als Einheit zu verstehenden kritischen Philosophie, was er in der Kritik der reinen Vernunft als gegliedertes Ganzes benennt (vgl. KdrV B: 860f./A: 832f.)8. Ich nehme Kant in diesem Anspruch ernst, ohne jedoch davon auszugehen, dass tatsächlich ein abgeschlossenes System vorliegt. Der Zusammenhang besteht also vielmehr im Anspruch auf diese Einheit – also einer anleitenden Idee von Einheit – und in dem jeweils in den Texten formulierten Blick auf die Verbindung mit anderen Teilen. Damit ergibt sich ein interessantes Spannungsfeld zwischen einzelnen Aspekten der kritischen Philosophie, die jedoch nicht für sich alleine stehenbleiben, sondern auf ein Ganzes referieren, das jedoch von jedem Teil dieser Philosophie etwas anders und aus einer anderen Perspektive gefasst wird.

Die Fragen, die sich aus der (Re-)Kontextualisierung der Aufklärungsphilosophie in einem post_kolonialen Raum ergeben haben, lassen sich nun weiter zuspitzen. Denn Kant findet seine eigene Form der Aneignung: Er verbindet das Wissen zu aussereuropäischen Menschen mit dem Denken der Zweckmässigkeit und entwickelt daran erstmals den Begriff der ›Menschenrassen‹. So lautet die Leitfrage der vorliegenden Studie, welche spezifischen Formen von Othering und Selbstaffirmation mit diesem Denken der Zweckmässigkeit verbunden sind.

Kolonialismus wird oftmals in erster Linie als ökonomisches Ausbeutungsverhältnis verstanden. In vielen Beiträgen der post_kolonialen Theorie wird jedoch betont, dass die ökonomische Dimension des Kolonialismus nicht isoliert von der epistemologischen Ebene thematisiert werden kann. Stuart Hall bringt dies folgendermassen auf den Punkt:

»Mit dem Begriff der ›Kolonisierung‹ und folglich auch mit dem des ›Postkolonialen‹ befinden wir uns unwiderruflich auf einem von Macht und Wissen regierten Kräftefeld. Genau diese falsche und hinderliche Unterscheidung zwischen Kolonisierung als einem Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem und Kolonisierung als einem Erkenntnis- und Repräsentationssystem ist zurückzuweisen.« (Hall 2002: 237)

Dies bedeutet nicht nur, dass die ökonomische Dimension verschränkt ist mit einem Erkenntnis- und Repräsentationssystem, sondern umgekehrt auch, dass die Untersuchung der kritischen kantischen Texte sich nicht darauf beschränken lässt, diese nur als Diskussion von Erkenntnis und Repräsentation zu sehen. Vielmehr sind diese als Ausdruck und Herstellung von Machtverhältnissen zu verstehen. Allerdings stellt sich die Frage, wie diese Verschränkung von Wissen mit Macht in die Lektüre der kantischen Texte eingebracht werden kann. Zum einen verlangt dies, über das Close Reading hinaus Debatten einzubeziehen, die diese Verbindung für die unterschiedlichen Themenbereiche, die im Rahmen des Denkens der Zweckmässigkeit behandelt werden, deutlich machen. So weisen die Kapitel 3 bis 6 eine ähnliche Struktur auf: Zu Beginn eines jeden Kapitels greife ich eine Diskussion auf, die die konkrete Verbindung von Wissen und Macht für das jeweilige Themengebiet verdeutlicht. So diskutiere ich in Kapitel 3.1 die Verschränkung des Begriffs ›Rasse‹ mit Rassismus und Eurozentrismus. In Kapitel 4.1 setze ich mich mit der These von Sankar Muthu auseinander, der Kant grundsätzlich als anti-imperialistischen Autor klassifiziert. In Kapitel 5.1 wird mit der Studie von Simon Gikandi der ästhetische Diskurs im kolonialen Raum situiert, in Kapitel 6 wird die naturteleologische Sicht durch die Studie von Mary Louise Pratt zu Reiseberichten von Naturforschern im kolonialen Kontext eingeordnet.

Zum anderen sind es die zentralen Begriffe des Otherings und der Selbstaffirmation, die ich als Analysebegriffe in die theoretischen Erörterungen Kants einbringe. Der Begriff des Otherings ist nicht nur in der post_kolonialen, sondern auch in der feministischen Theorie verankert und weist auf den Akt der Etablierung und Legitimierung von Differenzen und die Abgrenzung zu einem Selbst hin (vgl. Maihofer 2014). Dass Prozesse von Othering begleitet sind durch Selbstaffirmationsprozesse, hat Andrea Maihofer (2014) aufgezeigt. Ein Othering impliziert die Setzung eines Massstabes, von dem ausgehend eine Abweichung behauptet werden kann. Dabei ist die Selbstaffirmation dem Othering weder vorhergehend noch nachgeordnet, vielmehr sind beide Prozesse zugleich konstitutiv und dialektisch (ebd.: 314). Damit richtet sich mein Blick nicht nur auf das, was als ›anders‹ markiert und allenfalls abgewertet oder ausgeschlossen wird, sondern auch darauf, was bestätigt und als positiver Bezugspunkt etabliert wird.

Der Begriff des Othering erlaubt es, in den Schriften Kants nicht nur auf den Begriff ›Rasse‹ zu fokussieren, sondern weitere Abgrenzungs-, Ausgrenzungs- und Hierarchisierungsprozesse erfassen zu können. Dies ist deshalb relevant, weil die Rolle und Funktion ›Anderer‹ oder schlicht das Sprechen über ›andere‹ nicht in allen Teilen des kantischen Werks gleichbleibend sind, vielmehr muss von Text zu Text genauer bestimmt werden, wer als ›anders‹ markiert wird und/oder sich am Rande des Narrativs befindet (vgl. Spivak 1999: 9). Das gleiche gilt für das ›Selbst‹. Insgesamt lässt sich in Bezug auf Kant festhalten, dass das Othering sowie die Selbstaffirmation in einem variierenden Bezug zur Theoriebildung stehen. So lassen sich Otherings feststellen, die in der Theoriebildung eingeschrieben sind, sodass Differenzen und Hierarchien zwischen Menschen explizit theoretisiert werden, wie dies beispielsweise in der Formulierung der Rassentheorie der Fall ist (siehe Kapitel 3). In anderen Texten finden sich andere Formen von Othering, die sich am Rande der Theoriebildung manifestieren, sodass bestimmten Figuren beispielsweise die Repräsentationsfähigkeit oder die Fähigkeit, exemplarisch zu sein, abgesprochen wird, wie ich dies in der Geschichtsphilosophie (vgl. Kapitel 4) und der Kritik der Urteilskraft aufzeige (vgl. Kapitel 5 und 6).

Mit dieser Fragestellung schliesse ich an Beiträge von Emmanuel Chukwudi Eze (1998) und Tsenay Serequeberhan (1996, 1997) an, die einen breiten Blick auf die kantischen Schriften werfen und den impliziten Eurozentrismus und damit die grundlegende Überblendung der europäischen mit der menschlichen Existenz aufzeigen. Zudem hat Spivak (1999) eine Lektüre der Kritik der Urteilskraft vorgelegt, in der sie die Verwerfung de_r native informant in diesem Text feststellt – ein Ausschluss, durch den die kritische Philosophie implementiert werden kann. Insgesamt ist die Frage nach der Verschränkung von Wissen und Macht, die auf Michel Foucault basiert und von Edward Said (2009) auf die koloniale Situation übertragen wurde, kein Ansatz, der in der institutionell verankerten Philosophie grossen Anklang gefunden hat. So gilt auch der Kolonialismus weitgehend als vernachlässigbares Thema. Als Effekt davon fristet die Diskussion post_kolonialer Aspekte in der Lektüre kantischer Texte eher ein Schattendasein – auch wenn in den letzten Jahren die Debatte um die Rassentheorien bei Kant an Schwung gewonnen hat (vgl. weitergehend dazu Kapitel 3).

Dieser Fokus auf das Othering und die Selbstaffirmation verbindet sich mit dem Close Reading ausgewählter kantischer Texte. Beide Perspektiven (das Close Reading und die Analyse von Othering und Selbstaffirmation) verschränken sich jedoch miteinander. Mit dem Analysebegriff des Otherings wird oft die Frage verbunden, in welcher Art Menschen repräsentiert werden (vgl. Spivak 1988) – eine Frage, die in der post_kolonialen Literatur breit diskutiert wird. Gerade für die Philosophie ist dabei die Einsicht wichtig, dass mit dem Akt des Repräsentierens keine Kluft zwischen Repräsentation und Realität vorausgesetzt werden kann und die Angemessenheit der Ersteren in Abgleich mit Letzterer auf der Grundlage dieser vorausgesetzten Annahme zu bestimmen ist. Vielmehr muss die Verhandlung zentraler Begriffe wie Realität und Repräsentation in der jeweiligen Philosophie genauer untersucht werden. Es ist also beispielsweise zu fragen, inwieweit Äusserungen zu ›Menschenrassen‹ an die spezifische philosophische Position gebunden sind, in der sie artikuliert werden.

Diese Überlegung macht kenntlich, inwiefern das Close Reading ausgewählter kantischer Texte und damit auch ein vertieftes Verständnis des Denkens der Zweckmässigkeit und dessen Ausformulierung in den unterschiedlichen Themenbereichen mit dem Othering und der Selbstaffirmation in Verbindung stehen. So geht Kant in seiner theoretischen Philosophie nicht davon aus, dass es möglich ist, ein Ding an sich zu erkennen. Vielmehr richtet sich der Gegenstand nach der Erkenntnis (vgl. KdrV B: XVIf.). Kant ist sich darüber hinaus bewusst, dass das Denken der Zweckmässigkeit einen Zusammenhang erkennt, der letztlich empirisch nicht bewiesen werden kann. Dieses Denken der Zweckmässigkeit ist also eine Interpretationsleistung und formuliert damit keinen Anspruch, eine Realität angemessen abbilden zu wollen. Vielmehr ist der Blick auf Dinge geprägt von Ideen, die in der Vernunft verankert sind. Mit diesem Denken der Zweckmässigkeit formuliert sich deshalb eine spezifische Form von Othering und Selbstaffirmation, die genauer untersucht werden muss.

Das Kapitel 2 widmet sich zwei unterschiedlichen Texten, die jedoch beide deutlich vor Kants Erarbeitung der Kritik der reinen Vernunft (1781) publiziert oder als Vorlesung gehalten wurden und damit als vorkritisch bezeichnet werden. In den Niederschriften zur Vorlesung zur Physischen Geographie (2008)9 finden sich eine ausführlichere Diskussion zu Unterschieden zwischen Menschen sowie deutlich rassistische Aussagen – den Begriff ›Rasse‹ verwendet Kant allerdings nicht. In den Beobachtungen zum Schönen und Erhabenen (1764) findet sich eine ausführliche Thematisierung von Geschlecht, zudem diskutiert Kant unterschiedliche ›Nationalcharaktere‹. Anhand dieser beiden vorkritischen Texte lässt sich verdeutlichen, dass Kant durchaus ein Othering und eine Selbstaffirmation vornimmt, jedoch erfolgt dies auf der Grundlage einer anderen philosophischen Grundannahme, und zwar dem Analogiedenken, das sich deutlich von jenem naturhistorischen Denken abgrenzt, das Kant mit seinen Aufsätzen zu den ›Menschenrassen‹ zu entwickeln beginnt.

In Kapitel 3 argumentiere ich, dass für Kant der Begriff ›Rasse‹ (und, wie in der Kritik der teleologischen Urteilskraft deutlich wird, auch Geschlecht) ausschliesslich im Rahmen des teleologischen Denkens sinnvoll verwendet werden kann. Dies wird vor allem in der Auseinandersetzung Kants mit Georg Forster deutlich. Denn nur durch dieses Denken der Zweckmässigkeit kann nach Kant eine Gattungseinheit Mensch angenommen werden, die einen einzigen, allen Menschen gemeinsamen Anfang umfasst und für die ein Ziel der Entwicklung vermutet werden kann. Die Differenzen zwischen den Menschen erklärt Kant in diesem Rahmen als Anpassung an verschiedene klimatische Bedingungen. Es bedarf jedoch des teleologischen Denkens, um das Spiel zwischen Einheit und Differenz in Gang setzen zu können. Denn durch den Rahmen einer Gattung bleiben die Differenzen zwischen den Menschen nicht als inkommensurabel bestehen, sondern können aufeinander bezogen werden. Mit dem Narrativ der Entwicklung von Differenzen, also mit der Historisierung der Differenzen, wird mit der Ausdifferenzierung der Menschen in ›Rassen‹ ein Ziel verbunden: Die Adaption an unterschiedliche Klimata und damit die Realisierung der den Menschen innewohnenden Möglichkeit, sich an unterschiedlichen Orten auf der Erde niederlassen zu können. Diese beiden Endpunkte – die Einheit der Gattung und die Ausbreitung der Menschen auf der Erde – bilden normative Bezugspunkte, die mit dem teleologischen Urteil intrinsisch verbunden sind. Ausgehend davon stellt sich die Frage, inwiefern die Einteilung und Hierarchisierung von Menschen in verschiedene ›Rassen‹ intrinsisch mit dem teleologischen Urteil verbunden sind.

Auch für die Geschichtsphilosophie (vgl. Kapitel 4) bildet das Denken der Zweckmässigkeit den Rahmen. Hier richtet sich das Augenmerk jedoch auf unterschiedliche Lebensstile, wie sie Kant für Hirt_en und Ackerbauer_n skizziert. Die Dynamik zwischen diesen beiden Gruppen und die Entwicklung der Ackerbauer_n formuliert Kant im Rahmen eines zielorientierten historischen Ablaufs, der zur Entwicklung einer zivilisierten oder gar moralisierten Gesellschaft führen soll. Mit dieser Entwicklung verbunden formuliert Kant seine Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft. Damit wird erkenntlich, dass das Denken der Zweckmässigkeit auch eine Gesellschaftskritik ermöglicht – allerdings stellt sich die Frage, inwiefern diese Kritik auf der Instrumentalisierung einer Position basiert, die nicht durchwegs in das eigentliche Entwicklungsnarrativ eingebunden ist. Mein Fokus liegt in diesem Kapitel auf der Frage, wie im Rahmen des Denkens der Zweckmässigkeit Kant eine Verbindung herzustellen vermag zwischen den in der Kritik der reinen Vernunft sorgfältig voneinander getrennten Bereichen der Natur und der Vernunft. Wie sich aufzeigen lässt, liegt gerade in der Form der Verbindung dieser beiden Bereiche im geschichtsphilosophischen Narrativ die Grundlage für das Othering und die Selbstaffirmation.

In den Kapiteln 5 und 6 rückt mit der Kritik der Urteilskraft jene Schrift in den Fokus, die das Denken der Zweckmässigkeit grundsätzlich untersucht, es in Relation stellt zu den beiden vorhergehenden Kritiken und die Legitimation für dieses Denken herleitet. In Kapitel 5 steht der erste Teil der Kritik der Urteilskraft, nämlich die Kritik der ästhetischen Urteilskraft im Zentrum. Einerseits lassen sich in dieser Schrift wiederum Momente des Othering und damit verbunden auch der Selbstaffirmation feststellen, die mit dem Denken der Zweckmässigkeit im ästhetischen Bereich verbunden sind. Zugleich argumentiere ich, dass sich in den Erörterungen zum Schönen ein Ansatz findet, der sich in modifizierter Weise dazu eignet, eine dekoloniale Philosophie zu entwickeln.

In Kapitel 6 thematisiere ich, dass das Denken der Zweckmässigkeit seine Gültigkeit nicht nur in bestimmten ausdifferenzierten Gebieten der Philosophie beweist, sondern für Kant auch eine gedankliche Grundlage bietet, wie die Philosophie und die Entwicklung der Vernunft gedacht werden können. In diesem Kapitel drehe ich somit die Perspektive um und frage danach, inwiefern die kritische Philosophie geprägt ist von jenem Denken, das Kant anhand der Theorie zu den ›Menschenrassen‹ und in der Geschichtsphilosophie entwickelt hat. Konkret heisst dies, die Rolle des Denkens der Zweckmässigkeit in der kritischen Philosophie und für die kritische Philosophie zu bestimmen. So lässt sich anhand der Kritik der teleologischen Urteilskraft, dem zweiten Teil in der Kritik der Urteilskraft, aufzeigen, dass dieses Denken der Zweckmässigkeit seine Gültigkeit nicht nur in bestimmten Gebieten der Philosophie beweist, sondern für Kant auch eine Grundlage für die Erarbeitung seiner gesamten Philosophie bietet.

Damit verbunden geht Kant in der Kritik der Urteilskraft der Frage nach, wie die beiden Teile der theoretischen und der praktischen Philosophie, die soweit unvermittelt nebeneinanderstehen, miteinander in Bezug gesetzt werden können. Eine solche Vermittlung ist nach Kant in der Form eines reflektierenden Urteils möglich. Im Kapitel 4 zur Geschichtsphilosophie wird deutlich, dass für Kant notwendigerweise ein Zusammenpassen dieser beiden Bereiche möglich sein muss – ansonsten wäre es nicht denkbar, dass der Mensch, der sich selbst Gesetze geben kann, diese Maxime auch in Handlungen verwirklichen kann, die sich in die Abläufe der Natur eingliedern. In der teleologischen Urteilskraft, so meine These, wird dieses Verhältnis der Verbindung dieser beiden Perspektiven auf den Menschen in seiner Komplexität erkennbar: Die Natur – und damit auch die menschliche Natur – muss als der Vernunft zwar vorgängig und fremd gedacht werden, doch kann sie nur durch die Vernunft und als auf sie bezogen erfasst werden. Damit liegt eine enge Verschachtelung von Natur und Vernunft vor, bei der der als der Vernunft heterogen gedachten Natur ein Ziel unterstellt wird: Der Mensch unter moralischen Gesetzen. Mit dieser Verschachtelung, die mit dem Denken der Zweckmässigkeit einhergeht, ist eine privilegierte Erkenntnisposition verbunden. Dies möchte ich kurz in Bezug auf das kantische Verständnis von Aufklärung verdeutlichen.

Mit der Erkenntnis dessen, was man wissen, hoffen und tun kann, soll nach Kant dem Zweck der Aufklärung gedient werden. Damit erschliesst sich eine weitere Dimension des Denkens der Zweckmässigkeit: Die Produktion des Wissens ist ebenfalls zielgerichtet, also intrinsisch mit einer Absicht verbunden und soll so auch zur Herstellung einer anderen Realität – einer zivilisierten, aufgeklärten Gesellschaft – dienen. Mit dieser Formulierung wird die praktische Implikation von teleologischen Urteilen deutlich: Die Erkenntnis ist intrinsisch eine pragmatische Erkenntnis, die nicht nur das Handeln und Hoffen anleitet, sondern bereits im Akt des Erkennens eine Handlung darstellt. Dieses kantische Verständnis von Wissen über die Natur wird in der Reflexion zum Denken der Zweckmässigkeit sowie in der Reflexion über die Aufklärung deutlich. In ein aktualisiertes Vokabular gefasst kann also festgehalten werden, dass sich Kant der performativen Seite seiner Theoriebildung durchaus bewusst war.10

Kant bestimmt die Aufklärung in zweifacher Weise, indem die Menschen »zugleich Elemente und Handelnde desselben Prozesses« (Foucault 2005: 690) sind. Aufklärung ist also ein Prozess, der von sich aus abläuft, der aber zugleich auch eine Aufgabe und Pflicht bedeutet, was in Kants Aufruf, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, seine eingängigste Formulierung findet. Foucault (ebd.: 694) argumentiert, dieser Aufklärungsaufsatz nehme eine Scharnierstelle in Kants Werk ein, da in diesem Verständnis von Aufklärung die Kritik historisch verortet werde. Die Kritik ist an eine Aktualität gebunden, die die Notwendigkeit der Kritik zu diesem Zeitpunkt verdeutlichen soll und damit verbunden die Spezifika der Gegenwart zu benennen vermag. Damit wird – durch die kritische Philosophie selbst – das Unternehmen der Kritik als Produkt von geschichtlichen Prozessen dargestellt. Die Aufklärung vollzieht sich nicht bei einem Individuum oder in einer Generation, vielmehr skizziert Kant hier einen Prozess, der sich über mehrere Generationen entfaltet.

Damit nimmt Kant zwei Bestimmungen der Aufklärung vor, die jedoch miteinander verschränkt sind, und dies nicht nur dadurch, dass ein individuelles Handeln Einfluss auf die Übertragung von Wissen und Einsichten zwischen den Generationen gewährleisten kann. Vielmehr lässt sich eine erkenntnistheoretische Verschränkung ausmachen: Erst durch die aufgeklärte Vernunft wird es möglich, die geschichtlichen Prozesse als auf ein richtiges Ziel hin – die Aufklärung – ausgerichtet erkennen zu können. Damit etabliert sich hier ein bestimmter Standpunkt, von dem her die richtige Einsicht in historische Abläufe erkannt werden kann – und von dem her zugleich der eigene Standort als Kulminationspunkt der vergangenen Prozesse verstanden wird. Mit der Rekonstruktion des umfassenden Verständnisses des Denkens der Zweckmässigkeit kann die weitreichende Bedeutung der Selbstaffirmation und des Othering in der kritischen Philosophie Kants erfasst werden – wie auch die Verschränkung von Othering und Selbstaffirmation mit der Kritik.

Solchermassen eine post_koloniale Kritik an der kritischen Philosophie Kants zu üben, kann einer fundamentalen Ambivalenz nicht entgehen:

»[...] our sense of critique is too thoroughly determined by Kant, Hegel, and Marx for us to be able to reject them as ›motivated imperialists,‹ although this is too often the vain gesture performed by critics of imperialism. A deconstructive politics of reading would acknowledge the determination as well as the imperialism and see if the magisterial texts can now be our servants, as the new magisterium constructs itself in the name of the Other.« (Spivak 1999: 6f.)

Chakrabarty (2000: 4) geht noch einen Schritt weiter, wenn er darauf verweist, dass moderne Konzepte wie Staatsbürgerschaft, Staat, Zivilgesellschaft, öffentliche Sphäre, Gleichheit vor dem Gesetz, Demokratie, die Idee des Subjekts etc. zwar mit der europäischen Ideengeschichte verbunden seien, sich aber nicht darauf reduzieren liessen. Keine andere geschichtliche Periode hatte einen ähnlich fundamentalen und weitreichenden Effekt, wie sich dies für die Moderne verzeichnen lässt (vgl. Venn 2000: 17). Eine post_koloniale Befragung der Moderne kann deshalb aus einer bestimmten Zirkularität nicht ausbrechen, da diese Befragung mit modernen Begrifflichkeiten und Konzepten operiert, auch wenn die Ränder der Moderne oder das von der Moderne Ausgeschlossene untersucht wird (vgl. ebd.: 16). Dies gilt gerade auch für die Kritik. Denn die Vision einer politischen Moderne hat eine Grundlage für die Kritik an sozial ungerechten Praxen geschaffen – eine Grundlage, die nun global ist (vgl. Chakrabarty 2000: 4).

Die verschiedenen Seiten dieser Ambivalenz lassen sich konkret anhand der Forschungsliteratur zu Kant aufzeigen. Auf der einen Seite gibt es Texte, die ausgehend von Kants Äusserungen zu den ›Menschenrassen‹ eine grundlegende Problematisierung der kantischen Schriften vornehmen (vgl. beispielsweise Eze 1998). Mills (2005) argumentiert, rassistische Annahmen würden jene universale Gleichheit limitieren, die durch die apriorische Formulierung des kategorischen Imperativs nahgelegt werde. Auf der anderen Seite finden sich Autor_innen, die Kant als Stimme eines antikolonialen Diskurses in der Aufklärung einordnen (vgl. Muthu 2003) – wobei hier die Aufsätze zu den ›Menschenrassen‹ nicht ignoriert werden, sondern vielmehr als eine Meinung verstanden werden, die Kant in seinem späteren Leben revidiert habe (vgl. dazu auch Kleingeld 2007 und 2014). Dabei wird auf die beiden Schriften Zum ewigen Frieden sowie auf die Metaphysik der Sitten verwiesen, in denen sich Kant explizit gegen die Sklaverei wendet und eine weltbürgerliche Ordnung entwirft. Zu diesen späteren Schriften Kants hat sich eine breitere Debatte entwickelt, auch im Rahmen der Kosmopolitismus-Diskussion, die seit den 1990er Jahren geführt wird (vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Köhler 2006, kritisch dazu Tully 2008: 15ff.).

Ich werde auf die Argumente von Muthu und Kleingeld in den folgenden Kapiteln an verschiedenen Stellen ausführlicher eingehen. Vorwegnehmen möchte ich aber, dass ich einen positiven Anknüpfungspunkt weniger in Kants Entwurf einer weltbürgerlichen Gemeinschaft sehe (die ebenfalls dem Denken der Zweckmässigkeit geschuldet ist), als in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. In der ästhetischen Urteilskraft formuliert Kant eine Form des Denkens der Zweckmässigkeit, die paradox erscheint, da Kant eine Zweckmässigkeit ohne Zweck einführt. So gibt es eine Gerichtetheit, zu der jedoch kein sicheres Telos benannt werden kann. In dieser Formulierung verschiebt sich der Fokus von der Bestimmung des Zwecks hin zur gemeinschaftlichen Aushandlung der Ausrichtung, der ein einzelnes Urteil folgt, denn dieses Urteil bezieht sich nicht in erster Linie auf ein durch die Vernunft bestimmtes und damit allgemeingültiges Ziel, sondern beinhaltet die Berücksichtigung anderer Urteile als konstitutiven Bestandteil. Kant formuliert diese Form der erweiterten Denkart im Konzept des Sensus communis. An diese Formulierung, so argumentiere ich in Kapitel 5, kann in dekolonialer Hinsicht angeknüpft werden, wenn die Formulierung ›an der Stelle anderer denken‹ leicht modifiziert wird hin zum ›an der Stelle veranderter denken‹. Damit soll mit Kant und zugleich gegen Kant und über Kant hinaus die Möglichkeit zu einer dekolonialen Philosophie angedacht werden.

Damit beabsichtige ich, einen Beitrag zu dem zu leisten, was Gabriele Dietze (2009) als Hegemonie(selbst)kritik bezeichnet hat. Claudia Brunner (2017) diskutiert die Unterscheidung zwischen einer Selbstreflexion und einer Hegemonieselbstkritik. Eine Selbstreflexion – wie sie auch Kant vornimmt – bleibt notwendigerweise selbstbezüglich und will letztlich auch selbstvergewissernd sein. Dieser Aufruf zur Selbstreflexion ist damit nicht nur eine notwendige Vorbedingung von Kritik, sondern kann zugleich auch als Praxis der Herrschaftssicherung im kolonialen Kontext fungieren. Mit der Hegemonieselbstkritik wird diese Selbstkritik flankiert durch die kritische Reflexion der hegemonialen Situation, in der diese Reflexion stattfindet. Damit soll auch von privilegierten Standorten der Wissensproduktion aus zu Unterbrechungen der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein beigetragen werden. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich in diesem Sinne einen Beitrag zu einer ständigen und unabgeschlossenen kritischen Hinterfragung der Prämissen jenes kanonischen Wissens leisten, das nach wie vor unsere Gegenwart prägt, und so zu einer Dekolonisierung der Philosophie beitragen.

1 Zur Verwendung von Anführungszeichen siehe die erste Fussnote in Kapitel 2.

2 Spivak (1999: 2) legt dar, dass durch die Mainstream-Ausbildung auch die Ignoranz – das Überlesen – eingeübt werde und spricht in diesem Zusammenhang von einer sanktionierten Ignoranz. In diesem Kontext ist auch die Schilderung von Butler (2009: 367ff.) interessant, die konstatiert, dass sich durch diese Grenzsetzung der institutionell verankerten Philosophie, die bestimmt, was zur Philosophie gehört und was nicht, die Philosophie verdoppelt habe. Philosophie werde damit massgeblich auch ausserhalb der an den Universitäten institutionalisierten Disziplin betrieben. Butler koppelt diese Beobachtung an konkrete Inhalte, da sie rhetorische und linguistische Aspekte, die oftmals in einem Spannungsverhältnis zur logischen Argumentation stehen, in der institutionalisierten Philosophie nicht berücksichtigt sieht.

3 Diese Schreibweise habe ich von Jain (2012) übernommen, und sie soll einen klaren historischen und politischen Bruch infrage stellen, der durch das ›post‹ impliziert wird. Der Unterstrich soll vielmehr auf die komplexen Verflechtungen der Vergangenheit mit der Gegenwart aufmerksam machen und reiht sich damit in eine kritische Epistemologie ein (ebd.: 175). Gerade in Bezug auf die Aufklärung scheint mir dieses komplexere Verständnis von post_kolonial passend zu sein, da die Aufklärung mit Fragen nach dem Spezifischen der Gegenwart verbunden ist (vgl. Foucault 2005).

4 Der Unterstrich soll auf die mögliche Partizipation unterschiedlicher Geschlechter aufmerksam machen. Dabei verwende ich den Unterstrich sowohl mit der femininen als auch mit der maskulinen Form – letztere vor allem bei Begriffen, die Kant ausschliesslich im generischen Maskulinum verwendet.

5 Wenn ich im Folgenden von ›der post_kolonialen Perspektive‹ spreche, nehme ich damit natürlich wiederum eine Vereinfachung vor, da es keine einheitliche theoretische Grundlage gibt, auf der post_koloniale Ansätze beruhen würden. Ich beschränke mich auf Theorien, die auf postmodernen Ansätzen aufbauen (und diesen Bezug auch kontrovers diskutieren).

6 Wenn Said (1975) betont, die Kontextualisierung mindere den Wert von Texten nicht, sondern mache ihn vielmehr reichhaltiger, dann hat dieser Hinweis auch für die gegenwärtige Philosophie noch Gültigkeit. Said spricht in diesem Aufsatz von der worldliness von Texten, um darauf hinzuweisen, dass Texte immer in einen spezifischen Entstehungskontext eingewoben sind, der nicht auf nationale Begrenzungen eingeengt werden kann.

7 Dieser Ausdruck soll als Überbegriff für die unterschiedlichen terminologischen Varianten dienen, die entsprechend den Themenbereichen variieren. So spricht Kant von teleologischen, reflektierenden, reflexiven und regulativen Urteilen.

8 In der von mir benutzten Werkausgabe wurde der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Vorrang gegeben, da Kant diese Auflage selber durchgesehen und geändert hat. Dementsprechend finden sich in den Verweisen die Angaben zur zweiten Auflage an erster Stelle.

9 Zur Publikationsgeschichte dieser Vorlesung siehe Kapitel 2.1.

10 Lagier (2004) betont diesen performativen Aspekt der kantischen Philosophie in Bezug auf den Zweck der Menschheit: »Plus encore, nous avons cru remarquer, au cours de l’analyse, une dimension profondément performative du discours sur l’unité de destination de l’humanité. L’homme ne peut atteindre son but, c’est-à-dire la formation de son caractère comme faculté de se donner des fins universelles, que s’il se pense activement comme capable de former ce caractère.« (ebd.: 191).

2Auftakt: Vorkritische Schriften zu physiologischen, ästhetischen, nationalen und kulturellen Differenzen und Geschlecht

Es ist in Bezug auf die Werke Kants naheliegend, die Lektüre ausgewählter Schriften in eine chronologische Ordnung zu bringen – gerade, wenn nicht nur ein ahistorisch verstandenes Thema aufgearbeitet, sondern zugleich eine Kontextualisierung dieser Texte vorgenommen werden soll. Zudem wird in der Forschungsliteratur eine Unterscheidung der kantischen Schriften in eine vorkritische und eine kritische Periode vorgenommen: Schriften, die Kant vor der Publikation der Kritik der reinen Vernunft 1781 verfasste, gelten als vorkritisch. Einer solchen chronologischen Ordnung folge ich mehr oder weniger in dieser vorliegenden Arbeit. Vor allem das zweite und die letzten beiden Kapitel spannen einen solchen Bogen auf, da ich im zweiten Kapitel auf die vorkritischen Schriften eingehe und die intensive Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft von 1790 in den letzten beiden Kapiteln den Abschluss bildet. Dennoch gestaltet sich die chronologische Zuordnung aus verschiedenen Gründen bei bestimmten Texten schwieriger, wie ich in Bezug auf die Physische Geographie sogleich verdeutlichen werde.

In diesem Kapitel geht es um eine Schrift und eine Vorlesung, die Kant in den 1750er und 1760er Jahren verfasst respektive gehalten hat. Der Blick auf ausgewählte Texte aus diesen Jahren wird jedoch eher kurz ausfallen: Da ich in meiner Studie nach der Verbindung von Othering und Selbstaffirmation mit Kritik frage, ist es signifikant, dass Kant zu diesem Zeitpunkt noch keine kritische Philosophie erarbeitet hat. Dennoch führe ich im Folgenden kurz in die Physische Geographie und die Beobachtungen zum Schönen und Erhabenen ein, denn in diesen Texten finden sich einige der prägnantesten Aussagen Kants zu Unterschieden zwischen den Menschen entlang von Ländern, Nationen und Klima sowie zu Geschlechterdifferenzen, die in der Sekundärliteratur immer wieder aufgegriffen werden. So kann die Physische Geographie als Vorreiter der Aufsätze zu den ›Menschenrassen‹ gelten, während in den Beobachtungen die ausführlichsten Bemerkungen zu finden sind, die sich bei Kant zum Geschlecht und zum Geschlechterverhältnis finden lassen.

Mendieta (2011: 346f.) argumentiert, dass sich die Unterscheidung zwischen einer vorkritischen und einer kritischen Schaffensphase nicht rechtfertigen lasse, fokussiere man auf Kants Aussagen zur sexuellen Differenz, zu Geschlecht und ›Rasse‹. Zu deutlich gebe es in dieser Hinsicht Kontinuitäten zu verzeichnen. Mit der folgenden Darstellung und in Verbindung mit dem nächsten Kapitel vertrete ich eine andere These: So lassen sich zwar inhaltlich viele Kontinuitäten ausmachen und viele Topoi finden sich in den späteren Schriften wieder, doch ändern sich von der Physischen Geographie hin zum Text Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775/1777) sowie den weiteren Schriften zu den ›Menschenrassen‹ die damit verbundenen theoretischen Annahmen und Vorgehensweisen. Aus der folgenden Darstellung in Verbindung mit den sich anschliessenden Kapiteln werden deshalb durchaus Kontinuitäten erkennbar. Darüber hinaus dient diese Darstellung jedoch auch als Abgrenzungsfolie, die verdeutlichen soll, wie sich mit der Erarbeitung der kritischen Philosophie das Nachdenken über aussereuropäische Menschen und Geschlecht verändert hat. Dieser Umbruch kann über Kant hinaus als ein Wandel begriffen werden, der für die Herausbildung der europäischen Moderne zentral war, wie ich am Ende dieses Kapitels mit Foucault (1971) kurz darlegen werde. Die Unterscheidung zwischen den vorkritischen und kritischen Schriften in Kants Werk korreliert, so meine These, mit dem Wandel von der klassischen zur modernen Episteme.

2.1Die Kartografierung der menschlichen Diversität: Die Physische Geographie

Kant hat sich bereits in seinen frühen Jahren als Universitätslehrer für die europäische Reiseliteratur interessiert und eine Vorlesung unter dem Titel Physische Geographie angeboten. Als Vorlage für diese Vorlesung gab es kein Werk, das zu diesem Zweck genügend gewesen wäre. Kant stellte aus diesem Grund ein eigenes Textbuch zusammen, wobei diese Arbeit erst durch eine Sondergenehmigung möglich wurde. Die darauf basierende Vorlesung hielt er über einen Zeitraum von 40 Jahren. Zudem hat Kant diese Vorlesung nie selbst als Buch publiziert – im Gegensatz zur Vorlesung Anthropologie, die er 1798 in eine Buchform brachte. Jedoch sind in den Jahren 1801 und 1805 Mitschriften von Studierenden veröffentlicht worden. Es besteht jedoch das Problem, dass sich anhand dieser Texte die Aussagen Kants zeitlich nicht genau verorten lassen (vgl. Stark 2011: 82) – was gerade angesichts der Tatsache, dass dieser ungewisse Zeitraum 40 Jahre umfasst, problematisch ist. Seit 2009 steht eine Ausgabe der Akademie der Wissenschaften zur Verfügung, die eine verlässlichere Grundlage bildet, da sie auf Mitschriften von verschiedenen Studierenden beruht und Kant selbst in diesem Manuskript Anmerkungen gemacht hat (vgl. ebd.: 69f.).1 Die folgende Darstellung basiert daher auf dieser Ausgabe. Auch wenn damit eine zeitlich besser verortbare textliche Grundlage gegeben ist, wird dennoch deutlich, dass sich mit den beiden Vorlesungen der Physischen Geographie und der Anthropologie, die Kant ab 1772 ebenfalls über Jahrzehnte hinweg hielt und als Gegenstück zur Physischen Geographie verstand, eine komplexere Anordnung ergibt, die mit einer linearen chronologischen Einteilung nicht eingeholt werden kann. Deutlich wird dies nicht zuletzt anhand der Studie Foucaults (2010) zur Anthropologie. Er diskutiert diese Vorlesung in Bezug auf das kritische Unternehmen und schlägt vor, den Text sowohl als präkritischen, kritischen wie auch postkritischen zu verstehen. In seiner detaillierten Analyse zeigt er die unterschiedlichen Entstehungskontexte verschiedener Textfragmente auf, die unterschiedlichen Schaffensphasen zuzuordnen sind.

Eine ähnliche Arbeit gestaltet sich für die Physische Geographie aufgrund der textlichen Grundlage schwieriger. Der Text, wie er sich in der Ausgabe von 2008 präsentiert, kann in erster Linie als knappe Zusammenstellung von zeitgenössischen Reiseberichten und Studien gelesen werden, die Kant rezipiert hat. Dadurch kann der Text als mehr oder weniger fragmentarische Zusammenstellung anderer Texte verstanden werden. Entgegen dieser Interpretation betont Louden (2011: 139ff.) jedoch, dass durchaus auf verschiedenen Ebenen eine Eigenleistung Kants zu verzeichnen sei. So bringt Kant die ihm zur Verfügung stehenden Informationen in eine eigene, neuartige Struktur. Zudem wird aus den Ankündigungen zur Vorlesung deutlich, dass der Kurs dazu gedacht war, unterhaltsam und populär zu sein. So soll er mehr dem Vergnügen dienen als trocken und strikt akademisch abgehalten werden – was durchaus nicht im Gegensatz zum Ideal der Aufklärung steht, sondern vielmehr dessen Popularität befördert. Auch darin sieht Louden eine spezifische Aneignungsleistung Kants. Auch soll die Vorlesung nützlich und pragmatisch sein und so die Studierenden auf die Ausübung der praktischen Vernunft vorbereiten. Kant sah den Nutzen dieses Wissens nicht nur für die Schule, sondern auch für das Leben, da ein Wissen über die Welt vermittelt werde. In diesem Sinne soll die Vorlesung eine Orientierung in der Welt geben (ebd.: 142).2 Damit zeigt Louden Aspekte auf, die zum einen konkret den Inhalt und dessen Strukturierung betreffen, andererseits aber eine Metaebene ansprechen: Das Wissen wird nicht nur um des Wissens willen vermittelt, sondern die Vermittlung unterliegt einem übergeordneten Zweck. Dadurch stehen die Inhalte in Verbindung mit einer Reflexion über die Orte und die Zeit, in der diese Vorlesung gehalten wird.3Vor diesem Hintergrund der kantischen Aneignung der zeitgenössischen Reiseliteratur soll ein Blick in den Vorlesungstext geworfen werden. Mit welchen konkreten Inhalten stattete Kant seine Studierenden aus? Was mussten diese nach Kant wissen – und vor allem, was mussten sie von anderen Menschen wissen –, um sich in der Welt orientieren zu können? Die Vorlesung ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil behandelte die Gestalt der Erde, das Meer und das feste Land, Erdbeben und Vulkane, Quellen, Brunnen, Flüsse etc. Im zweiten Teil kommt das Tierreich in den Blick und im ersten Abschnitt darin auch die Menschen. Der dritte Teil handelt alle Kontinente ab, beginnend mit Asien, Afrika und Europa und endend mit Amerika. In diesem Teil finden sich zahlreiche Anmerkungen zu den jeweiligen Bewohner_innen der Länder. Die Menschen werden also in dieser Vorlesung in zwei verschiedenen Abschnitten diskutiert, im zweiten wie auch im dritten Teil, womit sich die Frage stellt, wie sich diese beiden Abschnitte zueinander verhalten. Bei Louden (2011) wird diese Frage nicht explizit gestellt, dennoch legt er eine Unterscheidung nahe, indem er die beiden Abschnitte in Beziehung zu jeweils anderen kantischen Texten setzt. So diskutiert er den dritten Teil der Physischen Geographie in Bezug auf die Anthropologie-Vorlesung und stellt fest, dass sich keine klare Trennung zwischen den beiden finden lassen; vielmehr finden sich Bemerkungen aus der Physischen Geographie in der Anthropologie wieder. Die Bemerkungen zu den Menschen im zweiten Teil der Physischen Geographie diskutiert Louden hingegen in Bezug auf die Theorien zu den ›Menschenrassen‹ – obwohl Kant selbst den Begriff ›Rasse‹ in diesem Text nicht verwendet. Allerdings ist der erste kantische Text von 1775 (Von den verschiedenen Rassen der Menschen), der diesen Begriff einführt, eine Ankündigung der Vorlesung der Physischen Geographie. Diese unterschiedlichen Bezugspunkte, die Louden durchaus berechtigterweise wählt, implizieren, dass die Menschen in den beiden Teilen der Physischen Geographie aus einer unterschiedlichen Perspektive betrachtet werden. Versucht man jedoch, diesen Unterschied zu benennen, gelingt dies nicht: Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen diesen beiden Abhandlungen über Menschen lässt sich nicht ausmachen.

Im zweiten Teil der Physischen Geographie vertritt Kant die These, dass Menschen, die in einer Eiszone leben, eine ähnliche ›Bildung‹ aufweisen würden wie Menschen, die in grosser Hitze leben. Mit der ›Bildung‹ meint Kant die Hautfarbe, Körperbehaarung, Körperlänge und Gesichtsform. Diese These weiter erörternd skizziert Kant einen imaginären Streifen um die ganze Erde, der auf der Höhe von Deutschland liegt. In diesem Streifen, genauer im nördlichen Abschnitt davon, würden sich die schönsten Menschen finden, wobei Kant die Schönheit mit »blonde[n] und wohlgebildet[en], blaue[n] Augen« (Physische Geographie: 1164) assoziiert. Kant verlässt so bereits zu Beginn des zweiten Teils den Fokus auf das rein Physische und vermischt seine Beschreibung mit einem ästhetischen Urteil. Gegen Süden sieht Kant dann eine Zunahme der braunen Farbe, eine kleinere Statur, die dann »in die mohrische Gestalt aus artet« (ebd.), nur in Afrika finden sich »Neger«5, die durch die schwarze Hautfarbe, das dichte Haar, ein breites Gesicht, eine platte Nase und aufgeworfene Lippen sowie grobe Knochen charakterisiert werden (ebd.: 116f.). In diesen Passagen wird deutlich, dass Kant von einer Korrelation zwischen den klimatischen Bedingungen und dem Aussehen der Menschen ausgeht. Er nimmt jedoch keine klare Einteilung in klimatische Zonen vor, die eine deutliche Trennung in unterschiedliche Menschengruppen nach sich ziehen würde, wie er dies in späteren Schriften tut. Vielmehr wird der Streifen in der Mitte zum Ausgangspunkt, in dessen Abgrenzung sich graduelle Abweichungen feststellen lassen.

Im zweiten Absatz präsentiert Kant einige Kuriosa zur schwarzen Farbe der Haut: Kinder werden weiss geboren – ausser die Zeugungsglieder und ein Ring um den Nabel – und erst in den ersten Monaten schwarz. Bei Verbrennungen wird die betroffene Stelle weiss. Europäer_ werden auch dann nicht schwarz, wenn sie sich über Generationen hinweg in der »zona torrida« aufhalten, vielmehr behalten sie ihre europäische Gestalt (ebd.). Das gleiche gilt auch für »Neger« in Virginien, wenn sie sich denn nicht mit weissen Menschen vermischen. So hätten sich auch die Portugies_en am Capo Verde nicht in »Neger« verwandelt, vielmehr handele es sich dabei um »Mulatten« – ein Begriff, den Kant sogleich auch erläutert: Es handelt sich dabei um Kinder, deren Eltern zu einem Teil weiss und zum anderen schwarz sind (ebd.: 119). Diese Zusammenstellung unterschiedlichster Merkwürdigkeiten, die Kant nicht weiter kommentiert, enden mit einer vehementen Aussage: »[D]ie Mohren, imgleichen alle Einwohner der heissen zone haben eine dicke Haut, wie man sie dann auch nicht mit Ruthen sondern gespaltenen Röhren peitschet, wenn man sie züchtiget, damit das Blut einen Ausgang findet, und nicht mehr unter der dicken Haut eitere« (ebd.: 119f.). In dieser äusserst gewaltvollen Aussage am Ende des Abschnitts wird die Perspektive eines Sklavenhalters deutlich. Dennoch wird dieses Wissen nicht auf einen solchen Blick hin reflektiert, vielmehr wird durch das gewählte grammatikalische Subjekt (»man«) dieses Wissens verallgemeinert, also von einem spezifischen Standpunkt losgelöst, und so neutralisiert.

Im folgenden Abschnitt finden sich Ansätze dafür, wie diese Unterschiede in der Hautfarbe erklärt werden könnten. Kant weist die Idee zurück, dass die schwarze Hautfarbe im biblischen Sinne als eine Bestrafung verstanden werden sollte. Ebenfalls weist er zurück, dass sich die schwarze Hautfarbe durch unterschiedliche Säfte im Gewebe der Haut erklären lässt. Vielmehr sieht er das heisse Klima als Ursache. Durch sie würden die Gefässe vertrocknen und sich das Haar krausen (ebd.: 120f.). Diese Feststellung steht jedoch nicht im Gegensatz zu den obigen Beobachtungen, dass weisse oder schwarze Menschen sich auch über Generationen hinweg nicht an ein Klima anpassen würden. Denn Kant vermutet den Einfluss des Klimas in der Vergangenheit als einen langandauernden Prozess, durch den der äussere Einfluss nun »eingeartet« (ebd.: 121), also in die Erbkraft aufgenommen worden sei. Wie aber genau ein äusserer Einfluss zur Erbkraft dazukommen kann, kann sich Kant nicht erklären. Dennoch insistiert er, dass die Evidenz davon gegeben sei. Zur Plausibilisierung parallelisiert Kant dies mit Beschreibungen von Tieren: So würden alle Hunde, die nach Afrika gelangen, stumm und kahl und danach auch solche Jungen zeugen (ebd.).

In den Reiseberichten nimmt Kant eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität vor: So erklärt er, »die vorgegebene geschwänzte Menschen in Borneo« (ebd.: 123) sind in Wirklichkeit Affen; auch gibt es keine Riesen in Patagonien oder Menschen in Senegal, die sich den Mund immer mit einem Tuch bedecken und handeln, ohne zu reden. Zu diesen Fiktionen zählt Kant ebenso »einäugigte, höckerigt, einfüssige Menschen, Leute ohne Maul, Zwerge« (ebd.). Demgegenüber scheint er jedoch folgende Beobachtung als wahr zu erachten: »Die Einwohner von der Küste von NeuHolland haben halb geschlossene Augen und können nicht in der Ferne sehen, ohne den Kopf auf den Rücken zu bringen. Dies gewöhnen sie sich wegen der vielen Mücken an, die ihnen immer in die Augen fliegen.« (Ebd.: 123f.) Auch hält er die Schilderung von Peter Kolb6 für wahr, die Frauen der »Hottentotten« sowie »äthiopische Weiber« würden ein Leder am Schambein vorweisen, das ihr Genital bedeckt (ebd.: 124). Kant fährt fort mit einer Ansammlung von Beobachtungen, die wild durcheinander geworfen scheinen. Dabei werden deutliche Urteile gefällt:

»Alle Bewohner der heissesten zone sind ausnehmend faul An einigen wird diese Faulheit noch etwas durch die Regierung und den Zwang gemäßiget.« (Ebd.: 125) »[…] [D]ie Faulheit bewegt sie lieber in Wäldern herumzulaufen und Noth zu leiden als zur Arbeit durch die Befehle ihrer Herren angehalten zu werden.« (Ebd.: 125f.) »Der Einwohner der zonae temperatae vornehmlichen des mitleren Theiles derselben ist schöner am Körper, arbeitsamer, scherzhafter gemäßigter in seinen Leidenschaften, verständiger als eine Gattung der Menschen in der Welt. Daher haben diese Völker zu allen Zeiten die andere belehret und durch Waffen bezwungen [...]« (ebd.: 127f.).

Wie bereits an diesen Zitaten deutlich wird, beschränkt sich Kant nicht auf den menschlichen Körper, wie er durch die Natur gebildet wird, sondern nimmt moralische, ästhetische und charakterliche Zuschreibungen vor. In den beiden letzten Abschnitten dieses zweiten Teils thematisiert Kant ästhetisch-kulturelle Aspekte, die ebenfalls über den Rahmen des rein Physischen hinausgehen. Im vorletzten Abschnitt referiert er Veränderungen, die sich die Menschen selbst zufügen, beispielsweise Löcher in den Ohren, Schwärzung der Zähne, Nasenringe etc. Der letzte Abschnitt handelt vom Geschmack und der Feststellung, dass sinnliche Urteile stark variieren können. Er hält einleitend fest: »Man wird aus der Abweichung des Geschmacks der Menschen sehen daß ungemein viel bey uns auf Vorurhteilen beruhe.« (Ebd.: 131) Interessanterweise verurteilt Kant andere Geschmacksurteile nicht einfach grundsätzlich als irrig, sondern wendet diese Unterschiede zu einer Kritik am eigenen Geschmacksurteil – was vor dem Hintergrund der vorherigen deutlich abwertenden Aussagen erstaunt. Das Geschmacksurteil differenziert er in das Urteil der Augen, des Gehörs, des Geschmacks und des Geruchs. Dass sich Kant in diesen Ausführungen nicht mehr strikt am Kriterium der Hautfarbe orientiert, wird in der Diskussion der ästhetischen Urteile deutlich. So wird unter anderem referiert: Chines_en würden grosse Augen nicht mögen, sondern ein viereckiges Gesicht mit breiten Ohren, einer breiten Stirn und einer kurzen Nase als vollkommenen Menschen erachten. Ausserdem würden Chines_en die europäische Musik nicht mögen und sehr gerne Hunde verzehren. Bei den »Hottentotten« hingegen sei der Kuhmist ein Lieblingsgeruch (ebd.: 131ff.).