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Ana Ángel ist gestorben, auf La Oculta, der Finca der Familie in den kolumbianischen Bergen, nicht weit von Medellín. Und so machen sich Pilar, Eva und Antonio auf den Weg, um Abschied zu nehmen. Für sie ist La Oculta, »Die Verborgene«, ein besonderer Ort, wo sie glücklich waren, aber auch Gewalt und Terror erlebten. Nun wird er verkauft. Was daraus wird, weiß niemand. Mit den Stimmen der Geschwister, die sich erinnern, an den Ort, die Geister der Vergangenheit, die politischen Wirren, erzählt dieser Roman voller Wärme, aber auch Bitterkeit, von einer einst großen, nun aber verschwindenden Familie, deren Schicksal eng mit Kolumbiens Geschichte verwoben ist.
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Seitenzahl: 466
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La Oculta
Roman
Aus dem Spanischenvon Peter Kultzen
B E R E N B E R G
Für Mauricio, Mario und Gonzalo,die Brüder, die ich nicht hatte.
Aber das Feld vor ihren Städten soll man nicht verkaufen; denn das ist ihr Eigentum ewiglich.
3. Mose 25,34
I could live here forever, he thought, or till I die. Nothing would happen, every day would be the same as the day before, there would be nothing to say. […] He could understand that people should have retreated here and fenced themselves in with miles and miles of silence; he could understand that they should have wanted to bequeath the privilege of so much silence to their children and grandchildren in perpetuity (though by what right he was not sure).
J. M. Coetzee
Und zuletzt ward ich verkauft,
so wertvoll war ihren Rechnungen ich geworden,
dass ihrer Liebe ich nichts mehr galt …
Dulce María Loynaz
Früh an einem düsteren Wintermorgen klingelte bei mir in New York das Telefon. So früh rufen bloß Betrunkene an, die sich verwählt haben, oder jemand aus der Familie, mit einer schlechten Nachricht. Ersteres wäre mir lieber gewesen, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich meine Schwester Eva:
»Ich würde dich gerne aus einem anderen Grund anrufen, Toño, aber heute Nacht ist Mama gestorben, auf La Oculta. Pilar hat erzählt, gestern nach dem Abendessen hat sie gesagt, dass sie sich nicht gut fühlt. In der letzten Zeit hat sie sich ja jedes Mal nach dem Essen schlecht gefühlt, das weißt du selbst. Nichts ist ihr bekommen. Auf jeden Fall ist sie schlafen gegangen. Und als Pilar heute Morgen ganz früh nach ihr gesehen hat, lag sie tot im Bett.«
»Ich fahre sofort zum Flughafen und nehme die erste Maschine, die ich kriegen kann«, erwiderte ich.
Tiefe Trauer erfasste mich, wie eine dicke graue Wolke breitete sie sich in mir aus. Ein Stechen in Brust und Hals, dann traten mir Tränen in die Augen, unweigerlich. Wie alt war meine Mutter? Achtundachtzig, hatte sie zuletzt gesagt, aber sie machte sich immer um ein Jahr jünger, in Wirklichkeit war sie neunundachtzig. Dass sie sich mit fünfundzwanzig, als man sie zu Hause drängte, endlich zu heiraten, ein Jahr jünger machte, hatte einen gewissen Sinn. Später nicht mehr, später immer weniger, und mit neunundachtzig musste sie selbst über ihre Angewohnheit lachen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich sie in dieser Woche nicht angerufen hatte. Normalerweise skypten wir jeden Donnerstag. Alle wussten, dass sie am Donnerstagmorgen ihren Rechner einschaltete, weil sie meinen Anruf erwartete. Jon kam aus dem Bad, und als er mein Gesicht sah, fragte er, was los sei. Aber nicht mit Worten, seine Augen und Hände formulierten die Frage.
»Anita ist gestorben«, sagte ich auf Englisch, denn Jon und ich sprechen Englisch miteinander.
»Ich komme mit, wenn du willst«, sagte er. Er setzte sich neben mich und legte mir seine große weiche Hand auf den Rücken. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander. Schließlich sagte ich:
»Nein, keine Sorge, diesmal fahre ich allein.« Ich hatte einen Kloß im Hals und schluckte. »Besser, du konzentrierst dich auf deine Ausstellung. Meine Schwestern werden verstehen, dass du nicht mitkommst.«
Wir blieben noch eine Weile auf dem Bett sitzen und hielten uns schweigend an der Hand. Irgendwann stand ich auf, um mir die letzten E-Mails meiner Mutter noch einmal anzusehen. Die allerletzte war liebevoll und klar, wie immer. Rechnungsabgleich stand in der Betreffzeile.
»Mein Liebling, ich habe versucht, dich zu erreichen, aber das grüne Lämpchen war aus. Ich wollte dir bloß sagen, dass ich gestern mit einem deiner Schecks deinen Teil der Grundsteuer für La Oculta bezahlt habe. Außerdem habe ich 816.000 Pesos, also das, was du für Próspero und die Betriebskosten der Finca zu zahlen hast, auf Pilars Konto überwiesen. Drei von dir unterschriebene Schecks habe ich jetzt noch, du weißt schon wo. In jedem Fall habe ich weiterhin ein Guthaben in Höhe von 2.413.818 Pesos bei dir, das ich aber erst im April einlösen möchte, wenn ich meine Kreditkarte erneuern muss. Heute war ich bei Doktor Correa, und er hat gesagt, alles ist soweit in Ordnung. Im Augenblick habe ich auch nicht die geringste Lust zu sterben, obwohl ich wegen Evas Zustand manchmal traurig und mutlos bin. Letzte Woche hat sie gesagt, dass sie sich nun doch von ihrem Witwer trennen wird. Fast vier Jahre sind die beiden mittlerweile zusammen. Einerseits habe ich mich gefreut, schließlich ist der Altersunterschied einfach zu groß, fast zwanzig Jahre, da hätte sie im Alter niemanden an der Seite. Andererseits tut es mir leid, weil sie, seit sie mit ihm zusammen ist, einen zufriedenen Eindruck machte. Du hast auch gesagt, dass Eva glücklich wirkte, als die beiden letztes Jahr in New York waren, trotz des Altersunterschieds und des Rollstuhls. Und Weihnachten auch, du hast sie ja selbst erlebt, darum war es für mich auch eine Überraschung. Immer wenn Eva sich von jemandem trennt, ist es, als würde sie auf einen Schlag alles hinter sich lassen, sie ist dann jedesmal sehr deprimiert, und alle fragen sich, was wohl als Nächstes kommt. Herrn Caicedo fand ich durchaus nett und liebenswürdig, allerdings haben manche Leute gesagt, wenn man ihn so sehe, würde man eher denken, er sei mein Mann und nicht Evas Lebensgefährte. Oh je. Pilar hat das gesagt, letztes Weihnachten, und Eva hat gehört, wie sie es zu mir gesagt hat. Das hat sie sehr getroffen. Pilar ist zugegebenermaßen manchmal ziemlich unbedacht mit dem, was sie sagt. Na ja, am meisten beunruhigt mich jedoch, dass für Eva offenbar niemand gut genug ist. Andererseits ist sie ungern allein. Aber lassen wir das, dieses Thema macht mich sehr traurig. Am meisten freue ich mich darauf, dass du Ostern kommst. Dann ist der ganze Kummer bestimmt wie weggeblasen. Grüße bitte Jon von mir. Ich küsse dich, deine dich liebende
Ana.«
Alle Briefe meiner Mutter waren so, zärtlich und praktisch zugleich: Erst wurden die Zahlen geklärt, und dann folgten Dinge aus ihrem Leben und dem ihrer Töchter und Enkelkinder. Sie kümmerte sich um meine kolumbianischen Geldangelegenheiten, die fast alle mit der Finca zu tun hatten. Sie war beinahe neunzig, aber klarer im Kopf als meine Schwestern und ich. Und dass sie sich um meine Konten kümmerte, hielt sie erst recht wach. In anderen Mails sprach sie davon, dass möglicherweise ein Teil von La Oculta verkauft werden müsse, um die Schäden zu bezahlen, die entstanden waren, als bei einem Sturm ein Baum auf die Trinkwassertanks gestürzt war. Sie war dagegen, noch mehr von dem dazugehörigen Land zu verkaufen; wenn wir so weitermachten wie bisher, stünden wir am Ende bloß noch mit dem Haus da und wären von lauter Fremden umgeben. Andererseits war sie nicht bereit, die Kosten zu übernehmen, schließlich musste sie in ihren letzten Lebensjahren auf Erspartes zurückgreifen können. Das Problem war, dass Eva, die nur noch an Weihnachten auf die Finca kam, keinen einzigen Centavo mehr für Reparaturen ausgeben wollte. Gerade mal ihren Anteil an den Steuern, Betriebskosten und Gehältern übernahm sie noch. Sie war dafür, das Ganze zu verkaufen. Aber die Finca zu verkaufen hätte für Pilar das Todesurteil bedeutet.
Auch ich wollte die Finca nicht verkaufen, obwohl ich den größten Teil des Jahres in den USA verbrachte. Kolumbien, das war für mich: meine Mutter, meine Schwestern und La Oculta. Durch Anitas Tod hatte ich einen wichtigen Teil meines Lebens verloren. Zu meiner Überraschung war sie auf der Finca und nicht in Medellín gestorben, wo sie wohnte. Andererseits, wenn ich es recht bedachte, war es nur folgerichtig. Ohne sie, das wurde mir jetzt klar, hätten wir die Finca – die uns als väterliches Erbe zugefallen war – nicht halten können. Als wir uns kurz nach dem Tod Cobos, also meines Vaters, schon fast von ihr hätten trennen müssen, bewahrte meine Mutter, der eigentlich nicht das Geringste an diesem Stück Land lag, uns davor, indem sie ihre eigene Wohnung verkaufte. Und sie steuerte einen Teil der Einkünfte aus der Bäckerei für Umbauten und Reparaturarbeiten bei. Wie sie auch diejenige war, die uns jedes Jahr im Dezember mit der ihr eigenen Mischung aus Sanftheit und Entschiedenheit auf La Oculta versammelte. Sie lud uns alle ein, besorgte alles Nötige, kochte für alle und war während der gemeinsam dort zugebrachten Wochen die Sonne, deren Anziehungskraft sich die um sie kreisenden Planeten in Gestalt ihrer Kinder und Enkelkinder nicht entziehen konnten. Entsprechend schwierig war es, ja fast unmöglich, sich diesen Ort auf einmal ohne sie vorzustellen. Ohne meine Mutter, ohne ihre Fröhlichkeit, ihre Rezepte, ihre Einkäufe, würde es auf der Finca nie mehr sein wie zuvor. Es sei denn, jemand, Eva oder Pilar, übernahm ihre Rolle, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dazu bereit wären. Ich würde jedenfalls niemals die nötige Energie und Liebe aufbringen, um so wie sie die gesamte Familie an diesem Ort zusammenzuführen und zu vereinen.
Jon begleitete mich zum Flughafen und half mir bei der Buchung. Die Maschine, die direkt nach Medellín flog, war schon gestartet, also würde ich in Panama zwischenlanden müssen. Da meine Hände zitterten und ich nahezu unfähig war, Englisch zu sprechen, übernahm Jon alles für mich und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Wir umarmten uns lange, dann ging ich allein durch die Sicherheitskontrolle und zu meinem Gate. Ich musste warten, und so ging ich auf meinem Laptop die alten Fotos meiner Mutter durch, Jugendfotos, auf denen sie den Betrachter in ihrer ganzen Schönheit anlächelte, voller Energie und mit so viel Leben vor sich. Auf einem hielt sie mich als einjähriges Baby in den Armen, und wir sahen einander glücklich und verliebt in die Augen. Ich lud es auf meiner Facebook-Seite hoch, wo man heute ja die wichtigen Dinge bekanntgibt, Traueranzeigen und Beileidsbekundungen, und während ich ein paar Zeilen dazuschrieb, kamen mir die Tränen und fielen auf die Tastatur. Ob die Leute um mich herum mir zusahen, weiß ich nicht, es war mir egal. Bald trafen die ersten Kommentare meiner Freunde ein, manche sehr schön, und viele enthielten alte Erinnerungen an Anita, wie wir, ich an erster Stelle, meine Mutter immer genannt hatten: Ana, Anita.
Es war Nacht, als ich in Medellín ankam. Am Ausgang erwartete mich Benjamín, Evas Sohn. Der jüngste meiner Neffen war schön und traurig. Wir umarmten uns. Vor uns lagen noch fast vier Stunden Fahrt bis nach La Oculta. Die Totenwache auf der Finca hatte schon begonnen, und Pilar hatte bereits dafür gesorgt, dass am nächsten Tag in dem nahegelegenen Ort Jericó eine Trauermesse abgehalten werden würde. Benjamín erzählte, seine Mutter sei gleich, nachdem sie mich angerufen hatte, hingefahren. Tante Pilar habe die Großmutter gewaschen und hergerichtet, ein Arzt die Sterbeurkunde ausgestellt, und der Priester aus Palermo sei da gewesen, um die Tote zu segnen.
Vor zwei oder drei Jahren war, ebenfalls in La Oculta, Tante Ester gestorben, die Schwester meines Vaters – die Finca schien sich in den Ort zu verwandeln, den unsereins aufsucht, wenn das Ende naht. Tante Ester litt unter einer schweren Nierenschwäche, eine Transplantation kam in ihrem hohen Alter aber nicht mehr infrage, weshalb sie fast vier Jahre lang regelmäßig zur Dialyse musste. Trotzdem verschlimmerte ihr Zustand sich zusehends, so dass sie irgendwann erklärte, sie habe genug von der Dialyse und allen sonstigen Therapien und wolle bloß noch nach La Oculta, um dort zu sterben. Pilar nahm sie in Empfang, sie freute sich, sie bei sich zu haben und sich um sie zu kümmern, denn Ester war ihre Lieblingstante. Man stellte ein Krankenbett in ihr ehemaliges Mädchenzimmer und bezahlte eine Pflegerin dafür, dass sie die Nächte an ihrer Seite verbrachte. Esters Kinder kamen hin und wieder aus Medellín, um ihre Mutter zu besuchen und sich bei Pilar zu bedanken. Allmählich ging es mit Tante Ester zu Ende – sie wurde immer schwächer und bleicher und dünner und zerbrechlich wie ein Vögelchen. Zuletzt begann man, ihr Morphium zu verabreichen. Als offensichtlich wurde, dass sie große Schmerzen hatte und sie schließlich das Bewusstsein verlor, schickte Pilar die Pflegerin mit den Worten, sie solle in die Küche gehen und die Suppe warm machen, hinaus, nahm eine Spritze und verpasste ihrer Tante eine viel größere Dosis Morphium als sonst, fünf Ampullen hintereinander, wie sie mir später heimlich sagte, woraufhin Tante Ester sanft verschied, so entspannt, dass ihr Körper zu atmen vergaß. Anschließend rief Pilar Tante Esters Kinder an, teilte ihnen mit, dass ihre Mutter ganz ruhig gestorben sei, und machte sich daran, sie herzurichten, damit sie Tante Ester in angemessenem Zustand vorfanden, wenn sie kamen, um sie abzuholen.
Unser Vater, der Arzt war, hatte Pilar gezeigt, worauf es beim Zurechtmachen der Toten ankommt. Pilar ist die älteste von uns Geschwistern, und die Älteste zu sein hat Vor- und Nachteile. Es bringt bestimmte Verantwortlichkeiten mit sich, die keines der jüngeren Geschwister übernehmen kann. Pilar lässt sich durch nichts einschüchtern, mag die Aufgabe noch so unüberwindlich erscheinen. Sie ist sich für nichts zu fein, sie kennt keine Furcht. Wenn etwas nahezu unlösbar scheint, sagen wir uns: Wenn Pilar das nicht schafft, schafft es niemand.
Die Toten sprechen nicht, die Toten fühlen nicht, den Toten macht es nichts aus, wenn man sie nackt, bleich, hohlwangig – sozusagen im schlimmsten Augenblick ihres Lebens – zu sehen bekommt. Pilar hat eine sehr vertraute und liebevolle Art, mit den Toten umzugehen. Sie benimmt sich, als ob es ihnen tatsächlich etwas ausmachen, ja, als ob es ihnen wehtun würde, dass sie sich in so einem abstoßenden Zustand präsentieren müssen. Der erste und der letzte Blick sind sehr wichtig, sagt Pilar immer, so wie die Mutter ihr Kind beim ersten Mal sehen möchte, will später auch das Kind seine Mutter beim letzten Mal sehen, in gutem Zustand, und deshalb mache sie das alles. Und sie macht das so gut (man könnte glauben, die Toten seien lebendig), dass Arturo, ein Sohn Tante Esters und erfolgreicher Unternehmer, beim Anblick seiner toten Mutter – es war geradezu eine Freude, sie zu betrachten – Pilar vorschlug, gemeinsam ein Geschäft aufzumachen (er würde das Geld beisteuern und meine Schwester ihre geschickten Hände). Meine Schwester lehnte ab und erklärte, dass sie sich nur um die Toten der Familie kümmere, Geld wolle sie damit nicht verdienen. Sollte ich auf La Oculta sterben – was sich alle aus unserer Familie wünschen –, möchte ich, dass Pilar mich zurechtmacht.
Pilar hat unsere toten Großeltern hergerichtet, mehrere Tanten und Onkel, ihre Schwiegermutter, meinen Vater, nachdem sein Herz über all dem Leid wegen seines ältesten Enkels Lucas explodiert war, und auch die Kinder ihrer engsten Freundinnen. Und jetzt Anita. Was genau sie dabei jedes Mal macht, wissen wir anderen nicht, nur, dass sie Watte, Kerzen und Mullbinden benutzt, um verschiedene Körperöffnungen zu verschließen. Mit den Gesichtern hat der Tod Mitleid, sagt sie, denn dadurch, dass man ein wenig anschwillt, wenn man gestorben ist, verschwinden viele Falten. Weil die Toten andererseits aber so bleich sind, muss man ihnen zuallererst ein wenig Farbe verpassen. Je nach Hautton braucht es die richtige Creme, Rouge, Lippenstift, Puder, Wimperntusche und sogar Injektionen, um der Haut eine gewisse Vitalität zurückzugeben. Pilar hat mit dem Schminken und Frisieren viel Erfahrung, schon als kleines Kind war sie es, die meiner Mutter vor großen Festen die Haare machte. Bei den Verstorbenen nimmt sie Fotos zu Hilfe, und zwar möglichst ältere, als der Betreffende noch etwas jünger war. Aus New York bringe ich ihr immer Kosmetikartikel, feine Nagelscheren und besondere Pinzetten mit. Darüber freut sie sich am meisten, diesmal aber hatte ich keine Zeit, um egal was zu besorgen, ich steckte bloß zwei Lippenstifte ein, die ich in der Woche zuvor billig bekommen hatte, der eine scharlachrot, der andere grellpink, jedenfalls stand es so auf der Packung. Mit im Gepäck hatte ich dafür die Neuigkeit, dass nach dem Tod unserer Mutter als Nächste wir mit dem Sterben an der Reihe seien. Was sich Pilar aber längst klargemacht hatte, denn als Benjamín und ich eintrafen, sagte sie zur Begrüßung, an diesem Morgen sei ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie sich ab sofort unter die Alten zu zählen habe.
In La Oculta ging ich zuerst in Anitas Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck war sanft wie immer, mit dieser seltsamen Mischung aus Schönheit und Entschlossenheit. Pilar hatte ihr ein sehr hübsches besticktes rotes Kleid angezogen, das ich ihr einmal aus Mexiko mitgebracht hatte. Rot war die Farbe, die ihr am besten stand, und selbst jetzt sah sie fröhlich darin aus. Pilar erzählte, früh am Morgen sei sie durch einen Regenguss geweckt worden und aufgestanden, um bei Anita nach dem Rechten zu sehen. Dass es dort so still und ruhig gewesen sei, habe sie misstrauisch gemacht. Da habe sie das Licht eingeschaltet und festgestellt, dass Mama tot war. Bei dieser Vorstellung wurde ich noch trauriger, doch ich behalf mir, indem ich meine Schwestern umarmte.
Die ganze Nacht saßen wir neben meiner toten Mutter, tranken Kaffee und beteten Avemarias und Vaterunser, die, wenn man sie oft genug wiederholt, durch ihren gleichmäßigen Rhythmus eine beruhigende Wirkung erzeugen. Nach und nach trafen alle meine Neffen und Nichten ein, die Enkel meiner Mutter, mit ihren Kindern und Ehepartnern. Irgendwann war es auf La Oculta so voll, als wäre Dezember, aber es war ein trauriger Dezember im März.
Meine Mutter lag auf dem Bett, in dem sie immer geschlafen und das sie mit meinem Vater geteilt hatte. Davor war es das Bett von Großvater Josué und Großmutter Miriam gewesen. Im Zimmer war alles so, wie es meine Mutter eingerichtet hatte. Seit Cobos Tod hatte sie keinerlei Veränderungen zugelassen. Im Schrank hing immer noch rechts ihre Kleidung und links seine – die weißen Hemden, der typische Antioquia-Hut aus Palmfaser, die Reitstiefel, die Badeschuhe, mit denen er zum Wasserfall in der Schlucht ging, die Bermuda-Shorts, Schlafanzüge und Strümpfe. Lauter alte Sachen, wie man sie auf dem Land trägt, und so abgenutzt, dass man sie nicht an die Bauern hätte weitergeben können. Ein altes Bild von den Eltern meines Vaters im Alter von etwa vierzig Jahren. Und Familienfotos: die Erstkommunion der Kinder, die Hochzeit sowie Schnappschüsse aus der Zeit, als sie in Bogotá gewohnt hatten. Außerdem, in einem Rahmen über dem Bett, das nicht ganz formvollendete Sonett, das mein Vater über La Oculta gedichtet und mit dem Namen der Finca überschrieben hat:
Hart das Bett, schlecht die Matratzen,
gleichwohl liegen, wenn es dunkel,
stocksteif ohne jegliches Gemunkel
unsere Gäste da und ratzen.
Morgens tun die Hüften weh,
doch der Schmerz ist bald vorbei:
Doña Bertas Frühstücks-Ei
Übertrifft selbst Priesters Glorie.
Alsdann heißt die süße Pflicht,
Lesend in der Hängematte ruhen,
mittags Yuca gibt’s dafür, mit Huhn.
Drauf um drei ein Bad im Felsenbache,
und zum Abend leckre Bohnen. Aus das Licht –
Auftakt für der Nachbarin Geschnarche.
Cobo und Anita schnarchten zu Lebzeiten wie in einem schlecht gesetzten Kontrapunkt, was ich jedoch nie wieder zu hören bekommen würde. Ein Schnarchkonzert ist eine laute und unangenehme Angelegenheit, und alle Schnarcher – ich gehöre zu ihnen – müssen den Spott ihrer Mitmenschen ertragen, auch weil Schnarchen eins der Dinge ist, an denen man erkennt, dass ein Mensch alt wird. Andererseits zeigt es wenigstens, dass man noch atmet, und ich empfand in diesem Augenblick nicht nur Trauer darüber, dass mein Vater schon seit Jahren nicht mehr schnarchte, sondern auch darüber, dass der Schlaf meiner Mutter, obwohl sie, Pilars geschickten Händen sei Dank, nicht ganz so tot wirkte, ein Schlaf ohne Atem und folglich ohne Schnarchen war. Ich sehnte mich nach ihrem Schnarchen, wie ich mich nach ihrem Atem sehnte. Eva sagte zu Pilar, ab sofort wolle sie
Nachdem ich mehrere Jahre nicht auf La Oculta gewesen war, bin ich schließlich, nur um meiner Mutter eine Freude zu machen, doch wieder hingefahren, das aber auch nur, weil sie beschlossen hatte, eine Familientradition wieder aufleben zu lassen, und zwar, gemeinsam auf der Finca Weihnachten zu feiern. In Wirklichkeit hatten wir alle mehrere Jahre lang nicht auf die Finca fahren können – zuerst wegen der Guerrilla, die dort regelmäßig Leute ausraubte, entführte und umbrachte, dann wegen der Paramilitärs, die dort regelmäßig Leute erpressten, ausraubten und umbrachten. Als wieder halbwegs normale Verhältnisse einzogen – als der Staat wieder mehr oder weniger der Einzige war, der Menschen töten durfte –, kehrte als Erste Pilar auf die Finca zurück, und schon bald begann sie fieberhaft, das Haus instand zu setzen, das, was niedergebrannt war, neu zu errichten, und alles wieder in seinen früheren, ja sogar in einen besseren Zustand zu bringen. Bis sie sich zuletzt entschloss, ganz dorthin zu ziehen, natürlich mit Alberto, der gerade pensioniert worden war, woraufhin meine Mutter uns hartnäckig damit in den Ohren lag, dass wir alle zusammen die Weihnachtsferien auf La Oculta verbringen sollten. Am liebsten auch noch die Osterferien, wie sie nicht müde wurde zu betonen, aber wenn das nicht möglich war, dann wenigstens die Weihnachtsferien. Mama hatte eine Theorie, an die sie sich zeitlebens hielt: Die Alten müssen sich ihre Gesellschaft erkaufen. Einmal hörte ich, wie sie das Tante Mona, ihrer Schwester, am Telefon erklärte:
»Sieh mal, Mona, ich weiß, dass wir Alten dafür bezahlen müssen, wenn wir nicht allein sein wollen, und trotzdem, besser können wir unser Geld gar nicht ausgeben. Eben deshalb können wir unseren Kindern ihr Erbe aber nicht auf einen Schlag auszahlen, solange wir noch am Leben sind, das geht bloß in kleinen Partien, sonst riskieren wir, einsam und verlassen im Armenhaus zu enden.«
Meine Mutter lud also immer alle ein, und deshalb kam im Dezember auch jedes Mal Toño aus New York, mit oder ohne Jon, und außerdem fast immer zu Ostern, und manchmal, wenn er genug von seinem Leben in Harlem hatte und Mama überraschen wollte, sogar ganz ohne Vorankündigung mitten im Jahr. Wenn wir nicht mindestens zwei oder drei Mal im Jahr zusammenkommen, sagte meine Mutter, verlieren wir den Zusammenhalt und hören auf uns zu lieben und sind irgendwann keine Familie mehr. Damit wir gar nicht erst mit irgendwelchen Ausreden anfingen, erledigte sie selbst alle nötigen Einkäufe und übernahm die anfallenden Kosten für ihre Kinder und Enkelkinder – für das Essen, den Wein und die Dienstmädchen. Schon im Juni begann sie mit den Vorbereitungen für die von ihr so genannte »Saison« und ließ kein Sonderangebot ungenutzt, um an Weihnachten alles beisammen zu haben – Palmherzen, Artischocken oder Erbsen in der Dose und was es sonst noch an gut haltbaren Lebensmitteln gibt, dazu Seife und Toilettenpapier. »Aber keinen Alkohol«, sagte sie, »wer Rum, Bier, Whisky oder Schnaps trinken möchte, muss sich das selbst besorgen.« Die einzige Ausnahme war Wein, wenn er irgendwo günstig angeboten wurde. Anfang Dezember kaufte sie dann auch die nicht ganz so gut haltbaren Sachen, und Mitte des Monats brachte sie schließlich einen kleinen Lastwagen auf den Weg, auf dem zusätzlich, bereits fertig verpackt, die Weihnachtsgeschenke für die Kinder, Enkel, Arbeiter und Hausmädchen verstaut wurden.
Mit ihrem Tod fiel der beständigste Teil meines Lebens weg, das spürte ich deutlich. Und alles, was weniger Bestand hatte, auch La Oculta, verlor für mich jeden Sinn. In den Weihnachtsferien wäre ich immer schon viel lieber anderswohin verreist, gerne weit weg, nach Patagonien, zum Beispiel, oder nach Mexiko oder Guatemala, aber zuletzt verzichtete ich jedes Mal darauf, um meiner Mutter nicht die Freude zu nehmen, die gesamte Familie um sich herum zu versammeln. Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist, habe ich nicht vor, noch einmal auf die Finca zurückzukehren, zumindest nicht an Weihnachten.
Ich habe immer mit meiner Mutter in der Bäckerei gearbeitet, noch näher hätte ich ihr also unmöglich sein können – wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Sich ihrem Willen zu widersetzen, und dazu dem von Pilar, und die Ferien einmal nicht mit der Familie zu verbringen, war jedoch ebenso ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits, so schlimm empfand ich diese Verpflichtung gar nicht, schließlich habe ich selbst die Finca sehr geliebt. Damit vorbei war es erst, als ich dort einmal fast umgebracht worden wäre. Als ich danach zum ersten Mal wieder auf die Finca kam – zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest –, zitterte ich vor Angst, als ich das Haus betrat und die Dielen unter meinen Füßen knarrten. Aber Benjamín war dabei und legte mir zur Beruhigung den Arm um die Schulter, und Pilar und Alberto waren auch da – sie lebten inzwischen auf der Finca –, und mein Bruder auch – er war aus New York gekommen –, und natürlich meine Mutter, die wie immer quicklebendig und völlig klar im Kopf war, und dazu ein Haufen Kinder, Pilars Enkel, die sich ins dunkle Wasser des Sees stürzten und ebenso selbstverständlich die umliegenden Wälder und Schluchten erkundeten, so dass ich allmählich wieder Mut fasste. Als ich nach so langer Zeit schließlich Próspero gegenüberstand, dem Verwalter, der zwar älter, aber so gut wie unverändert war – einen oder zwei Zähne hatte er verloren, davon abgesehen war er so herzlich und gleichzeitig zurückhaltend wie immer –, konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken und schloss ihn lange in die Arme. Ein bisschen war es, als würde ich einem Gespenst begegnen, einem Menschen, der vor Jahren gestorben und auf einmal wieder auferstanden war.
Wieder im See schwimmen konnte ich erst, nachdem ich mehrere Tage lang misstrauisch seine Oberfläche beäugt und mich gefragt hatte, ob ich tatsächlich erneut in dieses düster-unheilvolle Wasser steigen wolle. Nichts kostete mich auch nur annähernd so viel Überwindung, und als ich mich schließlich dazu durchrang, hatte ich das Gefühl, eine schwere Phobie zu überwinden, es war, als müsste ich mit bloßen Fingern einen großen schwarzen Schmetterling aus meinem Zimmer tragen oder eine Giftschlange packen und fortschleudern. Irgendwann habe ich auch wieder ein Pferd bestiegen. Aber beide Male zitterte ich am ganzen Leib und musste gegen die Erinnerungen ankämpfen, die über mich hereinbrachen. Als ich auf dem Pferd saß, spürte ich ein heftiges Stechen im Po, so schmerzhaft war der Gedanke an das, was geschehen war. Völlig abgestreift habe ich diese Erlebnisse bis heute nicht, ich muss immer noch Tabletten nehmen, Schmerz- und Schlaftabletten, und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Früher bin ich regelmäßig mit meinem Freund Caicedo um die Wette geschwommen – er hatte 1956 an der Olympiade in Melbourne teilgenommen –, fünf- oder sechsmal von einem Ufer zum anderen, ich war richtig gut, auch wenn ich mit Toño wandern gegangen oder mit meinem Sohn ausgeritten bin, und ich habe es genossen, mit meiner Mutter und Pilar zusammen zu sitzen und zu nähen und alte Geschichten zu erzählen. Dabei haben wir jedes Mal viel gelacht und großen Spaß gehabt, und das gab uns das Gefühl, dass sich all das Leid trotzdem gelohnt hatte. Etwas erzählen ist eben einfach, aber es durchmachen müssen … ist ganz was anderes.
Ich erinnere mich daran, als wäre es heute passiert, dabei ist es schon über fünfzehn Jahre her. Pilar lebte damals noch nicht auf der Finca, sie hatte aber gesagt, ich könne unbesorgt dorthin fahren; seit die Paramilitärs die Guerrilla vertrieben hätten, gebe es keine Raubüberfälle und Entführungen mehr, alles sei wieder in Ordnung. Also habe ich mich, ganz allein, auf den Weg gemacht, ich wollte eine Woche bleiben und mich einfach nur ausruhen und an nichts denken. Es war Ende Mai, das Wetter war wunderbar. Ich war Anfang vierzig und immer noch eine schöne Frau, zumindest haben alle anderen das gesagt. Ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt, er war einer von den Idioten, mit denen ich mir manchmal die Zeit vertreibe. Später tut es mir jedes Mal leid, und ich ärgere mich, dass ich schon wieder so viel Zeit für eine sinnlose Hoffnung vergeudet habe.
Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft bekam ich einen seltsamen Brief. Próspero, der sich schon seit Ewigkeiten als Verwalter um La Oculta kümmert, brachte ihn mir und sagte dazu, ein Kind aus dem Dorf habe ihn abgegeben. Auf dem einmal gefalteten Stück Papier, ohne Umschlag, stand einfach nur »Eva Angel« – sonst nichts, weder eine Anrede noch Adresse –, und als ich den Zettel auseinanderfaltete – genau genommen handelte es sich um eine Seite, die jemand aus einem Rechenheft gerissen hatte –, hatte ich folgenden in Druckbuchstaben geschriebenen Text vor mir:
DOÑA PILAR HAM WIRS SCHON GESAKT
ENTWEDER SIE VERKAUFEN DIE FINCA
ODER SIE VERKAUFEN SIE. DIESE GEGENT IS NIX
FÜR ALTE DRECKSWEIBER WO ALLEIN LEBM. ENTWEDER
SIE VERKAUFEN ODER IHRE WAISENKINDER TUNS.
HEUT NACHMITTAG UM DREI WARTEN WIR AUF SIE
IM PARCK IN PALERMO. PÜNKTLICH.
BRINGEN SIE DIE PAPIERE MIT
DANN FANGEN WIR GLEICH MIT DEN FERHANDLUNGEN AN.
DRITTE UND LETZTE WARNUNG.
EL MUSICO
WENN SIE NICH KOMMEN SIND SIE
FÜR DIE FOLGEN SELPS FERANTWORTLICH.
Próspero erklärte, einmal hätten sie ihn am Eingang der Kirche von Palermo abgepasst, um ihm zu sagen, er solle Pilar mitteilen, sie würden in Dollar bezahlen, und das in zwölf Monatsraten. Obwohl der von ihnen festgelegte Preis viel höher war als der Verkehrswert von La Oculta, wussten wir, dass diese Leute jedes Mal nur die erste Rate bezahlten, um anschließend, kaum war der Kaufvertrag unterschrieben, die gesamte Finca in Besitz zu nehmen, überall auf der Suche nach Gold mit Baggern die Erde zu durchwühlen und Koka- oder Mohnplantagen anzulegen. Und falls jemand wagte, auf Einhaltung des Vertrages zu bestehen, ließen sie ihn einfach verschwinden und brachten ihn um. El Músico oder einen seiner Leute hatte ich bislang nicht persönlich kennengelernt, aber sie waren in der ganzen Gegend berüchtigt.
Damals gab es zwar schon Mobiltelefone – riesige, tonnenschwere Apparate –, aber man konnte sie nur in der Stadt benutzen. Auf der Finca hatte man keinen Empfang, und ein Festnetzanschluss war dort nie eingerichtet worden. Also benutzte ich ein Funksprechgerät, um mich mit Pilar in Verbindung zu setzen, dabei konnte ich allerdings nicht völlig frei und offen sprechen, denn Anrufe per Funk konnten auf allen benachbarten Fincas und auch in dem nahegelegenen Ort Palermo mitgehört werden. Es gab einen Privatkanal, bei dem nicht ganz so viele Leute mithörten, aber wirklich sicher konnte man sich auch dort nicht sein. Ich teilte Pilar also einigermaßen verklausuliert mit, was los war, und sie verstand, zumindest halbwegs, worum es ging. Sie antwortete, ich solle mir deswegen keinen Kopf machen, diese Typen seien Spinner, aber auch Feiglinge, sie werde den Metzger in Palermo anrufen, der die Kontaktperson sei, und die Sache klären, in jedem Fall habe sie die Kerle aber bereits wissen lassen, dass wir nicht im Traum daran dächten, La Oculta zu verkaufen, und wenn sie uns in diesem Augenblick hören könnten, dann sollten sie das ruhig, umso besser. So ist eben Pilar, immer kampflustig, nicht so ängstlich wie ich. Wirklich beruhigt war ich danach allerdings nicht, ich blieb jedoch auf der Finca, statt sofort abzureisen, was ich eigentlich hätte tun sollen. Ich war so gerne dort, in La Oculta konnte ich nach Herzenslust lesen und Yoga machen und Salat und Gemüse essen, die Blumen im Garten bestimmen, der unter Pilars Pflege schöner gediehen war denn je, im See schwimmen, zu Pferd die Umgebung erkunden, entweder bergauf, ins Hochland, Richtung La Mama, wo es kalt war, oder bergab, runter zum Río Cartama, ins warme Tiefland. Außerdem hatte ich damals in La Oculta noch das Gefühl, an einem Ort zu sein, wo mir nichts passieren kann – ringsherum lauerte die Wildnis mit ihren Bedrohungen und Gefahren, aber auf der Finca selbst fühlte ich mich sicher und geschützt wie im Inneren einer uneinnehmbaren Festung, wie auf einem Schloss mit Zugbrücke, wobei der See, wie in einem Märchen, die Rolle des Festungsgrabens übernahm, in dem sich Krokodile tummelten, obgleich es sich in Wahrheit bloß um Leguane, Karpfen und Schildkröten handelte.
Auch wenn ich La Oculta später nie wieder so geliebt habe wie zuvor und obwohl ich jetzt tatsächlich entschlossen bin, die Finca zu verkaufen, muss ich zugeben, dass von allen Landschaften der Welt, die ich bislang kennengelernt habe, keine mich so berührt hat wie die rings um die Finca. Wo auch immer ich unterwegs bin, ich trage sie stets in mir. Vielleicht gibt es schönere Landschaften, anmutigere, weniger dramatische, aber das ist nun mal diejenige, die sich mir eingeprägt hat. Die Landschaft, bei deren Anblick sich, sobald wir auf der Finca eintrafen, das Gesicht meines Vaters unweigerlich aufhellte. Als ich hier einmal neben ihm in der Hängematte saß und den See und die Berge betrachtete, stellte ich fest, dass dieser Platz an diesem Nachmittag und bei diesem Licht und in dieser Gesellschaft tatsächlich der schönste Ort auf der ganzen Welt war. Und so ist es mir dort später noch öfters ergangen, in leuchtenden Augenblicken, die nur der Begeisterung zu vergleichen sind, die man beim Betrachten mancher Bilder oder beim Hören einer bestimmten Musik erleben kann, zum Beispiel wenn Antonio, begleitet von einer Orchesteraufnahme, uns Teile eines Violinkonzerts vorträgt oder wenn ich mit meinem Freund Santiago Opernarien anhörte, mit Santiago, dem Witwer, wie sie ihn bei uns zu Hause nannten, also mit dem Lebensgefährten, von dem ich mich kurz vor Mamas Tod getrennt habe.
Auch als ich bereits mehrere Jahre nicht mehr auf der Finca gewesen war, brauchte ich nur die Augen zu schließen, um sie, eingebettet in die sie umgebende Landschaft, vor mir zu sehen. Heute noch träume ich mehrmals im Jahr von ihr. Es ist die Landschaft meiner Kindheit, als ich zu meinen Großeltern, die damals noch lebten, in die Sommerfrische fuhr, der Ort meiner Jugend und der glücklichsten wie auch der schrecklichsten Momente meines Lebens, nirgendwo habe ich das Dasein mehr genossen und durchlitten, mein verlorenes und wiedergewonnenes Zuhause. In regelmäßigen Abständen träume ich, dass etwas passiert, woraufhin ich erschrecke und vor meinen Verfolgern die Flucht ergreife, und dabei kann ich auf dem Wasser des Sees von La Oculta laufen! Ich laufe lachend auf dem See, glücklich wie eine Göttin oder wie eine Eidechse, immer weiter laufe ich und lasse die Gefahr hinter mir zurück.
Ich hatte meinen damaligen Hund mitgenommen, Gaspar, einen Golden Retriever. Gaspar war ein sanftes Tier, passte jedoch vorbildlich auf mich auf, auch wenn er niemals jemanden gebissen hätte. Das Äußerste war, dass er anfing zu knurren und dann zu bellen, wenn er merkte, dass sich Unbekannte näherten. Wie es gute Hunde eben machen, zumindest Hunde, die mir gefallen, also solche, die bellen, aber nicht beißen.
Gaspar kümmerte sich um mich und ich mich um ihn, einer war des anderen Begleiter. Stets lag er mir zu Füßen oder an meiner Seite, niemals hätte er mich allein gelassen. Sobald ich aufstand, stand auch er auf. Wenn ich in den See sprang, sprang er ebenfalls ins Wasser und schwamm hinter mir her. Wenn ich zu Fuß oder zu Pferd auf dem Gelände der Finca unterwegs war, folgte er mir und lief im Zickzack durch Wald und Wiesen, für uns Menschen nicht wahrnehmbaren Fährten auf der Spur, überall herumschnüffelnd und ein Terrain markierend, dessen imaginäre Grenzen ihm so selbstverständlich vertraut waren wie mir die der Finca, das heißt des Landes meiner Urgroßeltern, das mein Vater uns vermacht hatte und das eines Tages meinem Sohn Benjamín gehören würde.
Normalerweise gehe ich früh zu Bett, noch vor zehn, weil ich auch sehr früh aufstehe, aber an dem Tag las ich bis tief in die Nacht in der Hängematte, ich kam von dem Roman nicht los, den ich in einem Zimmer der Finca entdeckt hatte, ein altes Buch mit vergilbten Seiten, das Cobo gehört haben musste, denn sein Name stand darin – Jacobo Ángel, 17. April 1967, war auf der Titelseite zu lesen, und 20. April 1967 auf der letzten: Cobo hatte die Angewohnheit, festzuhalten, an welchem Tag er eine Lektüre begonnen und wann er sie beendet hatte. Abgesehen davon enthielt das Buch Unterstreichungen und Anmerkungen in seiner Handschrift. Der Tod meines Vaters lag bereits mehrere Jahre zurück, bei dem Gedanken an ihn brannte es aber immer noch in meinem Hals. Ich hatte das Buch gleich am ersten Tag gefunden und seither immer die ruhigen Abendstunden genutzt, um mich in die Lektüre zu versenken. Auf der letzten Seite befand sich außer dem Datum ein längerer Kommentar, ebenfalls von der Hand Cobos. Es war schön, den Spuren der Lektüre meines Vaters zu folgen, im Wissen, dass womöglich bestimmte Stellen die gleichen Gedanken in ihm hervorgerufen hatten wie in mir und dass er an denselben Stellen gelacht hatte oder erschrocken war. Bei uns zu Hause hieß es immer, niemand sei sich so ähnlich wie wir beide. Seit meiner frühesten Kindheit war es regelmäßig vorgekommen, dass wir bei Tisch genau im selben Moment genau das Gleiche sagten, und ich weiß noch, dass wir dann jedes Mal lachten und riefen: »Wir haben einen Teufel erlegt!« Gleichzeitig das Gleiche zu sagen bedeutete, dass man einen Teufel erlegt, besser gesagt, dass man die Welt von einem Übel befreit. Solche Sachen glaubt man, auch wenn sie nicht stimmen, aber weniger aus Aberglauben, sondern weil sie etwas Tröstliches haben. Zu Hause führten wir zum Beispiel, völlig unbeeindruckt von ihrem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, eine Weisheit von Großvater Josué im Mund. Immer wenn auf der Finca ein Tier gestorben war, wenn eine Kuh einer Krankheit erlegen oder ein Kälbchen in eine Schlucht gestürzt war und sich den Hals gebrochen hatte oder eine Stute einer schweren Kolik zum Opfer gefallen war, in all diesen Fällen also verkündete der Großvater: »Der Himmel hat sein Urteil noch mal aufgehoben.« Damit wollte er sagen, dass eigentlich jemand aus der Familie mit dem Sterben an der Reihe gewesen wäre, Gott in seiner Großmut hatte uns jedoch durch ein weniger einschneidendes Opfer von diesem Schrecken befreit. Wenn ich hierbei an Gaspar denke, läuft es mir noch heute eiskalt den Rücken hinunter.
Einen Roman zu lesen, den auch mein Vater gelesen und mit Unterstreichungen versehen hatte, war, als würde ich mich mit ihm über die darin erzählte Geschichte unterhalten, als wären wir in diesem Augenblick beide auf der Finca und läsen und diskutierten gemeinsam, so wie wir es früher oft getan hatten, nachmittags nebeneinander in Hängematten liegend, oder im Zimmer meiner Eltern, das zuvor das der Großeltern gewesen war, oder an dem großen Tisch, beim Abendessen. Manchmal unterbrach ich die Lektüre und dachte über das Gelesene nach oder versuchte, mir die geschilderten Situationen genauer vorzustellen. Dabei streckte ich seitlich den Arm aus und strich Gaspar über den Rücken, den Blick gedankenverloren in die Dunkelheit gerichtet, wie es einem beim Lesen guter Bücher eben so geht – mitgerissen von den im Text verborgenen Ideen treiben die Gedanken dahin, bis sich beides irgendwann ineinanderschiebt und vermischt wie zwei große Wolken, die dann manchmal ganz schwarz werden und womöglich einen Blitz aufleuchten lassen, dessen Donner an der Stirn widerhallt, während der Regen einsetzt und wir zu weinen beginnen, an einer Saite tief in unserem Inneren berührt, von der wir gar nicht wussten, wie angespannt sie war.
Im Haus war alles dunkel, bis auf eine Stehlampe neben der Hängematte. »Nirgendwo liest es sich besser als in der Hängematte«, sagt eine Freundin von mir immer. Insekten schwirrten um die Lampe, aber sie stachen nicht – die Mücken auf La Oculta stechen nicht, uns zumindest nicht. Im See quakten ein paar Frösche, und ab und zu glitten ein Leguan oder eine Schildkröte ins Wasser, was sich anhört wie eine reife Frucht, die sich mit leisem Knacken vom Ast löst, hinabfällt und unter der Oberfläche verschwindet. Ich genoss die Gesellschaft meiner Hängematte, des Hundes, ja selbst der Insekten und Frösche, und fühlte mich sicher und geborgen.
Damals hielt ich La Oculta noch für mein eigentliches Zuhause. Alle aus unserer Familie wurden dort von einem sehr tiefen, sehr besonderen Gefühl erfüllt. Ich mag das Wort ›Energie‹ nicht, aber wenn ich es mögen würde, würde ich es jetzt verwenden – die Finca vermittelte uns etwas Ungreifbares und dennoch ganz und gar Wirkliches. »Einen Vorgeschmack des Himmels«, wie mein Schwager Alberto immer sagte.
Was auf der Finca nicht schon alles passiert ist und immer noch passiert! Zuallererst sind da die im See Ertrunkenen – fünf, soweit ich weiß. Vor dem dunklen, geheimnisvollen Wasser habe ich größten Respekt. Dann die Entführung von Lucas. Für mich war das das Schlimmste, nicht bloß, weil man mir fast ein Jahr lang meinen Sohn genommen hat, man hat uns dadurch vor allem meinen Vater geraubt, er hat die Situation nicht ausgehalten. Und die Ankunft der Retter war noch schlimmer als die Gefahr, aus der sie uns retten sollten – die Medizin war schlimmer als die Krankheit –, schließlich ist hier daraufhin möglicherweise mehr Blut geflossen als je zuvor. Irgendwann nahmen sie auch Eva ins Visier und wollten sie umbringen. Und all die anderen Geschichten von unseren Vorfahren, bis zurück in ich weiß nicht welches Jahrhundert – Toño kennt sich da aus. Aber diese alten Geschichten interessieren mich nicht im Geringsten, auch nicht irgendwelche Stammbäume, oder wie genau damals das Dorf gegründet worden ist, oder wer alles vor hundert Jahren bei der Verteidigung der Finca sein Leben gelassen hat. Das geht mich nichts an. Mir tun nur die Toten weh oder die schlimmen Sachen, die mich unmittelbar betroffen haben, hier, vor Ort, mich, meine Familie, aber nicht die Vergangenheit. Ich persönlich hatte zum Beispiel in den letzten Jahren auf La Oculta gleich mit zwei Todesfällen zu tun. Zuerst Tante Ester, dann meine Mutter. Das mit Tante Ester war für mich nicht so traurig, aber dafür viel härter, nicht nur, weil es Monate gedauert hat, bis sie schließlich gestorben ist, und in der ganzen Zeit habe ich sie gepflegt. Nein, aber irgendwann musste ich gewissermaßen entscheiden, ab wann es nicht mehr die Mühe wert ist, dass sie weiterlebt. Bei meiner Mutter nicht, meiner Mutter ging es bestens, bis zum letzten Tag. Sie war im Kopf vollkommen klar und brauchte von niemandem Hilfe und hat wie immer allen gesagt, was sie zu tun haben, mit Próspero hat sie überlegt, wie viele Kälber verkauft werden sollen, und sie hat sich genau erklären lassen, wie die Kaffeeernte ausgefallen ist und um wie viel der Durchmesser der Teakbäume im Jahr zugenommen hat. Sie ist völlig ruhig gestorben, im Schlaf, wir haben es überhaupt nicht mitbekommen. Sie hat nicht geklingelt und sie hat auch nicht nach mir gerufen. Als ich sie gefunden habe, lag sie auf der Seite, so wie immer, auf der rechten Seite, genauer gesagt, als hätte sie sich selbst umarmen wollen. Ich hätte ihre Arme fast nicht auseinander bekommen, als ich ihr die Kleider anziehen und sie herrichten wollte. Das Glas Wasser hatte sie ganz ausgetrunken, sie war bestimmt durstig. Angst war ihrem Gesicht nicht anzusehen, es wirkte bloß wie ganz weit weg und gelassen und entspannt. Ich würde auch gern so sterben – der Tod der Gerechten, wie man so sagt.
Während der Totenwache haben wir eine Weile darüber gestritten, ob wir meine Mutter beerdigen oder verbrennen lassen sollen. Ich war dafür, sie verbrennen zu lassen und die Asche auf die Finca zu bringen. Antonio, der immer mit diesem Quatsch daherkommt, die Toten aus unserer Familie dürften nicht verbrannt werden – schließlich sind wir keine Hindus, sondern konvertierte Juden, wie er sagt –, war jedoch dafür, sie im Familiengrab der Ángels in Jericó zu bestatten, und später sollten wir ihre Reste dann hierher überführen, und bei der Gelegenheit auch die von Cobo, auf die Weise könnten wir sie zusammen an der Stelle begraben, die mein Vater sich immer gewünscht hatte. Eva hat gesagt, ihr ist es egal, nach dem Tod sei sowieso alles gleich. Benji, Lucas und meine anderen Kinder waren für Verbrennen, also hatte Toño niemanden, der seinen Vorschlag unterstützt hat, und er musste sich der Mehrheit fügen.
Nach dem Tod meiner Mutter wollte ich ein paar Tage auf der Finca bleiben, in den Bergen versteckt, und meine alten Aufzeichnungen über die Gründung von Jericó, meine Familie, La Oculta und die Gegend hier, im Südwesten der Provinz Antioquia, durchsehen. Ihr Tod brachte mich dazu, mich endgültig an die Ausarbeitung der Geschichte des Ortes und der Finca zu machen. Sich erinnern bedeutet ja gewissermaßen, die Gespenster in die Arme zu schließen, die unser jetziges Leben möglich gemacht haben. Es ist so viel passiert in dieser Gegend, diesem großen weiß-roten Haus inmitten von Wasser und sattem Grün. Einem Grün in allen möglichen Tönungen, verteilt über riesige grüne Berge, und dazu das dunkle Wasser des Sees, in dem sich nicht der blau-weiße Himmel darüber widerspiegelt, sondern die schwarz-grünen Felsspitzen, die höher als der Himmel scheinen und in Richtung Jericó ansteigen, also in Richtung des Dorfs, wo mein Vater und meine Großeltern und Urgroßeltern geboren sind, die Besitzer dieser Finca, die sie urbar gemacht haben, in dem sie Bäume gefällt, Steine bewegt und den Wald niedergebrannt haben, das Einzige, was es seit dem Anfang der Welt hier gegeben hatte.
Morgens laufe ich immer gleich nach dem Aufstehen barfuß über die Wiese vor dem Haus und spüre den Tau an den Zehen. Ich atme tief durch und würde am liebsten beten, wie als junger Mann und als Kind, aber ich weiß nicht mehr, zu wem ich beten soll. Im Stillen sage ich irgendetwas, was einem Gebet an die Vorfahren gleichkommt, obwohl ich auch nicht mehr so wie früher daran glaube, dass der Geist den Tod überlebt. Ein Gebet an die Natur und das Schicksal, das uns diese Finca gegeben hat. Um diese Uhrzeit steigt der Nebel vom Fluss auf, und ich warte, bis er hier ankommt. Langsam nähert er sich in dicken Schwaden und legt sich auf das Haus. Próspero spricht immer von »Frau Schnitterin«, warum weiß ich auch nicht, vielleicht weil der Nebel wie eine Machete übers Gras streicht, als wollte er es mähen. Der Nebel hüllt mich ein, liebkost mich, für einen Augenblick ist die Welt verschwunden, so wie der See und die Berge, ich komme mir vor wie im Inneren eines Glases voll Wasser und Anisschnaps, weiß wie Milch, bis der Nebel schließlich weiterzieht, höher steigt, den waldigen Abhang kitzelt. Dann färbt die Welt sich im Osten rosa oder orangefarben, und der Fluss ist wieder zu sehen, im Winter breit und gelb, im Sommer schmaler und dunkel, tief unten im Tal fließt er dahin, unterwegs zum Río Cauca, und auch die beiden Bergkegel werden wieder sichtbar, »die Brüste von Doña Quiteria«, wie Großvater Josué sie nannte. Mit dem Sonnenlicht kehren die Farben der Vögel und Blumen zurück: die weißen und dunkelvioletten Orchideen, die von den Bäumen hängen, die Orangetöne der Königsstrelitzien, die violetten oder rosa Balsaminen, die rot-schwarzen Flamingoblumen, all die Wunder, die Pilar angepflanzt hat. Manchmal bleibt ein Blättchen an meiner Fußsohle kleben oder ich zerdrücke mit der Ferse einen Erdklumpen, und dann weiß ich, dass der Tau und das kleine Blatt und das Stück schwarze Erde, dass all das ich bin. Ich kenne hier jeden Schmetterling, jede Vogelstimme, alle siebenundneunzig Teakbäume am Zufahrtsweg zum Haus, sämtliche Geräusche – das Rauschen des Bachs, die Zikaden, die Rotschwanzguane, Spottdrosseln und Sperber, die Spechte, die an vertrockneten Trompetenbäumen picken, die Aras, die in toten Königspalmen ihr Nest bauen –, Geräusche, die ich in ihrer Gesamtheit als vollkommene Stille erlebe.
Ich spüre, dass ich ein Teil dieser Finca bin, dieser alten Finca meiner Vorfahren, derjenigen, die ich gekannt habe, wie auch derjenigen, die ich nicht gekannt habe. Ich kann als Einziger aus der Familie die lange Liste ihrer Namen aufsagen, weil mich die mottenzerfressenen Bücher, Taufurkunden und Sterberegister interessieren. Anders als meine Schwestern, die mehr meiner Mutter gleichen und praktischer und zupackender sind als ich, realistischer, stärker in der Gegenwart verankert. In meiner Kommode auf der Finca ist eine Schublade voller Papiere, die ich seit Jahren zusammengetragen oder selbst beschrieben habe. Immer wenn ich dort bin, hole ich die Blätter hervor und verbessere etwas oder ergänze Dinge, die ich gelesen oder im Dorf erzählt bekommen habe. Geschichten, Gerüchte, Halbwahrheiten, Vermutungen, Tatsachen, Gedankenspiele und Träumereien. Es gefällt mir, mich mit diesen Aufzeichnungen zu beschäftigen, sie immer wieder durchzugehen wie jemand, der Münzen oder Karten oder Briefmarken sammelt. Ich streiche liebevoll mit der Hand über die Seiten, schreibe sie ins Reine, überarbeite sie, denke darüber nach. Schon seit Jahren habe ich vor, etwas über die Finca zu verfassen, damit meine Nichten und Neffen und ihre Kinder später Bescheid wissen und sich daran erinnern, wie das alles zustande gekommen ist. Das Folgende zum Beispiel bezieht sich auf die ältesten Tatsachen, die mir über unsere Familie bekannt sind, und eben hiermit möchte ich irgendwann meine Geschichte der Finca beginnen lassen:
Ich weiß nicht, ob wir Juden waren, allzu rein war unser Blut aber offenbar nicht, hatten wir doch nicht bloß jüdische Vornamen, sondern dazu typische Nachnamen von Konvertiten, weshalb es bei uns zu Hause auch immer hieß – worüber man weder Scham noch Stolz empfand –, wir seien möglicherweise Marranen, also Leute, die bloß äußerlich ein christliches Leben führen, insgeheim jedoch anderen Überzeugungen anhängen. Der Erste aus unserer Familie, der nach Kolumbien kam – das damals noch Neugranada hieß –, war ein junger Spanier aus Toledo, Amtsschreiber von Beruf. Sein Name lautete Abraham Santángel. Wir wissen nur wenig über ihn, unter anderem, dass er bei der Ankunft in Cartagena de las Indias gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt war und von dort auf dem Río Magdalena wie auch auf Königswegen, die in Richtung Río Cauca strebten, nach Antioquia gelangte, wo er gegen 1786 eintraf, als die Kolonie bereits im Sterben lag. Irgendwann in der Zeit der Unabhängigkeitskriege diktierte er dann in Santa Fe de Antioquia sein Testament.
Warum es Abraham in diesen abgelegenen Landstrich zog, wo es vielfach so steil und schroff bergauf oder bergab geht, dass selbst die Katzen Mühe haben, sich auf ihren vier Pfoten zu halten, weiß kein Mensch. Sicher scheint bloß, dass ihm die Zukunft in Spanien wenig Gutes verheißen hat. Er muss gehofft haben, hier, auf dieser Seite des Atlantiks, werde das Schicksal ihm womöglich die eine oder andere freudige Überraschung bescheren, fruchtbare, wasserreiche Böden etwa und die jungen Schenkel einer großmütigen Mulattin, zwischen denen er für allezeit seinen Samen würde säen können. Fast alle kennen wir die lustvolle Vorstellung, der lähmenden Traurigkeit ein Schnippchen zu schlagen und unter neuen Himmeln sein Glück zu versuchen, Abraham Santángel besaß darüber hinaus jedoch den Mut, diesen Traum in die Tat umzusetzen, und nahm dafür eine gefährliche Reise ins Ungewisse auf sich.
Allzu freigebig scheint sich das Schicksal ihm gegenüber jedoch nicht erwiesen zu haben, zumindest dem Erbe nach zu urteilen, über das er in seinem Testament verfügte. Darin heißt es, dass das Wenige, was es zu verteilen gebe – die Liste ist kurz und übersichtlich und besteht aus einer Stute, einem Pferdegeschirr, etwas Kleidung und einigen Möbeln: einer Truhe, einem Kerzenleuchter, einem Bett aus Lorbeerholz und einem Tisch samt neun Hockern –, seinen Kindern zufalle, die er bitte, es aufzuteilen, so gut sie könnten und ohne in Streit zu geraten, woraufhin er sie dem Alter nach aufzählt: Susana, Eva, Esteban, Jaime, Ismael, Esther und Benjamín, allesamt hervorgegangen aus seiner rechtmäßigen Verbindung mit Betsabé Correa, geboren in Yolombó. Wer Betsabés Eltern waren, erwähnt er nicht, sie könnte folglich eine Schwarze, Indiofrau, Mestizin oder auch Kreolin gewesen sein, abgesehen davon, dass sie, aufgrund ihres Vornamens, durchaus einer Familie von Konvertiten hätte entstammen können, wenngleich es am wahrscheinlichsten ist, dass sie ursprünglich der einheimischen Bevölkerung angehörte oder eine Mulattin war. Wie dem auch sei, seinen Kindern legt Abraham nachdrücklich ans Herz, bis ans Ende von Betsabés Tagen für diese zu sorgen und sie zu achten, falls sie nicht wollten, dass sie sein Fluch aus dem Jenseits treffe. Am Ende fügt er wie beiläufig hinzu, er schreibe dieses Testament, weil seine Gesundheit ihm Sorgen bereite, und nachdem er keine Mittel besitze, um seine Familie zu unterhalten, und ihnen außer den erwähnten Kleinigkeiten nichts zu vererben habe, weise er seine Söhne hiermit an, falls sie nicht als Taugenichtse enden wollten, hart zu arbeiten und sich der eigenen Hände zu bedienen. Den Frauen wiederum erteilt er den Rat, sich früh und gut zu verheiraten, und das mit friedliebenden und rechtschaffenen Männern. Söhne wie Töchter wiederum fordert er auf, Sorge zu tragen, dass sie ein ehrenhaftes Leben führen, ohne den Nachnamen Ángel zu beschmutzen – Ángel, wie er hier am Ende schreibt, und nicht Santángel –, dessen Ursprung, wie sie sehr wohl wüssten – und das ist der rätselhafteste Teil des Dokuments –, dessen Ursprung also »niemals Anlass zu Scham oder Schande geben darf«. Abschließend gibt er ihnen noch einen Ratschlag, der zu einer Art Wahlspruch der Familie werden sollte: »Vergesst nie, dass ihr nicht mehr, aber auch nicht weniger als die anderen seid. Versucht als Gleiche unter Gleichen zu leben, arbeitet und befehlt niemandem, aber lasst euch auch von niemandem befehlen.«
Dass wir dieser Empfehlung bis heute folgen, ist der Grund dafür, dass man uns liebt oder hasst. Statt zu befehlen, erklären wir lieber oder bitten um etwas, und statt zu gehorchen, überlegen wir, ob das, was man von uns fordert, vernünftig und durchführbar ist und zu Recht gefordert wird. Lieber erledigen wir die Dinge mit eigenen Händen, und falls wir doch einmal Hilfe benötigen, sind wir trotzdem die Ersten, die sich an die Arbeit machen. Und für andere setzen wir uns immer dann ein, wenn diese sich ebenfalls an der Arbeit beteiligen und nicht bloß danebenstehen und Befehle erteilen, als wären sie etwas Besseres. So etwas ertragen wir nicht.