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Aufmerksame Leser wissen bereits, wie sich die belesene und zielstrebige Isabella auf den historischen Weg gemacht hat, der sie eines Tages zur führenden Drachenforscherin der Welt machen würde. In diesem beeindruckend offenherzigen Nachfolger blickt Lady Trent auf die nächsten Schritte ihrer glorreichen (und gelegentlich skandalösen) Karriere zurück. Drei Jahre nach ihrer schicksalhaften Reise durch die abschreckenden Gebirge von Vystrana ignoriert Lady Trent gängige Konventionen und bricht zu einer Expedition auf, die sie auf den wilden, kriegszerrütteten Kontinent Erga führt. Dort liegt die Heimat solch exotischer Drachenarten wie die Grasschlangen der Savanne, Baumschlangen und die geheimnisvollste von allen, die legendären Sumpfwürmer der Tropen. Die Expedition gestaltet sich als schwierig. In Begleitung einer alten Freundin und einer Thronerbin auf der Flucht, muss sich Isabella drückender Hitze, gnadenlosen Fiebern, Palastintrigen, Klatsch und Tratsch und anderen Bedrohungen stellen, um ihre grenzenlose Faszination alles Drachen betreffende zu befriedigen. Selbst wenn sie dafür tief in den verbotenen Dschungel vordringen muss, der gemeinhin die Grüne Hölle genannt wird. Dort werden ihr Mut, ihr Einfallsreichtum und ihre wissenschaftliche Neugierde auf Proben gestellt, wie sie es bislang noch nicht erlebt hat.
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Seitenzahl: 471
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DER WENDEKREIS
LADY TRENTS MEMOIREN
MARIEBRENNAN
Ins Deutsche übersetzt vonAndrea Blendl
Die deutsche Ausgabe von LADY TRENTS MEMOIREN 2:
DER WENDEKREIS DER SCHLANGEN wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,
Übersetzung: Andrea Blendl; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik;
Illustrationen Innenteil: Todd Lockwood, Karte: Rhys Davies, Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.
Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: THE MEMOIRS OF LADY TRENT 2:
THE TROPIC OF SERPENTS
Copyright © 2014 by Bryn Neuenschwander
German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.
Print ISBN 978-3-95981-505-5 (März 2018)
E-Book ISBN 978-3-95981-506-2 (März 2018)
WWW.CROSS-CULT.DE
VORWORT
TEIL EINS
EINS
ZWEI
DREI
VIER
TEIL ZWEI
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
TEIL DREI
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
TEIL VIER
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
Die öffentliche Meinung ist eine wankelmütige Sache. Heutzutage werde ich als Beweis für die Intelligenz und den Wagemut unserer Rasse von einem Ende Scirlands zum anderen gezerrt. Tatsächlich würde ich sagen, auch wenn ich nicht die berühmteste Scirländerin der Welt bin, so stehe ich doch Ihrer Majestät der Königin kaum nach. Ich würde nicht so weit gehen anzunehmen, dass ich allgemein beliebt bin, aber wenn sich irgendeine Zeitung entschließt, mich zu erwähnen (was sie nicht mehr so oft tun, weil ich völlig daran gescheitert bin, im letzten Jahrzehnt irgendwelche weltbewegenden Entdeckungen zu machen, und mich außerdem nicht beinahe auf angemessen grausige Art töten ließ), stehen die Chancen gut, dass diese Erwähnung generell in einem positiven Ton erfolgt.
Das war nicht immer so. Obwohl wenige alt genug sind, um sich daran zu erinnern, und noch weniger Leute unhöflich genug, um das Thema anzusprechen, wurde ich einst in den Skandalblättern verunglimpft. Aber ich habe keine Hemmungen, meine schmutzige Wäsche öffentlich zu waschen – nicht, wenn die fragliche Wäsche so uralt und verknittert ist. Einige der Fehler, derer ich bezichtigt wurde, waren gänzlich unbegründet. Andere waren, wie ich zugebe, völlig gerechtfertigt, zumindest soweit man meiner eigenen Meinung trauen kann.
Weil ich noch nicht damit fertig bin, meine Memoiren zusammenzustellen, kann ich nicht sicher sagen, ob dies, der zweite Band in der Reihe, der mit dem meisten Klatsch von allen wird. Diese Ehre fällt vielleicht einem späteren Lebensabschnitt vor meiner zweiten Ehe zu, als meine Interaktionen mit meinem zukünftigen Mann Anlass für eine sehr heftige Gerüchteküche daheim und im Ausland gaben. Ich habe mich noch nicht entschieden, wie viel davon ich teilen will. Aber dieser Band kann es damit aufnehmen, weil es während jener Jahre war, dass ich mich mit einer Anschuldigung der Unzucht und des Hochverrats und dem Status als schlechteste Mutter in ganz Scirland wiederfand. Das ist einiges mehr, als den meisten Frauen in ihrem Leben gelingt, und ich gebe zu, dass ich auf eine abartige Art stolz auf diese Leistung bin.
Dies ist natürlich auch die Geschichte meiner Expedition nach Eriga. Die Warnungen, die ich in meinem ersten Vorwort erwähnte, bleiben weiterhin gültig: Wenn Sie sich leicht durch Schilderungen von Gewalt, Seuchen, Nahrung, die dem scirländischen Gaumen fremd ist, seltsamen Religionen, öffentlicher Nacktheit oder hitzköpfigen diplomatischen Fettnäpfchen abschrecken lassen, dann schlagen Sie dieses Buch zu und befassen sich mit etwas Geeigneterem.
Aber ich versichere Ihnen, dass ich all diese Dinge überlebt habe. Wahrscheinlich werden Sie es auch überleben, von ihnen zu lesen.
Lady TrentAmavi, Prania23 Ventis, 5659
In welchem die Schreiberin der Memoirenaus ihrem Heimatland aufbrichtund eine Vielzahl an Problemen,die von familiär bis kriminell reichen,zurücklässt
Mein Leben in Einsamkeit – Meine Schwägerin und meine Mutter – Ein unerwarteter Besucher – Ärger bei Kemble
Nicht lange ehe ich mich auf die Reise nach Eriga machte, fasste ich mir ein Herz und brach zu einem Ziel auf, das ich als wesentlich gefährlicher betrachtete: Falchester.
Die Hauptstadt war nach normalen Maßstäben kein schrecklich abenteuerlicher Ort, außer dass es dort vielleicht auf mich regnen würde. Ich unternahm die Reise von Pasterway aus in regelmäßigen Abständen, weil ich dort Geschäfte zu überwachen hatte. Diese Reisen aber waren nicht sehr öffentlich – womit ich meine, dass ich sie nur vor einer Handvoll Leuten erwähnte, von denen alle diskret waren. Nach dem, was ein Großteil von Scirland wusste (die wenigen, die es interessierte), war ich seit meiner Rückkehr aus Vystrana eine Art Einsiedlerin gewesen.
Man gestattete mir das Einsiedlertum wegen meiner persönlichen Schwierigkeiten, obwohl ich in Wahrheit mehr von meiner Zeit mit Arbeit verbrachte: zuerst mit der Veröffentlichung unserer Forschung in Vystrana, dann mit der Vorbereitung für diese Expedition nach Eriga, die sich immer wieder durch Kräfte weit jenseits unserer Kontrolle verzögert hatte. An jenem Morgen im Graminis aber konnte ich den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die ich geflissentlich unter diesen anderen Aufgaben begraben hatte, nicht länger entkommen. Das Beste, was ich tun konnte, war, beides in schneller Folge abzuarbeiten: zuerst meine Blutsverwandten zu besuchen und dann jene, mit denen ich durch meine Heirat verbunden war.
Mein Haus in Pasterway war nur eine kurze Fahrt vom modernen Viertel Havistow entfernt, wo sich mein ältester Bruder Paul im Vorjahr niedergelassen hatte. Ich entkam der Notwendigkeit, sein Heim zu besuchen, gewöhnlich durch das doppelte Geschenk seiner häufigen Abwesenheit und des absoluten Desinteresses seiner Frau an mir, aber zu dieser Gelegenheit hatte man mich eingeladen, und hätte ich mich geweigert, hätte das noch mehr Ärger gebracht.
Bitte verstehen Sie, es ist nicht so, dass ich meine Familie nicht mochte. Die meisten von uns kamen gut genug miteinander aus, und ich hatte eine ziemlich gute Beziehung zu Andrew, meinem nächstälteren Bruder. Aber der Rest meiner Brüder fand mich mindestens befremdlich, und das Missfallen meiner Mutter über mein Verhalten hatte ihre Meinung Richtung Missbilligung verschoben. Was Paul an diesem Tag von mir wollte, wusste ich nicht – aber insgesamt hätte ich es vorgezogen, mich einem verärgerten vystranischen Felswyrm zu stellen.
Leider waren jene alle recht weit entfernt, während mein Bruder zu nahe war, um ihm auszuweichen. Mit einem Gefühl, als ginge ich gleich in eine Schlacht, hob ich meinen Rock wie eine feine Dame, stieg die Eingangstreppe hinauf und klingelte an der Tür.
Meine Schwägerin war im Salon, als mich der Bedienstete hineinführte. Judith war ein Muster einer scirländischen Oberklasseehefrau, auf all die Arten, wie ich es nicht war: hübsch gekleidet, ohne die Grenze zu kitschigem Exzess zu überschreiten; eine elegante Gastgeberin, die die Arbeit ihres Gatten mit gesellschaftlichen Mitteln unterstützte; und eine hingebungsvolle Mutter mit bereits drei Kindern, und es würden zweifellos noch mehr kommen.
Wir hatten genau eine Sache gemeinsam, und die war Paul. »Bin ich zur falschen Zeit gekommen?«, fragte ich höflich nach, als ich eine Tasse Tee bekommen hatte.
»Überhaupt nicht«, antwortete Judith. »Er ist gerade noch nicht daheim – ein Treffen mit Lord Melst –, aber du darfst gerne bleiben, bis er zurückkommt.«
Lord Melst? Paul arbeitete sich wirklich hoch in der Welt. »Ich vermute, das ist eine Angelegenheit wegen des Synedrions.«
Judith nickte. »Wir hatten eine kurze Atempause, nachdem er seinen Lehrstuhl bekommen hat, aber jetzt sind die Regierungsgeschäfte dazwischengekommen und nehmen seine Zeit in Anspruch. Ich erwarte kaum, ihn zwischen jetzt und Gelis zu sehen.«
Was bedeutete, dass ich hier für sehr lange Zeit mit den Hufen scharren konnte. »Wenn es nicht zu viele Schwierigkeiten macht«, ich stellte meine Teetasse ab und erhob mich von meinem Stuhl, »denke ich, dass es besser wäre, wenn ich aufbreche und später zurückkomme. Ich habe versprochen, heute auch noch meinem Schwager Matthew einen Besuch abzustatten.«
Zu meiner Überraschung hob Judith eine Hand, um mich aufzuhalten. »Nein, bleib bitte. Wir haben gerade jetzt einen Gast, der hoffte, dich zu sehen …«
Ich bekam keine Gelegenheit zu fragen, wer der Gast war, obwohl ich in dem Moment, als Judith zu sprechen begann, einen Verdacht hatte. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich, und meine Mutter kam herein.
Jetzt ergab alles einen Sinn. Ich hatte vor einiger Zeit aufgehört, die Briefe meiner Mutter zu beantworten, um meinen Seelenfrieden zu bewahren. Selbst als ich sie darum gebeten hatte, hatte sie nicht damit aufgehört, jede meiner Handlungen zu kritisieren und anzudeuten, dass mein schlechtes Urteilsvermögen daran schuld sei, dass ich in Vystrana meinen Mann verloren hatte. Es war nicht höflich, sie zu ignorieren, aber die Alternative wäre schlimmer gewesen. Damit sie mich sehen konnte, musste sie daher unangekündigt in meinem Haus auftauchen … oder mich in das Haus von jemand anderem locken.
Solche Logik half wenig, um meine Reaktion zu mildern. Solange meine Mutter nicht hier war, um eine Versöhnung anzubieten – was ich bezweifelte –, war dies eine Falle. Ich hätte mir lieber meine eigenen Zähne gezogen, als mehr von ihren Vorwürfen zu ertragen. (Und damit Sie das nicht für eine reine Redensart halten, sollte ich erwähnen, dass ich mir wirklich einmal selbst einen Zahn zog, also stelle ich diesen Vergleich nicht leichtfertig an.)
Wie sich allerdings herausstellte, bezogen sich ihre Vorwürfe zumindest auf frisches Material. Meine Mutter sagte: »Isabella. Was ist dieser Blödsinn, den ich höre, dass du nach Eriga willst?«
Man kennt mich dafür, dass ich freundlichen Small Talk übergehe, und gewöhnlich bin ich anderen auch dafür dankbar. In diesem Fall aber hatte es eine Wirkung wie ein Pfeil, der aus der Deckung direkt in mein Gehirn geschossen wurde. »Was?«, fragte ich ziemlich dümmlich – nicht, weil ich sie nicht verstanden hatte, sondern weil ich keine Ahnung hatte, wie sie davon gehört haben konnte.
»Du weißt ganz genau, was ich meine«, fuhr sie gnadenlos fort. »Das ist absurd, Isabella. Du kannst nicht wieder ins Ausland reisen, und sicher nicht in irgendeinen Teil von Eriga. Dort herrscht Krieg!«
Ich suchte wieder meinen Stuhl auf und nutzte die Verzögerung, um meine Fassung zurückzuerlangen. »Das ist eine Übertreibung, Mama, und das weißt du. In Bayembe herrscht kein Krieg. Der Mansa von Talu wagt keine Invasion, nicht, wenn scirländische Soldaten helfen, die Grenze zu verteidigen.«
Meine Mutter schnaubte. »Ich kann mir vorstellen, dass der Mann, der die Akhier aus Elerqa vertrieben hat – nach zweihundert Jahren! –, in der Tat einiges wagt. Und selbst falls er nicht angreift, was ist mit diesen schrecklichen Ikwunde?«
»Der gesamte Dschungel von Mouleen liegt zwischen ihnen und Bayembe«, sagte ich irritiert. »Außer natürlich an den Flüssen, und dort steht Scirland ebenfalls Wache. Mama, der ganze Sinn unserer militärischen Präsenz ist es, das Land sicher zu machen.«
Der Blick, den sie mir zuwarf, war vernichtend. »Soldaten machen einen Ort nicht sicher, Isabella. Sie machen ihn nur weniger gefährlich.«
Was ich an rhetorischem Talent besitze, habe ich von meiner Mutter geerbt. An jenem Tag aber war ich nicht in der Stimmung, ihre Formulierung zu bewundern. Auch nicht, um mich über ihr politisches Bewusstsein zu freuen, welches ziemlich verblüffend war. Die meisten scirländischen Frauen ihrer Klasse, und auch ein Haufen Männer, konnten kaum die beiden Mächte in Eriga nennen, die Bayembe gezwungen hatten, ausländische – was heißen soll scirländische – Hilfe zu suchen. Damals interessierten sich Gentlemen nur für die einseitige »Handelsvereinbarung«, die Eisen aus Bayembe nach Scirland brachte, zusammen mit anderen wertvollen Rohstoffen, und ihnen dafür erlaubte, unsere Soldaten überall im Land zu stationieren und eine Kolonie in Nsebu aufzubauen. Damen interessierten sich überhaupt nicht besonders dafür.
War das etwas, wofür sie sich schon zuvor interessiert hatte, oder hatte sie sich informiert, als sie von meinen Plänen gehört hatte? So oder so, auf diese Weise hatte ich nicht vorgehabt, ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. Wie genau ich das wirklich vorgehabt hatte, das hatte ich noch nicht beschlossen. Ich hatte die Sache ständig hinausgeschoben, aus, wie ich nun erkannte, purer Feigheit. Und das war die Folge: eine unangenehme Konfrontation vor meiner Schwägerin, deren steif-höfliche Miene mir sagte, dass sie gewusst hatte, was kommen würde.
(Ein plötzlicher, nagender Verdacht sagte mir, dass Paul es ebenfalls gewusst hatte. Ein Treffen mit Lord Melst, genau. So schade, dass er nicht da war!)
Es bedeutete immerhin, dass ich mich nur meiner Mutter stellen musste, ohne Verbündete, die sie in ihrer Missbilligung unterstützten. Ich war nicht närrisch genug zu glauben, dass ich selbst Verbündete gehabt hätte. Ich sagte: »Das Außenministerium würde nicht gestatten, dass Leute dorthin reisen, geschweige denn dort siedeln, wenn es wirklich so gefährlich wäre. Und sie haben es gestattet, also da hast du es.« Sie musste nicht wissen, dass eine der ständigen Verzögerung auf dieser Expedition damit zusammenhing, dass wir versuchten, das Außenministerium zu überreden, uns Visa auszustellen. »Wirklich, Mama, ich werde durch Malaria in weitaus größerer Gefahr schweben als durch irgendeine Armee.«
Was mich ritt, als ich das sagte, weiß ich nicht, aber es war schiere Idiotie von meiner Seite. Das Funkeln meiner Mutter wurde schärfer. »In der Tat«, sagte sie, und die Worte hätten Glas zum Gefrieren bringen können. »Du hast vor, an einen Ort zu reisen, wo tropische Seuchen wüten, und das ohne einen einzigen Gedanken an deinen Sohn.«
Ihre Anschuldigung war sowohl gerecht als auch ungerecht. Es war wahr, dass ich nicht so viel an meinen Sohn dachte, wie man erwarten würde. Ich hatte nach seiner Geburt sehr wenig Milch gehabt und war gezwungen gewesen, eine Amme anzuheuern, was mir allzu gut gepasst hatte. Der kleine Jacob erinnerte mich viel zu sehr an seinen verstorbenen Namensvetter. Jetzt war er mehr als zwei Jahre alt, abgestillt und wurde von einem Kindermädchen versorgt. Mein Ehevertrag hatte mich recht großzügig versorgt, aber ich hatte viel von diesem Geld in wissenschaftliche Forschung gesteckt, und die Bücher über unsere Expedition nach Vystrana – die wissenschaftliche Arbeit unter dem Namen meines Gatten und mein eigenes grauenhaftes bisschen Reiseliteratur – brachten nicht so viel ein, wie man hoffen könnte. Aus dem, was verblieb, zahlte ich ordentlich für jemanden, der sich um meinen Sohn kümmerte, und zwar nicht, weil sich die Witwe des zweiten Sohns eines Barons nicht dazu herablassen dürfte, selbst solche Arbeit zu tun. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst mit Jacob tun sollte.
Die Leute nehmen oft an, dass die mütterliche Weisheit völlig instinktiv kommt: dass, egal wie wenig eine Frau über das Großziehen von Kindern wissen mag, ehe sie eines gebärt, die bloße Tatsache ihres Geschlechts sie danach mit perfekten Fähigkeiten versehen wird. Das ist nicht einmal auf der gröbsten biologischen Ebene wahr, wie das Versiegen meiner Milch bewiesen hatte, und es stimmt noch weniger in sozialen Belangen. In späteren Jahren bin ich dazu gekommen, Kinder aus der Perspektive der Naturkundlerin zu verstehen. Ich kenne ihre Entwicklung und habe einige Bewunderung für ihre erstaunlichen Fortschritte. Aber zu diesem Zeitpunkt ergab der kleine Jacob weniger Sinn für mich als ein Drache.
Wird ein Kind am besten von einer Frau aufgezogen, die das schon zuvor getan hat, die ihre Fähigkeiten über die Jahre verbessert hat und ihre Arbeit genießt, oder von einer Frau ohne Talent und mit wenig Freude daran, deren einzige Qualifikation eine direkte biologische Verbindung ist? Meine Meinung fiel entschieden auf Ersteres, und so sah ich sehr wenige praktische Gründe, warum ich nicht nach Eriga reisen sollte. Was das betrifft, hatte ich sehr viel über die Angelegenheit meines Sohnes nachgedacht.
Aber solche Dinge zu meiner Mutter zu sagen, stand außer Frage. Stattdessen beruhigte ich sie: »Matthew Camherst und seine Frau haben angeboten, ihn für eine Weile zu nehmen, während ich weg bin. Bess hat selbst eines im beinahe selben Alter. Es wird gut für Jacob sein, einen Spielkameraden zu haben.«
»Und wenn du stirbst?«
Die Frage krachte wie ein Beil in die Konversation und hackte sie entzwei. Ich spürte, wie meine Wangen brannten: vor Zorn oder vor Scham, wahrscheinlich beides. Ich war entrüstet, dass meine Mutter eine solche Sache so plump ansprach … und doch, mein Mann war in Vystrana gestorben. Es war nicht unmöglich, dass mir in Eriga dasselbe widerfahren würde.
In diese tote und drückende Stille kam ein Klopfen an der Tür, kurz darauf vom Butler gefolgt, der sich mit einem Serviertablett in der Hand verbeugte, um Judith eine Karte zu präsentieren.
Welche sie nahm, mechanisch, als sei sie eine Marionette und jemand ziehe an den Fäden an ihrem Arm. Die Verwirrung grub eine dünne Falte zwischen ihre Brauen. »Wer ist Thomas Wilker?«
Der Name hatte die Wirkung einer niedrigen, unbemerkten Schwelle am Straßenrand, erhaschte meinen mentalen Fuß und ließ mich beinahe vornüberfallen. »Thomas Wil… was will er denn hier?« Das Verständnis folgte verspätet und rettete mich vor dem Stolpern. Judith kannte ihn eindeutig nicht, meine Mutter genauso wenig, was nur eine Antwort übrig ließ. »Ah. Ich denke, er muss hier sein, um mich zu sehen.«
Judiths Haltung wurde zu einer steifen, aufrechten Linie, weil man so gesellschaftliche Besuche nicht durchführte. Ein Mann sollte nicht in einem Haus, das nicht ihres war, nach einer Witwe fragen. Ich nahm mir einen Moment, um zu bemerken, dass die Karte, die Judith auf das Serviertablett zurücklegte, keine richtige Visitenkarte war. Es schien ein Stück Papier zu sein, auf das Mr. Wilkers Name von Hand geschrieben stand. Noch schlimmer. Mr. Wilker war, genauer gesagt, kein Gentleman und sicher nicht die Art Person, die unter normalen Umständen hier zu Besuch kommen würde.
Ich tat, was ich konnte, um die Situation zu retten. »Ich entschuldige mich. Mr. Wilker ist ein Assistent des Grafen von Hilford – ihr werdet euch natürlich an ihn erinnern. Er ist derjenige, der die Expedition nach Vystrana organisierte.« Und er organisierte auch die nach Eriga, obwohl seine Gesundheit verhinderte, dass er uns begleitete. Aber welche Angelegenheit konnte so dringend sein, dass Lord Hilford Mr. Wilker zu mir ins Haus meines Bruders senden würde? »Ich sollte mit ihm sprechen, aber es ist nicht nötig, euch damit zu belästigen. Ich werde aufbrechen.«
Die ausgestreckte Hand meiner Mutter hielt mich auf, ehe ich aufstehen konnte. »Überhaupt nicht. Ich glaube, wir sind alle begierig darauf zu hören, was dieser Mr. Wilker zu sagen hat.«
»In der Tat«, sagte Judith schwach und gehorchte dem unausgesprochenen Befehl, der in die Worte meiner Mutter gewoben war. »Schicken Sie ihn herein, Londwin.«
Der Butler verbeugte sich und ging hinaus. Nach der Schnelligkeit, mit der Mr. Wilker erschien, musste er in dem Moment aufgesprungen sein, als man ihn hineinbat. In seiner Bewegung zeigte sich immer noch Aufgeregtheit. Aber er mühte sich schon lange, bessere Manieren zu pflegen als die, mit denen er aufgewachsen war, und so stellte er sich erst bei Judith vor. »Guten Morgen, Mrs. Hendemore. Mein Name ist Thomas Wilker. Es tut mir leid, dass ich Sie störe, aber ich habe eine Botschaft für Mrs. Camherst. Wir müssen einander auf der Straße übersehen haben. Ich habe sie nur knapp an ihrem Haus verpasst. Und ich fürchte, die Nachrichten sind so schlimm, dass sie nicht warten können. Man sagte mir, sie sei hier auf Besuch.«
Die knappe, beinahe unzusammenhängende Art, mit der er diese Worte verkündete, ließ mich vor Anspannung die Hände ballen. Mr. Wilker sah, wie es sich gehörte, nur Judith an, bis auf ein kurzes Nicken, als er meinen Namen sagte. Weil von ihm kein einziger Hinweis kam, tauschte ich stattdessen einen Blick mit meiner Mutter.
Was ich dort sah, verblüffte mich. Wir sind alle begierig darauf zu hören, was dieser Mr. Wilker zu sagen hat – sie dachte, er sei mein Liebhaber! Eine Übertreibung, vielleicht, aber sie hatte die Miene einer Frau, die nach Anzeichen einer unangemessenen Verbindung suchte und mit leeren Händen zurückblieb.
Zu Recht. Mr. Wilker und ich mochten nicht mehr so einen Kleinkrieg führen, wie wir es in Vystrana getan hatten, aber ich fühlte keine romantische Zuneigung zu ihm und er auch nicht zu mir. Unsere Beziehung war rein geschäftlich.
Ich wollte meine Mutter mit deutlichen Worten tadeln, weil sie solche Gedanken hegte, aber ich unterließ es. Nicht so sehr wegen der schieren Unangemessenheit, dieses Gespräch öffentlich zu führen, sondern weil mir einfiel, dass Mr. Wilker und ich in zwei geschäftliche Angelegenheiten involviert waren, von denen Eriga nur eine war.
Zum Glück gab Judith Mr. Wilker einen Wink, ehe ich unaufgefordert mit meinen Fragen herausplatzen konnte. »Bitte gerne, Mr. Wilker. Oder ist Ihre Botschaft vertraulich?«
Ich hätte diese Botschaft nicht für hundert Sovereigns vertraulich entgegengenommen, nicht mit den Verdächtigungen vonseiten meiner Mutter. »Bitte«, sagte ich. »Was ist passiert?«
Mr. Wilker atmete tief aus, und die Dringlichkeit wich mit einem Mal aus ihm und ließ ihn zusammengesunken und besiegt zurück. »Es gab einen Einbruch bei Kemble.«
»Kemble … oh nein!« Meine eigenen Schultern sanken ebenso wie seine nach unten. »Was wurde zerstört? Oder …«
Er nickte grimmig. »Gestohlen. Seine Notizen.«
Diebstahl, nicht Zerstörung. Jemand hatte gewusst, woran Kemble gerade arbeitete, und war entschlossen gewesen, es für sich selbst zu stehlen.
Ich ließ mich auf meinem Stuhl zusammensinken, jegliche damenhafte Würde lag mir nun fern. Frederick Kemble war der Chemiker, den Mr. Wilker angeheuert hatte – oder eher, den ich angeheuert hatte; das Geld kam von mir, obwohl das nicht für die Wahl des Empfängers galt –, um die Forschung fortzusetzen, die wir selbst vor drei Jahren in den Bergen von Vystrana gestohlen hatten. Forschung, die eine Methode dokumentierte, um Drachenknochen zu konservieren: eine bewundernswerte Substanz, stark und leicht, aber eine, die außerhalb eines lebenden Körpers schnell zerfiel.
Der Chiavorer, der diese Methode entwickelt hatte, war nicht der Erste gewesen, der es versucht hatte. Was als bloße Herausforderung in der Taxidermie begonnen hatte – geboren aus dem Sehnen der Jäger, aus den Drachen, die sie getötet hatten, Trophäen zu machen, und dem Sehnen der Naturkundler, Exemplare zum Studium zu konservieren –, war zu einem großen Rätsel für Chemiker geworden. Mehrere lieferten sich einen Wettstreit, um als Erster (so dachten sie) das Rätsel zu lösen. Trotz unserer besten Mühen, das Geheimnis um Kembles Arbeit zu bewahren, schien jemand davon erfahren zu haben.
»Wann?«, fragte ich, dann winkte ich die Frage als dumm ab.
»Letzte Nacht, und ich bezweifle, dass wir einen genaueren Zeitpunkt als das bekommen werden.« Mr. Wilker schüttelte den Kopf. Er wohnte in der Stadt und besuchte Kemble jeden Selemer gleich am Morgen. Diese Nachricht war so frisch, wie sie sein konnte, außer wenn Kemble den Eindringling gehört hätte und in seinem Nachthemd hinuntergegangen wäre, um nachzusehen.
Ich fragte mich mit plötzlichem Frösteln, was passiert wäre, wenn er das getan hätte. Wäre der Einbrecher geflohen? Oder hätte Mr. Wilker an diesem Morgen unseren Chemiker tot aufgefunden?
Solche Gedanken waren unnötig dramatisch – das warf ich mir zumindest vor. Ob sie es waren oder nicht, ich hatte nicht die Gelegenheit, bei ihnen zu verweilen, weil mich die scharfe Stimme meiner Mutter aus meinen Gedanken riss. »Isabella. Wovon um Himmels willen spricht dieser Mann?«
Ich zog einen schwachen Trost aus dem respektlosen Gedanken, dass sie zumindest keinen Hauch persönlicher Indiskretion aus der Botschaft, die Mr. Wilker überbracht hatte, lesen konnte. »Forschung, Mama.« Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf und erhob mich dann. »Nichts, was dich kümmern muss. Aber ich fürchte, ich muss diesen Besuch abbrechen. Es ist höchst wichtig, dass ich sofort mit Mr. Kemble spreche. Wenn ihr mich bitte entschuldigt …«
Meine Mutter stand ebenfalls auf und streckte eine Hand aus. »Isabella, bitte. Ich mache mir schreckliche Sorgen um dich. Diese Expedition, die du vorhast …«
Sie musste wirklich besorgt sein, wenn sie eine so persönliche Angelegenheit vor einem Fremden wie Mr. Wilker ansprach. »Wir werden später darüber sprechen, Mama«, sagte ich, obwohl ich so etwas nicht vorhatte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht zu vermeiden, dass ich mit Mama über irgendetwas sprach. »Das ist wirklich eine dringende Angelegenheit. Ich habe viel Geld in Mr. Kembles Arbeit investiert und muss herausfinden, wie viel ich verloren habe.«
Frederick Kemble – Synthese – Das Symposium – Lord Hilford – Natalies Aussichten – Zwei Wochen
Eine Einsiedlerin zu sein, ist nicht gut für die eigene Agilität in Konversationen: Ich war daran gewöhnt, über meine Worte nachzudenken, sie zu revidieren und in Schönschrift zu schreiben, ehe ich den finalen Entwurf meines Briefes an einen Empfänger schickte. Mein Kommentar erreichte sein vorgesehenes Ziel – sie ließ mich schließlich gehen, während Judiths höfliche Verabschiedung die peinlichen Lücken füllte –, aber meine Zufriedenheit wich schnell, als ich auf die Straße hinausging. »Ich fürchte, ich werde das bereuen«, gab ich vor Mr. Wilker zu, während ich an meinen Handschuhen zupfte.
»Ich denke nicht, dass Sie viel von Ihrem Geld verloren haben«, sagte er und hob seine Hand, um eine Kutsche auf ihrem Weg zum nächsten Taxistand aufzuhalten.
Seufzend zog ich seinen Arm nach unten. »Meine Kutsche ist auf der anderen Straßenseite. Nein, ich meine nicht die Investition. Die bereue ich nicht im Geringsten. Nur, dass ich davon etwas zu meiner Mutter gesagt habe. Sie ist fest entschlossen, in allem, was ich dieser Tage tue, schlechtes Urteilsvermögen zu sehen.«
Mr. Wilker antwortete nicht darauf. Obwohl wir mittlerweile ein herzlicheres Verhältnis hatten, pflegten wir nicht die Angewohnheit, unsere persönlichen Schwierigkeiten miteinander zu teilen. Er sagte: »Es ist aber nicht alles verloren. Kemble hat sein aktuelles Notizbuch gestern Abend mit nach oben genommen, damit er seine Ideen noch einmal durchlesen konnte, ehe er ins Bett ging. Seine Frau mag diese Gewohnheit zwar verwünschen, aber in diesem Fall hat sie sich als Gottesgeschenk erwiesen.«
(Für diejenigen meiner Leser, die bei derartig geringfügiger Blasphemie zusammenzucken: Ich muss Sie warnen, dass noch weitere kommen werden. In unserer Zeit in Vystrana mäßigte Mr. Wilker seine Wortwahl in meiner Anwesenheit, aber als wir einander vertrauter wurden, zeigte er eine beiläufige Gewohnheit, den Namen Gottes zu missbrauchen. Würde ich seine Sprache hier zensieren, würde es seinen Charakter falsch darstellen, und so bitte ich um Ihre Verzeihung für seine Offenheit und auch für meine. Keiner von uns war sehr religiös.)
Mrs. Kemble war keine missmutige Hausfrau. Sie arbeitete mit ihrem Gatten zusammen und kümmerte sich um die praktischen Aufgaben, wie Chemikalien zu bestellen und abzumessen, während er Stunden damit verbrachte, die Wand anzustarren und auf seinem mitgenommenen Bleistift herumzukauen, in theoretische Angelegenheiten verloren. Aber sie glaubte an eine Trennung von Arbeit und Alltagsleben, und ich – die ich, wie Sie bemerkt haben dürften, eher von Frederick Kembles Art bin – war dankbar für ihr Scheitern, ihm das abzugewöhnen.
Ich sagte genau das zu ihr, als wir bei Kembles Haus und Labor in Tamner Fields ankamen, und erhielt einen trockenen Blick, der die nervlichen Nachwirkungen des Einbruchs nicht gänzlich verbarg. »Ich schätze das, Mrs. Camherst, aber ich fürchte, ich konnte die Glaswaren nicht retten.«
»Kann ich es sehen?«, fragte ich. Mrs. Kemble führte uns in den Keller, der derzeitig halb finster war, weil das einzige Licht durch die Fenster auf Straßenhöhe hereinkam. Es reichte, um die Zerstörung zu zeigen: überall zersplittertes Glas und verbogene und zerbrochene Messinstrumente. Ein Chemikaliengestank hing in der Luft, obwohl die Fenster offen waren und ein Junge draußen an einer Pumpe drehte, um den Raum zu belüften. Man hatte nicht nur Kembles Notizen gestohlen. Man hatte außerdem getan, was man konnte, um seine weiteren Fortschritte zu verzögern.
Ich hielt mir mein Taschentuch vor meine Nase und sagte: »Mrs. Kemble, es tut mir so leid. Wenn Sie meinem Sekretär einen Brief senden, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen ersetzt wird, was Sie verloren haben. Es kann Ihren Seelenfrieden nicht wiederherstellen, aber …« Ich machte eine hilflose Geste. »Es kann zumindest die Glassachen ersetzen.«
»Das ist sehr gütig von Ihnen, Mrs. Camherst«, sagte sie freundlicher. »Kemble ist oben. Ich musste ihn aus dem Weg schaffen, während ich sortiere, was zerstört ist oder fehlt. Lucy wird Ihnen Tee machen.«
Mr. Wilker und ich gingen gehorsam nach oben in den Salon, wo wir feststellten, dass Frederick Kemble hektisch auf ein loses Blatt Papier kritzelte. Weitere waren über den Tisch und Boden verteilt, und Lucy, die letzte unverheiratete Tochter der Kembles, versuchte gerade, einen freien Platz zu finden, wo sie ein Tablett abstellen konnte, das nicht nur Tee, sondern auch einen Stapel leeres Papier enthielt. Sie sah uns hereinkommen und stupste ihren Vater am Ellenbogen. »Papa …«
»Nicht jetzt … lass mich …« Er zuckte auf eine Art mit dem Kopf, die, wie ich dachte, als Ersatz für ein Winken mit der Hand diente, weil seine echten Hände damit beschäftigt waren, Notizen zu machen.
Lucy zog sich auf unsere Seite zurück. »Was tut er da?«, fragte ich und wagte es nicht, meine Stimme über ein Murmeln zu erheben.
»Er schreibt alles auf, woran er sich erinnern kann«, sagte sie. »Aus den Notizbüchern, die gestohlen wurden.«
Nach drei Jahren Arbeit musste sich der Prozess, wie man Drachenknochen konservierte, ins Innere seiner Augenlider gebrannt haben. Ich hatte ihn mir eingeprägt, und ich war nicht einmal Chemikerin genug, um zu verstehen, was das meiste davon bedeutete. Was den Rest betraf … »Mr. Wilker sagte, dass das aktuellste Notizbuch nicht gestohlen wurde, nicht wahr? Solange wir das haben, sind die älteren Notizen nicht halb so wichtig.« Ein Großteil davon war jetzt obsolet und dokumentierte gescheiterte Experimente.
Lucy breitete ihre Hände aus. »Er sagt, selbst die alten Notizen sind wichtig – dass er sie gerne von Zeit zu Zeit durchliest.«
Sie ging hinaus, um weitere Teetassen zu holen, und dann setzten sich Mr. Wilker und ich ans gegenüberliegende Ende des Salons, um Lucys Bericht über den Einbruch und die bisherige Untersuchung zu hören. Als sie geendet hatte, war Kemble bereit, in seiner Arbeit innezuhalten und den Rest der Welt zu beachten.
»Wenn sie vor dem Sabbath gekommen wären …«, sagte er, eindeutig dankbar, dass sie das nicht getan hatten. Seine Tochter stellte ihm eine Tasse Tee hin, die er nahm und geistesabwesend leerte. »Ich bin am Eromer über dem Mittagessen die alten Notizbücher durchgegangen, und etwas dort erregte meine Aufmerksamkeit. Letztes Jahr, da habe ich …«
Mr. Wilker, der schon lange gelernt hatte, die Warnsignale zu erkennen, schnitt ihm das Wort ab, ehe er in ein Dickicht aus wissenschaftlicher Sprache abgleiten konnte, das ich nicht im Geringsten verstehen würde. Die Menge unseres kollektiven Wissens ist in meinem Leben so schnell gewachsen, dass es, obwohl ich als extrem gebildete Frau angesehen werde, ganze Felder gibt, in denen ich sehr wenig weiß, und Chemie ist eines davon. In meiner Jugend war es nicht Teil des Lehrplans für junge Damen, und mein Selbststudium war in andere Richtungen gegangen. Mr. Wilker lenkte unseren Chemiker daher auf Punkte, die mich, wie er wusste, interessieren würden. »Sie sagten heute Morgen etwas davon, ja. Es brachte Sie auf einen Gedanken?«
»Ich denke schon«, sagte Kemble. »Bisher ist es wirklich nur ein Gedanke. Man wird viel testen müssen. Aber ich habe vielleicht endlich eine Idee zur Synthese.«
Wäre das nicht das fünfte Mal gewesen, dass ich diese Worte aus seinem Mund hörte, wäre ich erfreuter gewesen. Das war immerhin der Grund, warum wir Kemble angeheuert hatten. Wir wussten, wie man Drachenknochen konservierte. Das war nicht länger eine Herausforderung. Aber Mr. Wilker und ich hatten, als wir die Angelegenheit drei Jahre zuvor diskutiert hatten, die Gefahr in diesem Wissen erkannt.
Ganz abgesehen vom Streben der Jäger, ihre Trophäen zu konservieren, und dem Streben der Naturkundler, ihr Exemplar in Ruhe post mortem zu studieren, machten die Eigenschaften von Drachenknochen sie attraktiv für andere Arten von Menschen. Ihre mechanischen Eigenschaften waren denen von Eisen und Stahl weit überlegen, sie waren sowohl leichter als auch stärker – und weil die leicht zugänglichen Eisenablagerungen in Anthiopien und anderen Teilen der Welt langsam ausgebeutet waren, wuchs der Wert einer Alternative jedes Jahr.
Ich könnte ausführlich die Nachteile der industriellen Nutzung von Drachenknochen aufzählen. Tatsächlich hatte ich zu dem Thema bereits einen Artikel vorbereitet, den ich kurzfristig an alle angesehenen Publikationen schicken konnte. Drachen waren sogar noch seltener als Eisen, und auch wenn es stimmte, dass sie sich reproduzierten (wofür Erz nicht bekannt war), so würde jede flächendeckende Nachfrage nach ihren Knochen zu einem Massaker, vielleicht sogar zu ihrer Ausrottung führen. Die unregelmäßige Form vieler Knochen machte sie wenig ideal für den Maschinenbau, was in einer großen Menge Abfall enden würde. Die Kosten und Mühen, sie aus toten Drachen (von denen viele in so fremden und entfernten Regionen wie denen, die noch reich an Eisen waren, lebten) zu ernten, machten das Projekt sicher nicht profitabler. Der Artikel umfasste mehrere Seiten, aber das gesamte Ding ging von einer fehlerhaften Annahme aus, welche war, dass Menschen die Angelegenheit vernünftig durchdenken würden, ehe sie ihre Entscheidungen trafen.
In Wahrheit würde die Idee Spekulanten anziehen, wie sich Aasgeier um ein totes Pferd scharen, bereit, die Knochen sauber zu nagen. Und falls ich versuchte, mir einzureden, dass ich übertrieb – dass ein solches Schreckensszenario nie eintreten würde –, dann musste ich nur den Kontinent von Eriga betrachten, wo der Reiz des Eisens mehrere Staaten aus Anthiopien dazu getrieben hatte, sich in die Angelegenheiten der dortigen Nationen einzumischen. Wenn Thiessin willens war, Djapa zu erobern, und Chiavora, eine Revolution in Agwi zu ermutigen, und Scirland, sich zwischen die Talu-Union und die militärische Macht der Ikwunde zu drängen, nur um fähig zu sein, neue Dampfmaschinen zu bauen, dann würden wir nicht zögern, einige dumme Bestien zu opfern.
Ich seufzte und trank meinen Tee aus. »Mit allem nötigen Respekt, Mr. Kemble, ich würde es beinahe begrüßen, wenn sich ein neues Augenpaar diese Angelegenheit ansieht. Ich habe absolutes Vertrauen, dass Sie dieses Rätsel lösen können, wenn Sie genug Zeit haben – aber die haben wir vielleicht nicht. Früher oder später wird irgendjemand hinter Rossis Methode kommen, selbst ohne Ihre Notizen. Wenn wir ein Chaos verhindern wollen, brauchen wir einen Weg, die Nachfrage nach dieser Substanz zu befriedigen, die nicht bedeutet, Drachen zu zerfleischen.«
»Ich bezweifle, dass wir so viel Glück haben«, sagte Mr. Wilker düster. »Mit den Augen, meine ich. Wie viele Leute werden sich so viel Mühe machen wie Sie und ich, nur um die Tiere zu verschonen? Wir töten schon Elefanten für ihr Elfenbein und Tiger für ihre Felle, und die sind nur dekorativ.«
Er hatte wahrscheinlich recht. Ich seufzte. »Dann sollten wir lieber hoffen, dass die Polizei das Notizbuch findet – und das ist eine kleine Hoffnung. Haben wir irgendeinen Verdacht, wer es gestohlen hat?«
Nach dem grimmigen Schweigen, das folgte, fing die Antwort mit »Ja« an und wurde dann schlimmer. Mr. Wilker antwortete finster. »Sie wissen vom Symposium, denke ich.«
Eine Versammlung von Gelehrten, veranstaltet vom Philosophenkolloquium, dem höchsten wissenschaftlichen Gremium in Scirland. Mr. Wilker war nicht dazu eingeladen worden, weil er kein Gentleman war. Ich war ebenfalls nicht eingeladen, weil ich, wenn auch von hochgestellter Geburt, kein Mann war.
Aber wir kannten jemanden, der beide dieser Voraussetzungen erfüllte. »Falls es einer der Besucher war, könnte Lord Hilford das vielleicht herausfinden.«
»Er wird nicht viel Zeit haben«, sagte Kemble und erwachte aus der Träumerei, in die er so häufig versank. »Endet das nicht diese Woche?«
Das tat es, und dann würden die Gelehrten in ihre Heimatländer zurückkehren. »In der Tat. Dann, schätze ich, weiß ich, was ich mit meinem Nachmittag anfangen werde.«
Ich stand an der Tür zu Lord Hilfords Stadthaus, ehe ich daran dachte, dass ich versprochen hatte, meinen angeheirateten Verwandten einen Besuch abzustatten. Ich klopfte trotzdem an der Tür, weil ich dachte, ich könnte den Grafen bitten, dass er mich ihnen eine Nachricht schicken ließe. Wie sich herausstellte, war er von einem Vortrag noch nicht wieder zu Hause, und so hatte ich mehr als genug Zeit, während ich im Salon auf ihn wartete.
Wenn Sie nun denken, dass ich genug Zeit gehabt hätte, um mein Versprechen einzulösen, liegen Sie mehr oder weniger richtig. Die Camhersts wohnten nicht weit von Lord Hilford entfernt am Mornetty Square, und es hätte nicht mehr als zwanzig Minuten gedauert, bis ich dort und wieder zurück gewesen wäre. Aber ich wusste nicht, wie lange sie mich aufhalten würden, und es war von äußerster Wichtigkeit, dass ich Lord Hilford so schnell wie möglich über den Einbruch bei Mr. Kemble unterrichtete. Wenn irgendein Besucher des Kolloquiums hinter dieser Untat steckte, hatten wir sehr begrenzte Zeit, um etwas herauszufinden, und noch begrenztere Zeit, in der wir etwas unternehmen konnten.
Das redete ich mir zumindest ein. Zu meiner Mutter hatte ich gesagt, dass Matthew, mein Schwager, zugestimmt hatte, den kleinen Jacob aufzunehmen, während ich fort war, aber ich hatte es unterlassen, seinen fehlenden Enthusiasmus für den ganzen Plan zu erwähnen. Seine Frau störte sich nicht an der temporären Aufnahme eines Kindes, aber Matthew störte sich sehr an der Möglichkeit, dass sie ihn für immer behalten mussten. Vielleicht war sogar er es gewesen, der das Geheimnis unserer Expedition nach Eriga ausgeplaudert hatte, sodass meine Mutter es hören konnte. Durch meine morgendliche Konfrontation und die schrecklichen Nachrichten über den Einbruch war ich ausgelaugt und nicht in der Stimmung, mich irgendwem zu stellen, den ich nicht als guten Freund betrachtete.
Deshalb schrieb ich eine Entschuldigung und ließ sie von Lord Hilfords Laufburschen zum Mornetty Square bringen. Dann presste ich meine Hände in ihren Handschuhen zusammen, marschierte besorgt auf und ab und machte Hunderte verschiedene (und unnütze) Pläne, bis Lord Hilford nach Hause kam.
Als ich seine hallende Stimme im Empfangsbereich hörte, machte ich mir nicht die Mühe, im Salon zu warten. Er sah mich, als ich durch die Tür kam, und hob seine weißen, buschigen Augenbrauen. »Nicht, dass es keine Freude ist, Sie zu sehen, Mrs. Camherst – aber ich schließe aus Ihrer Miene, dass, was auch immer Sie hierherbringt, nichts Gutes ist.«
»Das ist es nicht«, bestätigte ich und erklärte es, während er sich seines Mantels und Hutes entledigte. Seinen Gehstock behielt er. Über die Jahre war dieser weniger zu einem Accessoire als zu einer Notwendigkeit geworden, weil sein Rheuma schlimmer wurde. Lord Hilford folgte mir in den Salon und ließ sich mit einem Seufzen auf einen Sessel sinken.
»Hmmm«, sagte er, als ich fertig war. »Da frage ich mich, ob jemand in Vystrana gewesen ist. Ich habe von Iljish nichts aus Drustanev gehört, aber Sie wissen ja, wie die Post ist. Und jemand könnte an ihnen vorbeigeschlichen sein.«
Die Dorfbewohner sollten die große Höhle vor neugierigen Besuchern schützen. Es waren die konservierten Drachenknochen in jenem riesigen Friedhof, die den ersten Hinweis auf die Rolle von Säure in diesem Prozess gegeben hatten. »Wir haben im Buch nichts davon erwähnt«, erinnerte ich Lord Hilford und bezog mich auf die Monografie, die wir nach jener Expedition veröffentlicht hatten. »Nur dass die Drachen ihre verstorbenen Verwandten zerrissen und die Stücke zu einer bestimmten Höhle brachten. Niemand konnte daraus Konservierung vermuten – und man könnte auch nicht die Höhle finden.«
Das Abwinken des Grafen erinnerte mich daran, dass ich nichts sagte, was er nicht bereits wusste. »Trotzdem ist es eine Möglichkeit, und zwar eine, die wir in Erwägung ziehen müssen. Eine andere Möglichkeit: Kemble hat geplaudert.«
»Wenn er geplaudert hätte, hätten sie dann sein Labor zerstört?«, fragte ich entrüstet. Dann sah ich den Fehler in meiner eigenen Logik. »Ah. Sie beschuldigen ihn nicht, dass er das Geheimnis verkauft hätte, sondern nur, dass er einen Hinweis ausgeplaudert hat, der jemand anderem hätte erlauben können zu erraten, was er tut.«
»Jeder von uns hätte das tun können«, gab Lord Hilford zu. »Einschließlich mir selbst. Ich würde gerne glauben, dass ich diskret bin, aber … na ja. Gelehrte trinken wesentlich mehr, als man glauben würde, und ich vertrage nicht mehr so viel wie früher.«
Ich dachte, dass zumindest ich wohl kaum unser Geheimnis verraten hatte. Nicht wegen irgendeiner speziellen Tugendhaftigkeit, sondern aus Mangel an Gelegenheit. Ich sprach kaum mit irgendwem, der es nicht bereits wusste. Aber es würde nichts bringen, das zu sagen, also fragte ich nur: »Gibt es unter den Besuchern des Kolloquiums irgendjemanden, den Sie verdächtigen würden? Oder unter seinen Mitgliedern?«
Lord Hilford schnaubte. »Mehrere, leider. Es gibt einen hinterhältigen Marñeokerl, dem ich nicht im Geringsten vertraue. Er wurde beschuldigt, die Forschung anderer Leute als seine eigene auszugeben. Guhathalakar gibt offen zu, dass er am Problem der Konservierung arbeitet. Niemand in der Bulskoidelegation tut das, aber sie haben mehr Gelegenheit als die meisten anderen, in Vystrana herumzuschnüffeln. Die Hingesen … Es tut mir leid, Mrs. Camherst, aber ohne mehr, auf das ich mich stützen kann, kann ich nur raten.«
»Nun, Mr. Wilker ist immer noch bei Kemble, und sie haben mit der Polizei gesprochen. Wir können auf irgendeine Spur hoffen.« Ich stand auf und ging wieder auf und ab, während ich meine Finger ineinander verkrampfte. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, um die Forschung zu beschleunigen. Geld hilft nur bis zu einem gewissen Punkt, es kann nicht dafür sorgen, dass Frederick Kembles Gehirn schneller arbeitet.«
»Kümmern Sie sich um Ihre eigene Forschung«, sagte Lord Hilford auf sehr vernünftige Weise. »Sie finden dort vielleicht etwas Nützliches. Oder falls nicht, dann ist jedes bisschen, das wir über Drachen wissen, ein weiteres bisschen, das wir nutzen können, um sie zu schützen. Aber, ach … wenn ich von einem nervenaufreibenden Thema auf ein weiteres kommen darf …«
Das reichte, um meine rastlose Bewegung zu stoppen. Ich versuchte, mich an das letzte Mal zu erinnern, als ich den Grafen so besorgt gehört hatte, und mir fiel nichts ein. Als ich mich umdrehte und ihn ansah, kaute er auf dem herabhängenden Ende seines Schnauzers herum. Ich wartete, aber er sprach nicht. »Oh, heraus damit!«, sagte ich letztlich ziemlich scharf. »Meine Nerven werden nicht weniger strapaziert, wenn ich gezwungen bin zu warten.«
»Natalie«, sagte er widerwillig. »Oder eher ihre Familie.«
Seine Enkelin war normalerweise nicht das Thema irgendwelcher Spannungen. Genauso wenig war es ihre Familie, aber … »Lassen Sie mich raten.« Ich seufzte. »Man hat beschlossen, dass ich keine geeignete Gesellschaft für sie bin. Na ja, alle anderen in Scirland sind zu derselben Ansicht gekommen. Ich bin keine geeignete Gesellschaft für irgendwen.«
»Das ist es nicht ganz. Sie halten Sie für exzentrisch, ja, aber größtenteils harmlos. Das Problem ist, dass eine Exzentrikerin keine gute Gesellschaft für eine unverheiratete junge Dame ist – nicht, wenn sie vorhat, diesen Zustand zu ändern.«
Ich starrte ihn überrascht an. »Aber Natalie ist erst …« Meine Rechnung holte meine Worte ein und ließ mich verstummen. »Beinahe zwanzig«, endete ich schwermütig. »Ich verstehe.«
»Genau.« Lord Hilford seufzte ebenfalls und betrachtete den Knauf seines Spazierstocks genauer, als er verdiente. »Und so ist ihre Familie felsenfest überzeugt, dass sie Sie nicht auf diese Expedition begleiten sollte. Sie werden wahrscheinlich mindestens sechs Monate unterwegs sein, eher noch mehr. Es wäre fatal für ihre Heiratsaussichten. Alte Jungfern und so. Ich habe mit ihnen diskutiert, das habe ich wirklich.«
Ich glaubte ihm. Lord Hilford hatte fortschrittliche Ansichten darüber, was Damen tun durften, und außerdem vergötterte er Natalie. Aber am Ende war er nicht der Vormund seiner Enkelin. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Sie weiß, wie ihre Familie denkt. Ich hatte gehofft, Sie könnten vielleicht an sie herantreten – von Frau zu Frau, Sie wissen schon – und sehen, ob Sie sie mit der Situation versöhnen können. Man hat nicht vor, sie an irgendeinen ungehobelten Kerl zu ketten.«
Wenn sie aber nicht bald einen Mann für sich finden würde, hätte sie wohl Schwierigkeiten, irgendeinen außer einen ungehobelten Kerl zu finden. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Lord Hilford klang erleichtert. »Danke. Sie werden sich aber beeilen müssen. Ich hatte vor, Ihnen heute Nachmittag zu schreiben, aber jetzt kann ich es Ihnen persönlich mitteilen: Der Zeitplan hat sich gestrafft. Können Sie und Wilker in zwei Wochen zum Aufbruch bereit sein?«
Hätte ich etwas in der Hand gehabt, ich hätte es fallen lassen. »Zwei Wochen?«
»Wenn Sie es nicht schaffen, dann sagen Sie es. Aber das könnte eine weitere Verzögerung bedeuten. Es wird eine Veränderung im Außenministerium geben, und der neue Kerl ist nicht besonders scharf auf Reisende nach Nsebu, nicht bei den Unruhen in dem Gebiet.«
»Unruhen?«, fragte ich scharf, während mir die Kommentare meiner Mutter in den Sinn kamen.
»Ach, ja – das hat die Zeitungen noch nicht erreicht«, sagte Lord Hilford. »Ich hatte es von unserem Mann im Außenministerium. Eine Gruppe königlicher Ingenieure geriet in einen Hinterhalt, während sie das Südufer des Girama kartierten – dieses Territorium sollte völlig unter unserer Kontrolle stehen. Anscheinend hat sich Eremmo unter dem Joch von Ikwunde ausreichend beruhigt, dass der Inkosi wieder anfängt, nach außen zu blicken. Das macht gewissen Leuten einige Sorgen.«
Das sollte es auch, angesichts der militärischen Erfolge, die Ikwunde in den letzten fünf Jahren unter einem kriegerischen Inkosi nach dem anderen genossen hatte. Trotzdem hatte ich Vertrauen in unsere Soldaten dort. Und abgesehen davon war die Flussregion zwischen Bayembe und Eremmo von Nsebu aus ganz klar auf der anderen Seite des Landes. »Ein Schrecken nach dem anderen«, seufzte ich. »Ich fange an zu glauben, dass diese Expedition nie stattfinden wird.«
»Das wird sie, Mrs. Camherst, wenn wir schnell genug handeln. Ansonsten werden wir den neuen Kerl überreden müssen.«
Wir hatten bereits Monate damit verbracht, den vorherigen Kerl zu überreden. Ich ging im Geiste den Zustand meiner Geschäfte durch und unterdrückte den wenig damenhaften Drang zu fluchen. Ich hatte darauf gezählt, dass Natalie meine Begleiterin auf dieser Reise sein würde. Wäre es schlimmer, alleine zu reisen – und dann auch noch mit einem unverheirateten Mann – oder kurzfristig irgendeine andere Frau zu finden? Oder eher, wäre es schlimmer, Letzteres zu ertragen, anstatt die Konsequenzen von Ersterem auszuhalten?
Jedenfalls konnte das keinen Einfluss auf meine Antwort an Lord Hilford haben. »Ich kann bereit sein, ja. Sie werden Mr. Wilker selbst fragen müssen.«
»Ich weiß, was Tom sagen wird.« Der Graf hob sich aus seinem Sessel. »Dann sind es zwei Wochen. Ich bin sicher, Sie müssen sich nun vorbereiten. Und inzwischen werde ich mir die Sache mit diesem Einbruch ansehen.«
Natalies Schwingen – Die Vorteile eines Gatten – Versprechen halten – Damen beim Abendessen – Lord Canlan
Miss Oscott ist hier«, informierte mich ein Bediensteter, als ich nach Hause zurückkehrte. »Ich glaube, sie ist in Ihrem Studierzimmer, Ma’am.«
Natalie. Ich hätte es vorgezogen, mein Versprechen an Lord Hilford zu verzögern, aber wenn ich in zwei Wochen aufbrechen sollte, konnte ich mir die Zeit einfach nicht nehmen. »Danke«, sagte ich abwesend und ging hinauf.
Mein Studierzimmer war einst das Studierzimmer meines Mannes gewesen. Die Bediensteten hatten es noch gute zwei Jahre nach seinem Tod das Studierzimmer genannt. Es war nicht die Art Zimmer, die Frauen normalerweise für sich beanspruchten. Aber letztlich hatte sich ihre Ausdrucksweise geändert. Ohne Zweifel war das zum größten Teil dank der Menge an Zeit, die ich dort verbrachte, oft in Gesellschaft von Natalie Oscott.
Sie war tatsächlich dort und heftete ein Blatt Papier auf die Korktafel, die wir zu diesem Zweck dort aufgehängt hatten. »Oh, lieber Himmel, Natalie!«, sagte ich, als ich sah, was darauf gezeichnet war. »Das schon wieder?«
»Ich habe es verbessert.« Sie grinste mich über ihre Schulter an. »Mit Ratschlägen von einem Enthusiasten in Lopperton. Er glaubt, ich bin ein Kerl namens Nathaniel – ich kann sehr gut die Handschrift eines Jungen nachahmen, wenn ich mich darauf konzentriere. Das kommt davon, weil ich die Arbeitshefte meiner Brüder fälschen musste, wenn sie die Übungen nicht geschrieben hatten, die uns unser Tutor aufgegeben hatte. Was denkst du?«
Auf dem Blatt Papier war ein großes Diagramm, dessen Vorgänger ich mehrmals zuvor gesehen hatte. Ein Flügel breitete sich über die Seite aus, wobei Maße sorgfältig eingezeichnet waren, und es gab Anmerkungen, die ich von da, wo ich stand, nicht lesen konnte. Selbst aus der Entfernung aber war ein Unterschied offensichtlich. »Sind die Flügel geschwungen?«, fragte ich, trotz allem neugierig.
»Ja, er glaubt, dass das besser funktionieren würde als eine gerade Linie. Und er schlug auch eine Änderung an den Gurten vor, die er selbst ausprobieren will, sobald er sie angefertigt bekommen kann.«
Um ganz ehrlich zu sein, hielt ich sie beide für verrückt. Wahrlich, wie ich im vorherigen Band meiner Memoiren betont habe, ich war von Drachenflügeln besessen, seit ich ein kleines Kind war, und der Gedanke, fähig zu werden, sich ihnen am Himmel anzuschließen, war reizvoll. Aber ein menschliches Wesen kann auf keinen Fall die Stärke an Brustmuskeln erreichen, die nötig ist, um mit dem Schlagen künstlicher Flügel zu fliegen – was Natalies erste Idee gewesen war. Das Beste, worauf man (oder sie) hoffen durfte, war Segeln, und selbst da hatte ich meine Zweifel.
Aber Natalie fand die Idee eine spannende Herausforderung. Für sie war das Rätsel intellektueller Natur: War es möglich, ein solches Ding zu konstruieren? Bei der Verfolgung dieser Frage hatte sie sich viel über Mathematik beigebracht, wovon ich das meiste überhaupt nicht verstand. Sie war auch in Korrespondenz mit anderen getreten, denn sie war nicht die Einzige mit einem Interesse an dieser Angelegenheit.
Natalie hatte bisher noch nicht versucht, irgendeinen ihrer Entwürfe zu konstruieren oder zu testen, wofür ich dankbar war. Obwohl mich mein Gatte die Königin des derangierten Pragmatismus nannte, weil ich Ideen in die Praxis umsetze, an die andere nicht im Traum denken würden, habe selbst ich meine Grenzen. Diese Grenzen liegen vielleicht, wie diese Geschichte zeigen wird, weiter draußen, als ich behaupte (und ehrlich glaube) – aber ich weiß das nie, bis ich sie überschreite. Und das tue ich ausnahmslos unter Umständen, in denen das Weitergehen die einzig machbare Handlung scheint. Erst im Nachhinein wird dieser »derangierte« Teil des »derangierten Pragmatismus« offensichtlich.
Außerdem war ich bei der Narrheit anderer weniger optimistisch und hätte nicht gerne gesehen, wie sich meine liebste Kameradin den Hals brach. Natalie war seit Jacobs Tod ein großer Quell des Trostes für mich gewesen. Mein Herz sank noch mehr, als ich daran dachte, dass ich sie nicht nach Nsebu mitnehmen konnte.
Sie sah meine entglittene Fassung, aber erkannte die Ursache nicht. »Ich verspreche dir, Isabella – ich habe nicht vor, meine eigenen Knochen der brüchigen Gnade der Physik zu unterwerfen. Zumindest nicht, bis Mr. Garsell genug eigene Tests durchgeführt hat, um mir zu versichern, dass der Entwurf funktioniert.«
»Das ist es nicht.« Ich seufzte und ging zu meinem Schreibtisch – einst Jacobs Schreibtisch – vor den breiten Fenstern, die den Garten überblickten. Die Tischplatte war voll mit Büchern und einzelnen Seiten, wobei mein konservierter Funkling Grünie Wache über allem stand. Ich hatte dem Hausmädchen verboten, dort irgendetwas zu berühren, selbst zum Abstauben. Karten von Eriga, Reiseberichte, der Entwurf eines Artikels, bei dem ich Lord Hilford vielleicht bitten wollte, ihn unter seinem eigenen Namen einzureichen. Das Kolloquium würde keinen Artikel von einer Frau akzeptieren.
Vielleicht war es die Erinnerung an die Anforderungen des Kolloquiums, die meine Stimme bitterer klingen ließ, als ich es wollte. »Ich habe heute mit deinem Großvater gesprochen. Über deine Familie.«
»Oh!« Dieses eine Wort hätte fast ein Ventil sein können, das all die Luft und Vitalität entweichen ließ, die Natalie so lebhaft gemacht hatten.
Ich ließ mich auf das vertraute Leder meines Stuhls sinken. »Dann weißt du es. Sie wollen nicht, dass du nach Eriga reist.«
»Sie wollen, dass ich hierbleibe und einen Mann finde. Ja.« Natalie drehte sich um und ging ein paar Schritte auf und ab. Ihre fehlende Begeisterung war so offensichtlich, dass ich sie erkennen konnte, ohne ihr Gesicht zu sehen. »Es muss nicht schlimm sein, Natalie. Du hast deinen Großvater auf deiner Seite, und nach dem, was du mir erzählst, versteht deine Familie deine Interessen zumindest einigermaßen. Mein Vater konsultierte einen Heiratsvermittler, der ihm eine Liste mit unverheirateten Männern zusammenstellte, die vielleicht ihre Bibliotheken mit mir teilen würden. Ich bin mir sicher, dass du weiter gehen und einen Gatten für dich finden kannst, der dich in deiner Arbeit unterstützen würde.«
»Vielleicht.«
Sie klang nicht überzeugt. Ehe ich aber die Worte finden konnte, um mein Argument zu entwickeln, sprach Natalie wieder. »Es ist eine unhaltbare Situation, das weiß ich. So oder so, ich muss von irgendjemandem abhängig sein. Wenn nicht von einem Ehemann, dann von einem meiner Brüder oder …« Sie hielt inne. »Das kann ich nicht von ihnen verlangen. Aber wie viel weniger kann ich es von einem Fremden verlangen?«
Ich hatte dieses oder nicht überhört. Sie hatte beinahe eine dritte Option aufgelistet und war verstummt. Ich konnte mir denken, warum. Anstatt es aber direkt anzusprechen, fragte ich: »Willst du denn keinen Ehemann? Angenommen, du könntest einen guten bekommen.«
Sie stand ganz still. Ich glaube, sie dachte über meine Worte nach. Dann drehte sie sich zu mir um und antwortete im Tonfall von jemandem, der seine wahre Antwort bis zu diesem Moment nie realisiert hat. »Nein«, sagte Natalie. »Ich will keinen.«
»Nicht für deine Sicherheit«, beharrte ich. Zu dieser Zeit hatte sich die Bewegung zur Unabhängigen Tugend noch nicht gebildet, aber man begann, über ihre Argumente zu sprechen, in hastigem, halb skandalösem Flüstern. Wenn eine Frau ihre ehelichen Gefälligkeiten gegen finanzielle Unterstützung eintauschte, machte das die Ehe nicht zu einer Form der Prostitution? »Aber für eine Kameradschaft oder Liebe oder …« Jetzt war ich an der Reihe, vor meinen letzten Worten zu verstummen.
Natalie errötete, doch sie antwortete mir. »Nicht für irgendetwas davon. Ich begrüße natürlich die Freundschaft mit Männern. Aber eine Geburt ist gefährlich, und das Muttersein würde zu viel von meiner Zeit beanspruchen, und ich habe kein Interesse an der … äh … Aktivität um ihrer selbst willen. Was bleibt dann noch?«
Wirklich sehr wenig. Außer vielleicht ein Ende der Nörgelei ihrer Familie – und das konnte man auf mehr als eine Art erreichen.
Es wäre weiser gewesen, wenn ich abgewartet hätte, bis ich den Zustand meiner eigenen Finanzen abgeklärt hätte. Aber ich sollte in zwei Wochen nach Nsebu aufbrechen und hatte keine Lust, meine Zeit oder die von Natalie mit den falschen Vorbereitungen zu verschwenden. »Wenn du schon von jemandem abhängig sein musst«, sagte ich, »und wenn es dein Gewissen zulässt, dann sei abhängig von mir. Witwen nehmen sich oft Gesellschaftsdamen, und du warst in den vergangenen paar Jahren schon beinahe meine, und ganz sicher warst du eine liebe Freundin. Wir könnten es auch offiziell machen.«
Dass ihr kurz der Atem stockte, sagte mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Trotzdem protestierte sie. »Ich könnte dir das nicht antun, Isabella. Wenn ich nicht heirate, werde ich für immer eine Bürde sein. Was, wenn du es dir anders überlegst, vielleicht in zwei oder zehn oder zwanzig Jahren? Es könnte unsere Freundschaft vergiften, und das würde ich mir nie wünschen.«
Ich lachte locker und versuchte, die verzweifelte Anspannung in ihrem Blick zu lösen. »Für immer eine Bürde? Blödsinn! Bleib bei mir, und ich werde dich auf ein Leben als eine unabhängige und exzentrische alte Jungfer vorbereiten, unterstützt, wie du es willst, durch deine Bildung und deine Feder. Andere Damen haben das schon früher getan.«
Nicht viele und noch weniger in den Feldern, von denen Natalie erwiesenermaßen angezogen wurde. Historische Forschung war Frauen eher gestattet als das Entwerfen verrückter Segelschwingen. Aber ich hatte mich dazu entschlossen, mein eigenes Leben so zu führen, wie es meine Neigungen verlangten, und das darüber hinaus mit solchem Eifer zu tun, dass die Gesellschaft es mir nicht verwehren konnte. Es wäre höchste Heuchelei gewesen, wenn ich nun Natalie weiblichen Gehorsam gepredigt hätte. Sie kannte die Hindernisse und den Preis: Sie hatte gesehen, wie ich lebte.
Nach dem wachsenden Leuchten in ihren Augen zu schließen, waren die Hindernisse trivial und der Preis nicht einmal erwähnenswert. Ihr Mund sprach immer noch Proteste aus, aber das lag nur an ihrer Bindung an die Logik. »Meine Familie wird sich nicht leicht überzeugen lassen, fürchte ich. Wirklich nicht.«
»Dann hast du zwei Möglichkeiten.« Ich stand hinter meinem Schreibtisch auf. Zu dieser Tageszeit würde mir das Licht durch die Fenster hinter mir eine Art Heiligenschein verleihen. Ich war mir nicht zu schade dafür, dies für einen dramatischen Effekt auszunutzen. »Du kannst in Scirland bleiben und daran arbeiten, sie zu überzeugen, und ich werde dich an meiner Seite begrüßen, sobald das erledigt ist. Oder du kannst sie über deine Intentionen unterrichten, mit mir in zwei Wochen nach Nsebu aufbrechen und sie es alleine durchkauen lassen.«
»Zwei Wochen?«, sagte Natalie mit erstickter Stimme. »Du brichst in … oh, aber …«
Ich wartete. Meine Worte waren aufrichtig. Ich würde ihre Gesellschaft begrüßen, ob sie sich mir jetzt anschloss oder auf meine Rückkehr nach Scirland wartete. Es wäre nicht gerecht, ihr meine Präferenz aufzuzwingen.
Außerdem kannte ich sie gut genug, um ihre Antwort zu erraten. Natalie streckte ihre Schultern und hob ihr Kinn. »Ich habe versprochen, mit dir nach Eriga zu kommen«, sagte sie. »Eine Dame sollte ihre Versprechen halten. Ich werde sofort meine Familie informieren.«
Ich hatte Maxwell Oscott, den Grafen von Hilford, nie für einen Sadisten gehalten. Die Methode seiner Wahl aber, um den Dieb auszuräuchern, ließ mich die Angelegenheit neu überdenken, und die Schlüsse kamen ihm nicht zugute.
Das Symposium, dessen Besucher unsere wahrscheinlichsten Verdächtigen umfasste, sollte, wie Mr. Wilker gesagt hatte, in dieser Woche enden. Weil die Polizei in ihrer Durchsuchung von Mr. Kembles Labor nichts Nützliches entdeckt hatte, entschloss sich Lord Hilford zu einer direkteren Methode, nach dem Schuldigen zu suchen, die darin bestand, alle zum Abendessen einzuladen und zu sehen, ob irgendjemand zuckte.