Kurs ins Ungewisse - David Donachie - E-Book
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Kurs ins Ungewisse E-Book

David Donachie

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Beschreibung

Eine gefährliche Reise – ein unsichtbarer Feind: Der Seefahrerroman »Freibeuter Harry Ludlow: Kurs ins Ungewisse« von David Donachie als eBook bei dotbooks. Während im Jahre 1794 die Schrecken der französischen Revolution ganz Europa in Brand zu stecken drohen, spitzt sich auch auf See die Situation zu: Im Ärmelkanal geraten der erfahrene Freibeuter Harry Ludlow und seine Mannschaft in den erbitterten Kampf zwischen rivalisierenden Schmugglern. Zwar gelingt es ihnen, sich in Sicherheit zu bringen, doch die ist trügerisch: Hinter der Fassade der idyllischen Hafenstadt Deal herrschen Korruption und Gewalt. Für Ludlow und seinen Bruder James steht fest, dass sie etwas unternehmen müssen, um der Bevölkerung zu helfen – denn sie sind nicht nur mit allen Wassern gewaschene Seemänner, sondern auch ehrbare Gentlemen … »Ein Muss für alle Fans von Marine-Romanen – ein großartiges Buch.« Manchester Evening News Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der nautische Kriminalroman »Freibeuter Harry Ludlow: Kurs ins Ungewisse« von David Donachie wird Fans von C.S. Forester und Patrick O’Brian begeistern; das Hörbuch ist bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Während im Jahre 1794 die Schrecken der französischen Revolution ganz Europa in Brand zu stecken drohen, spitzt sich auch auf See die Situation zu: Im Ärmelkanal geraten der erfahrende Freibeuter Harry Ludlow und seine Mannschaft in den erbitterten Kampf zwischen rivalisierenden Schmugglern. Zwar gelingt es ihnen, sich in Sicherheit zu bringen, doch die ist trügerisch: Hinter der Fassade der idyllischen Hafenstadt Deal herrschen Korruption und Gewalt. Für Ludlow und seinen Bruder James steht fest, dass sie etwas unternehmen müssen, um der Bevölkerung zu helfen – denn sie sind nicht nur mit allen Wassern gewaschene Seemänner, sondern auch ehrbare Gentlemen …

Über den Autor:

David Donachie, 1944 in Edinburgh geboren, ist ein schottischer Autor, der auch unter den Pseudonymen Tom Connery und Jack Ludlow Bekanntkeit erlangte. Sein Werk umfasst zahlreiche Veröffentlichungen; besonders beliebt sind seine historischen Seefahrerromane.

David Donachie veröffentlichte bei dotbooks seine Serie historischer Abenteuerromane um den Freibeuter Harry Ludlow mit den Bänden »Klar Schiff zur Höllenfahrt«, »Im Windschatten des Schreckens«, »Kurs ins Ungewisse«, »Die zweite Chance«, »Im Kielwasser: Verrat« und »Abstieg zu den Fischen«. Die Hörbücher sind bei SAGA Egmont scheinen.

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eBook-Neuausgabe August 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1994 unter dem Originaltitel »A Hanging Matter« bei Macmillan, London.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1993 by David Donachie

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998, Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz unter Verwendung von Shutterstock/Abstractor, Vector Tradition, paseven, MF production, brickrena und AdobeStock/Bora

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-686-3

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David Donachie

Kurs ins Ungewisse

Roman – Freibeuter Harry Ludlow 3

Aus dem Englischen von Uwe D. Minge

dotbooks.

Deal ist eine Hochburg der Kriminalität. Der Ort ist voller verdreckt aussehender Leute. Überall herrscht abscheuliches Elend. Es gibt riesige Baracken, die zum einen Teil abgerissen werden und zum Teil von selbst einstürzen, der Rest wird von Soldaten bewohnt. Alles scheint zum Untergang verurteilt. Ich war froh, daß ich nicht bleiben mußte und die Kneipen und öffentlichen Häuser den schmutzigen Männern in ihren blauen und braunen Jacken überlassen konnte, deren bloße Nähe ich immer verabscheut habe.

William CobettRural Rides, 1823

Vorwort

Dieses Vorwort wurde ungefähr dreißig Jahre nach den Ereignissen geschrieben, von denen in diesem Buch die Rede ist, als die Stadt noch unter der Rezession litt, die das Ende der Napoleonischen Kriege mit sich gebracht hatte. Cobett blieb nicht lange genug, um die neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Zoll und den Schmugglern mitzuerleben. Das Ergebnis der Kämpfe war voraussehbar, da sich der Staat entschloß, Schiffe und Männer bereitzustellen und das kriminelle Treiben offiziell zu bekämpfen. In der Folge wurden die Schmuggler auch durch die Zunahme des freien Handels ausgehungert.

Doch während des Krieges waren die Aktivitäten der Schlepper und Hehler für diese Region lebenswichtig – so wie sie auch für den Feind lebenswichtig waren. Würde man sagen, daß der Schmuggel an der Ostküste von Kent wohl etabliert war, so wäre das fast eine Untertreibung. Napoleon hätte seine Feldzüge nicht ohne das Gold finanzieren können, das diese Männer nach Frankreich schmuggelten. Sie waren für die französische Wirtschaft von so enormer Bedeutung, daß die Regierung in Dünkirchen einen Teil des Hafens zur Verfügung stellte. Unglücklicherweise führten sie sich jedoch so rowdyhaft auf, daß die Bürger Dünkirchens Protest anmeldeten. Der Kaiser verlegte die Landeplätze daher nach Gravelines. War das ein frühes Beispiel von englischem Hooliganismus im Ausland?

Heute ist Deal das letzte existierende Seebad im georgianischen Stil in England, das geradezu ein Modell für dieses bemerkenswerte und elegante Zeitalter war. Die Reede ist verhältnismäßig leer, es sei denn, daß draußen im Kanal ein schwerer Sturm wütet. Trotzdem liegt die Geschichte dicht unter der Oberfläche. ›Kurs ins Ungewisse‹ ist eine erfundene Geschichte, aber einige der handelnden Personen haben existiert. Die Landschaft ist ohnehin unverändert.

Die Sandbänke der Goodwins bilden immer noch einen hervorragenden Schutz für die Küste. Dasselbe gilt für zwei der drei Tudorschlösser. Die Boote werden noch immer auf den Strand gezogen, auch wenn sie zahlenmäßig weniger geworden sind. Die Stadt ist anständig geworden. ›The Hope and Anchor‹ ist erfunden, aber an derselben Stelle gibt es ein Pub. ›The Paragon‹ ist verschwunden. Der Portobello Court ist heute eine ruhige Sackgasse, in der weiße Villen stehen. Das Hotel ›The Ship Inn‹ steht immer noch da, wo es sich auch um 1790 befand, und im ›Griffin’s Head‹ bekommt der Reisende noch immer gutes Essen und Getränke. Und wer die Zeichen zu deuten versteht, der wird bemerken, daß zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch entstand, eine Witwe namens Naomi Smith Besitzerin des ›Griffin’s‹ war.

David DonachieDeal, 1993

Prolog

Je mehr sie tranken, desto lautstarker benahmen sie sich. Ihre Stimmen tönten von den niedrigen Deckenbalken des ›Griffin’s Head‹ wider. Mit ihrer Angeberei hatten sie schon etliche mißbilligende Blicke auf sich gezogen. Es waren drei Männer, jung, disziplinlos, aber gut gekleidet. Sie waren ohne Zweifel wohlhabend. Diese Burschen hatten Geld in der Tasche, das sie ausgeben wollten; dazu kam, daß sie sich enorm selbstsicher fühlten. Draußen stand ein Wagen voller Konterbande, der von bewaffneten Dienern bewacht wurde. Solche Leute waren keine Unbekannten in ›Griffin’s Head‹, denn die Schenke lag auf dem Weg zwischen Deal und Canterbury. Viele gutbetuchte Menschen fuhren an die Küste, um direkt bei den Schmugglern, die die Küste von Kent verpesteten, unversteuerte Waren zu kaufen. Sie benutzten diese Route, weil sie so die Straße von Dover nach London mieden, auf der sich immer viele neugierige Zöllner herumtrieben.

Tite, der an seinem Ale nippte, trat einen Schritt zurück und starrte kurzsichtig durch die Tür. Ein schriller weiblicher Schrei hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Bedingt durch sein schlechtes Sehvermögen nahm er die Gesichter aus dieser Entfernung nur als verwaschene Umrisse wahr, aber was sich abspielte, war auch so eindeutig genug. Die Männer lachten, als das Serviermädchen Polly Pratchitt verzweifelt versuchte, sich loszureißen. Zwei Bauern, die an der Bar des kleinen Schankraums standen und durch die Luke in den Hauptraum blicken konnten, nahmen ihre Pfeifen aus dem Mund und schüttelten die Köpfe. Was sie einander zu murmelten, veranlaßte Tite, der eine bessere Sicht haben wollte, durch die Tür in den großen Salon zu treten.

Leider war Polly nur noch ein undeutlicher Schatten, der in Richtung der Küche verschwand. Sie versuchte, ihre nackten Brüste mit den Überresten der zerrissenen Bluse zu bedecken. Einer der Burschen lächelte. Es war jedoch kein Wunder, daß sie ihre Späße mit ihr trieben, denn sie war im heiratsfähigen Alter und hatte einen wunderbaren Busen, einen von der Sorte, die von der Natur dazu bestimmt sind, jeden Blick auf sich zu ziehen. Spöttisches Geheul folgte ihrer Flucht; man rief lautstark sowohl nach mehr Rotwein als auch nach mehr nacktem Fleisch. Tite grinste. Er war, wie jeder andere Mann im Raum auch, durchaus angetan vom Anblick eines nackten Busens. So stellte er seinen Becher auf den nächsten Tisch, ging in Richtung Küche und gab sich den Anschein eines Mannes, der sich dringend erleichtern mußte.

Er hatte Glück. Polly, die sich in der Küche sicher fühlte, hatte gerade ihre zerrissene Bluse ausgezogen, damit sie und ihre Freundinnen den Schaden begutachten konnten. Sie waren so beschäftigt, daß sie die gekrümmte Gestalt in der Tür nicht bemerkten. Tite, der nur noch etwa drei Fuß entfernt war, erhaschte einen herzerwärmenden langen Blick auf Pollys nacktes Fleisch. Der Aufschrei, der als Reaktion auf sein zufriedenes Grunzen folgte, wurde von hektischer Betriebsamkeit begleitet, während Polly und ihre Freundinnen panisch versuchten, die Blöße schamhaft zu bedecken.

»Hau ab, du dreckiger, schleimiger alter Spanner!«

»Darf ein Mann nicht mehr pinkeln gehen?« grummelte Tite in dem Bemühen, eine Ausrede hervorzubringen.

»Schmutziger alter Idiot«, zischte Amy Igglesden, das älteste der Mädchen. »Es würde mich nicht überraschen, wenn du in die Küche pinkeln würdest.«

Aber sie redete zu einer leeren Türöffnung, denn Tite war bereits durch den Hintereingang der Kneipe verschwunden. Draußen blieb er nicht weit von einem geöffneten Fenster stehen und öffnete seine Hose. Halb ärgerlich, halb amüsiert hörte er die wüsten Beschimpfungen der Mädchen, die sich über ihn, über sein Alter und seine körperlichen Fähigkeiten ausließen.

»Macht euch keine Gedanken, Mädchen«, kicherte er in sich hinein. »Der alte Tite kann noch so hart und schnell reiten, daß jeder von euch vor Lust das Hören und Sehen vergehen würde.«

Während der dünne Wasserstrahl gegen die Mauer plätscherte, wanderten seine Gedanken zu seiner Zeit als Seemann zurück. Er war der Bursche des verstorbenen Admirals gewesen, als der noch ein simpler Leutnant war, und er blieb auf diesem Posten, als sein Herr die Karriereleiter emporkletterte. Es war ein gutes Leben gewesen. Als Leibbursche unterlag Tite nicht der strikten Disziplin wie die anderen Mannschaftsmitglieder. Die Männer bekamen keinen Landgang, da man sich nicht darauf verlassen konnte, daß sie nicht desertierten. Er dagegen hatte die Aufgabe, die persönlichen Vorräte seines Herrn aufzufüllen, und kam oft an Land. Da er wußte, wie man die eine oder andere Münze aus diesem lukrativen Posten herausschlagen konnte, verfügte Tite stets über die nötigen Mittel, um die örtlichen Bordelle besuchen zu können. Es hatte natürlich auch länger andauernde Verhältnisse gegeben, einige hatten sich sogar über Monate hingezogen, wenn sein Herr ohne ein Schiff auf dem trockenen saß. Aber im allgemeinen hatte Tite seine Lust bei käuflichen Damen aller Art befriedigt.

»Ich sage, daß sie noch bösartiger werden. Und daß man Pollys Bluse zerreißt, kann man nicht hinnehmen. Wir müssen Mrs. Smith holen, damit sie die Kerle rausschmeißt.«

Diese Bemerkung von Amy Igglesden riß Tite aus seinen schönen Erinnerungen. Er hatte bemerkt, daß Naomi Smith, die junge Witwe, der das ›Griffin’s Head‹ gehörte, während des Vorfalls nicht anwesend gewesen war. Sie hatte zwar die Angewohnheit, jeden Morgen das Grab ihres Mannes zu besuchen, um frische Blumen niederzulegen. Aber weshalb blieb sie jetzt oben in ihren Räumen, während unten alles drunter und drüber ging? Sie legte großen Wert auf das gute Benehmen ihrer Kunden und hegte eine besondere Abneigung gegen alle, die sich über die Armut der Küstenbewohner lustig machten. Sie wußte, daß die armen Männer mit Frau und Kindern aus nackter Not zum Schmuggeln gezwungen waren. Es gab nur wenig Alternativen, einen ehrlichen Penny zu verdienen – jedenfalls in dieser Gegend und sogar dann, als der Krieg mit Frankreich wieder ausgebrochen war.

Hand an eines von Naomis Mädchen zu legen war ein Übergriff, der normalerweise eine saftige Abreibung nach sich zog. Wäre Naomi Smith im Schankraum oder im Salon gewesen, dann wären die Krakeeler geflogen, noch ehe sie ihre erste Flasche halb geleert hatten. Tite hatte so etwas schon gesehen, wenn Gäste über die Stränge schlugen. Und wenn sich die Situation zuspitzte, dann konnte sich Naomi auf die Unterstützung ihrer Stammgäste verlassen.

Polly entgegnete Amy: »Sie hat befohlen, daß sie und der Gentleman keinesfalls gestört werden dürfen. Um keinen Preis!«

Jetzt spitzte Tite die Ohren. Bei einem Mann, der gerade noch in vergangenen Liebesabenteuern geschwelgt hatte, schlugen diese Worte eine empfindliche Saite an. Wenn sich eine Dame, die so gut aussah wie Naomi Smith, mit einem Gentleman zurückzog und anordnete, daß sie nicht gestört werden wollte, dann konnte das nur eins bedeuten. Tite wußte, daß Naomi kein verwitwetes Mauerblümchen war – trotz des täglichen Besuchs auf dem Friedhof. Der Sohn des verstorbenen Admirals, dem zufällig das Land gehörte, auf dem das ›Griffin’s Head‹ stand, hatte seit langem eine Beziehung zu Naomi Smith, die vermutlich über schlichte Höflichkeit hinausging.

Tite setzte eine unschuldige Miene auf und bewegte sich in Richtung der Stallungen. Aus Erfahrung wußte er, daß man von dort den besten Überblick hatte ... Als er am hölzernen Schuppen vorbeiging, sah er, daß Naomis kleine Kutsche im Stall stand; die leeren Deichsel ragten zum Dach auf. Doch dann erregte das Pferd in der nächsten Box, ein Apfelschimmel, seine Aufmerksamkeit. Tite identifizierte die Stute sofort. Sie stammte aus den Ställen von Cheyne Court. Er hatte sie dort gesehen. Sie war vom Schwager seines Herren geritten worden, einem Mann, den er verabscheute. Tite drehte sich schnell herum und blickte zu Naomis Fenster empor. Dort wurde gerade ein Mann sichtbar, der eine Perücke und einen schwarzen Rock trug. Er stand mit dem Rücken zum Fenster gewandt.

Tite eilte den Weg zurück, den er gekommen war, drückte sich unbemerkt an der Küche vorbei, wandte sich nach rechts und blieb dann am Fuß der Treppe stehen. Das besoffene Trio im Salon sang gerade eine laute und vulgäre Version von »Tom Bowling«, was es ihm erschwerte, die Unterhaltung auf dem oberen Treppenabsatz zu verstehen. Aber er erkannte die Stimmen: das typisch schottische Schnarren von Lord Drumdryan und der tiefe, leicht rauhe Ton von Naomi Smith.

»... Hier liegt mit blankem Hintern der glückliche Tom Bowling der Darling meiner Crew ...«

»Ich bin natürlich sehr geschmeichelt«, sagte Lord Drumdryan. »Aber ich habe ein Dinner vorbereitet ...«

Tite bekam den Rest des Satzes nicht mit, der im nächsten Vers des unanständigen Liedes unterging.

»... Seine Gestalt war von männlicher Schönheit, sein Herz war sanft und freundlich ...«

Naomis Stimme war gut zu verstehen, aber Tite hatte die ersten Worte nicht gehört.

»... danach. Ich habe den Mädchen erklärt, was ich vorhabe, und sie sind sehr erfreut über den Plan.«

»... Zuverläßlich hat er seine Pflicht hier unten getan, und jetzt ist er nach oben entschwunden, noch immer mit heruntergelassenen Hosen ...«

Der Gesang wurde von brüllendem Gelächter abgelöst. Die Männer schlugen mit ihren Krügen auf die Tischplatte und riefen nach mehr Rotwein.

»Ich fürchte, daß Ihre Gäste etwas außer Kontrolle geraten, Madame.«

»Ich muß mich jetzt darum kümmern«, erwiderte Naomi, »aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir sagen würden, wie Sie meine Einladung auffassen.«

Der höfliche Tonfall in Drumdryans Stimme mochte jedem, der ihm so übel wie Tite gesonnen war, ziemlich verlogen erscheinen. »Es wäre flegelhaft, abzulehnen, Madame. Ich kann nicht anders, ich nehme an.«

Naomi wurde etwas deutlicher. »Dann kann ich die Vorbereitungen vorantreiben?«

»Auf alle Fälle.«

Als Naomis Schritte auf der Treppe laut wurden, verzog sich Tite. Er packte wieder seinen Krug Ale und stellte sich an das Fenster, von wo er die Vorderseite der Schenke überblicken konnte. Er beobachtete die Straße nach Knowlton Court, murmelte leise vor sich hin und fragte sich, was sein Wissen wert sein mochte. Dann wurde er von Naomi Smith unterbrochen. Sie ertönte tief, ruhig, fest und genau hinter ihm.

»Meine Gastfreundschaft schließt nicht die Erlaubnis zum Singen schmutziger Lieder ein. Sie werden hier nichts mehr bekommen, Sirs. Sie werden für das bezahlen, was Sie verzehrt haben, und dann gehen!«

»Mein lieber Barrington«, ließ sich ein Mann vernehmen, der mit dem Rücken zur Wand stand, »ich fürchte, man droht uns. Eine so hübsche Person.«

»Nun, Madame«, antwortete Barrington, der ihr am nächsten saß: »Ich brauche erst noch mein nötiges Quantum an Essen und Trinken. Es würde mir das Herz brechen, übereilt aufbrechen zu müssen. Besonders ohne einen so reizenden Leckerbissen wie Sie es sind.«

Sein Gesicht war vom Wein gerötet, und seine Perücke war etwas verrutscht. Seine spöttische Galanterie dämpfte Naomi Smiths’ Zorn keineswegs. Ihr Gesicht wurde hart. Sie verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und blickte ihre Gäste der Reihe nach an.

»Sie könnten sich einen deformierten Schädel zuziehen, falls Sie bleiben, Sir.«

Barrington drehte sich herum, um seine Kameraden anzugrinsen, denn er konnte den Knüppel nicht sehen, den sie in den Falten ihres Rocks versteckte.

»Meinen Kopf deformieren? Ich hatte eher im Sinn, das Jungfernhäutchen eines Bauernmädchens zu deformieren.«

Diese Idee gefiel ohne Zweifel dem Dritten im Bunde, der während der letzten Minute sorgfältig Naomis Figur studiert hatte.

»Dafür ist es zu spät, Barrington. Aber sie ist eine heiße Stute, da gibt es keinen Zweifel. Denk dran, ich für meinen Teil halte mich lieber an die mit dem großen Vorbau.«

»Mein lieber Freund Stanly verspürt den dringenden Wunsch, mit der Dienstmagd ins Bett zu springen. Ihr Name ist Polly, glaube ich. Es könnte sogar sein, daß er sich in der Lage sieht, ihr die zerrissene Bluse zu ersetzen. Haben Sie einen festen Tarif für dieses Weibsstück?«

Naomis Stimme veränderte sich nicht. »Sie müssen Ihre Rechnung bezahlen, Sir, das Essen und die Getränke, denn das ist das einzige, was in ›Griffin’s Head‹ käuflich zu erwerben ist. Legen Sie das Geld auf den Tisch. Und zwar sofort, bevor die Angelegenheit noch eine unangenehme Wendung nimmt.«

Barrington blickte an ihr vorbei, als ob er im Raum etwas suche. Er registrierte die Männer, die sich in der Tür zu dem kleinen Schankraum drängten, warf einen Blick auf Tite neben dem Fenster und musterte die herumlungernden Gäste in dem halbgefüllten Salon. Da er fremd war, konnte er nicht wissen, wie viele von den Gästen Einheimische waren und wie sie reagieren würden, wenn er die Besitzerin herausforderte. Seine Antwort enthielt mehr Bluff als echte Drohung: »Das wollen Sie mir vorschreiben? Eine einfache Frau?«

»Diese einfache Frau pflegt ihre Versprechen zu erfüllen, Sir«, beschied ihn Naomi.

Barrington lehnte sich vor, sein Gesicht wurde ernst, als er zu ihr aufsah. »Dann werden Sie jetzt Ihre Unverschämtheiten einstellen, Madame. Sollten Sie das nicht tun, werden meine Freunde und ich Ihre Möbel in Kleinholz verwandeln.«

Es war Blake, der die entscheidenden Worte hinzufügte, denn er konnte den Bluff nicht erkennen, der auf Barringtons Gesicht geschrieben stand. Er nahm die vollmundige Aussage seines Freundes für bare Münze und setzte noch eine Drohung darauf.

»Und vielleicht, Madame, werden wir von Ihnen und dieser Milchkuh, die uns bedient hat, etwas nehmen, das Sie uns nicht freiwillig geben wollen, auch nicht für einen angemessenen Preis. Vielleicht wollen Sie lieber selbst Ihre Bluse ausziehen und uns einen Blick gönnen, damit Ihnen das Schicksal des anderen Miststücks erspart bleibt?«

Es gab keine Warnung. Keinen ärgerlichen Aufschrei. Naomis Knüppel traf Barrington genau auf der Stirn. Er wurde von der Wucht des Schlages vom Stuhl geschleudert und lag zusammengekrümmt auf dem hölzernen Boden. Seine Kumpane schoben sich auf die Füße, aber die erhobene Keule in der Hand der Frau, die ein zweites Mal zuschlagen wollte, ließ sie innehalten.

Naomi war jetzt nicht mehr gelassen. Ihre Stimme war eisig: »Zahlen Sie, Gentlemen, oder ich werde meine Stammgäste bitten, Sie im Wassertrog vor der Tür abzukühlen.«

Dieser Satz wurde von einem allgemein zustimmenden Gemurmel der Männer im Raum begrüßt, und Polly Pratchitt stand mit einem Fleischklopfer in der Hand in der Küchentür. Man hörte nur das Klimpern der Münzen, die auf der Tischplatte herumrollten.

»Jetzt nehmen Sie diesen Wurm und laden Sie ihn auf Ihre Kutsche«, befahl Naomi.

Im Raum war es völlig ruhig, als die beiden, die plötzlich wieder stocknüchtern waren, sich beeilten, der Aufforderung nachzukommen. Sie zogen Barrington zwischen sich in die Höhe und stolperten zur Tür.

Aber Naomi war noch nicht fertig. »Sollten Sie sich bemüßigt fühlen, über Rachepläne nachzusinnen, Sirs, dann würde ich an den Wert Ihrer Ladung aus Konterbande denken. Stellen Sie sich dann die Frage, ob Sie beides verlieren wollen: die Ladung und Ihre Freiheit – wenn man Sie vor den örtlichen Richter zerrt und dort für den Transport unverzollter Waren verurteilt.«

Der Gedanke an die Konterbande ließ Tite sich wieder zum Fenster wenden. Aber er achtete nicht auf die schwer beladene Kutsche. Statt dessen ruhte sein Auge auf dem Hinterteil des Apfelschimmels, der hügelaufwärts in Richtung von Cheyne Court getrieben wurde. Lord Drumdryan, der gewußt haben mußte, daß es im Salon Ärger geben würde, war fortgeritten und hatte es Naomi Smith überlassen, die Angelegenheit allein zu bereinigen. Was mochte sie an so einem Mann finden? Es stand außer Zweifel, daß der Lord ein Verhältnis mit der Lady hatte.

Was würde wohl Tites Herr, Kapitän Ludlow, dazu sagen, wenn er erfuhr, daß sein Schwager in das Bett gehüpft war, das sonst ihm offen gestanden hatte? Da konnte dem Teufel in der Hölle heiß werden!

»Komm bald zurück, Kapitän«, murmelte Tite, denn er wußte, daß Harry Ludlow sich nicht so feige benommen hätte. Er hätte sich verhalten wie ein Mann und diese vorwitzigen Lümmel an seinem ausgestrecken Arm verhungern lassen.

Tite hatte reichlich getrunken, als er sich auf den Heimweg machte. Als er so herumtaumelte, wurde er beinahe von einem Reiter umgeritten. Er hatte gerade noch Zeit, dem Hinterteil des verschwindenden Tiers hinterherzufluchen, als sein verschwommener Blick das Aufblitzen eines roten Militärrocks registrierte.

»Verdammte Arschlöcher!« brüllte er und drohte betrunken mit der Faust.

Aber falls der Reiter ihn gehört haben sollte, machte er sich nicht die Mühe einer Antwort.

Kapitel 1

Das Gesicht von James Ludlow verzog sich schmerzvoll, als das Rad der Kutsche über eine weitere vereiste Wagenfurche holperte. Dem Fahrer blieb keine andere Wahl, wollte er die Geschwindigkeit erhöhen, mit der sich die Kutsche einen Weg durch die Masse der Flüchtlinge bahnte. Erschöpfte Männer, Frauen und Kinder, die alle ein Bündel schleppten, das ihre dürftigen Habseligkeiten enthielt. Alle wollten in dieselbe Richtung – weg von dem Donnern der Kanonen, die im Süden dröhnten. Die Gesichter derjenigen, die noch genug Energie besaßen, um aufzublicken, drückten mehr Schrecken aus, als James es mit Worten auszudrücken vermochte, die angesichts dieses Leids auch ziemlich unangemessen klangen: »Verdammt, Harry. Sollte ich mich jemals wieder über die Unbequemlichkeit des Bordlebens beklagen, dann erteile ich dir hiermit meine Erlaubnis, mich an Deck auszuquartieren.«

Harry Ludlow fühlte sich weniger durchgeschüttelt als sein Bruder; dabei hielt er ständig die Muskete in der Balance, um sicherzustellen, daß sie nicht aus Versehen losging. Da er den größten Teil seines Lebens auf See verbracht hatte, oft genug unter Bedingungen, die die Verhältnisse auf den Straßen von Flandern wie die Straßen zum Paradies erscheinen ließen, war er für Meckereien weniger anfällig. James, der meistens ein Landbewohner war, machte immer ein großes Gewese um seine Bequemlichkeit, ob es an Bord war oder sonstwo. Pender, ihr Diener, thronte oben auf den Seekisten am Heck der Kutsche. Er warf James’ Hinterkopf ein grimmiges Lächeln zu. Für ihn bedeutete die Tatsache, daß er nicht zu Fuß gehen mußte, im Gegensatz zu dem menschlichen Treibgut um sie herum, eine Quelle tiefer Befriedigung.

»Ich werde dafür sorgen, Bruder, falls ich es nicht vergesse«, erwiderte Harry. Sein Atem bildete weiße Dampfwolken in der eiskalten Luft. »Seit wir zum ersten Mal unseren Anker gelichtet haben, meckerst du über schlechte Unterkünfte.«

James’ schlechte Laune nahm zu, und die Landschaft unter dem grauen drohenden Himmel schien zu seiner Stimmung zu passen. In dieser düsteren Umgebung gab es nichts, was seine Gedanken aufheitern konnte. Die Gegend war flach und konturlos, windgepeitscht und ohne Bäume. Der Zustand der Straße war ein noch eindeutigerer Beweis der Niederlage als die flüchtenden Menschen. Überall standen Karren mit Verwundeten, und jeder, der sich die Mühe machte, genau hinzusehen, konnte erkennen, daß viele der Männer abgerissene britische Uniformen trugen.

Der Kutscher benutzte nun seine Peitsche, um die Pferde zu zwingen, die Kutsche aus einer weiteren Spurrille zu ziehen. Sie legte sich gefährlich nach einer Seite über, was zahlreiche Menschen veranlaßte, erschreckt zur Seite zu springen.

James ignorierte deren Protestrufe. Er warf dem dicken Hintern des Kutschers einen angesäuerten Blick zu und versuchte vergeblich, sich durch eine Veränderung der Sitzhaltung etwas bequemer zu plazieren. »Die Qualen, die ihr Seeleute erdulden könnt, verwundern mich jedesmal wieder, Bruder. Sogar den privilegiertesten Menschen an Bord wird wirklicher Komfort vorenthalten. Die Kapitänskabine ist alles andere als ein herrschaftlicher Salon, trotz der Anstrengungen, die man unternimmt, um das zu übertünchen. Ich habe genügend Inneneinrichtungen von Schiffen gesehen, daß es mir für den Rest meines Lebens reicht.«

»Dann wirst du froh sein, nach Hause zu kommen.«

Die unterschwellige Drohung in dieser Bemerkung wurde deutlich an der Art, wie James die Stirn runzelte. Aber seine Wut richtete sich gegen den Kutscher und nicht gegen seinen älteren Bruder: »Und jetzt sollen uns auch noch die Franzosen im Nacken sitzen, wahrscheinlich eine Falschmeldung, mit der dieser Straßenräuber auf dem Bock sein Entgelt in die Höhe treiben will.«

Die Kanonen donnerten wieder, als wollten sie James’ Worte Lügen strafen. Harry schiftete die Muskete wieder etwas, dann blickte er nach Süden in Richtung der Frontlinie. Es war richtig, daß diese Kanonen relativ weit entfernt standen. Dort war das Zentrum der Schlacht. Aber die Franzosen würden Kavalleriepatrouillen ausschicken. Der Mob auf der Straße fürchtete sich vor der Bedrohung. Man erzählte sich, daß an der französischen Grenze eine Armee von Jakobinern wartete, die vor revolutionärem Eifer brannten und entschlossen waren, ihre unterdrückten Schicksalsgenossen im Norden zu »befreien«, jene armen geknechteten Bauern, die in Flandern lebten. Doch berücksichtigte man die Neuigkeiten, die aus Frankreich kamen, so war es kaum erstaunlich, daß einige der Einheimischen es durchaus vorzogen, das großherzige Angebot auszuschlagen.

Nachdem sie ihr eigenes Königshaus abgeschafft hatten, wollten die Franzosen jetzt die Vorteile der »Liberté, Égalité, Fraternité« all jenen bringen, die mit ihnen eine gemeinsame Grenze teilten. Aber diese hochherzigen Gedanken brachten auch den Terror mit sich, der sich als blutige Geliebte die Guillotine hielt. Die revolutionären Despoten hatten ganz Europa in Brand gesetzt.

Die Reiseroute der Brüder Ludlow war seit Genua durch diese Geschehnisse ständig beeinträchtigt worden, da sie mehrere Schlachtfelder umfahren mußten, was ihre Reise erheblich verlängert hatte. Sie hatten jetzt die Aussicht auf eine Kanalüberquerung gegen Ende Oktober vor sich, ein schrecklicher Zeitpunkt in diesem Gewässer, das auch in den Sommermonaten nicht gerade für einen sanften Wellenschlag bekannt war.

»Du könntest durchaus recht haben, James. Die Geschütze sind meilenweit entfernt. Aber ich halte mich an den Augenschein. Und was ich hier sehe, macht verdammt den Eindruck einer Armee auf dem Rückzug.«

James sah das genauso wie sein Bruder. Auch er hatte bemerkt, daß die alliierten Truppen hauptsächlich auf dem Weg nach Norden waren. Aber er ließ sich nicht überzeugen, sondern wurde eher noch wütender.

»Dieser Bursche, den wir als Kutscher angeheuert haben, sollte auf den Brettern stehen, die die Welt bedeuten. Ich habe noch nie einen besseren Schauspieler kennengelernt.«

Wie um James’ Worte zu unterstreichen, drehte sich der Mann auf dem Bock um und warf James Ludlow einen völlig verängstigten Blick zu. Falls er das Gespräch seiner Passagiere nicht verstanden hatte, mußte ihm spätestens unter dem Blick des zornigen James der Mut schwinden.

»Ich vermute, daß er derartige Melodramen nicht mehr nötig haben wird, sobald er uns das exorbitante Entgelt für diese Reise abgenommen hat. Aber noch führt er mir alle zwei Minuten sein ängstliches Augenrollen vor.«

Auch Harry war auf das Verhalten des Kutschers aufmerksam geworden. Dabei stellte er mit einem einzigen prüfenden Blick fest, was die wirkliche Ursache für die Ängstlichkeit des Mannes war. Harry war ein Seemann durch und durch und um vieles härter als sein eleganter Bruder. Er konnte kaum diesen langgezogenen Tonfall und die Attitüde gelangweilter Gleichgültigkeit produzieren, die sein Bruder so gut beherrschte. Aber jetzt imitierte er ihn und fügte sogar ein gespieltes Gähnen dazu.

»Ich würde meinen letzten Penny darauf wetten, daß du es bist, der den armen Teufel mehr als die Franzosen in Angst versetzt.«

James war überrascht. »Um Himmels willen, warum?«

Harry gönnte sich wieder ein gekünsteltes Gähnen, dann deutete er mit einem behandschuhten Finger auf den Schoß seines Bruders. »Ist dir bewußt, in welche Richtung deine Muskete zielt?«

James blickte den langen Lauf entlang, bis er wieder auf dem ausladenden Hinterteil des Kutschers landete, über dem sich eine Lederhose spannte.

»Ich wage zu behaupten«, fuhr Harry fort, »daß er sich auf diesen tückischen Straßen und in diesem schrecklichen Gewühl der Befürchtung nicht erwehren kann, daß deine Waffe unbeabsichtigt losgehen könnte.«

Pender fing an zu lachen, daß seine Zähne im trüben Tageslicht blitzten. Seine Stimme tropfte vor falschem Mitleid. »Sie könnten ihn mit mehr Löchern im hinteren Körperteil zurücklassen, als er naturgemäß benötigt, Euer Ehren.«

James drehte die Muskete schnell zur Seite, dann wandte er sich zu Pender um und versuchte, seinen ärgerlichen Blick beizubehalten. Aber das Zwinkern in seinen Augen verriet ihn. Er war ganz offensichtlich amüsiert. »Ein sehr verlockender Gedanke, Pender, wirklich ein sehr verlockender Gedanke.«

Man konnte das ferne Geschützfeuer nicht mehr hören, aber das ließ die Panik der Menschen keineswegs abklingen. Vlissingen platzte aus allen Nähten. Der kleine Fischerhafen war von einer Armee überflutet, die Vorräte anlandete und nach Osten auf den Weg brachte, während die betuchten Flamen nach Westen flüchteten, um Schutz an der englischen Küste zu suchen. Zu diesem Durcheinander kamen noch die Verwundeten und die vielen Soldaten, die den Kontakt zu ihrer Einheit verloren hatten. Jedes Gasthaus, von denen es in diesem abgelegenen Nest übrigens nicht viele gab, war zum Brechen überfüllt, und die engen Straßen waren von Wagen und Karren verstopft, die keinem der Schicksalsgenossen freie Durchfahrt gewährten.

Die Brüder Ludlow hatten zwanzig Minuten festgesessen und die verzweifelten Rufe und Pfiffe vernommen, mit denen man weiter vorne versuchte, eine Engstelle zu klarieren. Pender war losgegangen, um Näheres auszukundschaften. Er war mit einem düsteren Ausdruck auf seinem sonst immer fröhlichen Gesicht zurückgekehrt.

»Wir sollten besser zu Fuß gehen, Euer Ehren. Eine überladene Berline hat ein gebrochenes Rad. Die Leute haben kein passendes Werkzeug, also wird die Reparatur eine Ewigkeit dauern.«

»Auf denn, Pender. Gehen Sie in die Stadt und finden Sie heraus, ob wir etwas zu essen und ein paar Träger bekommen können, die sich um unsere Seekisten kümmern.«

Pender nickte, drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Harry wandte sich an James, der seit einiger Zeit ziemlich still gewesen war. »Ich glaube nicht, daß es einfach sein wird, ein Zimmer zu bekommen. Und wenn die Gerüchte stimmen sollten, dann können die Franzosen jeden Augenblick hier sein. Wir wollen uns lieber gleich um einen Platz auf einem Schiff kümmern. Das ist sinnvoller.«

James hob noch einmal die Augen. »Was immer du für richtig hältst, Harry.«

Seine Haltung sprach Bände. Normalerweise war James ein scharfer Beobachter, seine Maleraugen übersahen keine Kleinigkeit. Die dramatischen Gefühle, besonders die Angst in den Gesichtern ihrer Weggefährten, hätten normalerweise seine Aufmerksamkeit sofort geweckt. Harry, der sich immer in Eile befand, hatte ihn häufig wegen der Verzögerungen gescholten, die er aus diesem Grund verursachte. Jetzt jedoch schien alles, was James während ihrer Rückreise aus Italien verdrängt hatte, ihn wieder eingeholt zu haben. Und Harry teilte einen Teil der offensichtlichen Enttäuschung. Er hatte darauf gehofft, daß sich ihre Schwierigkeiten auf dem langen Weg von selbst erledigten. Doch nun, kurz bevor sie ein Schiff nach England besteigen konnten, tauchten alle Probleme wieder auf.i

Leise sagte Harry: »Wir können hier nicht bleiben, James, aber wir könnten nach Amsterdam fahren.«

Schließlich hob James die Augen und sah Harry direkt an, dann lächelte er. »Du hast völlig recht.« Er klopfte ihm in einer ungewöhnlich herzlichen Geste auf den Schenkel. »Vergib mir, daß ich ein so schlechter Gesellschafter bin, Harry. Die Aussicht, nach Hause zu kommen, muß in mir die alten Gefühle ausgelöst haben.«

»Vielleicht haben sich die Dinge zu deinem Vorteil verändert?«

James lächelte lahm: »Vielleicht. Aber jetzt müssen wir etwas essen, ich bin kurz vor dem Verhungern.« Seine Augen klebten am Rücken des Kutschers, und die Art, wie der Mann alles akzeptierte, was vor ihm passierte, ärgerte ihn. Sein Gesicht bewölkte sich wieder. »Ich werde vor Langeweile sterben, wenn ich diesem Narren weiter auf den Arsch starren muß.«

»Ich bin froh, daß dein Entschluß, mit mir zusammen zur See zu fahren, zumindest deine Sprache beflügelt hat. Ich stelle mir vor, wie deine reichen Freunde und Kunden solch kernigen Seemannssprüche goutieren werden.«

James beugte sich vor und tätschelte Harrys Knie. »Ich habe sehr viel von dir gelernt, Harry, sowohl auf See als auch an Land. Wenn ich jetzt niedergeschlagen wirke, dann ist das nicht dein Fehler.«

Die Rückkehr von Pender mit zwei kräftigen Trägern ersparte den Brüdern einen Gefühlsausbruch, denn obwohl sie Freunde waren, vermieden sie zu große seelische Nähe, da sie sich sehr respektierten. Der Kutscher drehte sich um, als die Träger die Seekisten von der Kutsche abluden; in seinen Augen glänzte das weltweit verbreitete Funkeln, das die Hoffnung auf zusätzliche Belohnung zeigt. Es war schwer zu sagen, was James darüber dachte. Jedenfalls war sein Ausdruck offensichtlich beredt genug, um die Hoffnungen auf eine Extravergütung in der Luft zerplatzen zu lassen.

Die Menschenmenge wurde noch dichter. Der Straßenschmutz hatte sich unter den stampfenden Füßen längst in Schlamm verwandelt. Harry und James schlidderten durch den Morast, als sie Pender und den Trägern folgten, wobei sie die Ellenbogen einsetzten. Alle waren sichtlich erleichtert, als sie in den strohbedeckten Hof eines Gasthauses einbogen. Ein kleiner Bengel kam herangeflitzt, um ihnen für eine Münze die Stiefel zu reinigen. Sie brachten es nicht über sich, ihn abzuweisen, und hielten still, während er um ihre Füße herumwuselte und sie mit einem Redestrom eindeckte, den sie beide nicht verstehen konnten.

»Der kleine Bursche scheint den Dreck von meinen Stiefeln auf den Saum meines Rockes transferiert zu haben!« maulte James, grinste aber dabei.

Harry war zufrieden, daß das Lächeln auch in seinen Augen glänzte. Das war fast schon wieder der alte James. Daß Harrys eigener Gehrock in einem ähnlichen Zustand war, tat seiner Großzügigkeit keinen Abbruch. Die Münze, die er dem Jungen reichte, war bedeutend größer als dessen Dienste.

Harry und James mußten sich tief bücken, als sie den Gasthof betraten. Die warme Luft, geschwängert mit Tabakqualm, löste bei beiden einen Hustenreiz aus. Pender saß bereits neben dem lodernden Feuer, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und bewachte die Seekisten. Seine Jacke stand offen, und sein Gesicht war von der Hitze gerötet. Er sprach die Brüder sofort an, ohne sich dabei zu erheben, und sein weicher Hampshiredialekt vermittelte ihnen ein heimatliches Gefühl in dieser Umgebung.

»Ich habe mit dem Besitzer gesprochen, Euer Ehren, der genügend Englisch spricht, daß man ihn verstehen kann. Er sagte, daß er uns noch nicht mal einen Platz in der Scheune verschaffen könnte.« Seine Augen zwinkerten im roten Gesicht. »Wir sind, wie man sagen könnte, schlechter dran als Maria und Joseph.«

Ein Beobachter hätte sich verwundert fragen können, warum ein Diener so mit seinen Herren sprechen durfte, warum er es wagte, sitzen zu bleiben, ganz zu schweigen davon, daß er in ihrer Gegenwart auch noch Witze machte. Aber keiner der beiden Ludlows schien etwas daran auszusetzen zu haben. Für sie war Pender mehr als ein Diener – und dennoch nicht ihresgleichen.

»Ich bin mehr an einem Essen als an einem Bett interessiert«, sagte James und öffnete seinen Rock, um die Hitze des Feuers zu genießen.

»Das läßt sich sicher arrangieren, obwohl ich vermute, daß man es sich sehr gut bezahlen lassen wird.«

»Egal!« brummte Harry, der genauso hungrig war wie sein Bruder. »Besorgen Sie uns einen Tisch, Pender, und sorgen Sie dafür, daß der Wirt einen vernünftigen Wein kredenzt. Dabei horchen Sie ihn aus, ob es noch freie Kojen auf einem Schiff gibt, das nach Kent bestimmt ist.«

Sie saßen in der geschützten Nische und unterhielten sich leise. James schnitt sich ein weiteres Stück von dem zähen Huhn ab und deutete damit auf seinen Bruder. »Dieser Vogel muß Methusalem persönlich gekannt haben, wenn man von seiner Zähigkeit ausgeht. Der Koch hat versucht, ihn mit dieser dicken Soße genießbar zu machen, es ist ihm nicht gelungen.«

»Ich finde es ziemlich gut.« Harry hielt inne.

»Die kalte Luft muß deine Geschmacksnerven angegriffen haben, Bruder.«

Harry hörte ihm kaum zu. Er drehte sich sofort um, als er bemerkte, daß sich ihnen ein Fremder näherte, und erkannte sofort, daß es ein Seemann war. Das lag an dem schwingenden Gang und dem wettergegerbten Gesicht. Das Haar, das der Mann lang und offen trug, war mit weißen Strähnen durchzogen. Zwei Haarbüschel thronten auf jeder Wange. Seine Kleidung, die von guter Qualität war, wies Verfärbungen durch Salzwasser auf, und die Messingknöpfe waren dunkel und grün angelaufen. Harry blickte auf die beiden Haarbüschel und hatte das dumpfe Gefühl, den Mann schon irgendwo gesehen zu haben. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo und wann das gewesen war.

»Mr. Ludlow?« erkundigte sich der Mann und blickte von einem zum anderen. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Wir heißen beide so, Sir«, beschied ihn Harry.

Der Mann verbeugte sich leicht, dann schniefte er lautstark: »Tobias Bertles, Gentlemen, Kapitän der Planet. Sie ist eine Schnau, Sir, was bedeutet, daß es sich um ein breites, bequemes Schiff handelt. Ich habe mit Ihrem Diener gesprochen, und er sagte mir, daß Sie dringend an einer Überfahrt interessiert wären.«

»Das sind wir, Kapitän Bertles«, gab James schnell zu. Er wußte, daß er Harry übergangen hatte und daß es angemessen gewesen wäre, das Wort »dringend« in Frage zu stellen. Dann rückte er zur Seite, um Platz zu machen, und deutete auf die Platte in der Mitte des Tisches. »Wenn Sie möchten, können Sie sich bedienen. Wir haben hier ein Essen, das besonders dem verwöhnten Gaumen von Seeleuten zu entsprechen scheint.«

Bertles bemerkte den Sarkasmus nicht, wie er auch nicht wissen konnte, daß die Bemerkung auf den Bruder und nicht auf ihn gemünzt war. Er schlüpfte leicht in die Nische und nickte Harry freundlich zu, der auf der anderen Seite des Tisches saß.

»Nun, ich werde einen Bissen nicht ablehnen, Sir, wenn Sie etwas davon entbehren können.«

»Hauen Sie rein«, meinte James und schob seinen Teller ihrem Gast zu. »Ich muß Sie allerdings warnen, daß Sie auf Ihre Zähne achten sollten.«

Verdutzt sah ihn Bertles an, die Haare auf seinen roten Wangen zuckten ein wenig. Als er seinen Kopf nach vorne beugte, um den ersten Bissen in den Mund zu schieben, blickte er von unten Harry an. Der Blick fragte, ob er hier vielleicht vorgeführt werden sollte. Doch der Mann stellte fest, daß er gleichfalls gemustert wurde.

Der Name mochte Harry nichts sagen, aber er haßte die Vorstellung, daß er ein Gesicht vergessen haben könnte.

»Mein Bruder hat einen exquisiten Geschmack, Kapitän. Er findet, daß der Vogel nicht seinen Vorstellungen entspricht. Mit den verwöhnten Seeleuten meinte er mich.«

Bertles nickte kurz, so als ob die Erklärung auf der Hand gelegen hätte.

»Allerdings habe ich im Augenblick kein Schiff«, ergänzte Harry.

»Ich segle mit der Ebbe ab, Sir.«

»Nichts käme uns gelegener«, mischte sich James wieder ein, »das heißt, falls Sie freie Kojen für uns haben.«

»Ich kann Ihnen nur meine Messe anbieten, Sir, die Sie mit mir, meinen Offizieren und einem weiteren Passagier teilen müßten, denn meine Kabine habe ich einem Ehepaar überlassen.«

»Sie segeln nach England, Kapitän?« erkundigte sich Harry.

Bertles sah ihm gerade in die Augen, als er antwortete, fast als wollte er Harry signalisieren, wo dieser ihn schon gesehen hatte. »Ich laufe Deal an, Sir. Wenn das Wetter es erlaubt, werde ich dort einlaufen.«

Das sah nach verdammt viel Glück aus. Deal war der Hafen, der dem Gut der Ludlows in Chillenden am nächsten lag.

»Dann bleibt nur noch, daß Sie uns Ihren Preis nennen«, stieß James erfreut hervor.

»Also wollen Sie auch nach Deal!« sagte Bertles und hieb auf den Tisch, so als habe er ein Rätsel gelöst. Er rutschte etwas dichter heran, was auf einen gewissen Eifer hindeutete. James spürte den sanften Druck von Harrys Fuß auf dem seinen.

»Die Küste von Kent würde uns gut passen, aber von einem Hafen in den Downs müßten wir auch ein wenig weiter reisen.«

Die Augen des anderen Mannes zogen sich zusammen, was seine Augenbrauen in die Nähe der Haarbüschel auf seinen Wangen schob. Aber das begleitende Lächeln wirkte überlegen. Bertles war an Feilschen gewöhnt. »Das sticht nicht, Mr. Ludlow, denn falls Sie sich hier eine andere Passage suchen wollen, könnten Sie hier leicht stranden. Wenn ich das, was ich gehört habe, richtig einordne, dann ist Vlissingen kein besonders gesunder Ort für einen Engländer. Und ich möchte wetten, daß Sie mindestens so viele Verwundete gesehen haben wie ich.«

»Transportieren Sie welche?« fragte Harry.

»Nein, Sir, ich nicht. Tobias Bertles arbeitet für Geld, bar auf den Tisch des Hauses, und nicht für ein Stück Papier, das die Horse Guards zu niedrigsten Preisen nach ihrem Belieben irgendwann einlösen. Und ich habe freie Auswahl an Passagieren. Es gibt jede Menge betuchte Einheimische, die sich vor den Jakobinern in Sicherheit bringen wollen. Ein solcher Andrang hat die Preise ganz schön in die Höhe getrieben. Nicht, daß ich einen Ausländer einem Landsmann vorziehen würde, verstehen Sie mich richtig. Aber ich kann nicht unter dem üblichen Preis bleiben.«

»Der beträgt?« erkundigte sich Harry, der noch immer James’ Fuß drückte. Seine Augen blickten Bertles fest an.

»Fünfundzwanzig Guinees pro Nase.«

»Zehn!« korrigierte Harry sofort und hob die Hand, um Bertles Erwiderung abzuwürgen. »Und bevor Sie protestieren, Kapitän, weil dieser Preis Sie am Hungertuch nagen läßt, sollten Sie bedenken, daß ich in diesen Gewässern sehr häufig gesegelt bin – und das sowohl im Frieden als auch im Krieg.«

Bertles hielt Harrys Blick stand, obwohl sich seine Augen leicht bewegten, als ob sie eine schwache Stelle in der Haltung seines Gegenübers suchten.

»Ich wette, daß das stimmt, aber alles unter fünfzehn Guineen wäre glatter Raub.«

»Gemacht!« rief James.

Harry starrte ihn düster an.

James antwortete darauf mit einem Lächeln. »Mein Fuß begann abzusterben.«

Bertles stopfte sich mit Essen voll und ignorierte, daß die Soße an seinem Kinn herunterlief. Er sah von einem zum anderen, wahrscheinlich fragte er sich, was seine beiden Passagiere im Schilde führten. Doch der Preis gefiel ihm, und er schlug James auf die Schulter. »Nun gut, Sir, für fünfzehn Guineen ist für Sie beide auch ein kapitales Dinner enthalten.«

James blickte auf den Teller, der vor kurzem noch der seine gewesen war. »Sagen Sie mir, Sir, was halten Sie von diesem Huhn?«

»Nun, Sir, es ist sehr delikat.«

Bertles beugte sich vor, um weiter zu essen, daher entging ihm der verzweifelte Blick in James’ Augen.

Sie waren gerade mit dem Käse fertig, als das Tohuwabohu begann. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Straßen, drang sogleich durch die Türen der Gaststätte, verbreitete sich in dem überfüllten Raum wie eine Flutwelle. Stimmen überschlugen sich vor Entsetzen, und die Menge schien sich in nichts aufzulösen, sobald man die Tragweite der Nachricht erkannt hatte. Plötzlich war der Raum leer. Penders Gesicht war besorgt verzogen. »Die Franzosen sind vor den Toren, Euer Ehren«, meldete er Harry. »Es ist hauptsächlich Kavallerie. Der hiesige Befehlshaber baut eine Verteidigungslinie mit allen verfügbaren Truppenteilen auf, die den Nachschub hereingebracht haben.«

»Die wird nicht lange halten«, stellte Bertles gelassen fest. »Es gibt nur knapp fünfhundert Soldaten im ganzen Hafen.«

»Es scheint, daß es angeraten wäre, möglichst schnell auszulaufen, Kapitän«, schlug James vor.

»Es mag angeraten sein, an Bord zu gehen, Sir. Aber ich lasse mich von einem Haufen herumstreifender Jakobiner nicht in meinen Plänen stören. Ich werde mit der Ebbe auslaufen, wie vorgesehen.«

»Es liegt mir fern, Ihre Entscheidungen zu kritisieren, Sir ...«

Harry unterbrach James, bevor er Bertles beleidigen konnte. Wenn Vlissingen eingeschlossen war, und sei es auch nur durch einen Schirm Kavallerie, dann brauchten sie den Mann nötiger als zuvor. »Sei gelassen, Bruderherz. Die Franzosen werden nichts unternehmen, ehe sie ihre Artillerie herangeschafft haben ...«

Bertles mischte sich ein. »In der Zwischenzeit haben unsere Jungs die Vorräte verbrannt und können sich dann entweder einschiffen oder ergeben.«

»Sie sehen also keine unmittelbare Gefahr?« fragte James.

Die Haarbüschel auf Bertles Wangen schienen förmlich zu tanzen. »Es sei denn, die Jakobiner hätten gelernt, über das Wasser zu laufen, Mr. Ludlow, was ziemlich unwahrscheinlich ist, wie Sie zugeben müssen. Also muß die Antwort lauten: Nein!« Er griff nach der Flasche auf dem Tisch, die noch halb voll war. »Ich würde sagen, daß wir ausreichend Zeit haben, diesen Tropfen hier zu genießen, Sir, und dabei den Franzosen die Pest an den Hals zu wünschen.«

James wußte, daß er das Ziel von Bertles herablassender Rede gewesen war, daher fiel seine Antwort etwas scharf aus. »Vergeben Sie mir, Kapitän, ich kann nicht zulassen, daß hier eine ganze Nation verdammt wird.«

Kapitel 2

Das »kapitale Dinner« von Tobias Bertles war eine erfreuliche Überraschung, denn obwohl einfach, war das Essen von ausgezeichneter Qualität. Zuerst gab es frischen Fisch, Hering und Steinbutt, es folgte eine große Schüssel Sülze, den Hauptgang bildete ein krosses englisches Spanferkel. Man brauchte kein Teil des Tieres zurückzuweisen, dazu wurde Kalbsbries und Leberknödel gereicht.

Der Kapitän hatte für diesen Anlaß seine kleine Kabine wieder mit Beschlag belegt. Da die Planet noch friedlich vor ihrem Anker schwoite, glich das Essen mehr einem gesellschaftlichen Ereignis an Land als einem auf See. Nur gelegentlich wurden die Gäste von einem dumpfen Knall an ihre Situation erinnert, beispielsweise als das Lagerhaus in die Luft flog. Bertles, der bei dem ersten Zusammentreffen etwas verschlagen gewirkt hatte, blühte in der Rolle des Gastgebers förmlich auf, stellte seine Gäste einander mit großem Überschwang vor und drängte sie, ihr Glas zu leeren, »um die Gurgeln anzufeuchten«. Da der Platz kaum ausreichte, um die fünf zusätzlichen Gäste und den rotglühenden Ofen aufzunehmen, wurde es ein sehr intimes Dinner. Jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, damit ein neuer Gang aufgetragen werden konnte, ließ ein Schwall kalter Luft alle Anwesenden erschauern.

Das Ehepaar stammte aus Militärkreisen, der Mann war ein Major der Pioniere in den besten Jahren. Sein Name war Franks, und seine junge Frau Polly war ausnehmend hübsch. Sie hatte einen hellen Teint und blonde Locken. Aber die Lady war nicht an gemischte Gesellschaften gewöhnt, sie konnte keinen Satz herausbringen, den man nicht zweideutig auffassen konnte. Daß sie naiv war und ihr die Sache überhaupt nicht auffiel, amüsierte die Ludlows und ließ den Ehemann schäumen. Sie lieferte jede Zweideutigkeit mit weit aufgerissenen blauen Augen, während sich eine blonde Locke nach der anderen vorwitzig unter ihrer reizenden Kappe hervorwagte. Franks hatte das Bedürfnis, seine Anwesenheit auf dem Schiff zu erklären, während doch seine Kameraden verzweifelt versuchten, Befestigungsanlagen zur Verteidigung der Stadt auszuheben. Auch er hatte seine Dienste angeboten, war aber höflich zurückgewiesen worden. Der kommandierende Oberst des Unternehmens hatte ihn darüber informiert, daß die Erdarbeiten nur eine Finte waren. Es bestand gar nicht die Absicht, Vlissingen zu verteidigen. Die wichtigste Aufgabe der Befestigungen war, die Franzosen kurzzeitig zurückzuhalten, außerdem sollte so eine Panik in der Stadt vermieden werden, die erheblich dabei gestört hätte, die Versorgungsgüter, so gut es ging, zu vernichten, bevor der Kommandant sich mit seinen Männern auf die Transporter zurückzog. Das sollte geschehen, noch bevor der Tag zur Neige ging.

Der weitere Passagier war ein junger Mann aus Warwickshire; er hieß Wentworth, seine Familie trieb Handel mit den Niederlanden. Er verkaufte die neuen Manufakturwaren und Erfindungen aus den Fabriken, die in Städten wie Birmingham aus dem Boden schossen. Er war groß und dünn, hatte blondes Haar und ein seriöses Gehabe, das von seiner Halbbrille noch unterstrichen wurde, die ständig auf seiner Nase nach unten rutschte. Sein Gesprächsstoff war unerschöpflich, denn er war ein geschwätziger Typ, allerdings dachte er nur an Profit und günstige Gelegenheiten. Immerhin wagte er sich auch an den Waffenhandel, der während des vergangenen Krieges enorme Zuwachsraten gebracht hatte. Im übrigen klagte der Mann über alles: das Essen in Flandern, das Benehmen der Flamen, die Straßen, die Gaststätten, die ablehnende Haltung der Einheimischen gegen seine wunderbaren Waren. Die Tatsache, daß ihr Land gerade eine Invasion erlebte, erschien ihm als eine schlechte Ausrede für ihre mangelnde Begeisterung.

Harry und James, die lieber Polly Franks zugehört hätten, waren zu Tode gelangweilt, als endlich zum Essen gebeten wurde. Das Dinner jedoch verlief, nachdem man sich gesetzt hatte, äußerst unterhaltsam.

Nachdem sich ihre wenigen Passagiere eingeschifft hatten, machte die Planet nicht den hektischen Eindruck der anderen Schiffe im Hafen. Die Reede war voll kleiner Boote, die geschäftig im Schein von Fackeln Verwundete, Versorgungsgüter und Flüchtlinge transportierten. Nichts von dieser Aufregung drang in die winzige Kabine. Die Überfahrt, versicherte Bertles, würde nicht lange dauern, denn der Wind wehte stetig aus Ost, seinem bevorzugten Quadranten. So unterhielt man sich mit Geschichten und Anekdoten, wie es auf Reisen üblich ist.

»Ich habe diese Gegend intensiv bereist, Sir«, erläuterte Wentworth, der zu Harrys Erleichterung seine Aufmerksamkeit auf Major Franks konzentrierte, »und es sind nicht nur die Befestigungen, die dringend einer Überholung bedürfen.«

»Bitte, Sir, keine Befestigungen«, rief Polly, »ich habe in dieser Gegend genug gelitten, so daß es mir für den Rest meines Lebens reicht. Es gibt wirklich nichts, was langweiliger wäre, als von Männern umgeben zu sein, die alle heiß darauf sind«, sie machte eine Pause, nahm einen Bissen Steinbutt, während die anderen Gäste gespannt warteten, »über Festungen und so etwas zu reden. Wenn sie nicht damit beschäftigt sind, Dinge aufzurichten, dann wollen sie sie niedermachen. Und Kanonen, die hierhin und dorthin ragen, die Dinge herausstoßen und explodieren! Ich frage mich, ob das alles ist, was Männer im Kopf haben!«

»Gentlemen«, unterbrach Franks sie schnell, »ich war abgestellt, um die Holländer davon zu überzeugen, daß sie ihre Festungen erneuern müßten, besonders unter dem Gesichtspunkt dessen, was sich jetzt nur zwei Meilen von hier entfernt abspielt.« Franks war ursprünglich von Shorncliffe auf den Kontinent geschickt worden, um die holländischen Forts zu begutachten, die an der Grenze zu Frankreich lagen. Viele waren schon seit langem in einem Zustand, der eine Reparatur unmöglich machte. Jene, die noch in der Lage gewesen wären, einem Angrif standzuhalten, hatten zu Beginn des Jahres schwere Beschädigungen durch den Angriff der französischen Armee unter Doumouriez erlitten. Der wiederum war natürlich zu den Royalisten übergelaufen, und die Invasion war zusammengebrochen. Nun war die Bedrohung wieder da, mit neuen Armeen unter Generälen wie Pichegru und Lazare Hoche, die der Sache der Revolution treu verbunden waren. Ein schnelles Programm für die Wiederherstellung war deshalb von größter Wichtigkeit. Aber man hatte die Ratschläge nicht befolgt, und die alliierten Armeen hatten den Preis dafür mit ihrem Blut bezahlt. Franks hatte dasselbe Ziel mit allen Überredungskünsten bei den Holländern weiter im Norden verfolgt. Aber obwohl die Beweise für die Dringlichkeit direkt vor ihrer eigenen Haustür lagen, waren sie nicht zu überzeugen gewesen.

»Glauben Sie, daß die Bürger der Städte am Rhein Ihren Ratschlag beherzigen werden?« erkundigte sich Harry.

»Sie werden die Befestigungen ausbauen, allerdings nur, wenn wir sie mit britischem Gold unterstützen, Mr. Ludlow. Sie sind nicht motivierter, sich selbst zu schützen, als die anderen europäischen Nationen auch.«

An diesem Punkt mischte sich James ein. Da er ursprünglich die Revolution von 1789 befürwortet hatte, war er der Meinung, daß er, trotz der Exzesse der jüngsten Vergangenheit, eine Lanze für die Franzosen brechen mußte. »Unsere gallischen Feinde scheinen nicht auf unsere Subsidien angewiesen zu sein, auch scheinen sie unseren Rat nicht zu brauchen. Sie schöpfen ihre Stärke aus der Kraft ihrer Idee.«

»Was sind das für komische braune Kugeln, Kapitän Bertles?« wollte Polly wissen und zeigte auf ein Gericht, das auf dem Tisch stand.

Ihre Ehemann, der James eigentlich zurechtweisen wollte, mußte seine Energien schnell in eine andere Richtung lenken. »Das sind Leberknödel, meine Liebe.«

»Ach so. Ich glaube, so dicke habe ich noch nie gesehen.« Sie wandte sich um und warf ihrem Gastgeber ein entwaffnendes Lächeln zu. »Ich wette, daß man sie nicht am Stück in den Mund nehmen sollte. Ich glaube, ich würde ersticken, wenn ich eine Kugelii von dieser Größe schlucken müßte.«

»Erlauben Sie mir bitte, mich zu entschuldigen, Major Franks«, warf James ein, der wegen des neuesten Wortspiels von Polly krampfhaft ein Grinsen zu unterdrücken versuchte. Ihm war eingefallen, daß es taktlos gewesen war, die Revolution vor einem aktiven Offizier zu verteidigen, der gerade Zeuge des Rückzugs seiner Armee wurde. »Ich habe zu überhastet und unbedacht gesprochen.«

Es kam nicht ganz flüssig heraus, aber der gutmütige Major erkannte den guten Willen an.

»Als Engländer bin ich mir des Wertes der Freiheit wohl bewußt, Sir.«

Die Unterhaltung nahm ihren Lauf, wie das Essen und das Bier. James und der Major waren ganz in das Problem der holländischen Festungen vertieft.

»Denn die Franzosen sind keineswegs träge, Mr. Ludlow.«

Polly, die aufmerksam den Geschichten von Mr. Wentworths Knöpfen aus Birmingham zugehört hatte – ein Penny das Paar durch die neuesten Fabrikationsmethoden –, ließ plötzlich wieder einen Spruch los: »Sie kommen wieder, Mr. Ludlow, sogar wenn sie abgewiesen werden. Und ich sollte es wissen, Sir. Ich höre es am Morgen, am Mittag und jede Nacht von meinem Gatten. Die Franzosen kommen immer. Aber ich hoffe, daß sie niemals zum Ziel kommen, denn sie sind so fürchterlich, Sir, so gewalttätig ...«

Es ist unmöglich, zwei Seeleute in einem Abstand von weniger als zehn Fuß zu platzieren, besonders wenn sie eigene Schiffe kommandieren, ohne daß das Gespräch zwangsläufig auf die Seefahrt und ihre Gefahren, die Eigenschaften der Schiffe und die Eigenschaften der Kollegen kommt, gleichgültig ob die Kommandanten gut, schlecht oder schlicht kriminell sind.

Harry brannte die Frage auf der Zunge, ob sie sich schon früher einmal getroffen hatten, denn das Gefühl, daß dem so war, quälte ihn noch immer. Aber Bertles gab keinen Hinweis, daß das der Fall gewesen sein konnte, auch ergab sich im Verlauf der Konversation kein Ansatzpunkt, um nachzuhaken. Seine Fragen über Harrys letzte Unternehmen waren lediglich höflich, die Antworten wurden knapp registriert. Nicht, daß Harry freiwillig viel erzählt hatte. Er ließ Bertles im dunklen darüber, daß er mit einem sehr erfolgreichen Freibeuter zu Tisch saß, auch ging Harry nicht auf die Ereignisse der vergangenen achtzehn Monate ein, seit er mit seinem Bruder England verlassen hatte. Er beschränkte die Unterhaltung auf die Häfen, die sie angelaufen, und die Sehenswürdigkeiten, die sie besucht hatten.

Unter Deck legte sich Pender, der von Natur aus schweigsam war und dessen Leben mehr als einmal davon abgehangen hatte, daß er keine Informationen preisgab, ähnliche Zurückhaltung auf. Aber seine Kameraden probierten trotzdem, ihn auszuhorchen, denn sie waren neugierig, was es mit den vielen Passagieren auf sich hatte. Da Seeleute ein klatschsüchtiges Volk sind, fiel bei einigen schnell der Groschen, als der Name Ludlow genannt wurde. Dadurch war Pender gezwungen, ein paar Fakten preiszugeben. Der Reichtum und der Einfluß der beiden Brüder wurde rasch entdeckt, ebenso ihre Abstammung. Schließlich konnte es sich nur ein reicher Mann leisten, einen Leibdiener auf einer Reise durch den halben Kontinent mitzunehmen. Aber obwohl Pender viele Antworten gab, wurde er nie konkret. Seine Antworten auf die typischen Zwischendecksfragen, die von unzähligen Bechern Ale begleitet wurden, ließen seine Kameraden irgendwie unbefriedigt.

»Es muß eine tolle Sache sein, wenn der Vater Admiral ist«, meinte einer der Männer am Messetisch, der es langsam aufgab, Fragen über die beiden Brüder zu stellen.

»Es gibt solche Admirale und solche«, wiegelte ein anderer ab. »Ein paar haben noch nicht mal einen Nachttopf, in den sie pissen können. Aber, wie ich schon sagte, den Namen Ludlow habe ich schon gehört, und ich glaube, daß der Olle sich ganz gut gesundgestoßen hat.«

Pender sah sich den Mann über den Rand seines Humpens an. Admiral Ludlow hatte mehr als nur das getan, das war ganz klar. Er hatte aus seinem Kommando in Westindien eine Goldmine gemacht. Aber das ging die Männer hier gar nichts an, also ließ Pender sie vergeblich auf einen Kommentar warten und schlürfte weiter sein Ale.

Als sie schließlich einsahen, daß sie aus ihm nichts herausholen konnten, wechselten sie das Thema.

»Was macht nur dieser olle Gramusel von einem Soldaten mit einer Frau, die halb so alt ist wie er?«

»Wenn du die Antwort darauf nicht kennst, dann bist du schon jenseits von Gut und Böse. Es wird nicht nur die Dünung sein, die das Schiff heute nacht rollen läßt.«

Auch in der Kabine ging es lustig zu. Bertles, der wie die meisten seiner Gäste heftig schwitzte, war ganz offensichtlich über die allgemeine gute Laune erfreut. Sofort nachdem das Tischtuch abgenommen worden war, ließ er Portwein und eine große Schale mit Nüssen servieren. Major Franks’ Gesicht gefror, er wußte, was kommen würde.

»Nüsse!« rief Polly, deren Gesicht jetzt vom Genuß des Portweins gerötet war. »Ich würde zu gerne ein paar zwischen meinen Händen knacken. Mein Vater konnte das, aber die Kunst, Nüsse knacken zu können, hat sich für mich nie ergeben.«

Ihr Ehemann sah zu den Decksbalken auf, als suchte er bei ihnen Errettung. Aber ihm konnte nicht verborgen bleiben, daß ihn die anderen Männer beneideten, keiner mehr als der junge Wentsworth, der sich in der letzten Stunde alle Mühe gegeben hatte, Polly Franks völlig in Beschlag zu legen. Auch James war verzaubert; er hatte den Eindruck, daß es sich bei Polly um ein Wesen aus einem anderen Zeitalter handelte, in ihrem Wesen war sie eine Jakobinerin. Ihm kam der Gedanke, sie ohne Entgelt zu malen, und er äußerte sich auch dahingehend. Sie trällerte eine Ablehnung. James war zu gut erzogen, um darauf hinzuweisen, wie berühmt er als Maler in den vornehmen Zirkeln der Londoner Gesellschaft war. Harry, der auf das Talent seines Bruders hätte hinweisen können, bekam diesen Wortwechsel nicht mit. Allerdings bemerkte er die Veränderung in den Bewegungen des Schiffes. Doch er wandte sich schnell wieder der Unterhaltung zu. Für ihn war Polly das Sinnbild eines guten Heims, Komfort der Zweisamkeit und England. Wie alle Seeleute sehnte er sich nach dem Meer und wartete dann ungeduldig darauf, ihm wieder den Rücken zu kehren, wenn er Seeluft geschnuppert hatte.

Doch die junge Frau hatte auch noch andere Gefühle in ihm geweckt. Obwohl ihre Sprüche Heiterkeit verursachten, strahlte sie gleichzeitig eine Unabhängigkeit aus, die ihn an die Person erinnerte, die er lieber wiedersehen wollte als jede andere. Er war ein gesunder Junggeselle und hatte dieselben Bedürfnisse wie jeder andere Mann auch. Da die Natur ihn mit einem guten Aussehen beschenkt hatte und er von Geburt aus begütert war, mangelte es ihm nicht an Kontakten zum schwachen Geschlecht. Aber als Seemann waren diese Verbindungen natürlich vorübergehender Natur, mit einer Ausnahme. Hier fühlte er sich auch nicht von der Ehe bedroht, ein Schritt, vor dem er immer zurückgeschreckt war.

Wenn sie auf Naomi Smith und ihn zu sprechen kamen, murmelten eifersüchtige Galane etwas vom droit de seigneur, was nur zeigte, wie wenig sie die Frau kannten. Ihre Beziehung hatte nichts damit zu tun, daß er der Gutsherr war. Naomi war jung verwitwet und die alleinige Eigentümerin des ›Griffin’s Head‹. Sie schien genauso entschlossen zu sein, sich zu binden, wie Harry selbst. Sie war ausnehmend hübsch und offensichtlich finanziell abgesichert. Man hatte ihr schon unzählige Heiratsanträge gemacht, aber die meisten hatte sie mit einer witzigen Bemerkung vom Tisch gefegt. Doch sie war keineswegs immer nur lustig.

Genau wie Polly trug sie ihr Herz auf der Zunge, wenn sie auch weniger zweideutige Bemerkungen machte. Sie schenkte der Herkunft ihrer Gäste kaum Beachtung, leistete sich eine eigene Meinung und verabscheute es, sich von Männern beschützen zu lassen. Sie stand, kurz gesagt, fest auf ihren eignen Füßen. Ein paar Männer fanden ein derartiges Verhalten unpassend. Harry Ludlow aber schätzte es.

Seine Gedanken wurden wieder in die Gegenwart zurückgeholt, als der Gastgeber sein Glas auffüllte. Bertles bediente auch die anderen und war offensichtlich guter Dinge. Er goß Pollys Glas randvoll, da ihm klar war, daß er den Erfolg des Dinners zu einem großen Teil ihr verdankte. Alle beglückwünschten ihren Gatten zu dieser Ehefrau.

Der ließ das schweigend über sich ergehen. Aber wenn man ihn nach Details aus seinem Leben gefragt hätte, dann hätte er betont, daß die anderen eben nicht mit dieser Frau leben mußten.

»Meine Dame, meine Herren«, begann Bertles und stand auf, »vergeben Sie mir bitte, aber ich spüre, daß der Ebbstrom unter unserem Kiel läuft. Ich muß mich darum kümmern, das Schiff auf den Weg zu bringen.«

Er griff hinter sich auf einen Tisch, der aus dem Weg geräumt worden war, um mehr Platz für die Dinnergäste zu schaffen, und packte ein Tintenfaß und ein in Leder gebundenes Buch, auf dem der Schiffsname in goldenen Lettern eingeprägt war.