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In Kurz und kriminell treffen Sie nicht nur alte Bekannte, wie die 72-jährige Auftragsmörderin Betty bei einem Cappuccino; Britta, die Plastikschüsselverkäuferin mit den hohen Verkaufszahlen oder die Friseurin Danielle, die auch des Nachts Hausbesuche macht - sondern auch neue Hauptdarsteller in mörderisch besinnlichen Geschichten. Zum Beispiel werden für die 83-jährigen Bonnie und Klaus die Ehe und das Alter zur Hölle und Marlene entdeckt die Bücher von Erich Maria Remarque und dass sie ihr Leben dringend ändern muss. Außerdem erfahren Sie, warum das Basteln von Adventskalendern tödlich enden kann. Die Kriminalautorin Ingrid Schmitz sendet mit dieser Auswahl - von ihren über fünfzig veröffentlichten Krimikurzgeschichten in diversen Anthologien - mörderisch liebe Grüße an ihre Leserinnen und Leser. Aber auch bisher unveröffentlichte Texte sind zu finden.
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Seitenzahl: 385
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Cappuccino-Tag
Seit einem Monat trank Karl jede Woche, genauer gesagt jeden Mittwoch gegen fünfzehn Uhr, mit ihr Cappuccino. Zu diesem und einem anderen Zweck trafen sie sich im Café Extrablatt in der Krefelder Innenstadt. Es spielte sich immer gleich ab. Eine Stunde lang besprachen sie das Wochenereignis und danach trennten sich ihre Wege wieder.
Karl war der Adoptivsohn eines ehemaligen Fabrikbesitzers. Der Familienname soll an dieser Stelle lieber unerwähnt bleiben.
Sie hieß Agnes Allzeit oder Lore Schmittchen und brandaktuell Betty Schröder. Ihr momentaner Job war der lukrativste. Sie war Auftrags… ähm … Altenpflegerin und das, obwohl sie mit ihren dreiundsiebzig Jahren selbst nicht mehr die Jüngste war. Erst vor ein paar Monaten hatte sie sich mit der Altenhilfe selbstständig gemacht. Für die neue Tätigkeit schien sie geradezu prädestiniert zu sein. Über ihre diffuse Anzeige in der Tageszeitung hatte Karl sie kennengelernt. Kurioserweise war sein Vater, der in diesem Jahr achtzig geworden war, selbst auf das Inserat gestoßen. Immer wieder hatte er mit der Lupe darauf getippt und gesagt, wenn jemals eine Pflegeperson für ihn kommen müsse, sollte es um Himmels willen nicht so eine alte Schabracke sein, sondern lieber ein junges, knackiges Mädchen.
Das hatte Karl auf eine Idee gebracht. Noch am selben Abend, als er wieder in seiner Wohnung war, wählte er die Mobilnummer von Betty Schröder und erfuhr, dass sie eine Frau mit unendlich vielen Erfahrungen auf dem Gebiet der Altenhilfe war. Sie dachte ähnlich wie er, meinte auch, irgendwann müsse einmal Schluss sein und dass es kein Segen sei, so alt wie Methusalem zu werden. Selbstverständlich wolle sie sich um seinen Vater kümmern. Karl war froh, ihre Anzeige richtig gedeutet zu haben. Allerdings glaubte er, ihre Stimme schon einmal gehört zu haben.
Gleich für den nächsten Tag hatten sie ein Treffen bei seinem Vater vereinbart. Schon bei der Begrüßung erinnerte sich Karl. Die weißen Locken, der funkelnde Blick und die ausgeprägten Lachfalten um den Mund, ja sicher, sie kannten sich von der Trabrennbahn, vom Pferderennen, vom Wetten. Sie liebten beide das Risiko und hatten beim letzten Mal ein Vermögen auf das falsche Pferd gesetzt. Anschließend hatten sie nicht mit Champagner auf den Sieg getrunken, sondern sich mit Wodka auf die Niederlage betrunken. Ja, sie war es gewesen. Eindeutig. Auch wenn er hätte wetten können, dass sie damals noch anders hieß.
Seinem Vater gegenüber sagte Karl lieber nicht, woher er Betty Schröder kannte, auch nicht, dass sie die Ältere Altenhelferin für alle Fälle aus der Zeitung war. Vielmehr stellte er sie als Bekannte eines Bekannten, als gute Seele vor, die ihre letzte Betreuungsstelle verloren hatte und nun wieder ehrenamtlich tätig sein wollte. Es freute seinen Vater, weil ihre Dienste nichts kosten würden.
Am nächsten Tag hatte Karl sich mit Betty Schröder zum ersten Mal auf einen Cappuccino im Café Extrablatt getroffen. Auch sie brauchte dringend Geld und auch sie liebte es, hoch zu pokern. Karl einigte sich mit ihr darauf, dass sie seinen Vater zunächst einmal nur minimalistisch versorgen sollte. Mehr schlecht als recht also. Es sollte mehr der Tarnung und Erkundung dienen. Ob sie für seinen Plan wirklich geeignet war, musste sich erst herausstellen. Etwas skeptisch war Karl schon, obgleich Betty Schröder physisch und psychisch äußerst fit geblieben war und man ihr das Alter nicht anmerkte. Sie war mit den weißen Locken und dem gepflegten Äußeren eine durchaus elegante Erscheinung, was auch seinem Vater sofort gefallen hatte.
Erst einmal gab es für Betty Schröder nicht viel zu tun. Noch trug sein Adoptivvater keine Windeln, konnte alleine essen und auf den Stock gestützt gehen. Aber die Tage waren abzusehen, wann das nicht mehr möglich sein und er zum wirklichen Pflegefall würde. Je weniger Lebensjahre dem alten Geizhals geschenkt würden, je mehr Geld würde Karl geschenkt werden. Karl könnte es nicht ertragen, wenn sein Erbe nur für die Pflegekosten oder ein Pflegeheim draufginge. Was war das denn für eine Adoption, bei der unterm Strich nichts für ihn herauskam? Außerdem musste er mit seinen fünfundvierzig Jahren auch endlich einmal für seine Spielleidenschaft abgesichert sein, weil er keinen Beruf erlernt hatte und arbeiten für ihn nicht in Frage kam.
Karl sah auf die Caféhaus-Uhr. Viertel nach drei. Betty Schröder ließ heute besonders lange auf sich warten. Wie ärgerlich. Dabei war die Besprechung so eilig und wichtig, weil sich ihr Plan dem Finale näherte. Sie hatten Zukunftsträchtiges und Wegweisendes zu besprechen.
Wenigstens die Kellnerin kam sofort und brachte ihm den bestellten Cappuccino. Er streute vorsichtig den Zucker aus dem Papiertütchen ein und rührte ebenso behutsam um. Die erste Tasse Kaffee trank er immer hastig. Regelmäßig verbrannte er sich die Zunge daran. Es war die Gier, die ihn dazu trieb schnell auszutrinken. Er verlangte nach dem unverwechselbaren Geschmack der frisch gemahlenen Robusta-Arabica-Mischung, die mit heißem Wasserdruck zu einem dunkelbraunen, aromatisch duftenden doppelten Espresso geworden war, und liebte die braun-weiße Kapuze, die cappuccio, aus halbflüssigem, cremig warmem Milchschaum. Ein wahres Milchsoufflé – ein Kaffeetraum! Noch besser hatten es die Italiener. Baristi, Kaffeekünstler an der Espressomaschine, erschufen mit der bloßen Bewegung des Milchkännchens beim Eingießen die schönsten Muster. Die Deutschen waren pragmatischer. Sie streuten mit Schablonen Kakaoherzen auf den Schaum, und nur die Deutschen tranken den Cappuccino auch abends. Das würde den Italienern nicht einmal im Traum einfallen.
Na gut, ihm reichte das Kakaoherz, er war hier nicht in Italien, das musste berücksichtigt werden. Worauf er beim Kaffee sehr großen Wert legte, war die Qualität. Es gab so viele Café-Bars, in denen es nur minderwertigen Cappuccino gab. Da musste man höllisch aufpassen. Stümper und Betrüger türmten die doppelte Portion steifen Milchschaums zum Berg auf und verdeckten damit den wässrigen Espresso. Ist klar, Milch ist preiswerter als Kaffee … Ach, warum ärgerte er sich jetzt wieder darüber? Weil er sich ärgern musste. Wieder sah er auf die Uhr. PÜNKTLICH war anders.
Dabei war sie sonst so zuverlässig. Vier Wochen versorgte sie nun schon seinen Adoptivvater und hatte sich bewährt. Nun wusste Karl: Sie war die Richtige. Sie war so herrlich bestimmend – das trieb Vaters Blutdruck mächtig in die Höhe. Sie war quirlig – das war ihm zu anstrengend, und sie lachte laut und viel – das mochte er nicht leiden. Doch bevor sie womöglich wieder gehen sollte, mussten sie gehandelt haben. Es wurde höchste Zeit.
Karl lächelte bei dem Gedanken, beim nächsten großen Rennen wieder mitmischen zu können, und dann musste er unbedingt mal wieder nach Baden-Baden. Vielleicht nahm er Betty Schröder diesmal sogar mit.
Mit ausgestreckten Armen empfing er die zurückkehrende Kellnerin, die heute Inliner unter den Füßen zu haben schien, und nahm das Tablett mit seinem heißgeliebten Cappuccino entgegen. Wohlwollend prüfte er den Milchschaum. Hochkonzentriert streute er die süßen Kristalle seitlich schräg in die Milchschaumhaube ein, damit sie nichts von ihrer Schönheit verlor, und verrührte – unter dem Schaum – den Zucker behutsam mit dem Löffel. Dabei stierte er auf das dunkelbraune Kakaoherz. Er hob den Kaffeelöffel wieder vorsichtig aus der Tasse heraus und stach ihn langsam und nur Millimeter tief in den oberen Teil des Herzens, zog ihn bedächtig nach vorne, so dass ein Oval entstand. Karl leckte den Löffel blank und trug ein wenig Kakaopulver damit ab, setzte zwei Punkte ins Oval und drückte links und rechts den Rand etwas ein. Ja, er erkannte das, was er damit hatte erreichen wollen und was ihn gedanklich beschäftigte: Es sah aus wie ein Totenschädel.
»Das ist aber gruselig. Guten Tag. Entschuldigen Sie, wenn ich zu spät komme. Ich musste noch etwas Wichtiges erledigen.« Betty Schröder legte ihr Rentner-Handy auf den Tisch, das mit den großen Zahlen, und steckte es dann doch lieber zurück in die Jackentasche.
Karl verwischte schnell den Kakao-Totenschädel mit dem Löffel, dann hob er den rechten Arm und rief der Kellnerin zu: »Bitte einen Cappuccino für die Dame.«
Betty Schröder nickte zustimmend, murmelte ein Danke. Um keine weitere Zeit zu verlieren, kam sie sofort zur Sache. Sie hob die Tasche, holte ihren Kalender hervor, blätterte, zog ihre Brille aus den Haaren und fand das, was sie suchte. Sie tippte auf den Eintrag.
Er beugte sich nach vorne und las: »1. November, Abgabetermin.«
Flüsternd sagte sie: »Allerheiligen. Die beste Zeit. Ich habe da mal etwas vorbereitet. Meinetwegen können wir die Aktion an diesem Tag starten.«
Karls gerötetes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Großartig. So liebe ich das. Und wie genau? Womit?«
Sie schob ihre Brille zurück in die weißen Locken und kramte wieder in ihrer Handtasche. Plötzlich stockte sie. Die Kellnerin kam an den Tisch und brachte ihr den Cappuccino, den sie mit einem »Bitte sehr« abstellte. In der Zwischenzeit hatte Karl seinen zur Hälfte ausgetrunken, bestellte aber trotzdem schon einen neuen. Seine Gier war noch immer nicht gestillt.
Betty Schröder schloss ihre Handtasche und stellte sie auf den Boden. Karl stutzte. Was sollte das? Wollte sie nicht etwas aus der Tasche holen? Hatte er etwas verpasst? Er war sehr gespannt, welche Methode sie sich für seinen Vater hatte einfallen lassen. Ihm war es im Prinzip egal, sie sollte nur perfekt und sicher sein. Jetzt fiel es ihm auf. Auf dem Tisch lagen drei bunte Zuckertütchen nebeneinander. Wo kamen die jetzt her? Jedenfalls nicht von der Kellnerin.
»Geniale Idee, nicht wahr?« Betty Schröder strahlte ihn mit ihren grünen, listigen Augen an. »Ihr Vater sammelt diese Dinger doch, um keinen Zucker kaufen zu müssen, und da dachte ich mir, ich sammele sie auch und präpariere sie ein wenig.«
»Hm … ja, schon. Dann soll ich ihm also den Zucker in den … oder, nein, machen Sie das besser.«
»Nein, nein, da haben Sie mich falsch verstanden.« Sie lachte laut. »Pscht! Nicht so laut! Was ist daran so witzig?« Sein Kopf zuckte zur Seite. Er wollte wissen, wie viele Gäste sie von nun an beobachten würden. Glück gehabt. Niemand sah zu ihnen hinüber. »Wieso drei Tütchen? Wirkt es nicht gleich beim ersten Mal?« Er wagte nicht, das Wort Gift auszusprechen, als könne allein das schon tödlich sein.
»Sie denken wohl, die alte Schachtel ist nicht mehr klar bei Verstand. Natürlich habe ich an alles gedacht, vielleicht sogar an mehr als Sie. Nur der Inhalt eines Tütchens ist gefährlich. In zweien befindet sich reiner Zucker.« Betty Schröder hielt sich die altersfleckige Hand vor den Mund und gluckste. »Gönnen Sie mir den Spaß. Ich werde Ihrem Vater alle drei Tütchen auf einem Teller zum Tee servieren. Er wird mit Sicherheit das oberste nehmen und wenn er nicht danach greift, werde ich einen Weg finden. Die Tütchen sind vorsichtshalber nicht markiert, aber ich bewahre das Gifttütchen bis dahin natürlich separat auf.«
»Natürlich.« Karl nickte. Alle drei Tütchen sahen gleich aus, wenn auch anders als ursprünglich. Man erkannte sofort, dass ein gestanzter Falz fehlte, weil eine Seite geöffnet, umgeschlagen und neu verklebt worden war. »In welchem ist es jetzt?«
»In diesem.« Sie tippte auf das rechte, von ihr aus gesehen. Sein Gedankenspiel bescherte ihm ein Kribbeln. Die Tütchen lagen so wie bei einem Hütchenspiel.
Auch Betty Schröder beugte sich interessiert vor. »So wäre es wie russisches Roulette, wenn ich nicht wüsste, in welchem es sich befindet.«
Es stieg ein wahnwitziger Glanz in Karls Augen, wie er nur bei Spielern zu sehen war. Er liebte solche Spielchen. Tödlich waren sie aber bisher noch nie gewesen. Karl sah Betty Schröder tief in die funkelnden Augen. Sie schien zu wissen, was er jetzt dachte. Sie nickte. Blitzschnell vertauschte er die Tütchen. »Und jetzt? Wo ist es jetzt?«
In Betty Schröder wurde ein Feuer entfacht, das sie mit äußerster Anstrengung überspielte. Sie zuckte mit den Schultern und zeigte auf das linke. Ihre Stimme vibrierte: »Finden wir es heraus.« Sie klatschte mehrmals leise in die Hände und redete auf einmal, als moderiere sie eine Kindersendung: »Eins, zwei oder drei? In zwei Tütchen ist reiner Zucker, im dritten es. Eins, zwei oder drei! Sie fangen an. Sie schütten den Zucker aus einem der Tütchen in Ihren Cappuccino und trinken ihn.«
Mikrofeine Schweißperlen bildeten sich auf Karls Stirn. Schnell trank er seine Tasse leer.
Betty Schröder kicherte. »Netter Versuch. Sobald die Kellnerin Ihnen den nächsten Cappuccino bringt, fangen Sie an. Wenn nur noch ein Tütchen da liegt, hören wir auf.« Sie nippte nur an ihrer Tasse, wollte sich den Kaffee aufsparen.
Karls Hände zitterten. Er stierte auf die Zuckertütchen. Wenn er es recht überlegte, war es sogar gut, wenn er anfing. Die Chance, den Zucker zu erwischen, wäre dann höher. Betty Schröder hatte nach ihm nur noch eine Fifty-Fifty-Chance. Er zögerte, hielt sich auf Spannung. »Wie schnell wirkt es?« Er dachte an Erste Hilfe, Krankenwagen, Magenauspumpen. Das wäre seine Rettung. Man würde ihn schon nicht liegen lassen.
»Es geht sehr schnell. Es ist schon etwas älter. Aber es hat nichts an Wirkungskraft verloren. Wissen Sie, früher gab es geruchsloses und geschmacksneutrales es. Das wurde dann aus verständlichen Gründen verboten und musste eingefärbt und bitter gemacht werden. Ich habe damals schon den Marktwert erkannt und mir eine große Tüte für schlechte Zeiten zurückgelegt. Meine Altersvorsorge sozusagen.«
Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher.
»Was ist, wenn ich Pech habe? Sie wollen also das Risiko eingehen, dass ich hier … umkippe? Man wird Sie sofort festnehmen.«
Betty Schröder winkte lachend ab.
Die Kellnerin kam herbei und lachte unwillkürlich mit, so als habe sie den Witz, der keiner war, verstanden. Sie stellte das kleine braune Tablett mit der Cappuccino-Tasse, den Zuckertütchen und den Keksen vor Karl auf den Tisch und nahm seine leere Tasse auf dem Tablett wieder mit. Sie griff nach den drei Zuckertütchen, die in der Mitte des Tisches lagen, weil sich auf dem neuen Tablett ausreichend viele befanden.
»Nein!«, schrie Karl sie an. Er sprang auf. Der Stuhl kippte um.
Gerade noch rechtzeitig, sie hatte sie noch nicht einmal berührt. Verstört verschwand die Kellnerin mit tausend Entschuldigungen auf den Lippen und hochrotem Kopf.
Betty Schröder rang nach Atem. »Das war knapp!«
»Weiter, weiter«, flüsterte Karl in höchster Erregung. Er wollte sich nicht durch solch einen Zwischenfall der Spannung berauben lassen. »Also, mir kann es ja egal sein, wenn Sie festgenommen werden. Ich bin ja dann schon …« Er schluckte. »Aber wenn Sie es wählen und Sie dann … nehmen sie mich mit. Das …«
Betty Schröder beugte sich vor: »Sie müssen noch viel lernen. Erstens: Wer wird denn schon auf die Idee kommen, dass eine Dreiundsiebzigjährige einen jungen Mann direkt im Café vor lauter Zeugen umbringt. Also bitte, da habe ich doch wohl in meinem Alter Narrenfreiheit. Sehe ich so aus, als wäre ich eine Mörderin? Zweitens: Wenn ich hier in aller Öffentlichkeit während einer Tasse Cappuccino im Gespräch mit einem jungen Mann das Zeitliche segne, wird man nur denken. ›Was für ein schöner Tod im Alter‹ oder ›Musste der Sohn seine Mutter so aufregen?‹ Also los. Was ist jetzt? Es ist das letzte Spiel für den Pechvogel unter uns.«
Fasziniert starrten sie gemeinsam auf die Zuckertütchen, als versuchten sie hellseherische Fähigkeiten zu entfalten. Betty Schröder musste niesen. Sie zückte ein Taschentuch und wendete sich höflich ab. Karl nutzte die Gelegenheit. Er tauschte blitzschnell das linke Zuckertütchen gegen eines von seinem Tablett aus. Entweder hatte er jetzt Glück und es befanden sich nun drei harmlose Zuckertütchen im Spiel, oder es war zumindest die Chance gleich geblieben, es zu erwischen. Falschspielen gehörte ja nun auch zum Spiel.
Betty Schröder drehte sich wieder zu ihm und sah ihn an. Nein, sie giftete ihn an.
»Geben Sie schon das Tütchen her. Es ist zwecklos, hier fehlt eins mit umgeschlagenem Falz.«
Karl rückte widerwillig das entwendete Tütchen heraus und warf es auf den Tisch. Betty Schröder tauschte es flugs um. Sie mischte die Tütchen noch einmal und murmelte dabei unverständliche Worte. »Los jetzt! Sie zuerst.«
Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, sein Puls jagte. Er fühlte sich, als habe er eine Bombe zu entschärfen.
»Was ist jetzt? Ihr Cappuccino wird kalt.« Betty Schröders Ton wurde schärfer. »Kneifen wir etwa?«
Beherzt griff er nach dem mittleren Zuckertütchen, riss den Rand auf und schüttete den Inhalt auf die Milchschaumhaube. Er hob die Tasse …
»Verrühren! Wird’s bald!« Betty Schröders Kopf wackelte.
Karl zerstörte die allererste heilige Cappuccino-Milchschaumhaube in seinem Leben, aber es machte ihm nichts aus. Er wollte gar nicht mehr aufhören zu rühren.
»Aufhören und trinken«, flüsterte sie gefährlich langsam.
Der Befehlston verstärkte seine Erregung. Er setzte die Tasse an die Lippen und trank in kleinen Schlucken aus. Er wartete ab … lächelte … lachte … lachte laut … lachte hysterisch und … fiel tot um.
Betty Schröder hatte mit nichts anderem gerechnet. Egal, zu welchem Tütchen er gegriffen hätte. Sie rief nach dem Notarztwagen und legte ungeahnte schauspielerische Fähigkeiten an den Tag. Aus ihren Augen rollten unentwegt Tränen. Es war das unterdrückte Lachen, das sie verkneifen musste, denn das würde kein gutes Licht auf sie werfen. Man nahm sie schnell zur Seite, schirmte sie ab, kümmerte sich rührend um sie, während alles andere im Hintergrund erledigt wurde. Betty bat, kurz zur Toilette gehen zu dürfen, und nein, sie brauche keine Hilfe, sie käme schon zurecht, obwohl ihr natürlich noch der Schock in den Knochen säße. Aber sie habe da mal ein dringendes Bedürfnis.
Sie schloss sich in einer der Kabinen ein und setzte sich, weil ihre Knie zitterten. Der Alte hatte recht gehabt, sein Sohn taugte nichts, nicht für das Erbe – das hätte er sowieso nur als Pflichtteil bekommen – und nicht als Spieler. Der Meinung war sie jetzt allerdings auch. Noch nicht einmal als Falschspieler war er gut gewesen.
Betty Schröder nahm ihr Handy hervor und drückte auf die Eins. Wählgeräusche ertönten, dann stand die Verbindung.
»Hallo Ursula. Ich bin’s, Helga. Ich möchte dich zu meiner Hochzeit im Dezember einladen. Ich habe da einen steinreichen Mann kennengelernt. Er ist zwar schon etwas älter und meint durch mich als seine Frau die Pflegekosten sparen zu können, aber das macht mir nichts aus. Ich denke, dass ich mit ihm noch ein paar schöne Monate verleben kann.«
Die Schüsselkönigin
»Die Siegerin des Jahres ist…«
Ohrenbetäubender Tusch. Die in Schale geschmissenen Gäste blickten sich ein letztes Mal wohlwissend zu der einzig in Frage kommenden Person um und nickten…
»… unsere Britta Schwarzpost!«
Nun riss es alle von den Stühlen. Stehend applaudierten sie und hörten sich mit neidvoller Bewunderung den Grund des grandiosen Sieges an.
»Unsere Britta hat es im letzten Jahr geschafft, ihre, man höre und staune – ja, es ist nicht gelogen – ihre Verkaufszahlen zu verdoppeln! Somit steht sie, unsere Britta, mit großem Abstand an der Spitze der Top-Ten-Verkäufer und erhält die goldene Ehrennadel.« Tusch und Jubel unterbrachen die Rede des Präsidenten für einen Moment. Er hob die Hände wie zum Segen und bat um Einhalt. »Doch das ist noch längst nicht alles!« Tusch!
»Zusätzlich«, er blickte Britta, die mittlerweile scheinbar gerührt neben ihm auf der Bühne stand, tief in die Augen, »zusätzlich«, und nun drehte er sich wieder zum Publikum, »erhält sie den 1. Preis unseres Wettbewerbes: einen einwöchigen Aufenthalt im idyllisch gelegenen Burghotel Greiffenstein, mit einer Person ihrer Wahl.« Er wedelte demonstrativ mit der auf dem Computer geschriebenen Urkunde und las mit bedeutungsschwangerem Unterton die Vorzüge des exklusiven Hotels vor: »Das Burghotel Greiffenstein verfügt über ein Felsenschwimmbad mit Panoramafenster und Sauna«, er leckte sich die Lippen, »ein Restaurant mit Dachterrasse, Stallungen, Zwinger, Garagen und einen Golfplatz zu Füßen der Burg! Naa? Ist das was? Ist das was?« Er breitete die Arme aus und empfing auf Kommando frenetischen Applaus. Dann drehte er sich, die Pose innehaltend, zu Britta und erwartete deren Begeisterungsausbruch, der sich allerdings in Grenzen hielt.
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