Kuckuckskind - Ingrid Noll - E-Book + Hörbuch

Kuckuckskind E-Book

Ingrid Noll

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Beschreibung

Mamas baby papas maybe? Kuckuckskind ist eine Geschichte über drei Vaterschaftstests, einen Schwangerschaftstest, ein Baby im Waschkorb, ein paar Tote und ein unkonventionelles Familienglück in einem Nest, das zwar fremd, doch recht gemütlich ist.

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Seitenzahl: 273

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Ingrid Noll

Kuckuckskind

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2008 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Georges de la Tour,

›Der Falschspieler mit dem Karo-As‹,

1634–35 (Ausschnitt)

Foto: Copyright © Artothek/Peter Willi

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24012 2 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60034 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

[5] 1

Früher hatten mir das Singen im Chor und die wöchentlichen Proben sehr viel bedeutet. Es war eine nette Gemeinschaft, die sich da einmal in der Woche zusammenfand, außerdem konnte ich mein musikalisches Wissen erweitern und einen Abend lang alle Probleme vergessen. Die Konzentration, die für zwei Stunden nötig war, machte mich nie müde, sondern gab mir Kraft. Beschwingt und in bester Laune kam ich dann nach Hause zurück.

Bis zu jenem schwarzen Montag, als die Probe ausfiel, ohne dass man uns vorher benachrichtigen konnte. Wir standen schon im Vereinsraum vor dem Flügel herum und schwatzten, als die Frau des Chorleiters hereinstürzte und uns mitteilte, ihr Mann habe einen Unfall gehabt. Die meisten von uns zogen in eine Kneipe weiter. Vielleicht hätte ich ihnen besser folgen sollen, doch ich beschloss, den frei gewordenen Abend daheim zu verbringen. Gernot würde sich bestimmt freuen.

[6] Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte und unsere Haustür aufschloss, tönte mir Musik entgegen. Ich lauschte verwundert: Je t’aime – moi non plus…

Diese alte Aufnahme von Serge Gainsbourg und Jane Birkin hatte ich mir während eines Studienaufenthaltes in Frankreich zugelegt. Seltsam, dachte ich und setzte erst einmal Teewasser auf, denn ich fror ein wenig. Draußen war es herbstlich kühl geworden, und ich hatte nur eine Strickjacke übergezogen. Ob Gernot litt, wenn er jeden Montagabend allein war? Tröstete er sich mit erotischen Chansons? Wir hatten schon lange keinen Sex mehr gehabt.

Anscheinend hatte er mein Kommen nicht bemerkt. Ein leiser Argwohn bewog mich, die Schuhe auszuziehen, über den Flur zu schleichen und durch einen Türspalt ins schummrig beleuchtete Wohnzimmer zu spähen.

Zuerst konnte ich nicht richtig erkennen, was sich da auf unserem Sofa abspielte. Aber es waren unübersehbar zwei Personen, die dort stöhnten.

Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich regungslos zuschaute. Leider – oder besser Gott sei Dank – hatte ich keine Erfahrung, was in einem solchen Fall zu tun ist. Sollte ich mich blind und taub stellen, einfach verschwinden und erst wie erwartet kurz nach zehn Uhr zurückkommen? Sollte ich mich vor ein [7] Auto werfen oder Feuer legen? Hineinstürmen und einen hysterischen Anfall kriegen? Oder gar alle beide erschießen?

Doch anstatt in irgendeiner Form einzugreifen, trat ich völlig verstört, aber lautlos den Rückzug in die Küche an. Das Wasser kochte schon eine Weile, ich selbst brauchte anscheinend etwas länger, bis mein Blut zum Sieden kam. Wie in Trance hängte ich einen Teebeutel in die Kanne und goss das sprudelnde Wasser darüber. Den Deckel schob ich beiseite. Dann stellte ich zwei Tassen, die Zuckerdose und den Tee auf ein Tablett und startete die Attacke.

Mit flinken Schritten näherte ich mich dem Sofa, erstarrte plötzlich wie unter Schock, hielt das Tablett sekundenlang schief und ließ die volle Kanne über die Sünder kippen. Gernot und seine Gespielin fuhren in panischem Schreck auseinander und brüllten vor Schmerz.

Der kochend heiße Tee hatte zu großflächigen Verbrühungen geführt, zumal er hauptsächlich auf nackte Bäuche traf.

Meine Angst vor einer Strafanzeige war groß, da es sich um einen klaren Fall von Körperverletzung handelte und der Notarzt beide ins Krankenhaus einwies. Gernot erklärte die Verbrennung mit einem selbst verschuldeten Unfall, weil er die heikle [8] Situation nicht im Detail schildern mochte; auch bei der Scheidung kam die Sache nicht zur Sprache. Und von mir wird sowieso niemand erfahren, dass ich mit voller Absicht Vergeltung geübt habe.

Am besagten Abend rief ich zwar die Rettungsstelle an, sprach aber kein Wort mit meinem Mann. Als der Krankenwagen abfuhr, packte mich ein Weinkrampf. Keiner konnte mich trösten, denn von da an war ich allein.

Gernot musste nicht lange im Krankenhaus bleiben. Nach seiner Entlassung fand er unser Häuschen unbewohnt vor. Ich hatte in der Zwischenzeit das Nötigste gepackt und war in ein Hotel gezogen. Bereits nach einer Woche bot mir ein Makler meine jetzige möblierte Wohnung an. Ohne sie vorher zu besichtigen, sagte ich zu, denn ich brauchte eine Übergangslösung. Leider ist es bis heute dabei geblieben, weil ich seit unserer Trennung wie gelähmt bin.

Wahrscheinlich schleppt jeder Erinnerungen mit sich herum, die nicht zu verdrängen sind und das gesamte Leben belasten, ein Gemisch aus Scham, Zorn, Peinlichkeiten und Trauer. Meine Rolle bei unserem Ehedrama war alles andere als rühmlich gewesen und hatte auch meinem Mann einige Narben zugefügt. Und ich bin seitdem regelrecht [9] süchtig geworden. Bei diesem Wort denkt man an Drogen oder Alkohol. Nein, darum geht es nicht, obwohl ich kurz nach meinem Auszug jeden Abend eine Flasche Wein leerte. Doch dieses Problem bekam ich schnell wieder in den Griff.

Ich bin sudoku-süchtig. Inzwischen kennt ja fast jeder das Spiel mit neun Quadraten, bei dem es auf Konzentration und Logik ankommt. Das erste Rätselheft lag monatelang in meinem Arbeitszimmer herum, ohne dass ich es auch nur anrührte. Meine Mutter hatte es mir geschickt, und ich war eher verärgert als erfreut über ihr Geschenk. Rechnen lag mir nicht, wie ich dachte, doch später merkte ich, dass es darauf überhaupt nicht ankam.

Immerhin steckte ich in den Pfingstferien – auf meiner ersten Städtereise als Single – das Heftchen ein. Bei dieser Gelegenheit wollte ich die beliebten Rätsel einmal ausprobieren und dann endlich wegwerfen. Doch o Wunder: Die stumpfsinnige Zeit im Airport und in der Luft verging beim Raten so schnell, wie es sich gehört – im Fluge.

Die einsame Reise war zwar eine einzige Pleite, aber bereits am dritten Tag in Budapest kaufte ich mir ein neues Sudoku-Heft, und schon konnte ich nicht mehr damit aufhören. Die simplen Aufgaben für Anfänger ließ ich bald links liegen, die mittleren löse ich inzwischen perfekt. Nur die schweren [10] schaffe ich noch nicht mit dem Kugelschreiber, nehme lieber Bleistift und Radiergummi, um eine falsche Zahl verbessern zu können.

Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich den Anschluss an meinen Freundeskreis verlor, die Chor- und Yogastunden aufgab und die Klassenarbeiten viel zu lange unkorrigiert auf immer größeren Stapeln liegenließ. In jeder freien Minute greife ich nach einem Sudoku, kaufe Zeitungen und Illustrierte nicht mehr nach dem Inhalt, sondern nur nach der Qualität der Rätselangebote. Auch mein Computer, den ich früher wenig nutzte, dient mir zum Herunterladen immer neuer Variationen.

Ich weiß selbst nicht, was ich eigentlich davon habe, wenn ich möglichst schnell und fehlerfrei mit dem Ausfüllen fertig werde. Ein Glücksgefühl stellt sich nie ein, eher das dringende Bedürfnis, sofort mit dem nächsten Sudoku zu beginnen. Ich habe ein schlechtes Gewissen bei meinem neuen Hobby, falls man es noch so nennen kann. Im Grunde schäme ich mich dafür, und ich mag keinem Menschen davon erzählen. Wen würde das auch interessieren? Als Deutschlehrerin fällt mir sofort die Zeile eines Gedichtes ein:

[11] Du wirst vergehn, und Deiner Füße Spur Wird bald kein Auge mehr im Sande finden.

Eines Tages bemerkte ich während einer zäh sich ziehenden Deutschstunde, dass ein Schüler ganz ungeniert Zahl um Zahl in ein Sudoku eintrug. Hinterrücks näherte ich mich seinem Platz und schnappte mir das Blatt. Während ich die Klasse mit einer schriftlichen Aufgabe beschäftigte, füllte ich es vollständig aus und gab es dem Jungen am Ende der Stunde kommentarlos zurück.

Ich habe Manuel zwar keinen Verweis erteilt, ihm aber bewiesen, dass ich schneller bin als er. In meinem Unterricht hat er es nie mehr gewagt, Zahlenreihen auszutüfteln, doch seitdem verbindet uns unsere geheime Leidenschaft. Schon länger war mir aufgefallen, wie geistesabwesend der pubertierende Junge ist. Meistens hängt er teilnahmslos in seinem Stuhl und zwirbelt mit der linken Hand eine Lockensträhne um den Zeigefinger.

Im Lehrerzimmer wird oft getratscht, meistens über Belangloses. Zum Beispiel lassen sich meine männlichen Kollegen immer wieder abfällig über die kleinen Lolitas aus, wie sie nabel- und nierenfreie T-Shirt-Trägerinnen nennen. Vielleicht wollen sie ja durch ihre gehässige Kritik die eigene [12] Lüsternheit vertuschen. Ich mache mir lieber im Stillen Gedanken.

Die Mode der Jugendlichen ist immer freizügiger geworden, nicht zuletzt, um die Erziehungsberechtigten zu provozieren. Tätowierungen, Piercings, Sticker, Brandings, herunterrutschende Hosen, zu enge, zu weite oder zu offenherzige Shirts, das reizt nicht nur die Mädchen, auch ein paar Jungen wollen auf ähnliche Weise auffallen. Andere Jugendliche laufen wie angehende Banker oder artige Klosterzöglinge herum. Am Ende wächst sich das alles aus. Die wadenlangen bestickten Inderkleider, die ich in meiner Schulzeit schön fand, gefielen leider auch meiner Mutter so gut, dass sie sich ebenfalls eins kaufte und sie mir damit gründlich verleidete. Vielleicht wäre das ja ein Tipp für geplagte Eltern, sich wie ihre Kinder tätowieren und löchern zu lassen, um es ihnen zu vergällen.

In meinen Augen ist Manuel anders als die laute Clique, mit der er in der Pause herumalbert. Wie fast alle trägt er Jeans und Turnschuhe, aber außer einem überlangen Schal und einer winzigen kreisrunden Brille nichts Modisches und auch keinen Körperschmuck.

Julian, sein bester Freund, verhält sich ähnlich. Wegen seiner Altstimme nennen ihn seine [13] Mitschüler »Tante«. Sein Organ ist im Stimmbruch, hört sich hoch und heiser an. Man könnte meinen, es sei eine ältere Frau, die da spricht. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass Julian bei seiner Großmutter aufwächst und sich ihr angepasst hat. Seine Oma ist eine ungewöhnliche Frau. Sie gehört zu den Altgrünen, engagiert sich bei attac und wurde auf dem letzten Elternabend einstimmig (wie so oft ohne Gegenkandidaten) zur Sprecherin gewählt. Gleichmütig nahm sie die Wahl an und strickte dabei unbeirrt an einer schwarz-roten Jacke, die sie Lumberjack nennt. Ich hörte heraus, dass sie regelmäßig mit Julian und Manuel die Hausaufgaben durchgeht und sie gelegentlich zur Rebellion anstiftet.

Wieso sich Manuel gerade mit Julian angefreundet hat, ist unschwer zu erraten. Es wird diese wunderliche Großmutter sein, die ihn fasziniert. Sie ist es auch, die für ihren Enkel und seinen Freund die noblen Schals gestrickt hat: nicht aus Wolle, sondern aus Seidengarn in sehr aparten Farben.

Manchmal möchte ich zu gern über Manuels dunklen Lockenschopf streichen, ob sich nicht vielleicht ein Ansatz von kleinen Hörnern finden lässt. Er erinnert mich an ein Bild im Schlafzimmer meiner Mutter: einen bocksbeinigen Pan, der sich im Schilf an die Nymphen heranmacht.

[14] Ich könnte durchaus seine Mutter sein. Aus irgendeinem Grund lebt die leibliche Mama in einer anderen Stadt. Manuels Vater hat mir das auf einem Elternsprechtag erzählt. Im Gegensatz zu seinem Sohn ist er eine Spur untersetzt und vielleicht etwas älter als die meisten Väter. An beiden Händen trägt er Ringe. Mit dem Charme seines Sprösslings kann er zwar nicht ganz mithalten, aber er ist äußerst liebenswürdig.

Klassenlehrer müssen sachlich bleiben. Über Manuels Verträumtheit im Unterricht sprach ich nicht mit seinem Vater. Es ging bei unserer Unterredung einzig um die schulischen Leistungen, die in manchen Fächern dürftig sind. Ob ich seinem Sohn Nachhilfeunterricht in Französisch geben könnte, fragte er. Ich lehne das bei Schülern, deren Klassenlehrerin ich bin, grundsätzlich ab, weil leicht eine allzu private Atmosphäre entstehen und man mir am Ende Begünstigung vorwerfen könnte. Außerdem geht es keinen etwas an, wie ich wohne. Manuels Vater leuchtete meine ablehnende Antwort nicht ganz ein, er konnte mir aber auch wenig entgegenhalten. Ich empfahl ihm eine Kollegin.

Birgit übernahm die zusätzliche Einpaukerei nicht ungern. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihr Manuel ans Herz legte. Es war ein warmer [15] Frühsommer, und Birgit war bereits appetitlich gebräunt und duftete nach Maiglöckchen. Sie trug ein helles neues Kleid, dessen provokante Korsage die Männer wohl unwillkürlich ans Aufnesteln denken ließ. Zum Glück saßen wir nur auf ihrem luftigen Balkon. Am nächsten Tag hatte sie das Miederkleid allerdings auch in der Schule an, wo die Kollegen Stielaugen machten.

Wir sind im gleichen Alter, doch ich bin geschieden, während Birgit mit Steffen Tucher verheiratet ist. Unsere Männer verstanden sich so gut, dass wir früher gemeinsame Urlaube in der Provence verbrachten, wo wir Lehrerinnen vor Gernot und Steffen mit flüssigem Französisch glänzten. Unter uns gesagt ist mein Wortschatz allerdings größer als der meiner Kollegin. Doch mit den gemeinsamen Unternehmungen war es nach meiner Scheidung leider vorbei, denn welche Alleinstehende mag schon gern mit einem Paar verreisen?

Fast bin ich ein wenig eifersüchtig, dass Birgit von nun an zweimal in der Woche meinen kleinen Faun in ihrem Arbeitszimmer sitzen hat.

»Na, läuft es jetzt besser?«, frage ich ihn eines Tages, als Manuel nach der Deutschstunde noch als Einziger im Klassenzimmer herumtrödelt.

[16] Er sieht mich verständnislos an.

»Ich meine, ob die Nachhilfe in Französisch etwas bringt?«, erkläre ich.

Manuel zuckt mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht«, meint er und kramt weiter in seinen Heften. »Sie haben das Sudoku sehr schnell gelöst«, sagt er schließlich, wird rot und grinst verlegen. »Anscheinend haben Sie Übung!«

Ich lege den Finger an die Lippen. »Das bleibt unser kleines Geheimnis«, sage ich und grinse verschwörerisch zurück.

Manuel rührt sich immer noch nicht von der Stelle.

»Die Pause ist bald vorbei«, sage ich und greife nach meiner Tasche. »Ein bisschen frische Luft schadet dir ganz bestimmt nicht. Oder gibt es noch etwas, was du loswerden willst?«

»Wenn Sie schon so direkt fragen«, sagt er und verstummt wieder.

Ich warte.

»Wie heißt der Mann von Frau Tucher mit Vornamen?«, fragt er.

»Er heißt Steffen«, sage ich, »warum willst du das wissen?«

»Nur so«, sagt er und geht.

[17] Als kleines Kind habe ich oft die Großeltern besucht oder wurde bei ihnen abgeladen. Beide waren zu alt, um meinen Bewegungsdrang nach langem Stillsitzen und ausgiebigem Vorlesen zu befriedigen. Spaziergänge zum Spielplatz waren ihnen zu weit, aber sie dachten sich etwas aus, um mich auch körperlich zu ermüden. Ihr großer chinesischer Teppich war das blaue Meer, die eingestreuten Ornamente und Blumenmedaillons ragten aus dem Wasser hervor. Stundenlang hopste ich von einer dieser Inseln zur anderen und fiel dabei gelegentlich mit einem spitzen Schrei ins Meer. Mein Opa rettete mich dann vor dem Ertrinken und trug mich aufs Festland, wo die Oma bereits mit Russischbrot und Kakao auf mich wartete. Von Sprudel bekäme man Läuse im Bauch, behauptete sie, wenn ich nach Cola verlangte.

Noch als ich mit Gernot zusammenlebte, ertappte ich mich manchmal bei dem Versuch, den ererbten blauen Teppich nur auf den bunten, inzwischen ziemlich abgewetzten Mustern zu betreten. Auch bei unseren Fünftklässlern bemerke ich gelegentlich, dass sie auf den Schulkorridoren die Fugen der schwarz-grünen Fliesen nicht berühren. Falls doch, drohen wohl schlechte Noten oder ähnliches Unglück. Als ich sogar Manuel bei diesem Spiel entdeckte, musste ich lächeln. Er fühlte sich völlig unbeobachtet, während seine Schritte mal kleiner, mal [18] größer ausfielen. Er ist noch ein Kind, dachte ich und fand ihn hinreißend.

Die meisten Pädagogen haben selbst eine Familie. Gernot und ich wünschten uns auch ein Baby, aber es wollte und wollte nicht klappen. Letzten Endes war dies wohl auch der Grund für unser allmähliches Auseinanderdriften. Der jahrelange Druck, Sex nach dem Kalender praktizieren zu müssen, hat uns zermürbt; schließlich resignierten wir und ließen es ganz bleiben. Meine Gynäkologin konnte keine Ursache finden, warum ich kinderlos blieb, und auch bei Gernot sah es nicht aussichtslos aus.

Birgit hat ebenfalls keine Kinder, aber bei ihr ist es angeblich gewollt. Gelegentlich redet sie von Adoption und davon, dass es heutzutage genug Kriegswaisen gebe. Entsprechende Schritte hat sie aber nie unternommen, und ich kann mir kaum denken, dass ihr Mann dafür zu begeistern wäre. Bei unseren zurückliegenden Urlauben wurde dieses Thema immer totgeschwiegen.

Birgit und ich engagieren uns für unsere Schüler leidenschaftlicher als die meisten Kollegen. Bei mir liegt es mit Sicherheit am unerfüllten Kinderwunsch, bei Birgit mag es ähnlich sein, nur gibt sie es nicht zu. Überhaupt weiß ich wenig über ihre Gefühle, weil wir meistens nur über Alltagsdinge [19] sprechen oder ein bisschen blödeln. Wenn ich niedergeschlagen bin, gehe ich ihr eher aus dem Weg.

»Macht Manuel Fortschritte?«, frage ich, als wir eine gemeinsame Freistunde im Lehrerzimmer verbringen.

Birgit nickt, schlürft erst einen Rest Kaffee und behauptet dann: »Aber klar doch, ich tu schließlich was für mein Geld! Er sagt jetzt immer ganz artig: ›J’ai compris, Madame!‹, wenn er etwas kapiert hat.«

»Redet er manchmal über private Probleme?«, frage ich sie weiter aus.

»Nicht viel. Aber du weißt ja sicher, dass seine Eltern getrennt sind. Keine Ahnung, ob Manuel darunter leidet. Der Vater soll jedenfalls völlig in Ordnung sein. Leider ist er zurzeit arbeitslos.«

»Er ist Chemiker, nicht wahr?«

Birgit nickt, während sie in ein dick mit Teewurst beschmiertes Laugenhörnchen beißt. Seit ich sie kenne, isst sie fettreich, treibt keinen Sport und bleibt trotzdem schlank. Dann greift sie nach einer Papierserviette, wischt sich den Mund ab und will plötzlich wissen: »Wie nannte man eigentlich früher einen metrosexuellen Mann?«

»Ganz altmodisch vielleicht Beau oder Geck«, sage ich. »Oder auch Stenz, Stutzer, Snob, Gentleman oder Dandy? Reicht dir die Auswahl?«

[20] »Anja, du bist unschlagbar!«, sagt sie. »Ich wette, so viele Synonyme stehen noch nicht mal im blauen Duden! Steffen hat mich gestern gefragt, was der Ausdruck heißt, und ich konnte es nur umständlich erklären: Der Lebensstil nicht schwuler Männer, die sich auf weibliche Art besonders fein machen und…«

»Das trifft es doch haargenau«, sage ich. »Um welchen Mann handelt es sich denn?«

[21] 2

Am Anfang lief die Stunde wider Erwarten ganz gut. Meistens interessieren sich unsere Schüler herzlich wenig für Barockdichtung, aber schließlich kann man den Lehrplan nicht völlig ignorieren. Das Gedicht Abend von Andreas Gryphius ist ein harter Brocken, und ich hatte mich auf eine gelangweilte und unaufmerksame Klasse eingestellt. Aber diesmal hatte ich zwei Tage zuvor die Arbeitsbogen für den Unterricht ausgeteilt, weil ich zu faul war, sie nach dem Kopieren in mein Fach zu bringen oder in meiner ohnehin vollgestopften Tasche mit nach Hause zu nehmen. Das war ein Fehler, aber wer konnte schon ahnen, dass genau dieser Text im Internet bestens interpretiert und für den Unterricht aufbereitet worden war.

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn

Fast alle meldeten sich zu Wort. »Nacht« sei gleichbedeutend mit Tod, das wollten sie unbedingt anbringen. Und so ging es weiter. Sie wussten, dass es [22] sich um ein Sonett handelte, sie sprachen vom Dreißigjährigen Krieg, als wären ihre Eltern dabei gewesen, warfen mit Begriffen wie »Vanitas« um sich und schilderten die Hoffnung leidgeprüfter Menschen auf ein besseres Leben im Jenseits. Ich konnte kaum so schnell fragen, wie die Antworten kamen. Vierzehnjährige Schüler, denen man sonst die Würmer aus der Nase ziehen musste, verblüfften mich mit profundem Wissen.

Nach dieser außergewöhnlichen Deutschstunde seufze ich mit Gryphius: »Wie ist die Zeit vertan!«

Aber Birgit sieht das ganz anders. Wir hocken wieder auf unseren unbequemen, orange lackierten Holzstühlen im Lehrerzimmer und trinken kalten Tee. Einmal mehr ist die Kaffeemaschine defekt. »Ist doch egal, wo sie es abkupfern«, meint sie, »immerhin haben sie sich Mühe gegeben. Und wahrscheinlich wissen sie jetzt eine ganze Menge über das barocke Feeling!«

Es ist ein altes Spiel zwischen Birgit und mir, dass wir an Ausdrucksweisen herummäkeln.

»Liebste Birgit, Anglizismen wie ›Feeling‹ würde ich meinen Schülern niemals durchgehen lassen. Und wann kapierst du endlich, dass ich diesen Stoff erarbeiten und mir nicht von zweiundzwanzig Papageien vorbeten lassen will?«

[23] »Liebste Anja, was redest du für Unsinn! Papageien können zwar nachplappern, aber bestimmt nicht beten!«

»Doch!« Ich richte meinen gespitzten Schnabel himmelwärts und falte meine Krallen, um einen betenden Papageien darzustellen, und wir kichern wieder einmal zu laut. Der strebsame Referendar in der hintersten Ecke bedenkt uns mit einem vorwurfsvollen Blick. Zum ersten Mal seit Monaten bin ich wieder etwas heiter gewesen, deswegen ist es mir egal.

Die meisten Kollegen hier im Raum sind nicht gut gelaunt, denn uns erwartet eine Konferenz, die müder machen wird als fünf Stunden Unterricht. Birgit und ich haben beide einen Stoß Grammatiktests vor uns liegen, die wir eigentlich jetzt korrigieren sollten.

»Ich geh noch mal auf den Balkon«, sagt Birgit. Seit es kein Raucherzimmer mehr gibt, stellen sich qualmende Lehrer gelegentlich auf einen kleinen Austritt, der von keiner Seite einsehbar ist. Ich folge ihr, weil man dort ungestört reden kann.

»Dein Manuel hat übrigens die längsten Wimpern, die ich bei einem Jungen je gesehen habe«, sagt Birgit und inhaliert ihre blaue Gauloise.

»Ja, er ist wirklich ein hübsches Kerlchen«, sage ich. »Die Ohren sind allerdings ein bisschen groß [24] geraten. Neuerdings scheint sich die magersüchtige Vanessa aus der Zehnten für ihn zu interessieren, leider ist sie einen Kopf größer als er.«

»Große Ohren sind ein Zeichen von Intelligenz. Samuel Beckett hatte ebenfalls gigantische Lauscher«, behauptet Birgit, die auch Englisch unterrichtet.

Wir schweigen eine Weile und schauen den Wolken nach. Ich sehe öfter auf die Uhr, denn vor der Konferenz muss ich unbedingt noch auf die Toilette.

»Heute hat sich ein Schüler aus der sechsten Klasse bei mir beschwert, weil der Gecko ihm das Handy abgenommen und ihn, als er protestierte, mit Kreide beworfen hat.«

»Das darf er doch gar nicht!«

»Natürlich nicht. Übrigens habe ich den Gecko gestern mit seiner Frau im Supermarkt getroffen«, plaudert Birgit. »What an odd couple! Du hättest die beiden sehen sollen!«

»Erzähl schon«, sage ich begierig, denn Birgit lästert leidenschaftlich gern und gut. Dafür verzeihe ich ihr auch die angeberischen Zitate.

»Monsieur Gecko sah so aus wie immer, zwar grottenhässlich, aber auf altmodische Art schick. Heller Anzug, Strohhut, Stöckchen mit Elfenbeingriff, wie Thomas Mann am Lido. Raffinement! [25] Madame Gecko hat zwar ein hübsch ordinäres Gesicht, ist jedoch fett wie eine Weihnachtsgans. Und trägt die spießigsten Klamotten, die du dir denken kannst!«

»Nämlich?«

»Trotz der Hitze hatte sie dunkelbraune, blickdichte Venenstrümpfe an, frisch aus dem Sanitätshaus, und dazu graue Sandaletten. Ihr Rock war viel zu kurz und plissiert, so dass der Michelin um die Hüften zur Geltung kam. Bluse im Siebenbürger Trachtenstil. Kannst du dir vorstellen, wie dieses Paar zueinandergefunden hat?«

»Wahrscheinlich hat Monsieur seine Madame als Trostpreis gewonnen. Außerdem kann nicht jeder so schön sein wie ihr«, sage ich. Birgit und Steffen sind tatsächlich ein attraktives Paar, nach dem man sich schon mal umdreht.

Dann verlasse ich meine klatschsüchtige Kollegin. Wie mag sie wohl über mich und meine fünf grauen Sweatshirts reden? Manchmal würde ich gern über ernstere Dinge mit ihr sprechen, denn meine beiden Schulfreundinnen leben in Berlin und München, haben kleine Kinder und demzufolge andere Probleme als ich. Hier am Ort ist Birgit die Einzige, mit der ich Kontakt habe. Nach meiner Scheidung hat sie allerdings niemals vorgeschlagen, mit mir gemeinsam etwas zu unternehmen, oder [26] versucht, mir über meine unfreiwillige Einsamkeit hinwegzuhelfen. Doch immerhin drängt sie mir auch keine unerwünschten Ratschläge auf oder will Einfluss auf meinen Lebensstil nehmen wie meine Mutter.

Nach der Konferenz ist es fast Abend, aber noch angenehm mild draußen. Ich habe keine rechte Lust auf meine stickige Wohnung. Mit dem Fahrrad fahre ich zum Bahnhofskiosk, um meinen Bestand an Sudokus aufzufüllen. Aus einer spontanen Laune heraus schiebe ich dann das Rad hügelwärts bis zum Marktplatz, wo die Leute unter den Robinien sitzen, Eis löffeln, Bier trinken, Pizza essen und sich lautstark unterhalten. Wegen ihres milden Klimas wird die Bergstraße manchmal Toskana Deutschlands genannt, denn die Saison auf dem Weinheimer Marktplatz beginnt bereits im März. Lange bin ich nicht mehr hier gewesen, doch nirgends erspähe ich einen freien Platz. Resigniert will ich schon aufgeben, als ich meinen Namen rufen höre.

»Anja, nein, so was! Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen!«

Seit meiner Scheidung bin ich Steffen tatsächlich kein einziges Mal mehr begegnet. Leicht verunsichert nähere ich mich seinem Tischchen, auf dem zwei leere Espressotassen stehen.

[27] »Komm, setz dich her, hier ist gerade ein Platz frei geworden«, sagt Birgits Mann und rückt mir einen Stuhl heran.

Ich zögere immer noch, denn ich will nicht gern an alte Zeiten erinnert werden. Aber schließlich sitze ich neben ihm, und er bestellt zweimal Weinschorle.

»Wolltest du dich hier mit Birgit treffen?«, frage ich, aber anscheinend ist das nicht der Fall.

Steffen sieht so gut aus wie eh und je. Seine Nase ist fast mädchenhaft klein, die Augen liegen weit auseinander, so dass er ein wenig wie ein großer Junge wirkt. Neu ist allerdings, dass er sich sein Haupthaar völlig abrasiert hat, was ihm meiner Meinung nach nicht besonders steht; doch bei näherem Hinsehen versöhnt mich die Sonnenbräune mit seiner Glatze.

»So kennst du mich noch gar nicht«, meint er und streicht sich über den Kahlkopf. »Was starrst du mich so skeptisch an? Im Winter lasse ich sie mir wieder wachsen. Nun erzähl doch endlich, wie es dir geht! Du siehst übrigens blendend aus.«

Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ich ernähre mich ungesund, esse einen Tag zu viel, einen anderen fast gar nichts, bewege mich kaum – wenn man vom Schulweg absieht – und bin viel zu selten an der frischen Luft. Vor allem schlafe ich zu [28] wenig, denn ich löse Sudokus, bis mir die Augen zufallen.

Eine Weile erzählt Steffen von seinen beruflichen Erfolgen. Er ist Anlageberater bei einer Bank und beschäftigt sich mit Dingen, von denen ich keine Ahnung habe. Irgendwann kommt er auf seine Frau zu sprechen. Er spitzt die Lippen, als er ihren Namen nennt, es klingt fast ein wenig türkisch, etwa wie Bürgüt. »Du siehst sie doch fast jeden Tag«, beginnt er, »und du kennst sie schon seit Jahren. Ist dir in letzter Zeit nichts aufgefallen?«

Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill.

Steffen sucht nach den richtigen Worten. Es ist ihm offenkundig peinlich, auf eine lang zurückliegende Affäre anzuspielen, die Birgit mit einem Sportlehrer gehabt hatte. »Damals hat sie sich ähnlich verhalten«, sagt er besorgt. »Abends geht sie oft weg, angeblich zu Elternabenden, eine kranke Kollegin besuchen oder zu einem Vortrag an der Volkshochschule. Sie ist unzuverlässig geworden, stets in Gedanken, gereizt und patzig. Manchmal ertappe ich sie mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen, das ganz bestimmt nicht mir gilt.«

Das alles überrascht mich nicht. Birgit ist bekannt dafür, dass sie nichts anbrennen lässt. Aber aus dem Kollegium kommt keiner in Frage, das hätte ich gemerkt, oder man hätte es mir gesteckt. Auf ihrer [29] letzten Klassenfahrt hatte sie unseren reizlosen Referendar mit, der sicherlich nicht in Frage kommt. Also beruhige ich Steffen erst einmal.

»Sorry, ich wollte dich nicht ausspionieren«, sagt Steffen. »Ich hatte nur für die Sommerferien einen Fortbildungskurs für psychologische Gesprächsführung gebucht, und Birgit hat es abgelehnt, mit nach Rostock zu kommen. Was hast du eigentlich vor, fährst du wieder nach Frankreich?«

Dumme Frage, denke ich. »Meine Mutter hat mich zu zwei Wellness-Wochen eingeladen. Seit dem Tod meines Vaters kommt sie auf merkwürdige Ideen.«

»Wie bitte, dein Vater ist gestorben? Das wusste ich ja gar nicht! War das nicht so ein kerngesunder Luis-Trenker-Typ, ein ewiger Bergsteiger?«

Ich nicke. »Abgestürzt«, seufze ich. Papa ist nach einem Schlaganfall zwar nur aus dem Bett gefallen, aber darüber mag ich jetzt nicht reden.

»Wie verkraftet es deine Mutter?«, fragt Steffen teilnahmsvoll.

»Ganz gut«, antworte ich. »Sie reist viel herum, ist Vorsitzende ihres Wanderklubs geworden und lernt Italienisch. Man kann fast sagen, sie blüht auf. Dabei war es eine vorbildliche Ehe!«

»Sagenhaft!«, meint Steffen, er hat nur aus Höflichkeit zugehört, in Gedanken ist er woanders.

[30] Wir beobachten beide einen Spatz, der sich auf den Nachbartisch traut, einen Weißbrotbrocken erwischt und schnell das Weite sucht. Der holt sich einfach, was er braucht, denke ich.

Irgendwann meint Steffen nun doch, auf unsere zurückliegende Freundschaft anspielen zu müssen. »Es ist so schade, dass wir uns ganz aus den Augen verloren haben«, findet er. »Hast du gelegentlich noch Kontakt mit Gernot?«

Ich schüttele nur den Kopf. Steffen gehen meine Privatangelegenheiten nichts an. Doch wenn er schon so neugierig nachforscht, dann kann ich es auch. »Siehst du ihn denn gelegentlich? Wohnt er überhaupt noch in unserem Häuschen?«

»Selbstverständlich, er hat es schließlich von seiner Tante geerbt! Erst am vergangenen Montag bin ich durch die Postgasse gefahren und habe seinen Wagen am Straßenrand stehen sehen. Aber ich war in Eile, sonst hätte ich mal vorbeigeschaut.«

Ich interpretiere seine Worte als leichte Zurechtweisung. Es ist nicht mehr unser Häuschen, sondern Gernots alleiniges Eigentum.

Als Steffens Handy klingelt, ist seine Mutter dran. Ich wühle unterdessen in meiner Tasche nach dem Fahrradschlüssel und schreie auf, weil ich mich an etwas Spitzem steche. Mit einer Papierserviette versuche ich, den blutenden Finger zu umwickeln.

[31] Steffen hört sofort auf zu telefonieren und holt ein Pflaster aus dem Verbandskasten seines Autos.

»Wie konnte denn das passieren?«, fragt er, nachdem er mich verarztet hat. »Der Schnitt ist ziemlich tief!«

Vorsichtig packe ich mit der linken Hand meine Tasche aus und lege – bis auf die Sudokus – meinen gesamten Plunder auf den kleinen Bistrotisch. Zuunterst finde ich das japanische Kochmesser von Julian, das ich heute konfisziert habe. Natürlich sollte ich seine strickende Großmutter benachrichtigen, wozu ich wenig Lust habe, denn ich fürchte diese militanten Pionierinnen der Friedensbewegung. Der gutmütige Julian hat bestimmt in aller Unschuld das Messer zum Obstschälen verwendet.

»Ein bodenloser Leichtsinn«, meint Steffen kopfschüttelnd. »Wie kann man nur ein so scharfes Messer einfach in die Tasche stecken!«

Ich nicke verlegen; es ist wieder einmal eine meiner typischen Fehlleistungen, die sich in letzter Zeit so häufen. Natürlich hätte das Messer im Sekretariat bleiben und schließlich einem Erziehungsberechtigten ausgehändigt werden müssen.

Als ich müde zu Hause ankomme, will ich eigentlich ein paar Vitamine zu mir nehmen, aber die Fruchtfliegen haben sich über meine Obstvorräte [32] hergemacht. Also schmiere ich mir ein Brot mit Nougatcreme und löse beim Essen ein Sudoku, das bald immer ekliger aussieht. Ich habe mich bereits ein paarmal vertan, radiere auf dem schmierigen Papier herum und schäme mich plötzlich. Sollte ich nicht besser die Obstschale auswaschen? Doch ich kann mich nicht aufraffen. Die Begegnung mit Steffen hat mich aufgewühlt und alte Erinnerungen geweckt.

Unser geliebtes Häuschen, zum Beispiel. Sicher, es gehörte niemals mir, sondern Gernot. Aber wie viel Arbeit und auch Geld hatte ich hineingesteckt! Das leicht heruntergekommene Bauernhaus war durch meine Initiative zu einem kleinen Schmuckstück geworden, vor allem der Garten war wunderschön. Ich hatte den Hof von mehreren Beton- und Schuttschichten befreien und mit Muttererde auffüllen lassen. Dabei hatte ich auch einen alten Brunnen entdeckt und wieder instand setzen lassen. Schließlich hatte ich niedrige Buchshecken gepflanzt und den ehemaligen Hof in einen kleinen Klostergarten verwandelt, der mit schmalen Kieswegen und Rosenrondellen zu meinem Refugium wurde.

Bestimmt pflegt jetzt niemand mehr den Garten; zwischen den Rosen werden sich Brennnesseln breitmachen, Windenknöterich wird über die Wege wuchern, Hahnenfuß das Immergrün ersticken. Mir [33]

[34] 3

Schon oft habe ich mir den Kopf zerbrochen, ob Birgit und Steffen wissen, warum ich mich so plötzlich von meinem Mann getrennt habe. Immerhin sehe ich Birgit fast jeden Tag, aber sie hat mich nie ausgefragt. Sie gab sich zufrieden mit meiner Aussage, dass wir uns auseinandergelebt hätten.

»Kann passieren«, meinte sie. »Fast alle meine Freundinnen haben sich nach einigen Jahren von ihren Partnern getrennt. Es ist eben nicht mehr so wie bei unseren Eltern.«

Wer wohl die Schlampe war, mit der ich Gernot erwischt habe? Ich weiß nicht, ob sie immer noch seine Freundin ist, ob sie damals zum ersten Mal auf unserem Sofa lag oder ob sie inzwischen in unser Häuschen eingezogen ist. Eigentlich will ich es auch gar nicht wissen.

Zweimal war ich noch dort, zu Tageszeiten, wo ich sicher sein konnte, dass Gernot nicht auftauchte. Es sind nicht viele Gegenstände, die ich mitgenommen habe, darunter kein einziges Möbelstück. Alles, was wir uns gemeinsam angeschafft haben, [35] ließ ich stehen, auch das Auto. Nur ganz persönliche Sachen, meine Kleider, ein paar Bücher, das Besteck meiner Großmutter und mein Sparbuch habe ich geholt. Sogar meine Akten stehen noch im Regal, weil ich hier überhaupt keinen Platz dafür habe.

Manchmal denke ich, dass unsere Unfruchtbarkeit auch etwas Gutes hatte. Wie sehr hätte ein Kind unter unserer Trennung gelitten! Doch wäre es vielleicht nie zu einer so hässlichen Szene gekommen, wenn Gernot während meiner Chorproben auf ein Baby hätte aufpassen müssen.

Meine Mutter zeigte wenig Mitgefühl. Sie billigte die Scheidung überhaupt nicht. Ich deutete an, dass Gernot mich betrogen hat. »Na und?«, sagte sie. »Du bist nicht die Einzige, der das passiert.«

Sie ist wahrscheinlich so sauer, weil sie die Hoffnung auf ein Enkelkind erst einmal begraben muss. Die einzige Chance, so denkt sie wohl, ist ein neuer Partner, und zwar schnell! Mit ihrer Einladung, zwei gemeinsame Wochen in einem österreichischen Wellnesshotel zu verbringen, will sie mich auf Trab und dann an den Mann bringen.

»Kind, warum nimmst du denn nicht ein bisschen Make-up? Ich sehe ja ein, dass man sich als Lehrerin nicht aufdonnern will, aber man braucht doch nicht gar so blass und grau herumzulaufen.«

[36] Solche Worte verletzen mich. Mein Wert wird nur nach der Tauglichkeit auf dem Heiratsmarkt bemessen. Aber natürlich ist auch etwas Wahres an ihrer Kritik. Auf unserem Gymnasium ziehen sich fast alle Kolleginnen modisch an, ändern gelegentlich die Frisur oder färben sich die Haare, greifen in der Pause auch ohne Zögern nach ihrem Schminktäschchen. Mich kann man von hinten kaum von einem dreizehnjährigen Jungen in Cargohosen und grauer Kapuzenjacke unterscheiden. Mama meint es im Grunde ja gut mit mir, aber davon wird es auch nicht besser.

Als sie neulich wieder mal eine taktlose Andeutung machte, fuhr ich sie an: »Und warum habt ihr selber nicht ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt? Wenn ich noch Geschwister hätte, dann könntest du dich längst über ein Enkelkind freuen!«

Das war ein bisschen ungerecht von mir, denn meine Mutter hatte mehrere Fehlgeburten.

Während ich gerade traurig ein Sudoku ausfülle, klingelt das Telefon. Eine belegte Stimme meldet sich: »Hier ist Julian Heller. Ich wollte…« Julian macht sich Sorgen um sein edles Küchenmesser. Nach einigem Gestotter bittet er mich darum, seiner Großmutter nichts zu verraten.

»Julian, du weißt genau, dass das Mitbringen von Waffen in unserer Schule streng verboten ist. Auch [37] Messer gehören nun mal in diese Kategorie. Deines ist außerdem so scharf, dass ich mich daran geschnitten habe.«

Ich meine, ein unterdrücktes Glucksen zu hören. »Bitte, Frau Reinold, seien Sie doch nicht so streng! Sie kennen mich doch, ich wollte bestimmt keinen Kumpel abstechen!«

»Eigentlich müsste ich die Sache dem Direktor melden. Und wenn es sich einmal herumspricht, dass ich Gnade vor Recht ergehen lasse, dann…«

Ich weiß nicht mehr weiter, Julian fleht mich unermüdlich mit seiner Altweiberstimme an.

Schließlich sage ich zermürbt: »Na gut, du kannst morgen zu mir nach Hause kommen und dein Messer abholen. Aber wenn ich dich jemals wieder erwischen sollte…«

Das war ein Fehler, sage ich mir, kaum dass das Gespräch zu Ende ist.