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Kunst riechen untersucht Geruch in der jüngeren bildenden Kunst, um die Frage zu beantworten, wie olfaktorische Kunst vermittelt werden kann. Ausgangspunkt sind künstlerische Strategien und Werke von Künstlern der (zeitgenössischen) bildenden Kunst, die Aroma und Geruch bewusst in ihren Arbeiten in Gebrauch nehmen. Analysiert werden Werke von Marcel Duchamp, Wolfgang Laib, Anya Gallaccio, Carsten Höller, Dan Mihaltianu, Teresa Margolles, Sissel Tolaas, Olafur Eliasson, Karla Black, Bruce Nauman, Peter DeCupere, Sabotage Communications, Jenny Marketou, Carrie Paterson und Wolfgang Georgsdorf. Im Zentrum der Untersuchung stehen mögliche Veränderungen der Rezeptionsgewohnheiten und der ästhetischen Erfahrung durch geruchsbasierte Kunst. Aus den Erkenntnissen entwickelt sich der Entwurf der olfaktorischen Ausstellung Smeller 2.0 samt Vermittlungsüberlegungen.
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Seitenzahl: 181
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Dorothée King
Kunst riechen
Duftproben zur Vermittlung olfaktorisch bildender Werke
ATHENA
Kunst und Kulturwissenschaft in der Gegenwart
Herausgegeben von Doris Schuhmacher-Chilla
Band 13
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
E-Book-Ausgabe 2016
Copyright der Printausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag, Copyright der E-Book-Ausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag, Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.de
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ISBN (Print) 978-3-89896-646-7 ISBN (ePUB) 978-3-89896-879-9
»Die Duftorgel spielte ein köstlich erfrischendes Kräuterkapriccio – Arpeggiowellchen von Thymian und Lavendel, Rosmarin, Basilikum, Myrte und Schlangenkraut, eine Folge kühner Modulationen durch die Gewürzrucharten bis nach Ambra, dann langsam zurück über Sandelholz, Kampfer, Zedernholz und frischgemähtes Heu (mit gelegentlichen, zart angedeuteten Dissonanzen- einer Nasevoll Sauerkraut und einem leisen Rüchlein Roßäpfel) zu den schlichten Duftweisen, mit denen das Stück begonnen hatte.«[1] (Aldous Huxley: Schöne neue Welt, 1932)
Die oben beschriebene Duftorgel, die Aldous Huxley im Jahre 1932 für die weit entfernte Zukunft entworfen hat, wird Wirklichkeit. Duftgestaltung und der Einsatz von Geruch in Kommerz, Kultur und Kunst nimmt zu. Ein Beispiel aus München und Hamburg: Bürger protestieren, ihnen stinkt es. Sie fühlen sich nicht durch das Erscheinungsbild oder die Mode einer neu eröffneten amerikanischen Bekleidungskette belästigt, sondern durch den Geruch, der aus den Läden dieser Kette strömt. Die Lüftungsanlagen der Läden verbreiten den Geruch des hauseigenen Parfums Fierce nicht nur in den Innenräumen, das Aroma wird auch auf die Straße gepustet, um potentielle Kunden per Duft anzulocken.[2] Dies ist nur ein Beispiel für die Auswirkungen von kommerzieller Luftgestaltung. Die Idee, Duft als zusätzlichen Marketingkanal einzusetzen ist nicht neu, wird aber immer häufiger von Firmen aufgegriffen. Sei es der Duft von geröstetem Kaffee, der von Kaffeehäusern auf die Straße weitergeleitet wird, oder frischer dynamischer Duft, den die Kunden beim Betreten von Banken unbewusst wahrnehmen sollen.[3] »Fragrance Marketing«[4] nennt die Kulturwissenschaftlerin Constance Claasen diese Art von Duftgestaltung zur Schaffung von Wiedererkennungswerten für Filialen von Läden und Firmen.
Auch Bildungseinrichtungen setzen zunehmend auf olfaktorische Effekte, mit dem Ziel, bestimmte Sachverhalte multisensorisch eindrucksvoller zu vermitteln. Historische Museen versuchen zum Beispiel, das Eintauchen in vergangene Welten durch den Zusatz von Geruch zu den gezeigten Exponaten zu verstärken. So sieht man im Kindermuseum in Indianapolis nicht nur einen Tyrannosaurus Rex in Originalgröße, es kann auch olfaktorisch nachvollzogen werden, wie es aus seinem Maul gestunken haben könnte.[5] Wir sind in einer Umwelt angekommen, in der nicht nur unsere visuelle, akustische und geschmackliche Umwelt designt wird, sondern auch die Luft, die wir riechend einatmen. Aus gutem Grund, denn die Nase als Sinnesorgan bietet im Vergleich zu den anderen Sinnen ein Alleinstellungsmerkmal. Wir können wegsehen, uns die Ohren zuhalten, uns entscheiden, etwas nicht zu essen oder nicht anzufassen, aber wir können nicht wegriechen. Die Besonderheit des olfaktorischen Sinnes ist zudem, dass Aromen in den gleichen Hirnregionen verarbeitet werden wie Emotionen,[6] Ausdünstungen rufen Gefühle hervor. In aller Vorläufigkeit auf die Kunst übertragen, bedeutet dies: Olfaktorische Kunstwerke werden wahrgenommen; die olfaktorische Wahrnehmung kann zu emotionalen Reaktionen beim Publikum führen. Dieser Sachverhalt legt ein kalkulierbares Involviert-Sein der Rezipienten nahe. Augenzwinkernd gefragt: Was will die Kunstvermittlung mehr?[7] Pessimistischer Einwand: Düfte verfliegen und sind schwer zu steuern.[8] Gerüche werden verschieden wahrgenommen, nicht jeder Mensch riecht gleich viel oder gleich differenziert. Riechbehinderung ist ein Phänomen, das weiter verbreitet ist, als man annehmen würde. Einen Raum olfaktorisch zu gestalten, ist nicht einfach: Es gibt viele andere Gerüche oder auch andere Sinneseindrücke, die den olfaktorischen Wahrnehmungsvorgang verändern. Putzmittel, Parfums oder mitgebrachte Kaffeebecher können den Duft eines Kunstwerk herausfordern. Aromen sind zeitbasiert, d. h. sie verfliegen schnell, außer man investiert in teure, konstant beduftende Belüftungsanlage, wie ScentAir, Arome, Olfacom, oder tauscht die ausgestellten duftenden Materialien immer wieder aus. Man denke an die Blumen in Camille Henrots Ausstellung Snake Grass im Schinkel Pavillon in Berlin. Die pflanzlichen Teile in ihren von Ikebana inspirierten Skulpturen wurden täglich mit frischen Blumen ersetzt.[9]
Trotz oder gerade wegen dieser ganz eigenständigen und widersprüchlichen Attribute nehmen Geruch und Geruchssinn einen zunehmend bedeutsamen Stellenwert in den künstlerischen Materialien ein. Aroma ist als Element in der Kunst nicht neu: Die Wolle in Joseph Beuys Filzinstallationen mieft, das Fett verströmt einen intensiven Geruch. Aromen sind in Dieter Roths Schokoladen-Werkstätten wahrnehmbare Komponenten. Bruce Nauman fordert in seiner Installation Body Pressure die Partizipierenden dazu auf, sich an der Wand zu reiben und in die olfaktorische Wahrnehmung einzutauchen.[10]
In den zeitgenössischen Künsten experimentieren Künstler zunehmend mit Duft und Gestank. Sie stellen damit die Rezeptionsgewohnheiten ihres Kunstpublikums vor neue Herausforderungen. Was passiert mit unserer Wahrnehmung beispielsweise, wenn wir in einer Kunstausstellung – anstatt uns einem Projekt über unseren Sehsinn zu nähern – dazu aufgefordert werden, an einer Wand zu rubbeln und dann zu raten, aus welchem Land der Herr kommt, der diesen Geruch einst schwitzend verströmte? So ist Sissel Tolaas geruchsbasiertes Kunstwerk The Fear of Smell – The Smell of Fear zu rezipieren.[11] Wir stehen nun eben nicht nur sehend zum wiederholten Male vor einem von vielen impressionistischen Bildern, wie in Ausstellungen à la Die schönsten Franzosen kommen aus New York,[12]und wissen ganz genau, welche visuelle Erfahrung uns erwarten könnte. Im Gegenteil – wir sind aufgefordert, uns eigenständig annähernd, über unser Geruchsorgan mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen.
Ausgangspunkt der vorliegenden Forschungsarbeit sind künstlerische Strategien und Werke von Künstlern der (zeitgenössischen) bildenden Kunst, die Aroma und Geruch bewusst in ihren Arbeiten in Gebrauch nehmen. Dazu seien an dieser Stelle die Künstler kurz vorgestellt, deren Projekte in dieser Arbeit ausführlich analysiert werden: Marcel Duchamp erschafft vielleicht das erste auch olfaktorisch zu rezipierende Kunstwerk. Für die Exposition Internationale du Surréalisme, die 1938 in Paris stattfindet, inszeniert er eine dreidimensionale Collage. Er kombiniert Gemälde und Skulpturen von anderen Künstlern, 1200 leere, an der Decke hängende Kohlesäcke, eine Landschaft aus Laub und einen kleinen Teich mit Schreien, die angeblich in einem Irrenhaus aufgezeichnet worden waren, mit dem Duft von gerösteten Kaffeebohnen.[13]. Carsten Höller arbeitet mit biologischen Materialien und Methoden. Er experimentiert auch mit der olfaktorischen Wirkung von Cocktails aus tierischen Pheromonen.[14] Wolfgang Laib arbeitet seit den 1980er-Jahren mit Bienenwachs und Honig und setzt die olfaktorischen Ausdünstungen dieser Naturmaterialien bewusst in seinen Performances und Objekten ein.[15] Anya Gallaccio ist bekannt für ihre Arbeiten, in denen die Ausdünstungen von vergammelnden Rosen oder alternder Schokolade eine zentrale Rolle spielen.[16] Dan Mihaltianu versucht Odeur als Erinnerungen festzuhalten, indem er mit Destillationsprozessen und Alkohol arbeitet. Teresa Margolles, studierte Gerichtsmedizinerin und Künstlerin, konfrontiert ihr Publikum mit Nebel, der aus Leichenwaschwasser von städtischen Leichenhäusern produziert wurde.[17] Wie bereits erwähnt, setzt die Duftkünstlerin und Chemikerin Sissel Tolaas in ihren Arbeiten oft auf die Wirkung von Schweißaromen.[18] Olafur Eliasson, bekannt für sein Interesse an phänomenologischen Vorgängen bei den Rezipienten seiner Werke, integriert die Düfte von Pflanzen in seine Kunstwerke.[19] Klara Black setzt in ihren Skulpturen auf ungewöhnliche und wohlriechende Materialien wie Lidschatten und Puder.[20]
»If we want a visitor to use all of her brain during a museum visit, odors need to be a part of the experience. Furthermore, because smelling is an active perceptual process that requires attention, adding odors to an experience will result in a visitors‹ closer engagement and turn the passive experience into an active exploration.«[21] (Andreas Keller: The Scented Museum)
Diese Forschungsarbeit richtet sich auf die Untersuchung von Geruch in der jüngeren bildenden Kunst, um die Frage zu beantworten, wie Aromen-basierte Kunst vermittelt werden kann. Die vorliegende Arbeit untersucht die möglichen Veränderungen der Rezeptionsgewohnheiten und die potentiellen Veränderungen in den Prozessen der ästhetischen Erfahrung durch geruchsbasierte Kunst.
Die Analyse von Arbeitsweisen und Werken verschiedener Künstler, die mit Duft und Gestank arbeiten, soll zeigen, welche Spannbreite der Rezeptionsangebote über Geruch und das Riechen entwickelt werden können. Die Analyse der unterschiedlichen Aspekte ästhetischer Erfahrung in der Begegnung mit aromatischen Kunstwerken wird für ästhetische Bildungsprozesse nutzbar gemacht.[22] Am Ende steht der Entwurf einer olfaktorischen Ausstellung samt Vermittlungsüberlegungen.
»Sight is so endlessly analyzed, and the other senses so constantly ignored, that the five senses would seem to consist of the colonial/patriarchal gaze, the scientific gaze, the erotic gaze, the capitalist gaze and the subversive glance.«[23] (Constance Claasen: The Colour of Angels: Cosmology, Gender and the Aesthetic Imagination)
Wie Claasen feststellt, ist visuelle Rezeption so ausführlich analysiert worden, als könne man meinen, die Augen wären unsere einzigen Sinnesorgane. Zum Hören, Tasten und Schmecken in den bildenden Künsten wurde jedoch ausführlich geforscht und ausgestellt. In den letzten Jahrzehnten wurden einige Ausstellungen konzipiert, die sich thematisch einem der nicht-visuellen Sinne widmen. So wurde bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren eine Vielzahl von Ausstellungen konzipiert, die taktile Kunstwahrnehmung erfahrbar machten, wie Feel it, 1968, im Moderna Museet Stockholm, First International Tactil Sculpture Symposium, 1969 in der Long Beach, California, Gallery C, Do Touch, 1976, im Boston Museum of Fine Arts, Les mains regardent, Paris, 1977/78, im Centre Pompidou.[24] Die erste deutsche Ausstellung zum Anfassen Plastik zum Begreifen gab es 1979 in der DDR.[25] Die Ausstellung See this Sound am Lentos Museum in Linz bearbeitete das Zusammenspiel von visueller und auditiver Wahrnehmung in der Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert.[26] Die Ausstellung Eating the Universe beschäftigte sich zwischen 2009 und 2011 gleich in drei Kunsthäusern, der Kunsthalle Düsseldorf, der Galerie im Taxispalais Innsbruck und im Kunstmuseum Stuttgart, mit dem Essen in der Kunst.[27] Alle dort gezeigten Kunstwerke setzen sich mit den Thematiken Nahrung und Essverhalten auseinander.
In dieser Untersuchung konzentriere ich mich auf Werke, in denen Düfte als riechbare Materialien von Künstlern bewusst, wenn auch manches Mal beiläufig, als Rezeptionsangebot für das Publikum in Gebrauch genommen werden. Ziel ist, das Zusammenspiel von olfaktorischer Wahrnehmung und ästhetischer Erfahrung zu entschlüsseln und in ein Ausstellungskonzept zur Vermittlung von aromatischer Kunst zu übertragen. Natürlich verströmen auch Kunstwerke, die gesehen, gehört oder ertastet werden können, Odeur. Ölgemälde, Bronzeskulpturen oder auch die warme, surrende Technik bei Medienkunstwerken verbreiten einen spezifischen Geruch. Diese Geruchserfahrungen sollen jedoch in dieser Abhandlung zugunsten bewusst eingesetzter aromatischer Komponenten in Kunstprojekten vernachlässigt werden. Des Weiteren gibt es Darstellungen von Geruch in Bildern oder Videos. In den Gemälden von Otto Dix beispielsweise, auf denen häufig rauchende Menschen dargestellt sind, kann man beim bloßen Anblick einen beißenden abgestandenen Gestank fühlen.[28] Abbildungen dieser Art von olfaktorischer Erfahrung klammere ich gleichfalls aus. Auch vernachlässigt werden aromatische Zusätze zu Kunstwerken. In manchen Museumsshops kann man tatsächlich Duftkerzen kaufen, welche die ästhetischen Erfahrungen von Monets Sonnenblumen auf die olfaktorische Ebene und ins eigene Heim transportieren sollen.[29]
Diese Forschungsarbeit beschränkt sich auf den Geruchssinn, da die Rezeptionsvorgänge von aromatischen Kunstwerken und somit auch Möglichkeiten, wie mit ihnen kuratorisch und kunstvermittelnd umgegangen werden kann, noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Der kanadische Kurator Jim Drobnick scheint bisher der Einzige zu sein, der das Kuratieren von olfaktorischen Werken ausführlicher untersucht hat.[30] Dabei konzentriert Drobnick sich allerdings auf praktische Faktoren des Kuratierens, wie Raum, Vergänglichkeit von Gerüchen und möglicherweise irritierende Kombinationen von Geruchswerken. Er analysiert weniger Rezeptionsvorgänge und Bildung durch ästhetische Erfahrung über Düfte.[31] Die vorliegende Untersuchung wird seine Forschungsleistung zum Gegenstand haben, diese jedoch um die Analyse ästhetischer Erfahrung von olfaktorischer Kunst ergänzen.
Aufgrund dieses Forschungsdesiderats zu olfaktorischer Kunst und ihrer Vermittlung, soll im Folgenden auf aktuellere Ansätze aus Kulturwissenschaft, Ausstellungspraxis, Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik eingegangen werden, die sich in diesem Themenbereich verorten lassen, und auf welche die vorliegende Forschungsarbeit aufbaut.
Einen Grundstein für die Erforschung des Zusammenspiels zwischen kulturellen Entwicklungen und olfaktorischer Wahrnehmung legt Alain Corbin mit seinem Band Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs.[32] Ausgehend von den sozialen, hygienischen und städtebaulichen Gegebenheiten des mittelalterlichen Paris legt Corbin dar, wie stark Geruch Mode (wohin mit den Geruchsfläschchen gegen die Pest), Standeszugehörigkeit (wer kann es sich leisten, wohlriechende Kleidung zu tragen) und Aneignung von Raum (wer kann, darf sich wo aufhalten, wo ist der Geruch unzumutbar) geprägt hat. Die Forschung Corbins bildet die Grundlage für den Roman Das Parfum von Patrick Süsskind, der es über Narration möglich macht, die von Corbin skizzierten Geruchswelten synästhetisch zu vermitteln.[33]
Auf Corbins historische Forschung bauen aktuellere kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Olfaktorik auf.[34] Claasen spricht 2001 erstmals von einer »sensory history«, indem sie versucht, Kulturgeschichte sensorisch aufzuarbeiten.[35] Ein Beispiel für Claasens Forschung zur olfaktorischen Kulturgeschichte ist der Band aroma. The Cultural History of Smell, der 1994 von ihr, David Howes und Anthony Synnott herausgegeben wurde. Claasen setzt Corbins Forschung über Zuordnung und Zugehörigkeit von Menschen zu gesellschaftlichen Gruppen aufgrund von Geruch fort. Hier wird zudem die individuelle Prägung durch Geruchserfahrung hervorgehoben. Ein weiteres Thema des Bandes ist Geruch als Werbemittel: Geruchsdesigner werden vorgestellt, die über Gerüche Corporate Designs in Autos oder Hotels kreieren, wie das bereits oben erwähnte ›Fragrance Marketing‹.
Mădălina Diaconu, die sich auch auf Corbin bezieht, plädiert dafür, dass in Kulturwissenschaft und Ästhetik alle der sogenannten niederen oder Sekundärsinne, also Tasten, Riechen und Schmecken, wenn auch nicht gleich, so doch gleichbedeutend mit Hören und Sehen berücksichtigt werden sollten.[36] Für die vorliegende Untersuchung ist Diaconus Forschung zur Olfaktorik bedeutsam. Sie beschreibt Geruch als ein kulturell bedeutsames Medium zur Strukturierung von Gesellschaft, Sexualität und Familie und gibt Beispiele dafür, wie Parfum- und Aromagestalter versuchen, auf diese Strukturen Einfluss zu nehmen. Diaconu schlägt dabei einen Bogen vom Weihraucheinsatz in der katholischen Kirche zu Firmen, die versuchen über kleine USB-Apparate beim Aufruf bestimmter Internetseiten bestimmte Düfte zu verströmen, um das Einkaufsverhalten zu steuern.[37] Sie vertritt die Ansicht, dass das Riechen, ebenso wie die anderen Sinneswahrnehmungen, sich mit kulturellen Entwicklungen verändert und maßgeblich für unser soziales Verhalten ist. Diaconu und Corbin scheinen beide zu bemängeln, dass in einer visuell und akustisch geprägten Gesellschaft, in der bislang auch nur Bild, Schrift, Bewegt-Bild und Ton archiviert werden, das Potential des Geruchs zu kurz kommt. Für die Aufwertung des Geruchssinns setzt sich Diaconu auch über praktische Projekte ein. Ihr letztes Projekt trägt den Namen Sensorisches Labor Wien.[38] Dafür erforscht sie Gerüche des öffentlichen Raums in der österreichischen Hauptstadt und knüpft damit an Corbins Forschungsinteresse zur Orientierung im Raum über Geruch an, um eine »kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Sinnespotential und den medialen Sinnesangeboten«[39] zu fordern. Um bewusster mit den Qualitäten und dem Einfluss von Aromen auf unser Leben umzugehen, schlägt Diaconu vor, an Odeur-Archiven für olfaktorische Kunstwerke und unserem Geruchsvokabular zu arbeiten.[40] Claasen wendet sich ausführlicher den vor-viktorianischen Verhaltensregeln zu sowie den Rezeptionsmöglichkeiten von Museumsbesuchern, als sie noch riechen und tasten durften und nicht auf Sicherheitsabstand zu den Exponaten gehalten wurden.[41] Die rein visuelle Museumserfahrung sei ein relativ neues Phänomen.
Etwa zeitgleich zum Erscheinen von Diaconus umfassender Auseinandersetzung arbeitet Drobnick aus einer nordamerikanischen Perspektive an einer Übersicht zur Kulturgeschichte des Geruches.[42] Auch er stellt eine Missachtung von Odeur als kulturellem Wert fest. Drobnick betont den essentiellen Wert von Gerüchen für unterschiedliche kulturelle Räume. Man denke an die unterschiedlichen olfaktorischen Eindrücke in Privathäusern, Krankenhäusern, Museen, Schulen oder kommerziellen Orten. Gerüche gingen außerdem oft einher mit spirituellen Praktiken, wie beispielsweise der Weihrauch in katholischen Kirchen. Odeur sei zudem höchst persönlich. Unsere Geruchsvermögen seien individuell ganz unterschiedlich. Düfte triggerten, nach Drobnick, ganz persönliche Erinnerungen und führten zu ganz subjektiven Affektionen. Des Weiteren seien Parfum und körpereigener Geruch essentiell für den Umgang mit Körper und Sexualität.[43]
Die kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit Geruch bildet die Basis für das Kapitel Odorama, in welchem die Geschichte der Hierarchisierung der Sinne und die biologischen Umstände des Riechens ausführlich untersucht werden.
Es folgt ein knapp gefasster chronologischer Überblick über die relevante Literatur zum Geruch in Kunst und Ausstellungsgeschehen: Impulsgebend für die vorliegende Untersuchung ist eine Vortragsserie zu allen Sinnen, die in den 1990er-Jahren in der Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, stattgefunden hat.[44] Die Vorträge behandeln alle Sinne quantitativ gleichwertig aus naturwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher, künstlerischer, gestalterischer und auch ökonomischer Sicht. Mit dieser Reihe wurde der Versuch unternommen, allen Sinnen gleichen Raum, gleiche Beachtung und gleiche Komplexität einzuräumen und eine Hierarchisierung der Sinne beziehungsweise die Voranstellung von Sehen und Hören in Frage zu stellen. Ein bemerkenswertes Forschungsergebnis ist jedoch, dass ein sprachliches Unvermögen in Bezug auf Gerüche konstatiert wird. Dieses Ergebnis soll in vorliegender Untersuchung überprüft werden.[45]
1998 erscheint Michel Serres viel beachtete Publikation Les Cinq Senses.[46] Mehr als eine romantische Idee davon, wie ein Künstler seinem Pinselstrich mit der ganzen Hand nachspürt, gewinnt man dadurch jedoch nicht. Olfaktorik spielt in diesem Band, anders als der Titel vermuten lässt, eine unbedeutende Rolle.
Im selben Jahr widmet die Zeitschrift Beaux Arts ein Titelthema Kunstwerken, die mit allen Sinnen erfahrbar sind.[47] In seinem Leitartikel stellt Nicolas Bourriaud internationale Kunstwerke vor, die zu hören, riechen, schmecken, tasten oder auch zu sehen sind. Die Aufzählung der Odeur-Kunstwerke umfasst unter anderem von Duchamp und Salvador Dalí entworfene Parfums, von Höller in den 1990er-Jahren hergestellte Testosteron-Pheromon-Cocktails und die von Höller und Christine Crozats hergestellte Seifeninstallation Récolte de savons aus dem Jahre 1995. Es fehlt jedoch – auch hier – eine ausführliche Analyse der Rezeptionsvorgänge solcher Werke. Bourriaud liefert eine Aufzählung von gustativ, olfaktorisch, akustisch, taktil und visuell rezipierbaren Werke in Form eines Tatsachenbestandes, ohne auf die Rezeptionsvorgänge einzugehen.
2001 unternimmt Sally Banes den Versuch, eine Übersicht über zeitgenössische Performances, die auch riechbar sind, zu erstellen und Geruch in zeitgenössischen Bühnenstücken zu analysieren.[48] Bemerkenswert ist ihr Versuch, Geruch im Sinne von Roland Barthes Idee einer visuellen Spektral-Analyse einzuordnen, nämlich als einen der vielen semiotischen Kanäle, die in Gebrauch genommen und untersucht werden können.[49] Olfaktorische Elemente sollen als kulturelle Zeichen und Formen analysiert werden. Dabei stellt sie ganz unterschiedliche Möglichkeiten für den Einsatz von Duft und Gestank auf der Bühne vor und informiert darüber, wie sich Feststellungen (auch politische) über Geruch im Laufe der Zeit ändern können. Zum Beispiel, wie es im 18. Jahrhundert in den Theatern üblich war, Gerüche mitspielen zu lassen und wie die Trennung zwischen Betrachter und Bühne in der Moderne forciert und der Theatergenuss auf Sehen und Hören beschränkt wird.[50] Erst in den 1990er-Jahren werden, so Banes, jene »olfactory effects« wieder diskutiert. In Erscheinung treten diese Effekte dann aber meist als »aroma designs«, die illustrativ das Visuelle und Akustische wiederholen und nicht als eigenständige performative Komponenten wahrgenommen werden konnten.[51] Beispiele, die Banes hierfür nennt, sind der Einsatz von Diesel- und Citronella-Aromen in Ivo van Hove’s Umsetzung des Stückes India Song im Jahre 1999 oder die Anwendung von Raumspray mit klebrigem Erdbeergeruch in Joe Orton’s Stück Ertaining Mr. Sloane, welches 1996 von David Esbjornson in New York produziert wird.[52] Interessanter für diese Untersuchung (und auch für Banes Blick auf die Theaterlandschaft) ist ein Aufgebot von Duft und Gestank, welches das Gezeigte komplementiert oder kontrastiert. Beispiele hierfür sind der Gebrauch von Erdbeerduft in der Performance Women’s Roll (1976) der Künstlerin Cosey Fanni Tutti, der stark mit den gezeigten Fleischwunden kontrastiert oder Shaun Lynch’s Clean Opera (1980), in der die Gerüche von Putzmitteln und Hygieneartikeln überwältigend sind und hervorragend die Waschorgie der Performerin und die gezeigten Wachmittelwerbespots komplettieren.[53] Ein Beispiel für die Unterstützung des Rituellen durch Duft, erkennt Banes im konstanten Abbrennen von Räucherstäbchen in Peter Brook’s Mahabharata (1985), das nicht nur an indische Bräuche erinnert, sondern auch den spirituell hinduistischen Inhalt des Stückes repräsentiert.[54] Die Gerüche zeigen bestimmte Ethnizitäten in exotischer Weise. Dieser olfaktorische Kniff wird nach Banes zu häufig angewandt.[55] Geruchsvorurteile werden hier nicht hinterfragt, sondern vielmehr untermauert. Unter ›Mittel der Distanzierung‹ nach Barthes versteht Banes die Kreierung einer Situation, die so künstlich ist, dass sie auf Kunst als Repräsentation anspielt und den Betrachter aus einer immersiven Theatererfahrung herausholt. Solches Herausholen könnte über Duft aus Aromamaschinen oder Scratch- und Sniff-Karten geschehen, die mit dem Ablauf auf der Bühne nicht unbedingt etwas zu tun haben. Gerüche werden dabei zu eigenständigen Zeichen, die getrennt vom akustischen und visuellen Output der Performances analysiert werden können. Banes stellt diese Möglichkeit vor, nennt aber keine konkreten Beispiele. Das irritierende Moment des Nicht-Zusammen-Passens zwischen visueller oder akustischer und geruchlicher Erfahrung ist zentral für viele olfaktorische Kunstwerke in der zeitgenössischen bildenden Kunst. In Hinblick auf diesen wichtigen Punkt werden einige Werke an anderer Stelle analysiert.
Erst Anfang 2015 eröffnet die erste Ausstellung im deutschsprachigen Raum, die über experimentelle Zugänge zu olfaktorischer Kunst, Reflektion über den in der bildenden Kunst vernachlässigten Geruchs-Sinn fördern will. Im Museum Tinguely in Basel stellt die Kuratorin Annja Müller-Alsbach unter dem Titel Belle Haleine – der Duft der Kunst Grafiken, Installationen, Videos, Zeichnungen, Fotografien, Objekte und konzeptuelle Werke zum Geruch in den Künsten zusammen. Fokus der Ausstellung liegt auf der Diskrepanz zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit, die sich in Werken aus den letzten zwanzig Jahren widerspiegeln soll. Leider liegt zum Zeitpunkt der Abgabe dieser Dissertation noch keine Dokumentation vor, die diese Arbeit mit Sicherheit bereichert hätte.[56]
2006 untersucht Caroline Jones am Massachusetts Institute for Technology zusammen mit Kollegen aus den Kultur- und Medienwissenschaften die Einflüsse von Technologie-Entwicklungen auf Sinneswahrnehmungen in der zeitgenössischen Kunst.[57] Publikation und Ausstellung dazu tragen den Titel Sesnsorium. Embodied Experience, Technology, and Contemporary Art. Der Anspruch des Unterfangens ist: »[to] explores various ways in which artists address the influence of technology on the senses. The impact of new technology has reshuffled the established hierarchy of the senses and radically changed people’s lives.«[58] In der Ausstellung werden elektronisch gestützte Kunstwerke gezeigt, die nicht nur über das Sehen, sondern auch über Hören, Tasten und auch Riechen rezipiert werden können. Die Vielfalt der multisensorisch wahrnehmbaren Kunstwerke steht im Vordergrund. Diskutiert wird zudem der Zusammenhang zwischen sensorischer / körperlicher Wahrnehmung und unserem Denken, wie Jones formuliert: »[…] embodied experience through the senses (and their necessary and unnecessary mediations) is how we think.«[59] Die tatsächlichen Unterschiede in den Rezeptionsvorgängen über die verschiedenen Sinne werden leider nicht weiter dargestellt und diskutiert.
In einem Beitrag zu Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen in der Kunst beschreibt Barbara Lange das Dilemma, dass es keine zuverlässige Archivierung zum Beispiel für Roths Schimmelmuseum in Hamburg oder Wolfgang Laibs riechende Milchsteine gibt.[60]