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Nizza, 1967: Die junge Lucy Duchesne lebt das Leben einer wohlhabenden, unabhängigen Künstlerin, als sie dem wesentlich älteren Geschäftsmann Henri Nardin begegnet. Schnell findet der als Frauenheld bekannte Lebemann Gefallen an der eigenwilligen Schönheit. Doch Henri ahnt nicht, dass Ihre Begegnung keineswegs ein Zufall war. Und die vermeintliche Künstlerin in Wahrheit nur ein Spiel spielt, um späte Rache an ihm zu nehmen. Sein Vertrauen zu gewinnen und ihn am Ende zu vernichten. Doch vorher würde er erfahren, wer sie wirklich ist. Und was er ihr vor vielen Jahren angetan hat. Nur eines hatte Lucy nicht berechnet: Dass sie die Person, die sie eigentlich hassen sollte, mögen und vielleicht sogar lieben würde. Doch für eine Rückkehr in ihr altes Leben ist es bereits zu spät.
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Anastasja, Celine, Hannah, Michelle und Sarah. Ohne euch gäbe es hier keine Poesie, keine Lyrik. Und folglich auch keinen Grund, ein Buch zu schreiben.
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Für die meisten Menschen war ich mittlerweile aus der Zeit gefallen. Ein an sich nicht mehr wirklich benötigtes Schmuckstück, das man mehr als Statussymbol als zu praktischen Zwecken besaß. Ein modisches Statement, ein Stück Nostalgie. Zeit, das hatten mir die letzten Jahre und Jahrzehnte mehr als deutlich gezeigt, war eigentlich gar nicht wirklich messbar. Sie schlug mal schneller, mal langsamer. Und manchmal schien sie einfach stehenzubleiben, bewahrte Erlebtes wie in einer Zeitkapsel für die Ewigkeit auf. Glück und Leid, Liebe und Hass. Leidenschaft ... und Elend.
Ich entstand in einer Epoche, in der die Sekunden und Minuten, die Stunden und Tage noch anders zu schlugen schienen als in dieser so schnelllebig wirkenden Welt, in der ich keinen wirklichen Platz mehr hatte. Und trotzdem, trotz aller Umstände, war ich noch hier. Und erzählte eine Geschichte.
Eine Geschichte, die keiner hören konnte. Obwohl sie es wert gewesen wäre, in Worte gefasst zu werden.
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»Die hier gefällt mir! Das Design ist toll!« Der Verkäufer lächelte, als er einen Blick auf die Wahl der jungen Frau warf. Sein Laden war mehr eine Ansammlung an Kuriositäten als ein wirkliches Juweliergeschäft. Eigentlich besaß er ihn wohl nur noch, um seine eigene Sammelwut irgendwie rechtfertigen zu können. Vor sich selbst, allen anderen. Ihm war bewusst, dass er mit all dem nie das große Geld machen würde. Und vielleicht wollte er das auch gar nicht.
»Girard-Perregaux Gyromatic. Eine sehr schöne Wahl! Ich schätze, sie wird um 1967 entstanden sein. In dem Jahr wurde sie zumindest laut Originalrechnung erstmals verkauft. Ganz genau kann man es wohl nicht sagen! Eine Herrenuhr, aber dank ihres geringen Durchmessers heutzutage auch für Damen wie Sie gut tragbar. Ein stilvolles, und zugleich zeitloses Stück!« Die junge Frau warf dem Verkäufer ein charmantes Lächeln zu, das er nicht genau deuten konnte. Allgemein schien er sich selbst nie wirklich sicher darüber zu sein, ob seine Worte nun verkaufsfördernd waren oder das genaue Gegenteil bewirkten.
»Sehr schön!« Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als auch die bis dahin sehr wortkarge, etwas mürrisch wirkende Mutter der jungen Kundin ihr Gefallen an der alten Armbanduhr äußerte. »Aber sie ist auf der Rückseite signiert, das stört mich ein bisschen! Kratzer hat sie auch einige!«
»Ja, natürlich hat das gute Stück in den letzten fast sechzig Jahren auch den ein oder anderen Kratzer davon getragen. Ein bisschen Patina gehört dazu, aber natürlich lassen sich oberflächliche Kratzer auch jederzeit auspolieren! Ebenso die Signatur, mit Sicherheit die Initialen des Gentlemans, der die Uhr damals neu kaufte, ließe sich sicherlich recht schnell entfernen. Ich an Ihrer Stelle würde sie aber genau so lassen, wie sie jetzt ist. Sie erzählt eine Geschichte!«
Die Mutter starrte den schon etwas älteren Verkäufer stirnrunzelnd an, schien aber über seine Aussage nachzudenken.
»Und die gefällt dir wirklich am besten? Hast du dir alle anderen auch angesehen?«, hakte die Frau bei ihrer Tochter in einer seltsamen Mischung aus Strenge und Fürsorglichkeit nach. Immerhin war sie es, die das gute Schmuckstück zahlen würde.
»Ja, ich denke schon!« Der Juwelier atmete tief durch, ohne dabei sein Lächeln zu verlieren oder sich etwas anmerken zu lassen. Ich denke schon klang nicht wirklich nach einer überzeugenden Antwort zugunsten eines Kaufs.
»Sehen Sie sich doch nochmal die Details an, das schöne Ziffernblatt zum Beispiel! Es schimmert unter dem Licht regelrecht, wirklich einmalig. Und Sie kaufen zudem auch ein Stück Schweizer Uhrmacherqualität der höchsten Güteklasse. Sie werden viel Freude an der Uhr haben, das garantiere ich Ihnen! Ein Begleiter für sprichwörtlich alle Zeiten!«
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Die Kundin blickte den gewieften Verkäufer mit einem süffisanten Lächeln an, während sie abermals den Zeitmesser in seinen Händen betrachtete. »Schon gut, Sie haben mich überzeugt. Dürfte ich die Uhr einmal anlegen und sehen, wie sie an meinem Handgelenk wirkt?«
»Gewiss!« Der junge Mann in seinem etwas zu bieder wirkenden Anzug kicherte charmant, als wäre er völlig hin und weg von der jungen Blonden, die in ihrer eleganten Aufmachung und den hochgesteckten Haaren alle Blicke im Juweliergeschäft auf sich zog. Unter den erlesenen Kunden war sie der absolute Blickfang, was ihr durchaus bewusst zu sein schien. »Ein Geschenk für Ihren Mann oder Ihren Vater?«
Die Blonde, die gerade im Begriff war, sich die Uhr ums Handgelenk zu schnallen, blickte auf, warf dem Verkäufer einen kritischen Blick zu und musterte ihn von oben bis unten. Ja, der Anzug war definitiv zu bieder. Dieses Altherren-Braun, absolut furchtbar. Die Wahl für alle jungen Gentlemans, die schon mit Ende zwanzig aussehen wollten wie eine wandelnde Mittfünfziger-Lebenskrise.
»Weder noch. Die Uhr ist für mich!« Die Stimme der jungen Frau klang freundlich, zugleich aber bestimmt und fast schon etwas schnippisch. Ihr süffisantes Lächeln tat ihr Übriges, dem jungen Mann hinter dem Verkaufstresen die Röte ins Gesicht zu treiben.
»A ... aber, meine Dame, wir haben von dieser Manufaktur auch Damenuhren in kleineren Größen. Sogar Ziffernblätter mit Steinbesatz, wenn Sie die mal sehen wollen!«
»Kein Interesse!«, erwiderte die Blonde mit Blick auf die Herrenuhr an ihrem Handgelenk, ohne dabei zu dem Verkäufer aufzusehen. »Ich will die Uhrzeit auch ohne Lupe erkennen können. Oder ist es ein unausgesprochenes Tabu, ein ... Sakrileg, als Frau eine Herrenuhr zu tragen?« Ihr Lächeln und die Art und Weise, in der sie die Frage formuliert hatte, ließen für den Verkäufer nur eine einzige Antwort zu: die, die sie hören wollte.
»Nein, ähm ... keineswegs! Sie haben einen exquisiten Geschmack, muss ich sagen. Wollen Sie eine ... Signatur auf dem Gehäusedeckel?«
Die geheimnisvoll anmutende Blonde, die zum Leidwesen der anwesenden Ehefrauen die Blicke sämtlicher Männer im Verkaufsraum auf sich zog, schien kurz über die Frage des Verkäufers nachzudenken, ehe sie nickte.
»Ja, gravieren Sie L. D. ein. Mit verschnörkelter Schrift. Aber nicht zu verschnörkelt, man soll es noch lesen können!«
»Gerne! Ich bräuchte noch ... « Der junge Mann hielt kurz inne, als seine Kundin ihre Geldbörse zückte und ihm bereits mehrere Scheine auf den Tresen legte. »... Ihren Namen für den Abholschein! Sie ... zahlen direkt die ganze Summe in bar? Wir hätten auch eine Anzahlung akzeptiert. Mit der Restzahlung bei Abholung Ihrer Uhr!«
»Wozu? Dann habe ich das schonmal hinter mir. Schreiben Sie Lucy Duchesne auf den Abholschein!«
Der junge Mann nickte und schien sich dann kurz in den Augen der Schönheit zu verlieren, ehe er wieder die Besinnung erlangte und Ihren Namen auf den Abholschein schrieb.
»Unser Graveur ist gerade nicht im Haus, aber bis Freitag sollten Sie die Uhr definitiv abholen können!«
Lucy Duchesne lächelte zufrieden, zwinkerte dem Verkäufer zu und drehte sich dann wortlos um. Auf dem Weg zum Ausgang fühlte sie die Blicke der männlichen Kundschaft, der Verkäufer. Selbst die Frauen schienen zu gaffen, auch wenn es bei Ihnen wohl eher der Neid oder die Entrüstung war. Ein Spießrutenlauf. Aber es gehörte alles zu ihrem Plan. Sie wollte Aufsehen erregen in dieser Stadt, Aufmerksamkeit erlangen. Seine Aufmerksamkeit. Schließlich war er immer auf Beutezug, immer auf der Suche nach der nächsten Eroberung, dem nächsten Abenteuer. Dem nächsten Leben, das er durch sein Handeln zerstören konnte. Sie würde mitspielen, sich verführen lassen. Bis sie ihn an der Angel hatte. Um dann gemächlich ihre Hände um seinen Hals zu legen und langsam zuzudrücken.
Bis sie sein Leben ruiniert hatte.
»Nichts geht mehr!« Henri Nardin wandte sich dem Geschehnis am Roulettetisch ab und lächelte seiner Begleitung süffisant zu. Es interessierte ihn nicht wirklich, ob er gewann oder nicht. Es waren nur kleine Beträge, die er hier setzte. Klein für ihn, aber groß genug, um bei Frauen wie ihr Eindruck zu schinden. Der elegante Charmeur, dem sein Geld so gleichgültig war, dass er beim Roulette lieber seiner Begleitung Aufmerksamkeit schenkte. Seine wahre Leidenschaft war das Pokern, sowohl am Spieltisch als auch symbolisch gesprochen im echten Leben. Im Beruf, der Liebe. Und er war ein guter Spieler. Am Ende gewann er, so oder so.
»Ihr Champagner, Amelie!« Henri reichte der jungen Dame, die er erst seit etwa zwei Stunden kannte, ein Glas Veuve Clicquot, das diese mit funkelnden Augen annahm. Sie schien sich nicht einmal Mühe geben zu wollen, ihre offenkundigen Absichten zu verbergen. Vermutlich, da sie wohl ohnehin jeder hier kannte. Henri wusste, was für eine Frau sie war, genauso wie die anderen Gäste und das Personal des Casinos sowieso. Man erkannte solche Menschen, wenn man tagtäglich mit Geldleuten zu tun hatte. Diese junge Dame, die vielleicht wirklich Amelie hieß, oder aber ihn vielleicht auch nur erfunden hatte, war keineswegs eine Prostituierte. Auch kein Escortgirl oder eine andere Art von Frau, die sich für ihre Begleitung oder gewisse andere Dienste bezahlen ließ. Zumindest nicht offiziell. Sie war eine Touristin, laut eigener Aussage aus einem verschlafenen Nest in der Nähe von Lille. Jung, unerfahren. Sie reizte diese mondäne Stadt, die edlen Boutiquen und Luxushotels, der offensichtliche Reichtum einiger Leute wie Henri. Sie war perfekt, das Idealbild seines Beuteschemas. Es war einfach, sie um den Finger zu wickeln. Mit ihr eine kurzlebige, aber leidenschaftliche Affäre zu beginnen. Er machte ihr Geschenke, führte sie aus. Er wusste, dass es genau das war, was sie hiermit bezweckte. Und sie wiederum wusste auch ganz genau, was er damit bezweckte. Man konnte es also als ein einvernehmliches Zweckbündnis bezeichnen, jeder von ihnen profitierte. In einer Woche würde sie in ihr eintöniges Kleinstadtleben zurückkehren, eines Tages einen dickbäuchigen Kerl heiraten und vielleicht ab und an vom Feuer der Leidenschaft träumen, welches sie einst mit dem schönen Unbekannten in Nizza verspürt hatte. Henri lebte im Wissen, genau diese Erinnerung schon bei dutzenden Frauen hinterlassen zu haben. Auch eine Art Vermächtnis.
»Monsieur Nardin? Sie werden am Telefon verlangt!« Einer der Angestellten des Casinos, den Henri bereits seit Jahren kannte, eilte zum Roulettetisch und ignorierte völlig die attraktive Brünette in seinem Arm. Er kannte dieses Bild, jeder im Casino tat das. Und jeder ignorierte es. Henri Nardin war ein Lebemann, ein Original, wenn man so wollte. Oder auch ein nymphomanisches Schwein, je nach Sichtweise und Lebensphilosophie. Unbestritten war jedoch sein Einfluss und seine Bekanntheit in dieser mondänen Stadt, die mit ihren hellen Lichtern Reichtum genauso anzuziehen schien wie Glücksritter, Gauner und Taugenichtse, die hier nach Erfolg strebten.
»Lassen Sie mich raten: mein alter Freund Philippe?«
Der Angestellte lächelte, was Henris Frage bereits beantwortete. Gespielt genervt verdrehte er die Augen und gab seiner Begleitung einen sanften Kuss auf die Wange.
»Würdest du mich für einen Moment entschuldigen? Mein Geschäftspartner scheint keinen einzigen Tag ohne mich auszukommen!«
Die junge Frau lächelte süffisant, während sie an ihrem Champagner nippte. Henri sah sich bereits mit ihr in seinem luxuriösen Appartement, wo er ihr zu den Klängen der neuen Platte von Charles Aznavour langsam das Kleid ausziehen und ihr anschließend die schönste Urlaubserinnerung schenken würde, die man in Nizza nur bekommen konnte. Es mangelte Henri Nardin vielleicht an Zurückhaltung, Bescheidenheit und Sittlichkeit, nicht aber an Überzeugung.
»Telefon drei!«, rief ihm der Casinoangestellte hinterher, während er schnellen Schrittes zu den Telefonen an einer Wand im Eingangsbereich des Casinos eilte. Philippe konnte ein Plagegeist sein, er verfolgte ihn regelrecht. Es war reine Schikane, unverblümte Abneigung gegenüber dem Lebensstil seines Geschäftspartners.
»Was genau ist bitte genau jetzt dermaßen wichtig?« Henri blaffte unfreundlich in den Hörer, während seine Blicke eine ansehnliche, wenn auch etwas rundliche Dame am benachbarten Telefon musterten und in Gedanken bereits auszogen. »Hör zu, ich bin gerade im Casino, wie jeden Freitagabend. Du magst mit deinem Büro verheiratet sein, aber ich persönlich schätze meine Freizeit und vor allem mein Wochenende sehr! Wenn also nicht gerade das Weingut explodiert ist oder die Gendarmerie unsere Büros filzt, ist dein Anruf mehr als unangebracht und unhöflich!«
»Genauso wie dein Ton, findest du nicht, kleiner Bruder?« Die Stimme am anderen Ende des Hörers klang tiefenentspannt, beinahe schon amüsiert. »Oder dein Umgang mit der Damenwelt. Henri, man spricht bereits über dich in gewissen Kreisen. Du bist kein junger Gott mehr, du wirst in ein paar Wochen 42 und solltest dir deine Hörner mittlerweile abgestoßen haben!«
Henri lachte hämisch, während er der Dame am benachbarten Telefon, die sich nun endlich zu ihm umdrehte, zulächelte. Sein Lächeln verschwand alsbald wieder; sie hätte ihm lieber weiter den Rücken zukehren sollen. Gott, wie sehr er alleine schon die Bezeichnung kleiner Bruder verabscheute! Es war einst ein Witz, ein Spitzname, da man die beiden etwa gleichaltrigen Geschäftspartner aufgrund ihrer optischen Ähnlichkeit häufiger für Geschwister hielt.
»Darf ich dich daran erinnern, dass du früher nicht anders warst? Deine Sturm- und Drangzeit ist auch noch nicht sehr lange her, und du bist zwei Jahre älter als ich. Also gib mir die Zeit! Hast du mir außer diesen schlauen Worten sonst noch was zu sagen, oder war tatsächlich das der Grund für die Störung von meiner Abendunterhaltung?«
»Ich vermute, deine Abendunterhaltung trägt mindestens Körbchengröße D und ein ausgefallenes Kleid, welches sicherlich du ihr gekauft hast. Was ist es diesmal? Givenchy? Dior?«
»Drecksack!«, murmelte Henri schnippisch, aber zugleich amüsiert vor sich hin.
»Oh, den Designer kannte ich noch gar nicht! Du hast doch nicht etwa eine eigene Kollektion kreiert? Na, egal. Jedenfalls hat dieser Kerl aus Bordeaux vorhin angerufen. Du weißt schon, der Emporkömmling mit dem kleinen Familienunternehmen. Er ist eingeknickt und möchte verkaufen! Ich konnte den Preis nochmal um zwanzig Prozent senken, ihm steht das Wasser bis zum Hals!«
»Wer ist nun der Drecksack, hmm?« Henri lachte feixend über seinen Geschäftspartner. Philippe war bei geschäftlichen Themen ein harter Hund, besonders bei Firmenübernahmen. Mit dem kleinen Familienbetrieb aus Bordeaux besaßen sie bald nun Weinberge in jeder wichtigen Weinanbauregion Frankreichs sowie ein Weingut in Spanien, welches sich Philippe letztes Jahr unter den Nagel reißen konnte. Unter der Bezeichnung Banard, ein Akronym ihrer beiden Nachnamen, stellten sie seit nunmehr fünfzehn Jahren gemeinsam hochwertige Weine und Schaumweine mit großem Erfolg her.
»Er kommt am Montag zu uns, zum Vertragsabschluss. Du wirst doch auch da sein, oder?«
»Klar! Und danke dir. Für solche Sachen liebe ich dich! Ich könnte dich küssen!« Henri schmatzte den Hörer ab, was bei einem neben ihm telefonierenden, älteren Herrn ein Stirnrunzeln verursachte. Philippe lachte, auch wenn ihm die alberne Art seines Partners manchmal zuwider war.
»Küsse lieber die Unbekannte, die gerade auf dich wartet. Und kauf ihr nicht zu viel, kein Sex der Welt ist das wert, was du an einem einzigen Wochenende für deine Affären ausgibst! Man sieht sich!« Ohne eine Antwort abzuwarten, hängte Philippe den Hörer auf. Es war seine typische Art, ohne große Umschweife und immer mit einem gewissen Zynismus.
Bester Laune schlenderte Henri durch die Lobby des Casinos, um seine Begleitung abzuholen, die hoffentlich nicht die Frechheit besaß, in seinem Namen irgendeinen Betrag am Roulettetisch zu setzen. Sein Spielglück funktionierte nur bei ihm selbst, er musste dabei sein.
In Gedanken versunken bemerkte Henri zunächst gar nicht die junge Frau, die soeben das Casino betreten hatte und selbst den sonst sehr zurückhaltenden Portier dazu veranlasste, ihr einen Blick nachzuwerfen. Dann jedoch erhaschten seine Augen die fremde Schönheit und fixierten sie wie eine Fliege, die gerade einen Honigtopf entdeckt hatte. Sein Herz raste, was ihm bei einer Frau eigentlich selten passierte. Elegant, stilvoll, Selbstbewusstsein ausstrahlend. Sie war mehr als nur schön. Schöne Frauen gab es wie Sand am Meer; nichts war langweiliger als generische, öde Schönheit. Ihre Art von Schönheit jedoch war einmalig und fesselte seine Blicke an sich. Sie musste eine Touristin sein, er kannte sie nicht. Und diesen Anblick hätte er sich garantiert gemerkt! Sie war wohlhabend, das schien klar. Mit welchem Selbstbewusstsein sie in dieses Casino stolzierte, hierbei ihr eng anliegendes Kleid wie die Federn eines Pfaus präsentierte, während ihr alles um sie herum beinahe schon gleichgültig zu sein schien.
Henri gab sich Mühe, sich möglichst nichts anmerken zu lassen, während er der Frau im gebührenden Abstand folgte, ehe sie ganz in der Nähe des Roulettetischs an der Bar Platz nahm.
Amelie, deren Existenz Henri fast schon vergessen hatte, winkte ihrem Partner freudig zu. Henri entlockte sich ein scheues Lächeln, ehe er sich wieder der Unbekannten zuwandte und einen Kellner zu sich rief.
»Sehen Sie die? Die Blonde mit dem eleganten Kleid? Bestellen Sie ihr von mir eine Flasche Banard-Champagner! Den haben Sie doch hoffentlich, oder?«
Henris Frage, die mehr wie eine versteckte Drohung wirkte, beantwortete der Kellner mit einem Lächeln.
»Natürlich, Monsieur Nardin! Wird erledigt!«
Henri verfolgte den Kellner mit seinen Blicken und wartete, bis der Dame die Flasche Banard serviert wurde. Normalerweise spendierte er seinen Eroberungszielen nicht den Champagner seiner eigenen Marke; dazu war sie noch nicht bekannt genug. Schließlich war auch die Wahl des Getränks schon eine Art Statussymbol. In diesem Falle jedoch lag die Sache anders. Diese Frau wirkte wie eine Person, die über solchen Dingen stand. Gerade, als der Ober der Dame den Sachverhalt zu erklären schien, drehte sich Henri um und eilte zum Roulettetisch zurück, um sich nichts anmerken zu lassen.
»Da bist du ja endlich!«, rief Amelie fröhlich. »Schau mal, ich habe gewonnen! Insgesamt 200 Francs!«
»Von meinem Geld, nicht wahr? Her damit!« Wenig charmant riss Henri seiner Begleitung die Geldscheine aus der Hand, die sie zuvor wie einen Fächer vor ihm herumwedelte. Amelies Lächeln wich einer enttäuschten Miene, was Henri wieder daran erinnerte, dass er trotz seiner reinen Fleischeslust stets respektvoll und galant mit der Damenwelt umzugehen pflegte.
»Bitte, verzeih mir, dass ich so grob war!« Henri streichelte Amelie sanft über die Wange, lächelte ihr zu und drückte ihr wieder das Geld in die Hand.
»Ich ... habe nur eben einen nicht so guten Anruf erhalten. Einer meiner Geschäftspartner macht Ärger, eine lästige Sache. Ich werde heute wahrscheinlich noch einiges zu tun haben! Mach dir doch also zur Entschädigung für das abrupte Ende unseres Treffens morgen von dem Geld einen schönen Tag und dann treffen wir uns morgen Abend, ja?«
Amelie wirkte erst enttäuscht, lächelte dann aber nickend und steckte wenig subtil das Geld ein, als hätte er sie gerade für ihre Dienste bezahlt. Dabei waren ihm Prostituierte zuwider. Wo war da der Spaß, die Herausforderung?
»Ganz sicher?« Amelie blickte ihr Gegenüber an wie ein unschuldiges Schulmädchen. Nur mit dem Unterschied, dass dieses Schulmädchen ein Outfit im Wert eines durchschnittlichen Monatseinkommens trug und wie ein orientalisches Edelbordell duftete. Wie alt sie wohl war? Im Grunde genommen interessierte es Henri nicht. Sie war alt genug, um alleine nach Nizza zu reisen. Dann musste sie auch alt genug sein, um in die Freuden des Lebens eingeführt zu werden. Henri nickte mit einem Hauch von väterlicher Güte. Gott, hoffentlich war sie nicht auf sowas aus!
»Versprochen! Das wird ein Abend, den du nicht vergisst!« Henri zwinkerte der jungen Frau zu, winkte dann einen der Kellner zu sich und orderte ein Taxi, welches selbstredend er bezahlen würde. Für Amelie war dies eine weitere, galante Geste. Für ihn wiederum der geschickte Plan, diese in seinen Augen nun langweilig gewordene Dorfmamsell schnellstens aus dem Casino zu bekommen. Ein Plan, der aufging: Amelie verabschiedete sich von ihrem Liebhaber, gab ihm einen Kuss und eilte dann nach draußen zu ihrem Taxi, das bereits bereitstand und sie zu ihrem Hotel bringen würde. Eine armselige Absteige mit gerade einmal drei Sternen, Henri hatte sich informiert.
»Verzeihung?« Henri, ein wenig in Gedanken versunken, drehte sich erschrocken um, ehe er die Person neben sich erkannte und charmant lächelte. Es war sie, die Blonde.
»Waren Sie der Gentleman, der mir den Champagner bezahlt hat?« Die junge Frau wirkte nicht unfreundlich, lächelte aber auch nicht, was Henri ein wenig irritierte.
»Ja, das ist korrekt. Sie waren mir aufgefallen!«
»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass ich keine Hure bin, der Sie mit Geschenken Avancen machen können! Ich schätze sowas nicht besonders. Zumal ich gut für mich sorgen und mir meinen Champagner durchaus selbst bezahlen kann!«
Henri, ein wenig überfordert von der Situation, schwieg erst eine Weile, ehe er verblüfft auflachte. Seine Blicke wanderten zu den umstehenden Personen, die von der wenig galanten Bemerkung der jungen Frau jedoch scheinbar keine Notiz genommen hatten.
»Davon bin ich überzeugt! Ich stellte lediglich fest, dass Sie alleine in dieses Casino gekommen sind und offensichtlich von außerhalb stammen. Zumindest habe ich Sie hier nie gesehen. Da dachte ich mir, dass ich als ... einer der Zulieferer der Bar meinen Teil zu Nizzas bekannter Gastfreundschaft beitragen sollte! Verzeihen Sie mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: mein Name ist Henri Nardin, Miteigentümer von Banard!« Henri nahm die zarte Hand der jungen Dame und deutete einen Handkuss an, wobei ihm das Schmuckstück an ihrem Handgelenk auffiel. Sein Gegenüber behielt zunächst ihre versteinerte Miene bei, lächelte dann jedoch zaghaft.
»Lucy Duchesne. Künstlerin!«
Henri, vollkommen eingenommen von der schönen Fremden, nickte erfreut und zugleich erleichtert, doch noch das Eis gebrochen zu haben.
»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
Lucy lächelte dem Charmeur, der sie langsam zu einem freien Sitzplatz im Eck führte, süffisant entgegen.
»Ja, darauf wette ich.«
»Läuft sie denn auch noch zuverlässig? So alte Uhren gehen doch bestimmt meistens falsch, oder nicht?« Die skeptische Dame im mittleren Alter blickte den Verkäufer kritisch an, während sich dieser größte Mühe gab, seine Geduld mit der etwas schwierigen Kundin zu behalten. Wäre ihre Tochter alleine gekommen, hätte sie die Uhr schon längst gekauft und wäre verschwunden.
»Selbstredend, sie wurde erst frisch von meinem Uhrmacher revisioniert! Natürlich laufen mechanische Uhren immer mit einer gewissen Abweichung, erst recht im Vintage-Bereich. Aber technisch ist alles mit ihr in Ordnung! Zeitmesser wie dieser sind mehr als nur das, was ihr Name sagt. Sie messen die Zeit nicht nur, sie halten sie fest! Es ist ein Stück Handwerkskunst am Handgelenk, von Smartwatches kann man so etwas nur schwerlich behaupten!«
Die Alte blickte den Verkäufer zunächst fragend an, ehe sie nickte und sich wieder ihrer Tochter zuwandte, die das gute Stück bereits an ihrem Handgelenk trug und damit sehr zufrieden zu sein schien. Sie war ihm sympathisch. Eine alte Seele, hätte seine längst verstorbene Mutter sicher gesagt. Anders war es wohl nicht zu erklären, dass sich diese junge Frau mehr für alte Mechanik und Nostalgie anstatt einen der seelenlosen Modequarzer aus dem nächstbesten Kaufhaus interessierte.
Der Sekundenzeiger der Gyromatic schwebte regelrecht über das klassisch gehaltene Ziffernblatt und verriet ihr so auf die wohl schönst möglichste Art und Weise, wie spät es gerade war.
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Lucy, die sich beim Anblick ihrer neuen Uhr ein wenig in ihren Gedanken verloren hatte, schreckte auf, als sie bemerkte, wie spät es bereits war. Da hatte sie sich extra dieses teure Schmuckstück gekauft, nur um dann am Ende trotzdem die Zeit zu vergessen. Vielleicht war es dem Stress geschuldet, der langen Anreise und der ganzen Situation. Sie hatte seit ihrer Ankunft vor ein paar Tagen kaum geschlafen, war aufgeregt und zugleich unendlich müde. Ein kleiner Mittagsschlaf nach dem zweiten Juwelierbesuch zum Abholen der nun gravierten Uhr hatte all das nur noch schlimmer gemacht. Und nun war sie hier, in einem der komfortablen Zimmer dieses Luxushotels, welches sie sich normalerweise niemals hätte leisten können. Aber normal war an dieser Reise absolut nichts. Für ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen, würde die normale, gutbürgerliche Lucy Duchesne verschwinden und ihre Rolle mit einer mondänen, selbstbewussten Frau tauschen, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, den großen Verführer zu verführen. Ihr war klar, dass Henri Nardin ihr nachstellen würde, sobald sie ihn an der Angel hatte. Sie konnte nicht in einem normalen Hotel unterkommen; es musste eine der exklusiven Adressen mit Blick auf die Promenade und den Strand sein. Er sollte denken, dass sie selbst ungeheuer vermögend sei. Schließlich wollte sie nicht einer seiner vielen, kurzlebigen Eroberungen werden, sondern ihm das Herz rauben, um es anschließend gemächlich zerquetschen zu können. Ihr Plan war heikel, schließlich war es völlig unklar, ob er anbeißen würde. Ob ihre Maskerade als selbstbewusste, schnippische und teils gar freche Diva wirklich das bezwecken würde, was sie erhoffte: dass sie sich hierdurch für ihn interessanter machte, als all die anderen Frauen, mit denen er bislang schlief. Sie wollte ihn kokettieren, mit ihm spielen. Die Katze mit ihrer noch lebenden Beute. Fressen würde sie ihn früh genug.
Lucy wusste, dass ein Mann wie Henri Nardin Leichen im Keller hatte. Leichen, die sie ans Tageslicht bringen würde, um so seinen Ruf zu ruinieren. Sie wollte keineswegs, dass dieser Mann stirbt. Sie war keine Mörderin oder ein Todesengel. Nein, sie wollte lediglich, dass er zerbricht. Und dabei genüsslich zusehen. Erst dann, irgendwann, würde sie ihm ihr wahres Gesicht zeigen, ihm ihre Hintergründe enthüllen und ihn an die Dinge erinnern, die er vermutlich vollkommen vergessen hatte. Er hatte damals ein intaktes Leben, einen hoffnungsvollen Menschen, ein großes Herz ohne jegliches Erbarmen in tausend Scherben geworfen. Und Lucy sollte verdammt sein, wenn sie ihm dies nicht heimzahlen würde.
Zufrieden warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie sah gut aus, das musste sie ganz uneitel zugeben. Sie hätte nicht gedacht, dass ein teures Outfit, passender Schmuck und eine neue, mondäne Frisur sie in eine völlig andere Person verwandeln könnte. Und doch stand sie nun hier, so wie vielleicht damals vor gut zwanzig Jahren auch ihre selige Mutter. Nur, dass sie sich keineswegs dieses Hotel hätte leisten können. Schon gar nicht in den harten Nachkriegsjahren. Nein, Mutter suchte in dieser Stadt das Glück.
Doch gefunden hat sie stattdessen die Hölle ihrer eigenen Dämonen.
Geistesabwesend griff Lucy, ohne ihren Blick von der mysteriösen Schönheit im Spiegel abzuwenden, nach ihrer neuen Armbanduhr und legte sie sich ums Handgelenk. Sie wusste, dass Henri Nardin Uhren sammelte. Was also war geeigneter, um gut ins Gespräch zu kommen, als ein teurer, Schweizer Zeitmesser für Herren am zierlichen Handgelenk einer jungen Dame?
All dies mochte kostspielig sein, ihr ohnehin nicht endloses Budget schon jetzt erheblich aufbrauchen. Doch sie würde sorgen, dass es nicht umsonst war.
Henri Nardin müsste dafür bezahlen.
In jeder Hinsicht.
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»Ich muss ganz direkt zugeben, dass Sie mir schon beim Betreten des Casinos direkt aufgefallen sind!«
Henri Nardin lächelte charmant, während er von seinem Glas nippte. Lucy blickte auf, nachdem sie kurz in Gedanken abgeschweift war und wieder einmal über den Plan nachgedacht hatte, der ihr am Nachmittag in ihrem Hotelzimmer in den Sinn kam. Sie war fast schon erschrocken darüber, wie einfach die Kontaktaufnahme zu diesem Mann gelang, der in Nizza nicht nur einen Ruf als Lebemann, sondern auch als Gönner der Stadt und überaus erfolgreicher Unternehmer hatte.
»Sie schmeicheln mir, Monsieur!« Lucy setzte ein verruchtes Lächeln auf und blinzelte in Zeitlupe, um ihre langen Wimpern zur Schau zu stellen und möglichst verführerisch zu wirken. Sie fühlte sich albern dabei, dieses Theater zu veranstalten, doch es schien seinen Zweck zu erfüllen: Henri, der schon nach wenigen Minuten darauf bestand, von Lucy mit Vornamen angesprochen zu werden, schien sich seine größte Mühe zu geben, den Casanova zu spielen. Und tatsächlich musste Lucy eingestehen, dass dieser Mann charmant war und sie unter normalen Umständen vielleicht sogar auf seine Schmeicheleien hereingefallen wäre. Und das, obwohl wesentlich ältere Männer normalerweise nicht ihr Fall waren. Im Gegenteil, sie fand es für beide Seiten peinlich. Der Moment, wenn du mit deinem Freund in einem Restaurant bist, und euch der Ober für Vater und Tochter hält. Und mit vierzig oder spätestens fünfzig warst du entweder eine junge Witwe, oder würdest im schlimmsten Fall fortan Pflegekraft spielen, weil du ja unbedingt deinen Ersatz-Vati heiraten musstest.
»Übrigens ist das eine ausgesprochen schöne Uhr, und eine ungewöhnliche Wahl für eine elegante Dame wie Sie!« Henri warf einen Blick auf Lucys Handgelenk und lächelte, als würde er auch mit ihrer Gyromatic flirten wollen. Es war klar, dass er sie darauf ansprechen würde. Bislang gingen ihre Vorraussagungen auf wie im Bilderbuch.
»Etwa zu groß oder zu aufdringlich?«, hakte Lucy mit gespielter Besorgnis nach. »Mir waren die ganzen Damenuhren nur viel zu klein, man kann gar nicht vernünftig die Uhrzeit ablesen und das Aufziehen ist ein einziges Gefummel!«
Henri lächelte, als würde ihm gerade durch den Kopf gehen, dass er sein Gegenüber lieber