Kultursensibilität am Lebensende -  - E-Book

Kultursensibilität am Lebensende E-Book

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Beschreibung

Die soziokulturelle Diversität in Deutschland ist so groß wie nie zuvor. Um allen Menschen eine gute Versorgung am Lebensende zu ermöglichen, ist daher Kultursensibilität in Palliative Care und Hospizarbeit von großer Bedeutung. Der Frage, was Kultursensibilität genau bedeutet und wie eine kultursensible Begleitung aussehen kann, haben sich zahlreiche Experten in diesem Buch gewidmet. Dabei bildet ein weites Kulturverständnis die Grundlage. Kulturen werden als Lebenswelten verstanden. Darum werden nicht nur Migrantinnen und Migranten in den Blick genommen, sondern auch andere uns "fremd" erscheinende Kulturen wie beispielsweise geistig behinderte Menschen, Strafgefangene oder Wohnungslose.

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Die Herausgeber

Maria Wasner ist Kommunikationswissenschaftlerin und Psychoonkologin. Seit 2008 ist sie Inhaberin der Professur für Soziale Arbeit in Palliative Care an der Katholischen Stiftungshochschule München (KSH) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kinderpalliativzentrum der LMU München. Sie ist Mitglied der Taskforce Social Work der European Association for Palliative Care (EAPC) und war von 2012 bis 2018 Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP).

Prof. Dr. rer. biol. hum. Maria WasnerProfessorin für Soziale Arbeit in Palliative CareKatholische Stiftungshochschule München und Kinderpalliativzentrum amDr. v. Haunerschen Kinderspital, LMU MünchenE-Mail: [email protected]

Josef Raischl ist Diplom-Sozialpädagoge und Diplom-Theologe. Er arbeitet seit 1992 beim Christophorus Hospiz Verein e. V. (CHV) in München, dessen ambulantes Hospiz und Palliative Care-Team er aufbaute und viele Jahre leitete. Darüber hinaus leitet er das Christophorus Hospiz Institut für Bildung und Begegnung und ist seit dem Jahr 2012 fachliche Gesamtleitung des Christophorus-Hauses München, einschließlich eines SAPV-Teams und eines stationären Hospizes. Seit 2006 ist er zudem stellvertretender Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Landesvertretung Bayern, und im Lenkungskreis des Münchner Hospiz- und Palliativnetzwerkes (www.mhpn.de) aktiv.

Dipl. Theol. Dipl. Sozialpäd. Josef RaischlFachliche Leitung Christophorus-Haus München, Christophorus Hospiz Vereine. V. MünchenE-Mail: [email protected]

Maria Wasner Josef Raischl (Hrsg.)

Kultursensibilität am Lebensende

Identität – Kommunikation – Begleitung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034639-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-034640-6

epub:     ISBN 978-3-17-034641-3

mobi:     ISBN 978-3-17-034642-0

 

Autorenverzeichnis

 

 

 

Abdallah-Steinkopff, Barbara

Dipl.-Psychologin, Psychotherapeutin, PPT

Refugio München

transfer – Fortbildungs- und Forschungsakademie, München

[email protected]

Al Halabi, Muhammad Zouhair Safar, Dr. med. (Syr)

Arzt für Innere Medizin, Strahlentherapie und Palliativmedizin, Düren

Zentralrat der Muslime in Deutschland, Beauftragter für medizinische Ethik, Tierschutz und Umwelt

[email protected]

Allgaier, Thomas

Dipl.-Theologe

Einrichtungsleiter Haus an der Waakirchner Straße

Katholischer Männerfürsorgeverein München e. V. (KMFV), München

[email protected]

Bergmann, Lia

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Geschäftsstelle Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V., Berlin

[email protected]

Brinkmann, David, M. A.

Ethnologe

Ethnomedizinisches Zentrum e. V., Hannover

[email protected]

Bükki, Johannes, PD Dr. med.

Leitender Arzt

SAPV Hospizdienst DaSein e. V., München

[email protected]

El-Bakri, Riad

Heilpraktiker, Astrologe, Mediator in Gesundheitsthemen

München

[email protected]

Fuchs, Christoph, Dr. phil.

Leitender Arzt

Akutgeriatrie Spital Zofingen ag, Zofingen

[email protected]

Gavranidou, Maria, Dr. phil.

Dipl.-Psychologin

PPT, Zentrum für Psychische Gesundheit, München

[email protected]

Goldmann, Jürgen

Dipl.-Sozialpädagoge

Bonn Lighthouse – Verein für Hospizarbeit e. V., Bonn

[email protected]

Hein, Kerstin. Dr. phil.

Licenciado en Psicologia (Univ. Diego Portales), Forschungskoordination

Kinderpalliativzentrum am Dr. v. Haunerschen Kinderspital, LMU München, München

[email protected]

Hirsmüller, Susanne, Dr. med.

M.Sc. Palliative Care, M. A., Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe und Psychoonkologin

Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf, Düsseldorf

[email protected]

Hummel, Kerstin, B. A.

Sozialpädagogin

Ambulanter Hospizdienst, Palliativ-Geriatrischer Dienst, Christophorus Hospiz Verein e. V., München

[email protected]

Jox, Ralf J., Prof. Dr. med. Dr. phil.

Palliativmediziner und Medizinethiker

Geriatrische Palliative Care und Institut für Medical Humanities, Centre

Hospitalier Universitaire Vaudois und Universität Lausanne, Lausanne, Schweiz

[email protected]

Kilian, Anna

Fachdienst erweiterte Bedarfe und Organisationsentwicklung, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Palliativfachkraft

Helfende Hände gemeinnützige GmbH zur Förderung und Betreuung mehrfachbehinderter Kinder und Erwachsener, München

[email protected]

Kóródi, Katalin

Interkulturelle Trainerin, systemische Beraterin (SG), München

[email protected]

Kromm-Kostjuk, Elena

Dipl.-Psychologin

Ethnomedizinisches Zentrum e. V., Hannover

[email protected]

Krupp, Silvia

Gerontologin (FH)

Lebensgestaltung Demenz, München

[email protected]

Kühlmeyer, Katja, Dr. rer. biol. hum.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, LMU München, München

[email protected]

Milbradt, Robert

Dipl.-Sozialpädagoge

Systemischer Berater

Ambulantes Hospiz- und Palliative Care-Team, Christophorus Hospiz Verein e. V., München

[email protected]

Peuten, Sarah, M. A.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG), Universität Augsburg, Augsburg

[email protected]

Rabben-Storch, Annette

Dipl.-Sozialpädagogin

Fachstelle für häusliche Versorgung

Landeshauptstadt München

[email protected]

Randak, Gabriele

Supervision und Coaching, München

www.gabriele-randak.de

Reichelt, Sandra

Dipl.-Sozialpädagogin

Master of Science in Social Work

Kinderpalliativzentrum am Dr. v. Haunerschen Kinderspital, LMU München, München

[email protected]

Reindl, Birgit

Dipl.-Sozialpädagogin

Systemische Therapeutin (SG), Fachbereichsleitung Soziale Arbeit und ehrenamtliche Begleitung

Ambulantes Hospiz- und Palliative Care-Team, Christophorus Hospiz Verein e. V., München

[email protected]

Salman, Ramazan

Dipl.-Sozialwissenschaftler

Medizinsoziologe

Ethnomedizinisches Zentrum e. V., Hannover

[email protected]

Schellhammer, Barbara, PD Dr. phil.

Dozentin für Interkulturelle Bildung

Hochschule für Philosophie München, München

[email protected]

Schneider, Werner, Prof. Dr. phil.

Professur für Soziologie

Universität Augsburg, Augsburg

[email protected]

Schröer, Margit

Dipl.-Psychologin

Medizinethikteam Düsseldorf, Düsseldorf

[email protected]

Theißing, Katarina

Altenpflegerin, MAS Palliative Care

Stationäres Christophorus Hospiz und Christophorus Hospiz Verein e. V., München

Institut für Bildung und Begegnung

[email protected]

Trautwein, Eva-Maria

Pädagogisch-psychologischer Dienst, Leitung Fachdienst Erwachsene, Palliativfachkraft

Helfende Hände gemeinnützige GmbH zur Förderung und Betreuung mehrfachbehinderter Kinder und Erwachsener, München

[email protected]

Wagner, Leonhard

Dipl.-Sozialwirt (univ.)

Geschäftsführer des Christophorus Hospiz Verein e. V. und der Christophorus Hospiz Verwaltungs GmbH, München

www.chv.org

Zenker, Dinah

Pflegedienstleitung

Saul Eisenberg Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, München

[email protected]

 

Inhalt

 

 

 

Autorenverzeichnis

Vorwort

Geleitwort

I Kultur – Begriffsklärung und Abgrenzung

1 Was ist Kultur?

Kerstin Hein

1.1 Historische Entwicklung des Kulturbegriffs

1.1.1 Klassische Grundbedeutung: Natur versus Kultur

1.1.2 Zivilisation als normatives Kulturkonzept

1.1.3 Kultur als Lebensweise eines Volks

1.1.4 Kultur und Klasse

1.2 Die Interpretation von Kultur

1.2.1 Kultur als Lebenswelt

1.2.2 Kultur als Struktur

1.3 Kulturelle Begegnungen und die Kritik an essentialistischen Kulturkonzepten

1.4 Was ist nun Kultur?

1.5 Kultur und Begleitungen am Lebensende

2 Die Begegnung mit Fremdem als Grenzerfahrung: Zur Bedeutung der Selbstsorge für die kultursensible Kommunikation

Barbara Schellhammer

2.1 Verschiedene Umgangsformen mit Fremdheit und die Umwendung zu sich selbst

2.2 Zur Bedeutung der Selbstkultivierung für die Begegnung mit Fremdem

2.3 Kultursensible Kommunikation zwischen Selbstvergewisserung und Fremdheit: Selbstsorge heißt Sterben lernen

2.4 Fazit

3 Kultur und andere Perspektiven: Eine Handreichung für die Beratungspraxis

Katalin Kóródi

3.1 Kulturelle Kontexte

3.2 Ein multiperspektivisches Analysemodell

3.2.1 Die individuelle Dimension

3.2.2 Die gesellschaftlichen und sozialen Kontexte

3.2.3 Zwischenfazit

3.3 Selbstreflexion der eigenen Kontexte

3.3.1 Kultureller Kontext

3.3.2 Soziale Kontexte

3.3.3 Der gesellschaftliche Kontext

3.4 Fazit

II Kultur und Identität

4 »Wäre ich in der Heimat geblieben, würde ich schon nicht mehr leben« – Bedürfnisse von Migrantinnen am Lebensende

Johannes Bükki

4.1 Bestehen Barrieren gegenüber einer palliativen Versorgung? 68

4.2 Wie stellen sich die Patientinnen die Versorgung am Lebensende vor?

4.3 Welche persönlichen Wünsche und Sorgen äußern Patientinnen?

4.4 Welche Themen werden eher von Menschen mit Migrationshintergrund genannt?

4.5 Was ist zu tun?

4.6 Zusammenfassung

5 Besondere Situation von Flüchtlingen

Dr. Maria Gavranidou

5.1 Migrantinnen und Migranten mit Fluchthintergrund

5.2 Fluchterfahrungen

5.3 Migrationserfahrungen

5.4 Traumatisierungen

5.5 Implikationen für die Begleitung von Flüchtlingen am Lebensende

6 Eingedenk der unverlierbaren Würde: Menschen mit besonderen sozialen Herausforderungen

Annette Rabben-Storch, Birgit Reindl und Robert Milbradt

6.1 Der Zusammenhang von Lebenslage und Gesundheit

6.2 Leben mit besonderen sozialen Herausforderungen

6.3 Krankheit und Sterben von Menschen mit besonderen sozialen Herausforderungen

6.4 Herausforderungen und Ansätze in der Praxis

6.4.1 Existenzielle Versorgung sichern

6.4.2 Vernetzung von Hilfen und Angeboten

6.4.3 Individualität wahrnehmen

6.4.4 Selbstbestimmung und Autonomie achten

6.4.5 Die Bedeutung von mitmenschlichem Beistand und Zuwendung

6.5 Fazit

7 Menschen mit Demenz

Silvia Krupp und Kerstin Hummel

7.1 Grundlagen zur Demenz

7.2 Vom Fremdsein und Anderssein

7.2.1 Der Tod »kommt und geht auch wieder« – Perspektive von Menschen mit Demenz

7.2.2 »Das ist nicht mehr mein Werner« – Perspektive der An- und Zugehörigen

7.2.3 Fremd in der Heimat, fremd in der Fremde – Migranten mit Demenz

7.2.4 Was ist bei Demenzen anders? – Herausforderungen für das Versorgungssystem

7.3 Menschen mit Demenz begleiten

7.4 Was ist in der Begegnung und Begleitung von Menschen mit Demenz unterstützend?

8 Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen bis zum Ende des Lebens begleiten

Anna Kilian und Eva-Maria Trautwein

8.1 Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft

8.2 Auch Menschen mit Behinderungen werden älter

8.3 Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen

8.4 Gesundheitliche Krisen und fortschreitendes Alter

8.5 Sterbebegleitung im Wohnheim – Neue Wege

8.6 Der palliative Weg

8.7 Abschied nehmen und Trauern

8.8 Der systemische Ansatz als Voraussetzung und Chance für ein gelingendes Miteinander

8.9 Aufbau einer Palliativ- und Hospizkultur als Aufgabe der gesamten Institution

9 Palliative Care für Wohnungslose

Thomas Allgaier

9.1 »Gestorben wird immer und überall« – In der Mitte und am Rande der Gesellschaft

9.2 Wohnungslosigkeit

9.2.1 Wohnungslosigkeit – Eine formalbegriffliche Annäherung

9.2.2 Wohnungslosigkeit – Eine inhaltliche Weitung

9.2.3 Lebenslage alt und wohnungslos

9.3 Gute Praxis von Wohnungslosenhilfe und Hospizversorgung

9.4 Erfahrungswerte aus der Praxis

9.4.1 Ältere wohnungslose Menschen – Es wird Bilanz gezogen

9.4.2 Angehörigenarbeit in der Wohnungslosenhilfe – Können Sie mir zu meinem Verwandten etwas sagen?

9.4.3 Qualifikation der Mitarbeitenden – Was braucht es für eine gute Begleitung sterbender Menschen?

9.5 Personenzentrierte Haltung und Kommunikation

9.5.1 Aktives Hören

9.5.2 Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit

9.5.3 Sterben, Tod und Trauer einen Raum und ein Zuhause geben

9.6 Was in der Sterbebegleitung wohnungsloser Menschen den Weg weist

9.7 Entwicklungen

10 Palliativversorgung im Strafvollzug

Lia Bergmann

10.1 Alte Menschen im Justizvollzug: Steigender Bedarf an Versorgungsangeboten

10.2 Rahmenbedingungen für die medizinische Versorgung im Strafvollzug

10.3 Externe Versorgung am Lebensende

10.4 Versorgung am Lebensende im Vollzug

10.4.1 Einschränkung in der Zugänglichkeit

10.4.2 Versorgendes Personal und soziale Bindungen

10.4.3 Mangel an Gestaltungs- und Beschäftigungs- möglichkeiten

10.5 Schlussbemerkung

11 Knockin’ on Heaven’s Door – Begleitung von schwer und langzeitsuchtmittelabhängigen Menschen

Jürgen Goldmann

11.1 Betreutes Wohnen von Bonn Lighthouse – Verein für Hospizarbeit e. V.

11.2 Mögliche Aspekte in der Begleitung und Versorgung von opiatabhängigen Menschen

11.3 Lebensqualität Rausch

11.4 Alternative Substitution?

11.5 Haltung, Kompetenzen und Instrumente des Begleitungsteams

11.6 Perspektiven

12 Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität – LSBT*I (k)ein Thema?

Susanne Hirsmüller und Margit Schröer

12.1 Begriffsklärung

12.2 Grundlegendes

12.2.1 Heteronormativität und Homonegativität

12.2.2 Auswirkungen der Biographie auf die Versorgung am Lebensende

12.3 Wissenschaftliche Fundierung

12.4 Fazit und praxisrelevante Informationen

III Herausforderungen in der kultursensiblen Begleitung

13 Kultursensible Palliative Care und Hospizarbeit: Zur Frage nach der Zugangsgerechtigkeit

Sarah Peuten und Werner Schneider

13.1 Sterben als Gestaltungsproblem

13.2 Würde und Selbstbestimmung als Frage nach dem Selbst (im Leben und) im Sterben

13.3 Zugangsrelevante Rhetoriken als diskursive Inklusions-/ Exklusionspraktiken

13.4 Gefährdete Zugangsgerechtigkeit durch Selbstbestimmung?

13.5 Fazit

14 »Ich weiß, dass ich nicht weiß« – Transkulturelle Kompetenz in der Palliativpflege

Katarina Theißing

14.1 Die Begegnung mit dem Fremden – Herausforderung in der Pflege

14.2 Interkulturelle Pflege nach Leininger

14.3 Transkulturelle Kompetenz nach Domenig

14.4 Transkulturelle Kompetenz – Ein Prozess

14.5 Fallbeispiel – Frau R. aus Eritrea kommt ins Hospiz

14.6 Sind radikale Betroffenen-Orientierung und transkulturelle Kompetenz das Gleiche?

14.7 Frau R. aus Eritrea – Und was wir daraus lernen können

14.8 Fazit

15 Umgang mit Flüssigkeit und Ernährung am Lebensende

Christoph Fuchs

15.1 Die spezielle Situation der Betagten

15.2 Akut oder chronisch neurologisch erkrankte Menschen und die Aspekte von Ernährung und Flüssigkeitsgabe

15.3 Onkologische Patientinnen und das Thema Ernährung und Flüssigkeitsgabe

15.4 Allgemeine Aspekte der »end of life care« und Flüssigkeits-/Ernährungstherapie

15.5 Kulturspezifische, spirituell und religiös verankerte »Widerstände« zum Thema Flüssigkeitsgabe und Ernährung am Lebensende

15.6 Fazit

16 Behandlungsentscheidungen aus muslimischer Perspektive

Muhammad Zouhair Safar Al Halabi

16.1 Aufklärung über Erkrankung, Behandlung und/oder Prognose

16.2 Behandlungsentscheidungen und Palliative Care

16.3 Verantwortung für Leben und Gesundheit

16.4 Stellung von Leben und Tod sowie von Gesundheit und Krankheit

16.5 Umgang mit Medikamenten

16.6 Unterstützung durch das Pflegeteam und Behandlung auf der Palliativstation oder im Hospiz

16.7 Ernährung

16.8 Muslimische Seelsorge und Sterbebegleitung?

16.9 Bedeutung des Krankenbesuchs?

16.10 Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht

16.11 Organspende

16.12 Kommunikation über Tod und Trauer?

16.13 Der Tod aus islamischer Sicht

16.14 Muslimische Rituale beim Tod

16.15 Trauer der Familie

16.16 Abschließende Worte

17 Behandlungsentscheidungen aus jüdischer Perspektive

Dinah Zenker

17.1 Jüdische Grundlagen von Behandlungsentscheidungen

17.1.1 Heiligkeit des Lebens

17.1.2 Der Wert des Lebens

17.1.3 Der menschliche Körper als Eigentum G’ttes

17.1.4 Lebenserhaltung bei Lebensgefahr

17.2 Fallbeispiele

17.3 Fazit

18 Sterbeentscheidungen aus interkultureller Sicht

Ralf J. Jox

18.1 Kultur und Ethik

18.2 Empirische Erkenntnisse

18.3 Umgang mit interkulturellen Moraldifferenzen

18.3.1 Differenzen innerhalb eines Behandlungsteams

18.3.2 Differenzen zwischen Behandlungsteam und Patientin

18.4 Differenzen innerhalb der Familie

18.5 Fazit

19 Besonderheiten der kultursensiblen pädiatrischen Palliativversorgung

Sandra Reichelt und Katja Kühlmeyer

19.1 Pädiatrische Palliativversorgung (PPV)

19.2 Besonderheiten in der pädiatrischen Palliativversorgung (PPV) von Menschen mit Verständigungsschwierigkeiten

19.3 Ansätze interkultureller Öffnung von Einrichtungen des Gesundheitswesens

19.4 Besonderheiten in der pädiatrischen Palliativversorgung von kulturell vielfältigen Familien

19.4.1 Vorstellungen vom Angebot der Kinderpalliativ- versorgung

19.4.2 Familienkonstellationen

19.4.3 Die Bedeutung von Schmerz und Leiden

19.4.4 Ursache und Sinn von Krankheit, Sterben und Tod

19.4.5 Religion, Glaube und Spiritualität und der Einbezug von Fachkräften in spirituellen Belangen

19.4.6 Behandlungsentscheidungen

19.4.7 Kommunikationen über Tod und Sterben

19.5 Kulturelle Sensibilität und kulturelle Kompetenz in der Kinderpalliativversorgung

19.6 Fazit

20 Teamkultur

Gabriele Randak

20.1 Team – »Toll, ein anderer macht’s!«?

20.1.1 Team-Definition

20.1.2 Wesentliche Voraussetzungen für gut funktionierende Teams

20.2 Besondere Teamvoraussetzungen bei der Begleitung am Lebensende

20.2.1 Ganzheit am Arbeitsplatz

20.2.2 Sicherheit im Team: Der geschützte Raum

20.2.3 Klima des Vertrauens

20.2.4 Reflexions- und Konfliktfähigkeit

20.2.5 Spiritualität: Gibt es ein Leben nach dem Tod?

20.3 Fazit

21 Kultursensibilität als Führungsaufgabe in Hospiz und Palliative Care

Leonhard Wagner und Josef Raischl

21.1 Führungsstrukturen in Palliative Care

21.2 Kultur und Sensibilität

21.3 Mögliche konkrete Maßnahmen der Führungsebene

21.3.1 Bestandsaufnahme

21.3.2 Ziele setzen und Umsetzung planen

21.3.3 Strukturen schaffen

21.3.4 Personalentwicklung

21.3.5 Öffentlichkeitsarbeit

21.3.6 Kooperationen eingehen

IV Hilfreiche Ansätze und Angebote

22 Kultursensible Kommunikation und Begleitung am Lebensende: Das Interkulturelle Pendeln

Barbara Abdallah-Steinkopff

22.1 Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun

22.2 Kultur- und migrationsspezifisches Wissen in der Versorgung von geflüchteten Menschen

22.2.1 Selbstdefinitionen im Vergleich

22.2.2 Gesellschaftspolitische Faktoren

22.3 Kultursensible Haltung in der Versorgung von geflüchteten Menschen

22.4 Die Methode des Interkulturellen Pendelns

22.5 Direktivität versus Nondirektivität

22.6 Praktische Umsetzung des »Nichtwissens« in der Beratung

23 Transkulturelle Anamnese

Maria Wasner

23.1 Von der Interkulturellen zur Transkulturellen Kompetenz

23.2 Was versteht man konkret unter transkultureller Kompetenz?

23.3 Transkulturelle Anamnese

23.4 Grenzen der Umsetzung

23.5 Fazit

24 »Der Erste-Klasse-Wagon im fahrenden Zug« – Erfahrungsbericht eines Dolmetschers

Riad El-Bakri

24.1 Palliative Begleitung

24.2 Dolmetschen

24.3 Grundbegriffe

24.3.1 Was ist Kultur?

24.3.2 Was ist Religion?

24.4 Erfahrungsbericht

25 Mit Migranten für Migranten (MiMi) – Wissensvermittlung zur Hospiz- und Palliativversorgung durch interkulturelle Mediation

David Brinkmann, Elena Kromm-Kostjuk und Ramazan Salman

25.1 Bayerische Informationskampagne mit Migranten für Migranten

25.1.1 Capacity Building für Menschen mit Migrations- hintergrund

25.1.2 Verbesserung der Health Literacy

25.1.3 Wegweiserbroschüre für Migrantinnen in Bayern

25.2 Fazit und Ausblick

V Fazit und Ausblick

Maria Wasner und Josef Raischl

Literatur

Sachwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Die Wanderbewegung von Millionen von Menschen weltweit hat mit großer Wucht nun auch Zentraleuropa erreicht. Bürgerkriege, bewaffnete Auseinandersetzungen und Konflikte, Verfolgung und Vertreibung von Minderheiten und Andersgläubigen, soziale, kulturelle und politische Spannungen sowie nicht zuletzt wirtschaftliche Not und Verelendung führen dazu, dass Menschen etwas vom Grundlegendsten, was sie besitzen, aufgeben: ihre Heimat. Diese Bewegung hat in der Auseinandersetzung der Länder Europas die Frage nach der eigenen und fremden Kultur neu belebt und auch zugespitzt. Die Angst vor dem Fremden und den Fremden, die gar eigenen Besitz, Gewohntes und Geliebtes in Frage stellen, hat einen seit Kriegszeiten ungeahnten Höhepunkt erreicht. Angst bringt Abwehr hervor. Abwehr kann zu Abschottung, zu Mauern und Zäunen, zu Ausgrenzung und Absonderung führen.

Zuwanderer und Zuwanderinnen aus vielen Kulturkreisen sind auch Klientinnen, Patientinnen oder Mitarbeitende in Beratungsstellen, Krankenhäusern, Altenpflege- und sozialen Einrichtungen. Unterschiedliche Religionen, Sprachen und Kulturen treffen aufeinander. Ganz neue Dimensionen erreicht diese Begegnung mit dem Fremden insbesondere in der Pflege, die einen ihrer vielen kritischen Höhepunkte in der Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg erlebt. In München haben wir Pflegeheime, die nur noch mithilfe von ausländischen Fach- und Hilfskräften getragen werden können. Zum Teil haben wir einen Anteil von 75 % an ausländischen Pflegekräften im Jahr 2018. Und auf der anderen Seite wird in der Gesundheits- und Pflegeszene heftig über die zunehmende Technisierung, Tele-Medizin, Roboter in der Pflege usw. diskutiert. Die Zahl der Hochbetagten und Pflegebedürftigen nimmt in den nächsten Jahren weiter drastisch zu.

Diese »Bedrohung« durch das Fremde gilt aber nicht nur für die »Fremden«, sondern auch für die vielen fremden Kulturen und Subkulturen in unserem eigenen Land, in unserer Gesellschaft. Man denke dabei an Personen aus anderen sozialen Schichten oder Menschen mit besonderen (sozialen) Bedürfnissen, beispielsweise wohnungslose oder suchtmittelabhängige Menschen.

Das sind gesellschaftliche und gesundheitspolitische Entwicklungen, die natürlich auch die Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden unmittelbar berühren. Mitarbeitende in Palliative Care- und Hospizeinrichtungen werden nach einer nunmehr über 30-jährigen Geschichte in Deutschland mit durchaus »anderen« und »fremden« Menschen und Zugehörigen-Systemen konfrontiert. Die Konzentration galt natürlicherweise der Spezialisierung und Etablierung von Fachkenntnissen, von Qualitätsstandards und der überschaubaren Umsetzung dieser Expertise. Das Gesundheitssystem hat in diesen Jahren vieles in diese neue und dynamische Szene delegiert.

Nun sind wir in den »Niederungen« der Realität angekommen und das Hospiz- und Palliativgesetz des Jahres 2015 brachte insbesondere die Kehrtwende hin zur allgemeinen Versorgung, zur Bearbeitung der Schnittstellen und zur Vernetzung. »Ihr im Hospiz habt gut reden!« (Motto des Palliativpflege-Fachtags an der Katholischen Stiftungshochschule im Februar 2018). Diese viel gehörte Aussage bezeichnet präzise die Herausforderung: Kann dieser Ansatz re-integriert werden in das allgemeine Versorgungssystem? In der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland wird genau in diesem Sinne gefordert: »Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die seiner individuellen Lebenssituation und seinem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt.« (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. et al. 2010, S. 11). Inmitten dieser großen systemischen Prozesse ist die Frage nach der Kultursensibilität am Ende des Lebens und in der Sorge-Welt am Ende des Lebens von zentraler Bedeutung für die Realisierung dieser Forderung.

Was dies meint, welche Aspekte darunter fallen und wie dies ganz praktisch aussehen kann, versuchen wir in diesem Band aufzuzeigen. Dabei gehen wir von einem weiten Kulturverständnis aus, das Kultur als Lebenswelt versteht. Lebenswelt meint dabei die Welt, die jede Person in ihrem Alltag vorfindet. Werte, Normen und Regeln werden zumeist als unabänderlich erlebt und nicht hinterfragt.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beteiligung an diesem Buch. Unterschiedliche Charaktere zeichnen die Beiträge in diesem Buch aus, von wissenschaftlichen bis hin zu eher erfahrungsbezogenen Berichten. Des Weiteren wollen wir den Menschen danken, die uns bei der Erstellung des Buchs unterstützt haben: Das ist zum einen Frau Hamani, die uns bei der Endkorrektur und Formatierung unterstützt hat, und zum anderen Frau Boll und Frau Rapp vom Kohlhammer Verlag. Unser größter Dank gilt den sterbenden Menschen und ihren Familien mit höchst unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die wir begleiten durften und die unsere größten Lehrmeister waren und sind.

Die Bandbreite und Verschiedenheit der einzelnen Beiträge in diesem Werk regt Sie, liebe Leser und Leserinnen1, hoffentlich dazu an, über die Sensibilität in der Begegnung mit dem Fremden, auch dem Fremden in uns selbst, nicht nur nachzudenken, sondern auch das ein oder andere in Ihre Welt zu übertragen und anzuwenden.

München, Mai 2019

Prof. Dr. Maria Wasner und Josef Raischl

1     Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden i. d. R. auf die Nennung verschiedener Formen verzichtet und ausschließlich die weibliche Form verwendet. Gemeint sind stets alle Geschlechter.

Geleitwort

 

 

 

Was alle angeht, können nur alle lösen.Jeder Versuch eines einzelnen für sich zu lösen,was alle angeht, muss scheitern.Friedrich Dürrenmatt

In der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland ist im Leitsatz 3 zu den Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung zu lesen, dass jeder schwerstkranke und sterbende Mensch ein Recht auf eine angemessene, qualifizierte und bei Bedarf multiprofessionelle Behandlung und Begleitung hat. Um diesem gerecht zu werden, müssen die in der Hospiz- und Palliativversorgung Tätigen die Möglichkeit haben, sich weiter zu qualifizieren, um so über das erforderliche Fachwissen, notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie eine reflektierte Haltung zu verfügen. Für diese Haltung bedarf es der Bereitschaft, sich mit der eigenen Sterblichkeit sowie mit spirituellen und ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Die Weiterentwicklung der Hospiz- und Palliativversorgung lebt auch von dieser Bereitschaft. Aber auch für Menschen, die nicht in der Hospiz- und Palliativversorgung tätig sind, ist eine Auseinandersetzung mit ethisch und moralischen Fragestellungen zu den Themen Krankheit, Sterben und Tod unerlässlich. Je besser es gelingt, z. B. junge Menschen diese Themen nahezubringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie jetzt und später als Erwachsene Einfluss auf einen respektvollen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer nehmen.

Sterben, Tod und Trauer als Teil des Lebens zu begreifen, dies im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern und allen Menschen in Deutschland ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend einen gerechten Zugang zu einer würdevollen Begleitung und Versorgung am Lebensende zu ermöglichen – darum geht es in der Umsetzung der Charta im Rahmen einer Nationalen Strategie.

Es ist ein Verdienst der Herausgeber, in diesem Buch eine Vielzahl von Beiträgen anzuführen, welche sich mit Herausforderungen in der Hospiz- und Palliativarbeit befassen und damit Initiativen zur Umsetzung der Charta und ihrer Handlungsempfehlungen aufzuzeigen. In diesem Buch werden Gruppen besonders betroffener Menschen in den Mittelpunkt gestellt, wie z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, mit geistiger Beeinträchtigung, von Wohnungslosigkeit betroffene sowie Menschen in Vollzugseinrichtungen, die in der Hospiz- und Palliativversorgung bislang noch nicht ausreichend im Blick sind. Die Art und Weise, wie die Themen hier dargeboten werden, zeugt von intensiver Auseinandersetzung der Autorinnen und Autoren sowie langjähriger praktischer Erfahrungen in der Hospiz- und Palliativarbeit.

Ich wünsche dem Buch eine wache Leserschaft und eine große Verbreitung und freue mich, dieses Buch als eine Initiative zur Umsetzung der Charta und ihrer Handlungsempfehlungen im Rahmen einer Nationalen Strategie vorzustellen.

Berlin, Mai 2019

Franziska Kopitzsch

Leiterin der Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland

 

 

 

I           Kultur – Begriffsklärung und Abgrenzung

1          Was ist Kultur?

Kerstin Hein

 

Kultur und kulturelle Unterschiede erleben seit der Flüchtlingskrise in Deutschland erneut einen Aufschwung. Die Diskussion um eigene und fremde Kulturen, was Bestandteil der deutschen Kultur ist und was nicht, welche Lebensweisen mit welcher Kultur verbunden sind oder wie Menschen aus Ländern wie Syrien oder Nigeria in die deutsche Kultur integriert werden können, ist immer wieder Thema in den Medien. Nicht selten wird Kultur von verschiedenen politischen Lagern zu eigenen Zwecken missbraucht und als Rechtfertigung zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen von Menschen verwendet.

Obwohl Kultur immer wieder Thema ist, so versteht man darunter doch Verschiedenes: Kultur umfasst nationale Kulturen, aber auch Bildung und Erziehung und die Bereiche Musik, Literatur und Kunst. Somit ist der Kulturbegriff alles andere als selbstverständlich. Seine Bedeutung ist weder klar umrissen noch einheitlich definiert und ändert sich je nachdem, wer sich wann zum Thema äußert. Wenn wir im Alltag von Kultur sprechen, überlagern sich verschiedene Bedeutungen.

Ursprünglich kommt das Wort »Kultur« von dem lateinischen Wort »cultura«, welches wiederum von dem Verb »colere« abgeleitet werden kann. »Colere« bedeutet sorgfältiges pflegen, gestalten oder bearbeiten. Somit bedeutete »cultura« in der altrömischen Gesellschaft zunächst einmal die Bearbeitung eines Ackers. Im Laufe der Zeit erfuhr der Begriff allerdings eine metaphorische Übertragung von der Landschaft auf den Menschen. Somit veränderte sich der Gegenstand der »cultura« von der Sachkultivierung (»cultura rerum«) über die Körperkultivierung (»cultura corporis«) und bezog sich schließlich auf die Geisteskultivierung (»cultura animi«). In der Zeit der Aufklärung wurde der Begriff von Individuen auf ganze Völker und Epochen übertragen und unter der Bezeichnung »Zivilisation« oder »Kultur« diskutiert (Busche 2000; Nühlen 2016). Aus diesen Diskussionen entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts dann der moderne Begriff von Kultur (Kroeber und Kluckhohn 1952).

1.1       Historische Entwicklung des Kulturbegriffs

Die erste Bedeutung von Kultur entwickelte sich in der Antike und verstand Kultur als die Bearbeitung von Naturanlagen und Geisteskultivierung. Weitere Auffassungen von Kultur entstanden später durch die Übertragung des Kultivierungsgedankens auf ganze Epochen und Gesellschaften (Busche 2000; Nühlen 2016; Reckwitz 2004). Geprägt wurde diese Bedeutungsverschiebung durch die Begegnung mit fremden Lebensweisen im Kontext der europäischen Entdeckung, Eroberung und späteren Kolonisierung weiter Teile dieser Erde (Todorov 1991; Young 1995). Postkoloniale Autorinnen machen dementsprechend darauf aufmerksam, dass die historische Entwicklung des Kulturkonzepts oft in Gegensätzen formuliert wird, wie zum Beispiel »Kultur versus Natur« oder »Zivilisation versus Barbarei«. In der bipolaren Darstellung zeigen sich stets zwei voneinander abhängige Begriffe, die jedoch nicht gleichberechtigt sind, sondern eine Hierarchie aufweisen. Postkoloniale Intellektuelle sehen darin eine stereotypisierte Form von Wissen, die der Westen im Laufe des Kolonialismus und Imperialismus über nicht westliche Gesellschaften produziert hat (Hall 2000; Bhabha 2000).

1.1.1      Klassische Grundbedeutung: Natur versus Kultur

In der Antike verstand man unter Kultur das »formgebend veredelnde Bearbeiten und Pflegen natürlicher Anlagen (um die Vervollkommnung ihrer Früchte willen) durch den Menschen.« (Busche 2000, S. 70). Die Idee der Kultivierung wurde auch auf den Menschen übertragen. Dieser sollte durch Pflege vom Naturmensch zum Kulturmensch werden. Dabei umfasste die Kultivierung des Individuums sowohl die Veredelung des Körpers als auch die des Geistes (Busche 2000; Nühlen 2016).

In seiner klassischen Grundbedeutung wurde Kultur als Gegensatz zur Natur konzipiert. Dabei wurde Natur als unvollkommener Rohzustand betrachtet, der durch menschliche Tätigkeit bearbeitet werden musste, um den Zustand der Vollkommenheit erlangen zu können (Reckwitz 2004). Aus dieser Vorstellung entwickelte sich auch die Grundannahme, dass Kultur nicht von alleine entsteht, sondern erlernt werden muss. Das heißt, dass angeborene Reflexe und Verhaltensweisen, die auf biologischen Grundlagen beruhen, grundsätzlich nicht als kulturelle Eigenschaften betrachtet werden (Beer 2012).

1.1.2      Zivilisation als normatives Kulturkonzept

Mit der Aufklärung wurde Kultur vom Individuum auf ganze Gesellschaften und Epochen übertragen. Dabei bezeichnete Kultur den Grad der Kultivierung und Entwicklung einer Gesellschaft oder Epoche (Busche 2000; Nühlen 2016). Kultiviert waren Gesellschaften, die einen höheren Grad an Bildung und Verfeinerung der Sitten zeigten. Reckwitz (2004) bezeichnet diese Sichtweise als normatives Kulturkonzept. Die normative Vorstellung von Kultur wurde vor allem in England und Frankreich im Rahmen des Kolonialismus und Imperialismus unter dem Begriff »Zivilisation« diskutiert.

Zivilisation wurde als Lebensform definiert, die für jeden Menschen und jede Gesellschaft als erstrebenswert galt (Kroeber und Kluckhohn 1952; Young 1995). Man ging davon aus, dass alle Gesellschaften dieser Welt einem Prozess des Fortschritts unterworfen waren, dessen Höhepunkt die Zivilisation war. Dabei muss man bedenken, dass der Gedanke der Zivilisation im Kontext des Kolonialismus und Imperialismus entwickelt wurde und sich europäische Gesellschaften dementsprechend als Maßstab des gesellschaftlichen Fortschritts betrachteten. Nicht-europäische Gesellschaften wurden dabei anhand westlicher Kriterien beurteilt und als defizitär und rückständig wahrgenommen (Hall 2000; Young 1995; Todorov 1991).

Die Begegnung mit fremden Lebensweisen diente auch der Ausarbeitung der Gegensätze zwischen zivilisiert und barbarisch (Todorov 1991). Barbarei wurde im Zuge der Aufklärung als mangelnde Kultivierung definiert. Barbarisches oder unzivilisiertes Handeln wurde mit einem unkontrollierten und impulsiven Verhalten gleichgesetzt. Als zivilisiert oder kultiviert galten hingegen Verhaltensweisen, die sich durch eine zivilisatorische Zähmung des Subjekts auszeichneten.

1.1.3      Kultur als Lebensweise eines Volks

Die Vorstellung von Kultur als die Lebensweise eines Volks entwickelte sich etwa Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Kroeber und Kluckhohn 1952). Der Begriff widersetzte sich dem Fortschrittskonzept der Zivilisation und machte Kultur zum charakteristischen Ausdruck einer Gemeinschaft (Busche 2000; Nühlen 2016; Kroeber und Kluckhohn 1952). Aus der Perspektive der Zivilisation war es noch möglich, bestimmte Gesellschaften als unzivilisiert und somit als kulturlos zu betrachten. Aus Sichtweise der Kultur als Lebensform eines Volks gab es keine kulturlosen Kollektive mehr, sondern nur noch Kulturen im Plural. Zwar wurde immer noch davon ausgegangen, dass einige Gesellschaften weiter entwickelt waren als andere (Young 1995). Dennoch verlagerte sich der Schwerpunkt von der Idee einer allgemeingültigen und erstrebenswerten Lebensweise hin zur Beachtung spezifischer Lebensformen einzelner Kollektive. Es wurden eher das Nebeneinander verschiedener Kulturen und der dadurch entstehende kulturelle Relativismus betont (Dornheim 2007).

In Deutschland setzte sich vor allem der Kulturbegriff von Johann Gottfried von Herder durch. Herder betrachtete Kultur als die charakteristische Lebensweise eines Volks, die sich aus der Beziehung zum spezifischen Lebensraum und aus Traditionen und Sprache heraus entwickelt (Young 1995). Hervorzuheben ist, dass die Lebensweise eines Volks als eine in sich geschlossene Einheit definiert wurde. Demnach wurde Kultur nach innen als homogenes Gebilde betrachtet, während sie sich nach außen von anderen Kulturen abgrenzte. Es setzte sich das Bild von Kulturen als isolierte und sich gegenseitig abstoßende Kugeln durch (Kroeber und Kluckhohn 1952; Welsch 1997; Welsch 2002). Die Wahrnehmung von Kultur als abgeschlossene Einheit begünstigte die Vorstellung, Kultur sei eine Art Gegenstand oder Substanz. Man bezeichnet diese Auffassung daher auch als essentialistisches Kulturkonzept.

Das essentialistische Kulturkonzept diente im 18. und 19. Jahrhundert als Legitimierung für das erwachende Nationalbewusstsein und unterstützte die Bildung moderner Nationalstaaten (Young 1995; Busche 2000). Nationen entsprechen einer komplexen Konstruktion, die einen nationalen Staat mit einem Volk, einer Kultur und einem Territorium verbindet. Nationalkultur bezeichnet dabei die Lebensweise des Volks, das auf dem nationalen Territorium wohnt. Nationalkulturen werden als einheitliche und abgeschlossene Formationen dargestellt, die einen gemeinsamen Ursprung, eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Traditionen besitzen. Darüber hinaus werden Kontinuität und Zeitlosigkeit betont, so dass Nationalkulturen als statisch und unveränderbar wahrgenommen werden (Hall 2000).

In der Gegenwart wird der Begriff von Kultur weitestgehend mit Nationalkultur gleichgesetzt. Dabei wird die Teilhabe an einem Nationalstaat gleichzeitig als kulturelle Teilhabe interpretiert, was problematisch ist, da Nationalstaaten in der Regel sehr heterogene Lebensweisen umfassen. Davon abgesehen müssen Staatsangehörigkeit und gelebte Kultur nicht übereinstimmen. Die Idee essentialistischer Kulturen begünstigt schließlich die Vorstellung, dass Nationalkulturen nicht miteinander, sondern nur nebeneinander existieren können. Man spricht von der Inkommensurabilität nationalkultureller Perspektiven oder auch von Kulturen im Widerstreit (Welsch 1997; Welsch 2002; Beck 2004).

1.1.4      Kultur und Klasse

Kultur besitzt noch eine weitere Bedeutung, welche die Sphäre der Kunst, Bildung und Wissenschaft innerhalb einer bestimmten Gesellschaft umfasst. Dieser Begriff baut sowohl auf der Vorstellung von Kultur als Zivilisation als auch auf der Idee von Kultur als geschlossenes Ganzes auf. Da es sich um einen Teilbereich innerhalb einer Gesellschaft handelt, wird diese Auffassung auch als sektoraler Kulturbegriff bezeichnet (Reckwitz 2004).

Der sektorale Kulturbegriff reduziert Kultur auf die höhere kulturelle Welt der Kunst und Bildung. Man spricht von wertvollen Kulturgütern und Kunstwerken. Der Kulturmensch gilt als Teil einer sozialen Elite, ist gebildet, hat die Werte des Humanismus verinnerlicht und sieht die Welt durch eine intellektuelle oder ästhetische Brille. Es wird zwischen einer hohen Kultur und der Kultur des Volks unterschieden. Hohe Kultur entspricht der gesellschaftlichen Sphäre, in der die kulturelle Elite verkehrt. Volkskultur oder Populärkultur entspricht hingegen der Lebensweise der breiten Bevölkerung. Im Vergleich zur hohen Kultur wird Volkskultur nicht wirklich als Kultur, sondern eher als Mangel an Kultur wahrgenommen (Busche 2000; Nühlen 2016).

In der Gegenüberstellung zwischen Hochkultur und Volkskultur spiegelt sich der Kampf um soziale Anerkennung und symbolische Macht wider, der sich zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen abspielt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (2003) befasste sich mit solchen Machtverhältnissen und untersuchte die kulturelle Praxis sozialer Klassen. Aus seiner Sicht bemühen sich dominante Klassen um Distinktion, d. h. sie versuchen, sich stets von anderen sozialen Schichten abzugrenzen und den Unterschied möglichst aufrechtzuerhalten, um ihre Machtposition nicht aufgeben zu müssen. Eine Strategie dabei ist, den eigenen Lebensstil als normal zu deklarieren und die Praxis anderer sozialer Schichten an den eigenen kulturellen Standards zu messen und somit als defizitär zu beurteilen.

Laut Bourdieu zeigt jede soziale Klasse charakteristische kulturelle und ästhetische Praktiken, die sich aus historisch und gesellschaftlich bedingten Lebensbedingungen entwickeln. In seinen Untersuchungen fand er zum Beispiel heraus, dass Mitglieder der Arbeiterklassen das Praktische über das Ästhetische bevorzugten, während Personen aus privilegierteren sozialen Schichten im umgekehrten Sinn Form vor Funktion favorisierten. Individuen wachsen in solchen Kontexten auf und verinnerlichen diese kulturellen Aspekte in Form eines Habitus. Unter Habitus verstand Bourdieu praktisches Wissen, das eine Person entlang ihrer Sozialisation in Form von Dispositionen und Schemata verinnerlicht. Schemata stellen für das Individuum Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster bereit und bieten somit Orientierung. Der Habitus manifestiert sich weiterhin im Geschmack, den Werten, in den Überzeugungen und dem Lebensstil einer Person. Der Habitus ist sozusagen der verkörperte kulturelle Ausdruck einer bestimmten sozialen Schicht (Bourdieu 2003).

Etwa zur gleichen Zeit wie Bourdieu beschäftigten sich auch die Cultural Studies in Birmingham mit der Kultur der Klasse. Die Cultural Studies sahen nationale Kulturen ebenfalls als Austragsort sozialer Konflikte und argumentierten, dass die Lebensweisen einzelner Individuen stärker durch Klassenverhältnisse als durch Nationalkultur bestimmt wurden. Dementsprechend richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Untersuchung der kulturellen Praxis der Arbeiterklasse und versuchten dabei, eine nicht-elitäre Kulturforschung durchzusetzen (Bromley 1999; Johnson 1999). Mit den Cultural Studies erfolgte die Abkehr von der Reduktion des Kulturbegriffs auf die Sphäre der Hochkultur einer Gesellschaft hin zu der Ansicht, dass Kultur die gesamte Lebensweise sozialer Gruppen umfassen sollte. Diese Umdeutung bewirkte, dass kulturelle Analysen nun verstärkt den Alltag und die lokalen Lebensweisen von gesellschaftlichen Randgruppen untersuchten (Hall 1999).

1.2       Die Interpretation von Kultur

Das Verständnis von Kultur als charakteristische Lebensweise eines Volks wurde im 19. Jahrhundert von der angloamerikanischen Kulturanthropologie übernommen und prägte die darauffolgenden wissenschaftlichen Diskussionen über das Thema (Kroeber und Kluckhohn 1952). Die erste bekannte wissenschaftliche Auslegung von Kultur entsprach der Definition des britischen Anthropologen Edward B. Tylor. In seinem Buch »Primitive Culture« bezeichnete er Kultur als »that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society« (Tylor 1920, S. 1).

In den ersten ethnographischen Untersuchungen wurde Kultur noch als geschlossener Gegenstand betrachtet, der entdeckt, beobachtet und beschrieben werden konnte. Die Beobachterinnen stellten dabei ihre eigene soziale und kulturelle Position kaum in Frage, sondern gingen davon aus, dass sie ihren Gegenstand neutral und objektiv beschreiben konnten. Diese Sichtweise wurde mit der »interpretativen Wende« in den frühen 1970er Jahren grundsätzlich in Frage gestellt. Ab dann wurde der Schwerpunkt von dem Beschreiben auf das Verstehen und Interpretieren kultureller Zusammenhänge verschoben. Kultur wurde im weitesten Sinn als Text verstanden.

Eine Schlüsselfigur in der Entwicklung und Verbreitung des bedeutungsorientierten Kulturkonzepts war der US-amerikanische Anthropologe Clifford Geertz. Geertz ging davon aus, dass das soziale Leben durch Zeichen und Symbole organisiert ist. Er definierte Kultur als komplexes Bedeutungsgewebe, welches sozialen Ereignissen, Institutionen und individuellen Aktionen Sinn verleiht (Geertz 1973; Bachmann-Medick 2014).

»The concept of culture I espouse, […] is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning.« (Geertz 1973, S. 5)

Aus der Sicht eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs wird individuelles Verhalten als sinnhaftes Handeln verstanden, dessen Bedeutung entziffert werden muss. Die Aufgabe einer Ethnographin besteht darin, diese Bedeutung herauszuarbeiten und eine »dichte Beschreibung« bzw. eine Rekonstruktion der subjektiven Sichtweisen anderer Menschen zu erstellen (Geertz 1973).

Die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen ist im interpretativen Paradigma von zentraler Bedeutung, da man davon ausgeht, dass objektive Lebensbedingungen erst durch ihre subjektive Deutung relevant werden. Das heißt, dass Menschen auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die sie Objekten, Ereignissen, Situationen oder Personen zuschreiben, und nicht auf der Basis objektiver Gegebenheiten. Erkenntnistheoretische Überlegungen unterstützen diese Ansicht, indem sie argumentieren, dass Menschen keinen Zugang zur eigentlichen Welt und somit auch keinen Zugang zur absoluten Wahrheit haben. Sie können sich nur ein Bild davon machen und zwar immer nur aus der eigenen Beobachterperspektive (Maturana 1970; Pörksen 2008). Auf der Grundlage dieser Prämisse entwickelte sich die Idee des sozialen Konstruktionismus. Diese Theorie behauptet, dass man die Realität an sich nicht erkennen kann. Was als Wirklichkeit betrachtet wird ist die Wirklichkeit, so wie sie von Menschen definiert wird (Gergen und Gergen 2009).

In den Kultur- und Sozialwissenschaften herrscht der Konsens, dass die Konstruktion von Wirklichkeit durch gemeinsames und koordiniertes Handeln erfolgt. Das bedeutet, dass die Bedeutungen, die Menschen den Objekten, Ereignissen oder Personen zuschreiben, im Kontext sozialer Interaktionen hergestellt werden. Individuen zeigen im gemeinsamen Handeln wechselseitig den Sinn ihrer Handlungen an und verständigen sich somit über die gemeinsame Situation. Dadurch erzeugen sie gemeinsame Interpretationen, an denen sie sich im Verlauf der Interaktion orientieren (Abels 2007).

Wenn man davon ausgeht, dass die Wirklichkeit sozial konstruiert wird, so verliert diese ihren selbstverständlichen Charakter und wird kontingent. Das bedeutet, dass die Realität durch den gesellschaftlichen und historischen Kontext bestimmt wird und nicht als natürlich gegeben betrachtet werden kann. Reckwitz (2004) überträgt diesen Gedanken auf das Konzept der Kultur und betrachtet Kontingenz als zentrales Merkmal eines interpretativen Kulturbegriffs.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kultur aus der Perspektive eines interpretativen Paradigmas als Bedeutungsstruktur betrachtet wird, die in alltäglichen Interaktionen produziert, reproduziert und immer wieder verändert wird. Sie ist das Produkt intersubjektiver Konstruktionsleistungen. Diejenigen, die die bedeutungsorientierte Auffassung von Kultur kritisieren, merken allerdings an, dass durch diese Definition die Untersuchung sozialer Praktiken und die materiellen Bedingungen von Kultur vernachlässigt wurden.

1.2.1     Kultur als Lebenswelt

Wenn man die subjektive Erfahrung eines einzelnen Individuums als Ausgangspunkt nimmt, so kann festgestellt werden, dass sich seine Welterfahrung zunächst einmal als Lebenswelt präsentiert. Lebenswelt entspricht der Welt, die der Mensch in seinem Alltag vorfindet und als gegeben erlebt. Diese Welt erscheint der Person als vertraut, unproblematisch und selbstverständlich. Sie wird in der Regel nicht hinterfragt, da Menschen eine natürliche Einstellung zu ihrer Lebenswelt entwickeln.

Personen bauen ihre Lebenswelt auf der Grundlage von biographischem und sozialem Wissen auf. Biografisches Wissen wird durch eigene Erfahrungen erworben, die im Laufe der Zeit verallgemeinert, typisiert und als Wissen über die Welt gespeichert werden. Biografisches Wissen wird zur Interpretation neuer Ereignisse verwendet. Gleichzeitig haben Menschen durch ihre Sozialisation Zugang zu gesellschaftlich geteiltem Wissen. Sozial geteiltes Wissen stellt eine historische Ansammlung gesellschaftlicher Erfahrungen dar. Eine besondere Form geteilten Wissens entspricht der Sprache.

Lebenswelt ist individuell zugeschnitten. Man erlebt sie aber auch als Welt, die mit anderen Menschen geteilt wird. Lebenswelt ist in dieser Hinsicht intersubjektiv. Individuen unterstellen dabei ihren Mitmenschen, dass sie die Welt genauso sehen wie das Individuum selbst. Diese Annahme erlaubt, dass Personen in Kontakt treten und untereinander kommunizieren können. Sie wird auch als These der wechselseitigen Perspektiven oder Reziprozität der Perspektiven bezeichnet (Abels 2007).

Es ist allerdings fraglich, ob die eigenen Erfahrungen ohne Weiteres auf andere Menschen übertragen werden können, da jeder eine andere Lebensgeschichte hat. Im Alltag tun Individuen so, als ob Differenzen in der subjektiven Sicht der Welt irrelevant wären. Dennoch werden gemeinsame Interpretationen im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten immer weniger selbstverständlich. Individualisierung bedeutet die Auflösung allgemeingültiger Normen und Deutungsmuster. Dadurch werden traditionelle soziale Lebensmuster wie Klasse oder Geschlecht aufgelockert und verlieren ihre Verbindlichkeit. Infolgedessen sind Individuen zunehmend auf sich selbst gestellt und müssen selbst entscheiden, wie sie leben wollen. Das gesellschaftliche Leben wird dadurch zunehmend divers (Beck 1986; Lyotard 1999).

Im Zeitalter der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten sind Individuen mit vielfältigen Bedeutungs- und Handlungsstrukturen konfrontiert und artikulieren diese im Rahmen ihrer Biografie zu einer Gesamtfigur. Das bedeutet, dass Personen bei der Gestaltung ihrer Biografie auf unterschiedliche kulturelle Ressourcen zurückgreifen können und nicht auf ihre nationale Herkunft fixiert werden sollten. Kulturelle Stereotype sind wenig hilfreich bei der Interpretation des kulturellen Rahmens einer Person. Wenn Kultur als Lebenswelt verstanden wird, so muss man den Blick vielmehr auf die individuelle Lebensgeschichte eines Menschen richten.

1.2.2     Kultur als Struktur

Ein interpretatives Verständnis von Kultur beschäftigt sich nicht nur mit dem Prozess der sozialen Konstruktion kultureller Zusammenhänge, sondern auch mit den Bedeutungsstrukturen, die dadurch entstehen. Bedeutungsstrukturen sind kollektiv produziertes Wissen, das wiederum die Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten von Subjekten bestimmt (Reckwitz 2004).

Aus der Perspektive (post-)strukturalistischer Theorien wird das Sprachsystem als allgemeines Erklärungsmodell verwendet und auf Kultur übertragen. (Post-)Strukturalisten gehen dabei von der Idee aus, dass die Überlegungen zur Sprache so abstrakt sind, dass sie auch auf andere Bereiche außerhalb der Sprache verwendet werden können. Die Verwendung der Sprache als Modell zur Interpretation von Kultur ist auch unter dem Label »linguistic turn« bekannt geworden (Bachmann-Medick 2014).

(Post-)strukturalistische Theorien von Kultur gehen davon aus, dass Bedeutungen durch soziale Konventionen und nicht durch die Beschaffenheit der Realität bestimmt werden. Sie gehen ebenfalls davon aus, dass Menschen keinen direkten Zugang zur konkreten Realität haben, sondern diese anhand bestehender symbolischer Ordnungen interpretieren. Kultur wird somit als zugrunde liegende Bedeutungsstruktur gesehen, welche die Interpretation und Gestaltung sozialer Ereignisse und individueller Handlungen bestimmt. Kultur gilt dabei als supra-individuelle Struktur, an der alle teilhaben, aber keiner sie kontrollieren oder für sich beanspruchen kann (Münker und Roesler 2000).

1.3       Kulturelle Begegnungen und die Kritik an essentialistischen Kulturkonzepten

Seit der Bildung der Nationalstaaten ist unser Verständnis von Kultur an Nationalkulturen gebunden. Dabei wurde die Vorstellung von Kulturen als geschlossene Strukturen auf ganze Nationen übertragen. Aus dieser Übertragung ergeben sich folgende Implikationen:

•  Nationalkulturen werden als einheitliche Lebensweisen innerhalb nationaler Grenzen konstruiert. Man spricht von der Existenz einer Leitkultur, von nationalen Werten und Traditionen. Allerdings ist es fraglich, ob alle Menschen in einem Nationalstaat die gleichen Werte vertreten und die gleiche Lebensweise entwickeln. Eigentlich sind nationale Gesellschaften grundsätzlich heterogen. Man findet innerhalb der nationalen Grenzen verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Lebensweisen. Darunter befinden sich verschiedene soziale Klassen, Generationen oder Religionsgemeinschaften. Jede dieser Gruppen bildet eigene und charakteristische Lebensweisen heraus, die innerhalb desselben Nationalstaats koexistieren.

•  Eine weitere Annahme über Nationalkulturen besagt, dass diese immer gleichbleiben. Selbst wenn sich die sozialen Umstände ändern, so bleiben die Werte und die damit verbundene soziale Praxis in ihren Grundzügen stabil. Diese These ist schwer haltbar, da gesellschaftlicher und kultureller Wandel immer stattfindet und die Lebensweise verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sich ebenfalls von Generation zu Generation ändert.

•  Schließlich werden Nationalkulturen als geschlossene Strukturen dargestellt. Das bedeutet, dass nationale Kulturen als grundsätzlich anders und inkompatibel betrachtet werden. Ein kulturelles Miteinander ist dadurch kaum möglich, da kulturelle Differenzen als unüberwindbar wahrgenommen werden. Diese klare Abgrenzung zwischen Kulturen blickt auf eine lange historische Tradition zurück. In der Tat entwickelte sich unser gegenwärtiges Verständnis von Kultur auf der Grundlage der Begegnung mit fremden Lebensweisen und dem Vergleich unterschiedlicher Gesellschaften. Die Unterscheidung zwischen Wir und den Anderen ist daher ein wesentlicher Teil des Kulturkonstrukts.

Essentialistische Kulturkonzepte sind in den letzten Jahren zunehmend unter Kritik geraten, weil sie an Stereotypen festhalten und nach kulturellen Rezepten suchen, um das Verhalten anderer Menschen zu interpretieren. Aus einer essentialistischen Perspektive wird der Kontakt zu anderen Nationalkulturen als problematisch empfunden. Das trifft besonders dann zu, wenn das kulturelle Miteinander innerhalb der eigenen nationalen Grenzen stattfindet. Es gibt im Rahmen der Sozialwissenschaften und in der öffentlichen Debatte verschiedene Versuche, das kulturelle Miteinander theoretisch zu erfassen:

•  Multikulturalität befasst sich mit der Koexistenz unterschiedlicher Kulturen innerhalb einer Gesellschaft oder eines Nationalstaats. Das Problem besteht darin, dass Kulturen in dieser Auffassung immer noch als geschlossene Einheiten begriffen werden. Demzufolge werden die Mitglieder einer Kultur auf ihre Herkunft fixiert und anhand von Stereotypen beurteilt. Da Kulturen inkommensurabel sind, bleiben Personen mit mehreren kulturellen Bezügen im Kulturkonflikt gefangen (Radtke 1994).

•  Interkulturalität versucht, die Schwierigkeiten des kulturellen Miteinanders anders zu lösen, indem es stärker den Austausch zwischen den verschiedenen Nationalkulturen betont (Auernheimer 2007). Dennoch werden Kulturen auch aus dieser theoretischen Perspektive weiterhin als essentialistische Einheiten interpretiert. Ein kulturelles Miteinander wird auch hiermit nicht ausreichend erfasst, da hier weder nationalkulturelle Heterogenität noch kulturelle Mischungen mitberücksichtigt werden.

•  Transkulturalität versteht sich als Kritik am essentialistischen Konzept der Nationalkulturen. Welsch (1997; 2002) entwirft den Begriff auf der Grundlage der Beobachtung, dass nationale Kulturen in der Praxis sowohl heterogen als auch stark vernetzt sind. Transkulturalität meint eine Form von Kultur, die nicht auf ein bestimmtes nationales Territorium begrenzt, sondern zunehmend mit anderen nationalen Kulturen verknüpft ist. Es entwickelt sich eine neue kulturelle Vielfalt, welche nationale Grenzen überschreitet. Dabei werden kulturelle Differenzen nicht entlang nationaler Grenzlinien definiert, sondern neu gestaltet.

•  Kulturelle Hybridität ist eine Metapher für kulturelle Vermischung und stellt somit ebenfalls eine Kritik essentialistischer Nationalkulturen dar. Ähnlich wie der Begriff der Transkulturalität weist kulturelle Hybridität darauf hin, dass Nationalkulturen grundsätzlich ambivalent, heterogen und unabgeschlossen sind (Hein 2006).

1.4       Was ist nun Kultur?

Jeder spricht über Kultur, doch Kultur ist für jeden anders. Bisher gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Kultur. Dennoch können einige zentrale Aspekte von Kultur aufgezeigt werden, welche die gegenwärtige Debatte um das Thema bestimmen:

Zunächst kann festgehalten werden, dass Kultur die distinktive Lebensweise einer Gruppe umfasst. Diese Auffassung hat sich seit der Aufklärung durchgesetzt und dazu beigetragen, dass Kultur als überindividuelles Konstrukt wahrgenommen wird.

Die Begegnung mit fremden Lebensweisen diente der Ausarbeitung des modernen Kulturkonzepts. Aus der Abgrenzung gegenüber fremden Kulturen entstanden bipolare Darstellungen von Kultur, die als stereotypisierte Formen von Wissen über nicht westliche Gesellschaften gedeutet werden können.

In den Kultur- und Sozialwissenschaften hat sich seit den 1970er Jahren ein interpretatives Konzept von Kultur durchgesetzt. Demzufolge kann Kultur als Bedeutungsstruktur definiert werden, die Orientierungsmuster, Glaubenssysteme, Interpretations- und Handlungsmuster umfasst. Aus dieser Perspektive wird Kultur in alltäglichen Interaktionen produziert, reproduziert und immer wieder verändert. Andererseits ist Kultur auch das Produkt dieser intersubjektiven Produktionsleistungen und somit auch die symbolische Ordnung, in der Individuen aufwachsen und zu gesellschaftlichen Subjekten geformt werden.

Kultur kann nicht nur auf eine symbolische Ebene reduziert werden. Sie umfasst auch die soziale Praxis einer Gruppe. Dementsprechend werden Institutionen, Sitten und Traditionen, der Gebrauch von Objekten sowie auch die Strukturierung von Beziehungen innerhalb der Gruppe als Teil von Kultur betrachtet.

Aus der Sicht eines Individuums präsentiert sich Kultur wiederum als Lebenswelt. Als solche ist Kultur vertraut und selbstverständlich. Da die Lebenswelt mit anderen Menschen geteilt wird, gehen Individuen weiterhin davon aus, dass Andere ihre Ansichten teilen. Im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten verlieren soziale Lebensmuster allerdings ihre Verbindlichkeit, sodass konjunktive Erfahrungsräume (Bohnsack 2007) immer weniger selbstverständlich werden. Um den kulturellen Hintergrund eines Individuums angemessen zu verstehen, muss man daher seine Lebensgeschichte rekonstruieren.

Kulturen werden oft mit Nationalkulturen gleichgesetzt. Eine Reduzierung von Kultur auf nationale Herkunft ist jedoch eher irreführend, da Nationalkulturen grundsätzlich heterogen sind. Innerhalb nationaler Grenzen koexistieren verschiedene soziale Gruppen, wie zum Beispiel soziale Milieus oder religiöse Glaubensgemeinschaften, die eigene kulturelle Zusammenhänge entwickeln. Somit kann eine Person innerhalb eines Nationalstaats gleichzeitig zu mehreren Kulturen gehören.

Schließlich sind Kulturen offen und befinden sich in einem permanenten Wandel. Gegenüber anderen nationalen Kulturen zeigen sie Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten und können sich untereinander vernetzen. Kulturelle Differenzen werden nicht ausschließlich durch nationale Grenzen bestimmt, sondern können auch grenzüberschreitend bestehen.

1.5       Kultur und Begleitungen am Lebensende

In Zusammenhang mit einer zunehmenden soziokulturellen Diversität werden in der Palliativversorgung und Hospizarbeit in Deutschland immer häufiger Menschen betreut, die im Vergleich zu den Fachkräften einen anderen Orientierungsrahmen und unterschiedliche Lebensweisen zeigen. Dabei ist die kulturelle Vielfalt nicht nur auf eine steigende Anzahl von Migrantinnen und Geflüchteten zurückzuführen, sondern auch mit gesellschaftlichen Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten verbunden.

Die Begleitung kulturell diverser Menschen am Lebensende stellt für Fachkräfte eine besondere Herausforderung dar, da die Wahrscheinlichkeit kommunikativer Missverständnisse in interkulturellen Begegnungen besonders hoch ist (Ward et al. 2003).

Untersuchungen im palliativen Bereich haben außerdem gezeigt, dass ein unterschiedlicher kultureller Hintergrund die Wahrnehmung und den Zugang zur palliativen Versorgung, das Einhalten von Behandlungsplänen, die Qualität der Kommunikation und die Angemessenheit der Medikation wesentlich beeinflussen (Flores et al. 2000; Wiener et al. 2013). Schmerz wird von Kultur zu Kultur auch anders wahrgenommen und ausgedrückt (Hüper und Kerkow-Weil 2007) und Gespräche über das Sterben werden unterschiedlich interpretiert (Wiener et al. 2013).

Allerdings stellt sich die Frage, welcher Begriff von Kultur hinter diesen Beobachtungen steht. In Studien wird Kultur in der Regel als nationale Herkunft operationalisiert und kulturelle Kompetenz mit dem Erwerb kulturellen Wissens gleichgesetzt. Dabei wird kulturelle Differenz über Stereotypen festgemacht und übersehen, dass kulturelle Diversität auch innerhalb nationaler Grenzen existiert. Denn jeder Mensch wächst im Kontext verschiedener kultureller Zusammenhänge auf und kann auf verschiedene kulturelle Ressourcen zurückgreifen. Kultur darf demzufolge nicht auf nationale Herkunft reduziert werden und muss die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten berücksichtigen. Ein angemessener Umgang mit soziokultureller Diversität ist daher die Betrachtung individueller Biographien statt ein Handeln nach kulturellen Rezepten.

Außerdem darf eine Diskussion über Kultur nicht die soziale Herkunft von Patientinnen missachten und soziale Ungleichheit mit kultureller Differenz verwechseln. Oft haben kulturelle Unterschiede nämlich eher mit dem sozialen Milieu und nicht mit der nationalen Herkunft zu tun. Eine kulturelle Deutung solcher Differenzen verschleiert soziale Missstände und trägt zu einem defizitären Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund bei.

Wichtig ist schließlich zu berücksichtigen, dass Individuen Kultur als selbstverständlich erleben und nicht weiter hinterfragen. Das betrifft in der Begleitung am Lebensende sowohl die Patientinnen als auch die Fachkräfte, die sie betreuen. Selbstreflexion und Selbstkritik sind daher wesentliche Bestandteile einer sozial und kulturell sensiblen Begleitung am Lebensende (Foronda et al. 2016; Domenig 2007).

Weiterführende Literatur

 

Busche H (2000) Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen. Dialektik – Zeitschrift für Kulturphilosophie: 69–90.

Reckwitz A (2004) Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Jaeger F, Rüsen J (Hrsg.) Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen. Stuttgart, Weimar: Metzler. S. 1–20.

2          Die Begegnung mit Fremdem als Grenzerfahrung: Zur Bedeutung der Selbstsorge für die kultursensible Kommunikation

Barbara Schellhammer

Bei Fortbildungsmaßnahmen zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz im Pflegebereich kann man häufig zwei Tendenzen wahrnehmen, wie diese Trainings aufgenommen werden. Zum einen zeigen sich Pflegende, Hauswirtschafterinnen, Verwaltungsmitarbeitende und Führungskräfte offen und interessiert, sie wünschen sich eine Art Leitfaden oder »Handwerkszeug« für den Umgang mit Andersartigkeit. Andere hingegen drücken ihr Unbehagen darüber aus, dass sie bereits seit langem ohne große Schwierigkeiten mit unterschiedlichen Kulturen zusammenarbeiten und nun künstlich ein defizitäres Problembewusstsein forciert wird, d. h. »dass interkulturelle Trainings das, worauf sie vorbereiten wollen, selbst erzeugen, indem sie Fremdheitserwartungen wecken – auch wo sie möglicherweise fehl am Platze sind« (Smith 2013, S. 25). Man fragt sich, wie es dazu kommt, dass Menschen unterschiedlich mit Fremdheitserfahrungen umgehen und ob so etwas wie »Fremdheitsfähigkeit« erlernt werden kann. Dabei ist zu bezweifeln, dass die Aufgeschlossenheit und Sensibilität Fremdem gegenüber an Methoden oder an einem Set von Kompetenzen festgemacht werden kann. Ebenso wenig können sie durch Typologien oder Erklärungen über die fremde Kultur herbeigeführt werden. Fremdheitsfähigkeit wird nicht dadurch erreicht, dass einseitig die Andersartigkeit des Anderen »behandelt«, »eingeordnet« oder »verstanden« wird. Denn was nützen ein reiches Wissen über eine andere Kultur und bescheinigte Kompetenzen, wenn man zornig wird oder sich frustriert zurückzieht, wenn die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden? All dies hat vor allem den Zweck, dem Fremden seinen Stachel zu nehmen (Waldenfels 1990) und die eigene Unsicherheit in Grenzen zu halten: »Die Grenze zum Anderssein liegt nicht im anderen, sondern in jedem selbst« (Roll 2015, S. 49), konnte man vor einiger Zeit in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung lesen. Oder anders ausgedrückt, Fremdes beginnt bereits in mir selbst, ich bin mir selbst ein anderer (Waldenfels 1997, S. 27 ff.; Kristeva 2013).

Die Fremdheitsfähigkeit einer Person erwächst aus einer Beschäftigung mit sich selbst und zwar in Formen der Selbstsorge und Selbstkultivierung. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit Erfahrungen des »Unheimlichen« in sich selbst, die bewusste Begegnung mit Fremdem im Selbst, eine besondere Rolle. In seiner Abhandlung »Das Unheimliche« zeigt Freud (1970, S. 250), dass das Unheimliche mit dem Heimlichen und auch mit dem »Heimeligen« zusammenfällt: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.« Das Unheimliche war ursprünglich das »Heimelige«, das zu einem »Heimlichen« wurde, weil es nicht sein durfte. Bei der Sorge um sich selbst geht es um die Bereitschaft, Fremdes im anderen und in sich selbst nicht abzuwehren, sondern sich diesen Grenzerfahrungen auszusetzen und sich selbst dadurch in Frage stellen zu lassen. Dies könnte man auch als eine erfahrungsbezogene »Umwendung« zum Selbst beschreiben.

Ich möchte in der Folge zunächst diese Umwendung zum Selbst in der Riege verschiedener Weisen des Umgangs mit Fremdem verorten (1.), um dann zu zeigen, warum diese selbstsorgende Umwendung wichtig ist, was sie beinhaltet (2.) und wie sie gelingen kann (3.). Sie scheint mir eine Grundvoraussetzung für jedes konkrete Handlungswissen in der Palliativversorgung bzw. Hospizarbeit zu sein, um sterbende Menschen unterschiedlicher Ethnien, sozialer Schichten und Weltanschauungen sensibel und fürsorgend begleiten zu können.