Kurschattengewächse - Iris Boden - E-Book

Kurschattengewächse E-Book

Iris Boden

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Beschreibung

Das Leben der 51-jährigen Irina Schmitz ist geprägt von Krankheiten, sowohl ihrer eigenen wie der ihrer Angehörigen. Ihr übersteigertes Pflicht- und Verantwortungsgefühl kapselt sie im Laufe der Jahre von der Außenwelt ab, und sie erkennt nicht, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch steht. In einem kurzen Moment der Schwäche stimmt Irina einer Rehabilitationsmaßnahme zu, die ihr Hausarzt für sie beantragt. Jetzt heißt es Augen zu und durch ... Eine Geschichte, voller Höhen und Tiefen, Freundschaften und Selbsterkenntnissen, mit Humor und Herz erzählt.

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Iris Boden

1966 in Köln geboren. Von 2009 bis 2011 absolvierte sie den Studiengang Belletristik an der Hamburger Akademie für Fernstudien. Bisher veröffentlichte sie Kurzgeschichten und Gedichte. Kurschattengewächse ist ihr erster Roman. Die Autorin lebt und schreibt in Dormagen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einberufungsbescheid

Vorbereitungen

Ankunft

Erste Kontakte

Muckibude

Tisch achtundzwanzig

Ärzte

Pussitussi

Kurschattengewächse – Freitagsschwof I

Ermittlungen

Rentnertreffen

Der Zwinkerer

Autogenes Training

Der Kampf mit der Nudel – Wassergymnastik I

Du bist, was du isst

Sozialberatung

Rückenschule mit Frau Admiral

Therapeutenpause

Jedem Konflikt ein Seminar

Raucherbank und Hundekacke

Morgenspaziergang und schlechte Laune

Laternenfest

Kur-Urlaub-Gäste

Zwischenbilanz

Wehe, wenn sie losgelassen – Wassergymnastik II

Stressbewältigung

Adrian, der Wundertherapeut

Der missglückte Grillabend

Morgens Fango, abends Tango – Freitags-Schwof II

Männer, die wahren Helden

Ausflug an den See

Andrea Berg und Helene Fischer – Wassergymnastik III

Bad Ungerholer Mücken

Psychologie

Eugenie und die Dildoparade

Abschied

Sonnenliegenbesetzer

Freundschaft

Auf Wiedersehen

Vorwort

Immer wieder sind Menschen mit den ihnen angebotenen Rehabilitationsmaßnahmen unzufrieden. Entweder sind die Zimmer zu groß, zu klein, zu schmutzig, zu spartanisch, zu konservativ; das Essen zu fad, zu wenig, zu üppig, zu gesund, zu ungesund; die Ärzte zu inkompetent, zu unfreundlich, zu wenig interessiert; die Therapien zu veraltet, zu langweilig, zu anstrengend, zu lax …

Die Liste könnte ich immer weiter fortführen, denn etwas zu bemängeln, gibt es immer. Man kann es einfach nicht jedem Recht machen. Dabei wäre alles sehr einfach, wenn jeder den Blick auf das Wesentliche lenken würde. Nur was das Wesentliche ist, muss man für sich selbst herausfinden. So, wie die Protagonistin Irina Schmitz in meiner Geschichte.

Bad Ungerhol ist ein erfundenes Dorf (Ungerhol setzt sich aus den Silben des Wortes Erholung zusammen). Ebenso ist die Klinik Sonnenschein rein fiktiv. Beide stehen stellvertretend für viele andere Kliniken in vielen anderen Ortschaften.

Auch die Personen und Handlungen sind frei erfunden. Allerdings vermögen manche Leserinnen und manche Leser, die einmal an einer Rehabilitationsmaßnahme teilgenommen haben, Ähnlichkeiten mit realen Menschen und Begebenheiten entdecken. Da bin ich mir ganz sicher. Und vielleicht hat sogar jemand Irina Schmitz währenddessen kennengelernt. Wie dem auch sei. Ein gewisser Wiedererkennungswert ist durchaus gewollt.

Herzlichst

Iris Boden

Dormagen, im Juli 2018

Einberufungsbescheid

Sehr geehrte Frau Schmitz,

auf Ihren Antrag vom 14.06.2017 bewilligen wir Ihnen eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation.

Die Leistung dauert drei Wochen und wird in folgender Rehabilitationseinrichtung durchgeführt:

Klinik Sonnenschein

Sonnenweg 13

Bad Ungerhol

Aus medizinischen Gründen kann die Leistung abgekürzt oder verlängert werden. Ausschlaggebend für die Behandlungsdauer ist die medizinische Beurteilung durch Ärzte der Rehabilitationseinrichtung.

Den Aufnahmetermin wird Ihnen die Rehabilitationseinrichtung mitteilen.

Freundliche Grüße

Deutsche Rentenversicherung

Vorbereitungen

Ich warte natürlich nicht, bis die Klinik sich mit mir in Verbindung setzt. Ich werde anrufen. Denn ich möchte bei der Terminierung von meinem Mitspracherecht Gebrauch machen. Ich habe schließlich einiges zu organisieren, bevor ich mehrere Wochen aus meinem Leben herausgerissen werde. Immer wieder frage ich mich, warum ich mich dazu habe überreden lassen. Ich ärgere mich schwarz. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto ungehaltener werde ich. Sehr zum Leidwesen meiner Familie. Meiner Kollegen. Aber es nutzt nichts. Jetzt muss ich da durch. Wer A sagt muss auch B sagen. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach kurzfristig Termine absagen würde? Nichts wäre mehr geordnet, Regeln hätten keine Bedeutung mehr, es herrschte Chaos pur. Nicht mit mir.

Ich rufe an. Die Terminabsprache klappt. Anreisetag soll der zweite August sein. Ein Mittwoch. Es bleiben mir also noch drei Wochen, um meine Abwesenheit vorzubereiten. Im Büro und zu Hause. Kollegen und Familie sollen versorgt sein und keine zusätzliche Arbeit durch meine Abwesenheit haben. So erstelle ich eine to-do-Liste nach der anderen. Ich liebe solche Listen. Und noch mehr, wenn ich Punkt für Punkt als erledigt streichen kann. Es geht los. Im Büro werden so gut es geht, sämtliche Vorgänge abgeschlossen und wenn das nicht möglich ist, kleine Vermerke für die Kollegen erstellt, in denen festgehalten wird, wie der Stand und was noch zu tun ist. Zu Hause werden Arzttermine verschoben, vorgekocht, die Betten kurz vor Abfahrt noch einmal frisch bezogen, die Putzfrau bekommt zusätzliche Anweisungen für die Zeit meiner Abwesenheit. Rechnungen werden beglichen und es wird eingekauft, damit die Familie mindestens ein halbes Jahr nicht verhungert. Ebenso die Katzen. Die sollen schließlich auch nicht verhungern. Merkzettel werden geschrieben, wann welche Mülltonne geleert wird. Notfalltelefonnummern werden notiert und an den Kühlschrank geheftet. Zum Frisör muss ich auch noch. Und zur Fußpflege. Tanten, Cousins und Cousinen werden für eventuelle Hilfestellungen engagiert.

Seit seinem Schlaganfall kann mein Mann eben nicht mehr alles, braucht manchmal Hilfe. Und doch ist es gerade er, der mich immer wieder dazu drängt, diese Reha anzunehmen. Trotzdem ärgere ich mich fast täglich, dass ich mir diesen Stress antue. Warum habe ich mich nicht gewehrt? Ich schlafe kaum noch. Gerade nachts gehe ich immer wieder meine Listen durch. Habe ich auch nichts vergessen? Zwei Tage vor meiner Abreise überkommt mich ein Schub, wie schon lange nicht mehr. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Gelenke habe, die schmerzen können. Rheuma ist halt ein Arschloch. Ich habe es schon immer gewusst. Aber ich mache weiter. Bald habe ich es geschafft. Dann kann die Reise losgehen.

Ankunft

Acht Uhr siebenundzwanzig. Ich schalte den Motor aus. Pünktlich bin ich. Wie immer. Lieber fahre ich ein bis zwei Stunden früher los, als dass ich zu spät komme. Schließlich muss man heutzutage immer mit zwei bis sieben Staus und / oder Baustellen auf den Autobahnen rechnen. Immer. Den Parkplatz habe ich schon einmal gefunden. Jetzt muss hier irgendwo die Klinik sein. Die Klinik, in der ich die nächsten Wochen verbringen werde. Klinik Sonnenschein. Es regnet. Wie passend. Ich schnappe mir meine Handtasche und meinen Regenschirm und mache mich auf den Weg zur Klinik. Immer den Schildern folgend. Zweihundert Meter sind zu schaffen, denke ich, jedoch nach der halben Strecke reue ich meine Entscheidung. Dieses verdammte Knie. Aber jetzt muss ich da durch. Ist halt so. Ich beiße die Zähne zusammen und schaffe trotzdem die letzten Meter nur noch im Schneckentempo. Endlich erreiche ich die Rezeption und lasse mich dort schwerfällig auf einen der bereitstehenden Sessel fallen. Schweiß steht mir auf der Stirn. Der Schmerz ist unerträglich. Endlich sitzen. Bin ja schon lange nicht mehr gesessen. Sozusagen seit zweihundert Metern nicht mehr. Ich schnaufe. Wieder einmal stelle ich mir die Frage, warum ich mir das alles antue. Ob man mir hier wirklich helfen kann? Ich schaue mich um. Durch die Eingangshalle humpeln, schleichen, schlurfen sie. Meines Erachtens nur alte Leute. Mit Krücken. Mit Rollatoren. Im Rollstuhl. Nein – hier gehöre ich nicht her. Ich habe schließlich zweihundert Meter ohne jegliches Hilfsmittel geschafft. Und auch sonst geht es mir gut. Von wegen Überforderung. Von wegen ausgebrannt. Ich bin tough. Ich bin stark. Ich kann Bäume ausreißen. Manchmal. Nein – ich gehöre nicht hierher. Nie und nimmer. Bildet sich da etwa ein Fluchtgedanke? Wie dem auch sei. Ich ziehe das jetzt durch. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder machte, was er wollte? Ich setze also mein fröhliches Gesicht auf und grinse die jungen Damen hinter dem Tresen an. Formalitäten. W-Lan? – Ja, bitte.

Kasten Wasser aufs Zimmer? – Ja, bitte.

Still oder Medium? - Medium, bitte.

Gepäckwagen? – Ja, bitte.

Kurkarte, Hausordnung, Zimmerschlüssel. Nun bin ich registriert. Programmiert. Einkaserniert. Ich darf mit dem Auto vorfahren. Ausladen. Gepäck aufs Zimmer bringen. Dritte Etage. Der Aufzug funktioniert nur dann, wenn er will. Hoffentlich will er, wenn ich mit meinem Gepäck komme. Zehn Uhr dreißig Arztgespräch. Aufnahmeuntersuchung. Zwölf Uhr dreißig Treffpunkt Eingangshalle. Dann werden alle Neuankömmlinge zum Trog geführt. Bereit zum Essen fassen. Den Nachmittag dann zur freien Verfügung. Frei? Ich fühle mich nicht frei. Eher fremdbestimmt. Ich nehme also ein zweites Mal die zweihundert Meter in Angriff. Schließlich muss ich mein Gepäck irgendwie zur Klinik schaffen. Gepäck für mehrere Wochen wohlgemerkt. Exklusive Laptop, Bücher, Schreibzeug. Auch dieses Mal schaffe ich die Strecke. Dann fahre ich mit dem Auto vor, lade alles unter Beobachtung einer Gruppe mit Nordic-Walking-Stöcken auf den Gepäckwagen. Wie blöd. Die sind mir jetzt schon unsympathisch. Glücklicherweise will auch der Aufzug und ich kann meine Koffer und Taschen fast mühelos in meinem Zimmer abladen. Ganz nett, das Zimmer. Ein wenig sauberer dürfte es allerdings sein. Egal. Viel Zeit zum Umschauen habe ich nicht. Schließlich blockiere ich mit meinem Auto den Klinikeingang. Also wieder zurück, den Gepäckwagen im Foyer abstellen, das Auto wieder zum Parkplatz befördern und ein drittes Mal diese verdammten zweihundert Meter in Angriff nehmen.

Erste Kontakte

Wie verabredet sitzen alle Frischlinge auf den Sofas und Sesseln in der Eingangshalle und warten darauf, Essen fassen zu dürfen. Ein jeder hat seine Aufnahmeuntersuchung hinter sich gebracht und ich höre den einen oder anderen Magen lautstark nach Nahrung verlangen. Das ist deshalb so auffällig, weil niemand spricht. Worüber auch? So mit fremden Leuten. Ich will sowieso meine Ruhe haben. Deswegen bin ich schließlich hier. Ich beobachte durch das Fenster das Klinikmaskottchen. Eine kleine getigerte Katze im – wie ich später erfahre – fortgeschrittenen Alter, um die sich ausschließlich die Klinikpatienten kümmern. Ich starre vor mich hin. Hungrig bin ich. Jedoch der Schmerz in meinem Knie lässt nach. Die Schmerztabletten zeigen also Wirkung. Nach dem Mittagessen dürfte ich wieder einigermaßen hergestellt sein.

„Guten Tag. Ich begrüße Sie in der Klinik Sonnenschein. Ich führe Sie nun zu Ihren Tischen. Ab morgen gibt es dann auch für Sie Mittagessen zwischen zwölf und dreizehn Uhr.“

Diese äußerst gesund wirkende junge Dame fällt zwischen all den gebeugten, hinkenden Klinikgästen auf, die sich nun langsam aus den Polsterungen erheben. Meine Person inbegriffen. Folgsam trotten wir hinter ihr her. In den Speisesaal. Dort werden wir Tischen zugewiesen. Tischen mit Plätzen für jeweils sechs Personen. Und an einem dieser Tische werde ich nun in den nächsten Wochen dreimal täglich meine Mahlzeiten zu mir nehmen. Zusammen mit fünf anderen Frauen. Am Tisch achtundzwanzig. Wir stellen uns vor. Die Namen, ja selbst die Gesichter meiner Tischnachbarinnen kann ich mir nicht merken. Wozu auch? Ich will hier keine Freundschaften schließen. Keinen Spaß haben. Ich will einfach nur diese auferlegten drei Wochen hinter mich bringen. Ich fühle mich leer und ziehe mich in meinen Kokon zurück. Eigentlich sind sie nett, diese Frauen. Hilfsbereit. Aufmerksam. Ich ermahne mich zur Höflichkeit. Erste zaghafte Gespräche. Nach dem Essen verabschiedet man sich. Ich gehe auf mein Zimmer. Dort richte ich mich ein. Obwohl, viel einzurichten gibt es nicht. Koffer auspacken, Schrank befüllen. Es sind sogar ausreichend Bügel vorhanden. Ansonsten ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Sessel, ein Fernseher. Spartanisch, aber ausreichend. Das Badezimmer frisch renoviert und behindertentauglich. Der Balkon mit Stuhl und Kleiderhakenleiste. Sehr praktisch. Mittlerweile scheint die Sonne. Die Schmerztabletten machen ihre Arbeit gut. So gut, dass ich mich zu einem Spaziergang entschließe, um ein wenig die Gegend zu erkunden. Den Ort auskundschaften. So mache ich mich auf den Weg. Im Kurpark treffe ich eine Tischnachbarin. Das heißt, sie trifft mich. Ich hätte sie nicht erkannt, wenn sie mich nicht angesprochen hätte. Dabei sitzt sie mir genau gegenüber. Am Tisch achtundzwanzig. Wie heißt sie nochmal? Keine Ahnung. Wir beschließen, gemeinsam einen Supermarkt zu suchen. Den soll es hier geben. Mehr nicht. Vielleicht noch ein paar Cafés und Restaurants, einen Bäcker. Und ein Bekleidungsgeschäft für die Dame fünfundsiebzig plus. Das war’s. Wir finden den Supermarkt, kaufen ein paar Süßigkeiten und machen uns wieder auf den Rückweg. Mein Knie schmerzt. Die Wirkung der Schmerztabletten lässt nach. Wieder beiße ich die Zähne zusammen. Die Blöße gebe ich mir nicht. Ich halte mit. Irgendwie. Der Nachmittag ist fast vorüber und bald schon sitzen wir wieder am Tisch achtundzwanzig zum Abendbrot. Und die Therapiepläne für die restliche Woche warten ebenfalls auf uns.

Muckibude