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Sich im Alter ladylike in sein Schicksal bescheiden? Von wegen. Lore und ihre Freundin Anneliese wollen mit 73 noch etwas erleben. Jetzt, wo Männer und Kinder glücklich aus dem Haus geschafft sind, gründen sie eine Frauen-WG. Und sie brechen noch einmal auf, zu einer Reise durch Deutschland.
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Seitenzahl: 257
Ingrid Noll
Ladylike
Roman
Die Erstausgabe
erschien 2006 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration:
Grant Wood, ›Daughters of Revolution‹,
1932 (Ausschnitt)
Copyright © 2012 ProLitteris, Zürich/
Cincinnati Art Museum,
The Edwin and Virginia Irwin Memorial
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23596 8 (11. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60035 3
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Ich hatte immer eine Nagelfeile im Auto liegen. Bei jedem Stau, vor jeder roten Ampel habe ich mir einen anderen Finger vorgeknöpft. Niemals habe ich Zeit vergeudet, immer war ich in Eile und bei allen meinen Tätigkeiten schneller als andere.
Heute ist es damit vorbei. Und wenn es mir schon schwerfällt, meine diversen Alterserscheinungen gelassen hinzunehmen, so trifft mich der Verlust meines Tempos am härtesten. Meine Tage sind zu kurz, um alles zu erledigen, was ich mir vorgenommen habe. Meine Lebenszeit reicht nicht mehr aus, um alle Bücher zu lesen, die in der Warteschleife liegen, um eine neue Sprache zu lernen oder um alle Leichen im Keller zu entsorgen. Und doch treibt mich so vieles um, selbst die zartesten Düfte können an bittere Kränkungen erinnern.
Wahrscheinlich sind die prächtig blühenden Fliederbüsche gerade wegen ihrer vergänglichen Pracht so beliebt; kaum freut sich die wintermüde Seele an den weißen, lila oder violetten Dolden, am süßlichen Geruch, an Vasen voll üppiger Zweige, da [6] beginnt es schon zu rieseln. Erst sind es nur zarte blaßblaue Sterne, die auf die Gartenwege wehen, dann regnen sie massenweise herunter und kleben am Ende braun wie Teeblätter an unseren Schuhsohlen. Schließlich lassen nur noch dunkle Samenstände an den stets zu kurzen Frühling denken.
Bis zu jenem verhängnisvollen Abend vor 24 Jahren liebte ich blühenden Flieder und hielt unsere Ehe für stabil; ich schmiedete gerade Pläne für eine große Feier zu unserer Silberhochzeit.
Naturgemäß hatten Udo und ich uns im Laufe der Jahre verändert, aber wie hatten sich erst die Zeiten gewandelt! Die prüden Nachkriegsjahre, in denen wir uns kennengelernt hatten, sind heute so gut wie vergessen, viele junge Leute leben ohne Trauschein zusammen. Als wir uns 1963 Das Schweigen von Bergman ansahen, waren wir schockiert. Nach und nach dachten wir über viele Dinge anders als in früheren Jahren, trennten uns von Vorurteilen und besuchten im Urlaub sogar den Sylter Nacktbadestrand. Als die 68er revoltierten, fühlten wir uns schon zu alt, um uns noch für die umstürzlerischen Ideen der Studenten, und sei es bloß für die freie Liebe, begeistern zu können. Erst viel später erkannte ich, wie groß der Sexualneid in Udos Generation auf die später Geborenen war, wie sehr diese Männer darunter litten, daß sie in ihrer Jugend [7] bereits zum Establishment gehört und mehr oder weniger stets mit derselben gepennt hatten.
Jener Sonntag im Mai, als ich den Fliederduft zum letzten Mal mit leichtem Herzen einatmete, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir saßen abends auf der Terrasse, denn es war noch hell und warm.
»Eigentlich sollten wir wieder einmal eine Waldmeisterbowle ansetzen«, überlegte ich, als mir plötzlich bewußt wurde, daß ich seit einer Stunde die Alleinunterhalterin war. Mein Mann hatte die ganze Zeit ins Leere gestarrt. Das war allerdings nichts Besonderes, wenn er durch berufliche Probleme stark in Anspruch genommen wurde.
Unvermutet begann er jedoch zu sprechen, und mir dämmerte, daß ihn die Maibowle nicht im geringsten interessierte.
»Ich muß dir etwas sagen, Lore«, begann er.
»Der Flieder ist fast abgeblüht, wie schade«, unterbrach ich ihn, denn ich hatte die Gefahr durch den veränderten Klang seiner Stimme erkannt. Um den Lauf des Schicksals noch für ein paar Minuten anzuhalten, holte ich einen Handfeger aus der Küche und kehrte die abgefallenen Blüten von der Wachsdecke des Gartentischs.
Doch dann gab es kein Entrinnen mehr, ich mußte mir alles anhören. Udo forderte die Scheidung, weil [8] er eine wesentlich jüngere Frau ehelichen wollte; sie war schwanger.
Nur nicht heulen, dachte ich. Alles wird wieder gut. Nur nicht provozieren und seinen Trotz hervorrufen. Vernünftig bleiben. Wir haben bis jetzt noch alle Krisen überstanden. Er wird bald einsehen, daß er mich nicht einfach umtauschen kann. Sachlich bleiben, jetzt auf keinen Fall mit Porzellan herumschmeißen. Vielleicht sollte unser Christian seinem Papa mal die Leviten lesen!
»Ein Kind ist heutzutage kein Heiratsgrund mehr«, versuchte ich den ersten zaghaften Einwand.
Er schaute auf. »Für dich vielleicht nicht«, sagte er, »aber sie stammt aus einer erzkatholischen Bauernfamilie, da ist ein uneheliches Kind nach wie vor eine Schande.«
In diesem Fall kam auch keine Abtreibung in Frage. Lange war ich still. Meine Wut auf die fromme Bauerntochter, die sich einen Familienvater als Geliebten erkoren hatte, steigerte sich zusehends. Ich kannte Udo schon seit einer Ewigkeit, er war meiner Meinung nach alles andere als ein stürmischer Verführer, der sich an unschuldige Landpomeranzen heranmachte.
»Die hat dich reingelegt«, sagte ich.
»Wie auch immer«, meinte mein Mann unbestimmt, aber er freue sich auf den Nachwuchs. Als [9] unser Sohn geboren wurde, habe er so um die eigene Karriere kämpfen müssen, daß er gar nicht mitbekam, wie schnell ein kleines Kind heranwächst.
»Kann man das im Großvateralter noch nachholen?« fragte ich.
»Bei einer Frau ist das anders«, belehrte er mich, »aber ein Mann ist mit fünfzig noch nicht alt.«
Diese Worte waren es wohl, die mich ausrasten ließen. Ich fegte ihm mit dem borstigen Handbesen die Brille von der Nase, und rannte laut weinend ins Haus. Leider ging weder die Nase noch die Brille zu Bruch.
Seitdem mag ich keinen Flieder mehr, ja der Frühling kommt mir von Grund auf verdächtig vor. In Annelieses Garten hat der Fliederbusch zum Glück bereits seine braunen Nägelchen angesetzt; hier blühen schon die ersten Sommerblumen – Rittersporn, Akelei, Rosen und Glockenblumen. Bald wird auch der wuchernde Felberich in fröhlichem Dottergelb leuchten. Meine Freundin und ich kosten diesen Sommer aus: Im Moment essen wir tagtäglich auf der warmen Terrasse. Meine liebste Jahreszeit ist und bleibt jedoch der Herbst, obwohl der Winter besser zu meinem Alter und meinen weißen Haaren passen würde.
[10] Damals, vor 24 Jahren, waren meine Haare noch dunkel, aber ich war verzweifelt. Immer wieder hat mich Anneliese trösten müssen. Und dazu gehörte auch, daß sie mir unsere gemeinsame Zukunft in warmen Worten ausmalte. Meine Freundin hatte eine Tante im Altersheim besucht und war seitdem entschlossen, niemals aus ihrem Häuschen auszuziehen.
»Ein Leben ohne meinen Garten ist mir unvorstellbar. Aber was ist, wenn Hardy den Rasen nicht mehr mäht und die Hecke nicht mehr schneidet? Ich habe da eine Vision: Was hieltest du von einer Frauen-WG?«
Tatsächlich war ihr Mann, der eigentlich Burkhard hieß, nicht mehr bei bester Gesundheit. Anneliese war sich sicher, ihren Hardy um Jahrzehnte zu überleben, und sparte nie mit entsprechenden Andeutungen. Spaßeshalber dachten wir uns schon damals aus, wie wir als Witwen gemeinsam residieren würden: Sie sollte im unteren, ich im oberen Stockwerk je zwei Zimmer bewohnen, die Küche und das Kochen wollten wir uns teilen, die zwei Mansarden konnten unseren Kindern und deren Anhang als Gästezimmer dienen.
Alle paar Jahre kamen wir wieder auf unseren Plan zu sprechen, der jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben werden mußte, denn Burkhard erwies [11] sich trotz seines kränklichen Zustands als überraschend zählebig. Als er schließlich doch unter der Erde lag, wollte ich meine spät begonnene Berufstätigkeit nicht gleich aufgeben. Außerdem kehrte Annelieses jüngste Tochter nach einer gescheiterten Frühehe ins Elternhaus zurück, um eine Zeitlang ein kostenloses Studierzimmer zu bewohnen.
Nun sind wir seit vier Wochen glücklich vereint und meinen immer noch, daß es die beste Entscheidung unseres Lebens war, auch wenn sich einige Kleinigkeiten erst einspielen müssen. Der ganze Stress, den man im Zusammenleben mit einem Mann nun einmal hat, fällt völlig weg. Frauen sind belastbarer, friedlicher, kompromißbereiter.
Ein befreundeter Architekt hatte ein Konzept für die erforderlichen Umbauten entworfen. Für ein zweites Bad im Parterre hätten Flur und Garderobe verkleinert werden müssen. Viel zu teuer, meinte Anneliese, das könne sie sich nicht leisten. Selbst auf meine Rechnung wollte sie es nicht machen lassen, und auf keinen Fall wollte ich ihr zu spüren geben, daß ich besser bei Kasse bin als sie. Nun hat Anneliese zwar den Wohn- und Eßraum im Erdgeschoß behalten, zusätzlich aber im ersten Stock ein Schlafzimmer neben meinem bezogen. Das Bad muß ich [12] mit ihr teilen. Mir wäre es anders lieber gewesen – aber, mein Gott, es ist halt nicht mein eigenes Haus! Und wegen solcher Lappalien werde ich mich bestimmt nicht aufregen.
Viel wichtiger ist mir, daß wir in der warmen Jahreszeit so oft draußen sitzen können, den üppig blühenden Salbeistrauch direkt vor unseren Nasen. Es ist lange her, daß ich selbst einen Garten hatte. Nach der Scheidung hat Udo das Haus verkauft, und später besaß ich nur noch einen kleinen Balkon.
Außer der Miete für meine Privaträume bezahle ich die Putzfrau und den Gärtner, der die anstrengenden Arbeiten übernimmt. Bis jetzt hat Anneliese schon oft und gut gekocht; wenn ich an der Reihe bin, greife ich gelegentlich in die Kühltruhe und schiebe ein Fertiggericht in die Mikrowelle. Einmal habe ich auch den Pizza-Service bestellt, aber das hält Anneliese für allzu frivol. Eigentlich führen wir ein paradiesisches Leben.
Mein Sohn Christian wohnt in Berlin. Als ich noch in Wiesbaden lebte, kam er auf seinen Geschäftsreisen immer mal vorbei, denn vom Frankfurter Flughafen bis zu mir war es ein Katzensprung. Jetzt ist das ein bißchen umständlicher geworden; trotzdem machte er auf seiner letzten Tour einen Abstecher nach Schwetzingen.
[13] »Ich muß doch mal sehen, was du dir für ein Nest gebaut hast, und kontrollieren, ob ihr euch auch vertragt«, sagte er scherzhaft und ließ sich von der Mansarde bis zum Keller alle Räume zeigen.
»Vielleicht solltet ihr…« begann er zögernd, räusperte sich und überlegte wohl, wie er es diplomatisch ausdrücken könnte, »…vielleicht wäre alles noch viel netter, gemütlicher und praktischer, wenn ihr einen Teil der alten Möbel auf den Sperrmüll…« Er brach ab, weil er unsere entsetzten Gesichter sah.
»Nichts für ungut«, meinte er lachend, »ich wollte euch nicht zu nahe treten. Aber man kann sich ja kaum rühren! Jeden Winkel habt ihr vollgestopft!«
Er hat natürlich recht. Aber was soll man machen, wenn jede von uns nur ungern etwas wegwirft? Wir besitzen beide unseren eigenen Hausrat, angewachsen in vielen Jahren, ausreichend für eine komplette Familie. Bei mir kam noch dazu, daß ich durch ein Erbe fast alles doppelt besaß und mich so oder so von vielen Dingen trennen mußte. Vor dem Umzug habe ich zum Beispiel meine Küche einer Asylantenfamilie spendiert und bloß die Mikrowelle mitgenommen, die für Anneliese wiederum ein Fremdkörper ist. Doch auch diesen Schritt habe ich bereut, denn mein Herd mit intaktem Ceranfeld war wesentlich moderner als der meiner Freundin.
Christian wollte nicht bei uns übernachten, ein [14] Hotel werde von der Firma bezahlt. Ich habe ein wenig den Verdacht, daß er seine Frau betrügt. Aber das geht mich nichts an.
Nach gutem Zureden blieb er noch auf ein Gläschen Wein und wunderte sich, als Anneliese immer ausgelassener wurde. Schon vor vielen Jahren habe ich registriert, daß sich ihre Stimme verändert, sobald ein Mann den Raum betritt. Mit ihrer Munterkeit steckte sie mich an, und am Ende sangen wir für meinen Sohn Schlager aus unserer Jugendzeit.
Christian hörte belustigt zu. Er kannte aber weder Die Fischerin vom Bodensee nochdie Blaue Nacht am Hafen, weder Die Gitarre und das Meer noch Am Tag, als der Regen kam. Bloß Pack die Badehose ein kam ihm nicht völlig fremd vor.
»Und die Beatles?« fragte er. »Gefielen sie euch?«
»Die sind zehn Jahre später an uns vorbeigerauscht«, sagte ich, »in den 60er Jahren hatten wir kleine Kinder und viel zu tun. Wir verpaßten wohl so manches.«
Doch Anneliese fiel mir in den Rücken: »Ich hörte die Beatles gleich zu Beginn ihrer Karriere und fand sie sofort ganz toll«, behauptete sie.
Leider weiß sie wohl immer noch nicht, wie langweilig es für die nächste Generation ist, wenn ihre Eltern von früheren Entbehrungen berichten. Anneliese mußte meinen Sohn unbedingt damit nerven, [15] wie wir als junge Frauen täglich Windeln wuschen und aufhängten und wie gut man es heute mit Pampers, Waschmaschine und Trockner hat.
Als sie noch weitere ausgestorbene Hausarbeiten aufzählte, machte sich Christian auf den Weg. Ich hatte leider keine Minute mit ihm allein sprechen können, aber das ließ sich am Telefon nachholen. Und leider hatte ich auch ganz vergessen, ihn zu bitten, meine Nachttischlampe zu reparieren.
Heute rufe ich bei Christian an und erwische nur meine Schwiegertochter.
»Ich wollte mal hören, wie es euch geht und ob mein Junge wohlbehalten zu Hause angekommen ist«, sage ich.
»Und ich dachte, der liebe Junge weilt immer noch bei seiner Mama«, kontert sie ein wenig spöttisch.
Peinlich, denke ich, er hat zu Hause geschwindelt und seinen Besuch bei mir als Alibi benützt. Also schwenke ich schnell um, frage nach den Kindern und verabschiede mich. Dann versuche ich sofort, Christian übers Handy zu erreichen und zu warnen. Hoffentlich macht er nicht den gleichen Mist wie sein Vater.
Er tut ganz unbefangen. Ja, ursprünglich waren schon ein paar Tage bei mir vorgesehen, aber seine [16] Firma habe kurzfristig umdisponiert. Schnell wechselt er das Thema.
»Euer Haus in der Sternallee ist richtig anheimelnd, und deine Anneliese hat regelrechte Entertainer-Qualitäten.«
»Sie ist es nicht gewöhnt, mehr als ein Glas zu trinken«, meine ich entschuldigend, »aber findest du nicht auch, sie sollte endlich eine Diät machen?«
»Ist mir ehrlich gesagt nicht weiter aufgefallen. Sie gehört halt zu den fröhlichen Dicken, sicher tut sie dir gut.«
[17] 2
Es regnet ein wenig, ausnahmsweise sitzen Anneliese und ich beim Frühstück in der Küche. Sie hat sich richtig herausgeputzt, zum ersten Mal sehe ich außer dem Ehering einen kleinen blauen Saphir an ihrer Hand. Man müßte ihr allerdings mal sagen, daß sie ihre Fingernägel bei dem ständigen Graben und Jäten besser pflegen müßte. Ich bewundere vor allem eine Brosche, die mitten auf ihrem Busen prangt. Wenn Anneliese im Garten arbeitet, trägt sie wohlweislich keinen Schmuck und nur ihre ältesten Klamotten. Aber am heutigen Sonntag hat sie sich feingemacht oder sich zumindest Mühe gegeben. Sie hat nämlich versprochen, mich ausnahmsweise bei meinem täglichen Spaziergang im Schloßpark zu begleiten. Wenn es weiterregnet, hat sie aber einen guten Grund, sich zu drücken.
Bereitwillig nestelt sie jetzt die Brosche von der geblümten Bluse – auf der dieses edle Stück natürlich nicht zur Geltung kommt –, um sie mir zu zeigen. Sowohl an der Brosche als auch an der Bluse klebt ein wenig Marmelade. Eigentlich könnte sich Anneliese die Serviette auf dem Schoß sparen, da ihr [18] balkonartiger Busen jegliche Kleckerei erst einmal abfängt.
Jahrelang war es mein Beruf, Antiquitäten aus Hinterlassenschaften aufzukaufen, den Preis zu schätzen und sie einem illustren Kundenkreis anzubieten. Antiker Schmuck ist mein Spezialgebiet, da macht mir keiner etwas vor. Annelieses Großmutter hatte diese Brosche zur Hochzeit erhalten, um die Jahrhundertwende wird sie wohl auch entstanden sein. Eine Muschelkamee mit dem Profil eines römischen Kriegers ist in eine blauemaillierte Fassung eingebettet, die mit winzigen Perlchen besetzt ist.
»Ein dekoratives Stück«, stelle ich anerkennend fest, »paß bloß auf, daß du es nicht verlierst.«
»Wieviel könnte man heutzutage dafür verlangen?« fragt sie, und in ihre Augen tritt jenes begehrliche Glitzern, das ich von meiner Kundschaft nur allzugut kenne: diese mühsam unterdrückte Gier, die sowohl Käufer als auch Anbieter überkommt.
»Die Fassung ist auf der Rückseite ein wenig verbeult«, sage ich, »und der Goldanteil ist vergleichsweise gering, das mindert den Wert. Wenn du die Brosche privat verkaufen willst, könntest du etwa 500 Euro dafür fordern, wenn man etwas Vergleichbares in einem seriösen Geschäft erstehen möchte, [19] kostet es sicherlich etwas mehr, denn die wollen ja daran verdienen.«
In ihrem Gesicht spiegelt sich leichte Enttäuschung wider. Sie hat mit einem höheren Preis gerechnet, aber alter Schmuck ist bei jüngeren Frauen nicht mehr besonders in Mode.
Ich tröste sie. »Familienschmuck verkauft man doch ohnedies nur, wenn man ziemlich pietätlos ist oder am Hungertuch nagt.«
»Man muß den Wert kennen, wenn man das Erbe gerecht unter seinen Kindern verteilen will«, sagt Anneliese.
Diese Sorgen habe ich nicht, denn bei mir gibt es nur Christian, der einen Anspruch auf meine Kronjuwelen hat.
Geduldig erkläre ich ihr, daß man eine solche Brosche am besten am Revers einer schwarzen Jacke tragen sollte. Anneliese arrangiert zwar ihre Blumen mit traumwandlerischer Sicherheit, aber bei sich selbst versagt sie vollkommen.
Sie scheint das ebenso zu empfinden, denn sie sagt ein wenig schüchtern: »Schon in der Schulzeit habe ich dich bewundert, weil du immer so hübsch angezogen warst. Dabei hatte deine Mutter bestimmt kein größeres Haushaltsbudget als meine. Und seitdem du auf deine alten Tage so gut verdient hast, bist du noch schicker geworden. Kannst ja auch tragen, [20] was du willst – bei deiner Figur sieht alles eleganter aus als bei mir.«
»Du bist eben von Natur aus etwas stattlicher als ich«, versichere ich, obwohl wir beide wissen, daß es Unsinn ist; in Wahrheit verputzt Anneliese pro Tag eine Tafel Schokolade.
Gemeinsam erinnern wir uns oft an vergangene Zeiten: Beim Tanzstundenball war ich tatsächlich am geschmackvollsten angezogen, das läßt sich mit Fotos belegen. Die anderen Mädchen steckten in starren Rüschenkleidern aus lila, türkis und bonbonrosa Taft. Auf dem schwarzweißen Bild kann man es zwar nicht erkennen, aber Annelieses Kleid war himmelblau mit erbsengrünen Polkatupfen, so daß sie ein wenig wie ein weiblicher Clown daherkam.
Meine Mutter hatte mir einen langen Rock aus blasser Fallschirmseide genäht, der ganz weich und locker auf meine Ballerinas herabfiel. Als einzige trug ich ein Röschen im schwarzen Haar. Ich sah so wunderschön und leblos aus wie Schneewittchen.
Denn was half schon mein seidenes Kleid? Die jungen Männer, die sich aus dem nahen Knabengymnasium rekrutierten und etwa zwei Jahre älter waren als wir, interessierten sich nicht für Röcke und Blusen, um so mehr aber für deren Inhalt. Keine konnte man beim Walzer so herumschwenken wie [21] Anneliese, keine hatte ein so keß zur Schau gestelltes Dekolleté, keine lachte übermütiger und ließ sich auf dem Heimweg so gern küssen.
Damals sagte mein Vater: »Es wäre klüger, dir eine andere Freundin zu suchen, Lore! Eine, die keine Konkurrenz bedeutet!«
Ich lachte meinen Papa aus. Anneliese und ich blieben unzertrennlich, denn ich machte mir nichts aus den pickligen Jünglingen, die sie umschwänzelten. Trotzdem gab es mir einen Stich ins Herz, wenn ich als letzte zum Tanz aufgefordert wurde. Ich war wohl ein Mauerblümchen.
Anneliese bestreitet das. Es sei eher so, daß sich die jungen Männer nicht recht an mich herangetraut hätten. Ich sei fast zu fein, zu vornehm und damenhaft gewesen, außerdem klüger als alle anderen.
»Na, jetzt übertreibst du aber«, sage ich, aber ich höre es gern.
In der Tanzstunde hatte Anneliese auch ihren ersten Freund kennengelernt. Nie werde ich den Geruch seiner dunkelgrünen, breitgerippten Jacke vergessen, die mit einem modischen Reißverschluß geschlossen wurde. Damals nannte man Kordsamt noch Manchester, und der Stoff roch anders als heute: geradezu penetrant, wenn er neu war, muffig, wenn er oft [22] getragen wurde. In der Jackentasche steckte gut sichtbar eine Pfeife, die aber reine Angeberei war. Die Kreppsohlen seiner Schuhe quietschten beim Tango, der Schweiß perlte auf seiner Stirn, der aufdringliche Geruch der Kordjacke mischte sich mit dem scharfen von Pitralon, seinem Rasierwasser.
»Habt ihr euch bloß geküßt oder auch ein bißchen gefummelt?« frage ich meine Freundin, denn jetzt kann sie es mir ja verraten.
»Wo denkst du hin«, sagt sie lachend, »und selbst die Küsse waren viel harmloser als alles, was heute im Nachmittagsprogramm läuft. Als er einmal die Hand auf meinen Busen legte, habe ich ihm eine geschmiert. Wenn du die Wahrheit wissen willst – so richtig aufgeklärt war ich sowieso nicht.«
»Und? Wie hast du es schließlich herausgekriegt?« frage ich. Bei mir waren es, wie bei vielen anderen, zwei Ratgeber aus der Hinterlassenschaft meiner Großmutter: Die Frau als Hausärztin und Das Geschlechtsleben des Weibes.
Anscheinend war Anneliese auf diesem Gebiet ein Naturtalent.
»Das meiste kann man sich doch denken…« meint sie.
»Wie hieß er denn gleich, dieser Kerl mit der Kordjacke?« frage ich.
»Ewald«, antwortet Anneliese und muß kichern.
[23] Wir schweigen ein wenig. Eine Hummel ist durch das gekippte Fenster geflogen und kämpft zornig gegen die Glasscheibe an; ein duftender Jasminzweig in der Vase wird sie angelockt haben. Ich mag keine Insekten, Anneliese ist dagegen durch ihre Gartenarbeit gegen jeglichen Ekel vor Würmern, Schnecken und anderem Getier immun; lässig wirft sie ein Küchentuch über die Hummel und befördert das brummende Bündel auf schonende Weise nach draußen. Wenn sie mich wegen meiner Kleidung bewundert, so beeindruckt mich ihre Tatkraft. Sie ist nicht wehleidig oder verbittert, und sie hat keine Skrupel. In ihren Träumen kann sie sogar schweben, wie sie mir immer wieder versichert.
Welche andere Frau, die den Tod des eigenen Mannes verschuldet hat, wäre so frei von allen Gewissensbissen? In Annelieses Fall gab es sogar eine Vorladung und eine polizeiliche Ermittlung, denn der ewig kränkelnde Hardy war an einer Vergiftung gestorben.
Anneliese ist eine sehr gute Köchin. Als in den 90er Jahren der wilde Bärlauch neu entdeckt wurde, bestellte Hardy bei einem Restaurantbesuch die angepriesene Köstlichkeit und war von der legierten Suppe sofort begeistert. In seiner Heimatzeitung las er zudem, daß es kaum eine bessere Diät zur [24] Senkung des Cholesterinspiegels gebe. Von da an verlangte er von seiner Frau, die selbst weder Knoblauch noch Zwiebeln vertrug, fast täglich ein grünes Frühlingssüppchen. Um ihr zu schmeicheln und wohl auch, um sie bei Laune zu halten, behauptete Hardy, daß kein Sternekoch eine bessere Suppe zubereiten könne als sie.
Die sparsame Anneliese sah allerdings nicht ein, daß sie den Bärlauch auf dem Markt kaufen sollte, wo er doch ganz in der Nähe massenhaft wucherte. Aus Versehen hatte sie eines Tages wohl ein paar Blätter der Herbstzeitlose mitgepflückt. Leider war Annelieses Spezialität diesmal mit Colchicin gewürzt, und Hardy löffelte sie mit bestem Appetit und bis zum bitteren Ende. Nun, man konnte ihr wirklich keine böse Absicht unterstellen. Bei Durchfall und Erbrechen ruft eine erfahrene Hausfrau nicht gleich den Arzt. Sie versucht erst einmal durch bewährte Hausmittel Abhilfe zu schaffen. Verdächtig war höchstens, daß sie selbst die bewußte Delikatesse nicht angerührt hatte. Aber es gab genug Zeugen – auch mich –, die sicher waren, daß Anneliese Zwiebelgerichte stets verschmäht hatte. Darüber hinaus attestierte der Hausarzt, daß bei seiner Patientin seit Jahren ein Gallenstein bekannt war, weswegen sie blähende und schwerverdauliche Speisen meiden mußte.
[25] Kürzlich habe ich beim Kochen ihr Gallenleiden nicht berücksichtigt, und Anneliese hat trotzdem kräftig zugelangt.
Erst Tage später wird mir mein Fauxpas bewußt, und ich frage ängstlich: »Ist dir neulich das Essen bekommen? Aus alter Gewohnheit habe ich die Leber mit Zwiebelringen gebraten, du mußt bitte entschuldigen…«
»Schon recht«, sagt Anneliese, »hat gut geschmeckt. Man kann im voraus nie genau wissen, ob ich etwas vertrage oder nicht. Nur Steinpilze sind absolut tabu, sonst muß ich leiden wie ein Tier.«
Fast hätte ich auch nach Bärlauch gefragt, aber ich lasse es lieber bleiben. Statt dessen frage ich: »Warum läßt du dich nicht operieren? Man kann Gallensteine doch zertrümmern!«
»Wer weiß, was sonst noch alles zertrümmert wird«, meint sie. »Ich nehme meinen edlen Stein lieber mit ins Grab. Solange ich nur alle fünf Jahre eine Kolik habe, ist es auszuhalten.«
»Und was sagt der Arzt?«
»Im Prinzip ist er der Meinung, man soll mit einer Operation nicht warten, bis man hundert ist. Aber so alt will ich sowieso nicht werden.«
Tja, die Zipperlein des Alters! Davon kann auch ich ein Lied singen: zunehmende Vergeßlichkeit, Grüner Star, Hammerzehe, Reizblase, [26] Schlaflosigkeit. Und mein Tonfall wird mit jedem Leiden larmoyanter. Dabei hat Anneliese durch ihr Übergewicht wohl größere Risikofaktoren als ich: erhöhten Blutdruck, schlechte Laborwerte, Wirbelsäulenbeschwerden. Aber sie gehört zu jenen Patienten, die den Arzt durch Verschleierung und Untertreibung an der Nase herumführen und sich sowieso nur alle Jubeljahre in einer Praxis blicken lassen. Selbst mir gegenüber bagatellisiert sie ihre Gebrechen und will auch mich auf keinen Fall bemitleiden. Gar keine so falsche Einstellung, vielleicht.
Zum Glück kennt niemand den Zeitpunkt seines Todes. Ich jedenfalls will es unter keinen Umständen schon Jahre vorher wissen. Ein Leben nach dem Tod kann ich mir ohnedies nicht vorstellen. Aus ist aus, vorbei ist vorbei.
Anneliese geht zwar auch nicht in die Kirche, aber sie ist ziemlich anfällig für spirituelle Versuchungen. »Nur zum Spaß«, behauptet sie und liest ihr Horoskop. »Toi, toi, toi«, sagt sie und klopft auf Holz. Einmal hat sie sich sogar bekreuzigt, wer weiß, ob sie nicht heimlich betet. Da sie ja im Traum trotz ihres beträchtlichen Gewichts schweben kann, ist sie sicher, es auch in einem anderen Leben zu können. Und sie spürt manchmal, wie ihre Eltern oder andere Ahnen wie Schmetterlinge um sie [27] herumgaukeln, leicht wie ein Hauch, liebevoll und beschützend.
»Sag doch gleich, daß du einen Schutzengel hast«, spotte ich.
Anneliese nickt und lächelt. Manchmal sieht sie aus wie ein kleines Mädchen.
Als ich sie kennenlernte, war sie zehn Jahre alt. Ihre blonden Zöpfe waren das Gegenteil meiner Pagenfrisur, und sie trug eine schwarze Berchtesgadener Strickjacke mit rot-grüner Passe, Trachtenknöpfen und einem in der Taille durchgezogenen Häkelbändchen.
Ich wollte so gern ein gleiches Jäckchen besitzen, aber meine Mutter zischte nur: »Das könnte dir wohl so passen!«
[28] 3
Unser Sohn Christian war etwa zwölf, als er eines Tages mit einem Hund nach Hause kam. Der Terrier gehörte dem Großvater eines Freundes, der in ein Altersheim verlegt wurde. Keiner wollte das Tier aufnehmen, also blieb es bei uns. In allen Familien, die ich kenne, ist es das gleiche Spiel: Anfangs schwören die Kinder, die Pflege zu übernehmen, und ein paar Tage lang kümmern sie sich auch wirklich um das neue Familienmitglied. Doch über kurz oder lang bleiben alle Pflichten an der Hausfrau hängen.
Beim abendlichen Gassigehen lernte ich ein Ehepaar aus der Nachbarschaft kennen, das zur gleichen Zeit seinen Rauhhaardackel ausführte. Nach und nach erfuhr ich mehr über diese Leute, die ein ganzes Stück älter waren als ich.
Schon bei einem unserer ersten Gespräche entrüstete sich Frau Rebhuhn, die ihren Mann um einen Kopf überragte, über einen aktuellen Zeitungsartikel. 374 prominente Frauen bekannten sich öffentlich dazu, illegal abgetrieben zu haben. Ich weiß [29] noch, daß ich eine heftige Diskussion mit ihr führte; als ich aber erfuhr, daß sich dieses Ehepaar jahrelang vergeblich ein Kind gewünscht hatte, verstummte ich.
Die Rebhuhns besaßen in der Wiesbadener Altstadt einen Antiquitätenladen, der auf Schmuck spezialisiert war. Die beiden hingen aneinander wie die Kletten, fuhren täglich gemeinsam ins Geschäft und nahmen auch den Hund stets mit. Ihr Dackel wirkte zwar nicht gerade wie ein Zerberus, konnte aber bedrohlich knurren und die Zähne fletschen.
Bei einem Einkaufsbummel entdeckte ich den winzigen Laden mit dem Messingschild Walter P.Rebhuhn, Antiquitäten. Ich trat ein und ließ mir die vielen Sächelchen zeigen. Es war zwar vorwiegend Schmuck, den sie in ihren Vitrinen ausstellten, aber sie verkauften auch Dosen, Fingerhüte, Rahmen, Bestecke, Becher und dergleichen silbernen Kleinkram. Ich war entzückt, ja hingerissen und erstand von dem Geld, das eigentlich für eine Handtasche gedacht war, ein zierliches klassizistisches Reisenecessaire. In das Etui aus Schildpatt waren ein vergoldetes Scherchen, eine Ahle und ein feingravierter Nadelbehälter eingebettet. Ich besitze es zwar heute noch, aber im Grunde war es ein ebenso spontaner [30] wie überflüssiger Kauf. Auch mein Mann war etwas erstaunt.
Immerhin fand Udo alles interessant, was ich über das Ehepaar zu erzählen wußte, er schätzte unsere wohlhabenden Nachbarn. Ausgerechnet er redete mir zu, auf deren Angebot einzugehen und Herrn oder Frau Rebhuhn gelegentlich im Laden zu vertreten.
Ich wurde zwar nicht gerade fürstlich entlohnt, aber es waren angenehme Stunden. Die Rebhuhns hatten beschlossen, daß jeder von ihnen abwechselnd einen Tag pro Woche freihaben sollte, um mit dem Dackel zum Tierarzt zu gehen oder andere Dinge zu erledigen. Da häufig ganze Touristengruppen hereinströmten, war es besser, wenn mindestens zwei Personen die wertvollen Objekte im Auge behielten.
Man konnte viel von den Rebhuhns lernen. Zuweilen blieb das Geschäft stundenlang leer, und wir hatten Zeit zum Plaudern. Walter Rebhuhn war ein umfassend gebildeter Mann; in einem Tresor befanden sich seine persönlichen Favoriten, die er nur ungern verkaufte. Seine Frau pflegte ihn ein wenig zu necken, wenn er wieder einmal seine Lieblinge nicht herausgerückt hatte. Fast über alle Gegenstände konnte er etwas Interessantes erzählen. Ja auch mich [31] brachte er dazu, mich mit Kultur- und Kunstgeschichte zu beschäftigen. Nach ein paar Jahren war ich zu einer Vertrauensperson geworden, die sich bestens auskannte. Als Frau Rebhuhn an Krebs erkrankte, sprang ich immer häufiger ein.
Es gibt Menschen – wie Anneliese –, die nicht an Zufall glauben. So sehe ich es zwar nicht, aber es war doch wie ein Fingerzeig des Schicksals, daß Frau Rebhuhn am Tag meiner Scheidung starb. Als ich so plötzlich zu einer einsamen, alleinstehenden Frau geworden war und bald darauf aus unserem Haus ausziehen mußte, reagierte ich mit Verbitterung. Unser Sohn lebte damals bereits in Berlin, ich hatte in Wiesbaden keine weitere Verwandtschaft. Es war Anneliese, die mir Mut machte, und Herr Rebhuhn, der mir eine feste Anstellung anbot. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können, denn ich wurde von meinem allzu großen Selbstmitleid abgelenkt. Mein Chef litt schließlich auch nicht weniger als ich.
Wir kannten und vertrauten uns bereits seit zehn Jahren, hatten aber stets eine respektvolle Distanz bewahrt. Herr Rebhuhn war viel zu kultiviert, um seine Anordnungen anders als mit einer höflichen Bitte zu formulieren, und vielleicht auch zu konservativ, um mir gar das Du anzubieten.
[32] Eines Morgens betrat ich den Laden und fand meinen Chef in Tränen aufgelöst. Beim Tod seiner Frau hatte er sich niemals gehenlassen, aber jetzt war es mit seiner Beherrschung vorbei. Gerade war sein alter Hund direkt vor dem Geschäft überfahren worden.
Teilnahmsvoll legte ich meine Hand auf die seine und redete beruhigend auf ihn ein. Nie hätte ich erwartet, daß er mich heftig an sich zog und in meinen Armen schluchzte wie ein kleines Kind. Um ihn vor neugierigen Passanten zu schützen, schloß ich die Ladentür ab. So gut ich konnte, fuhr ich fort, ihm Trost zuzusprechen und dabei sanft seinen Rücken zu streicheln. Schließlich weinte ich mit ihm, und irgendwann gerieten unsere nassen Gesichter aneinander, und wir küßten uns. Dramatischer und verheulter hätte eine Liebesbeziehung kaum beginnen können. Erst viel später erkannte ich, daß die symbiotische Dreiecksbeziehung von Herrchen, Frauchen und Hund erst durch den Tod des Dackels ein Ende gefunden und den Weg für einen Neubeginn frei gemacht hatte.
Wir waren wohl ein recht ungleiches Paar, aber keiner konnte sich darüber lustig machen, denn außer Anneliese wußte niemand von unserer Affäre. Christian hatte bei einer seiner Stippvisiten allerdings [33] Verdacht geschöpft. »Du magst das Rebhühnchen wohl ziemlich gern?« fragte er.
Doch auch erwachsene Kinder müssen nicht alles über ihre Eltern erfahren. Vor allem wollte ich nicht, daß Udo auf Umwegen Wind von der Sache bekam.
Herr Rebhuhn hieß Walter P. mit Vornamen. Zu meiner Verwunderung bedeutete das P nicht Peter oder Paul, sondern Percy. Da seine Frau ihn stets Walter genannt hatte, wollte er von mir nicht ebenso angesprochen werden; es fiel mir allerdings schwer nach so vielen Jahren, und wir vertaten uns beide immer wieder. Percys Großvater war Schotte gewesen, und sein Enkel pflegte vielleicht deswegen den Kontakt zu Engländern. Durch ihre Vermittlung hatte er manche Antiquitäten günstig erwerben können.
Percy hinkte ein wenig, war weißhaarig, klein, etwas rundlich und von rosiger Gesichtsfarbe. Wie schon seine verstorbene Frau war auch ich ein Stück größer als er, aber trotzdem nannte er mich in stillen Stunden – wohl auf Grund meiner grauen Kleider – Schwälbchen oder kleine Schwalbe. Es war eine neue Erfahrung für mich, daß ein Mann durch meine Zuwendung aufblühte und sich von einer bisher unbekannten heiteren Seite zeigte. Früher mochte ich keine Männer, die Schmuck trugen. Aber ihm [34] standen Ringe, Krawattennadeln, Manschettenknöpfe und goldene Uhrenketten, weil er sie mit Grandezza und Selbstverständlichkeit zu tragen wußte. Manchmal steckte er mir wortlos einen Ring an den Finger, wobei ich nie genau wußte, ob er ihn mir schenken oder bloß an einer Frauenhand begutachten wollte. Nach getaner Arbeit gingen wir meistens essen.
Da meine neue Wohnung in der Nähe des Geschäfts lag, verbrachten wir jedoch die Mittagspausen bei mir. Erst gab es einen Imbiß, dann hielten wir Siesta – und zwar legte ich mich ins Bett, er sich aufs Sofa. Man kann nicht gerade behaupten, daß unser Verhältnis von überschäumender Leidenschaft geprägt war, aber es wurde trotzdem eine Zeit des stillen, dankbaren Glücks, der aufrichtigen Freundschaft und vieler friedlicher Mahlzeiten.
Nur ein einziges Mal verbrachten wir eine gemeinsame Nacht bei Percy, was wir aus pragmatischen Gründen aber nicht wiederholten. Zum einen mochte ich mich nicht gern in der Nähe unseres früheren Hauses blicken lassen, wo nun fremde Menschen wohnten. Zum anderen tat ich im Bett der verstorbenen Frau Rebhuhn kein Auge zu.
Auf Percys Nachttisch stand immer noch ein Hochzeitsfoto mit der Widmung: Für meinen geliebten Walter von seiner Martha. Unser beider [35] Liebster trug darauf eine Uniform, die ihn überhaupt nicht kleidete. Nicht nur dieses Bild, auch jedes beliebige Möbelstück in seiner Wohnung erinnerte an eine langjährige Ehe. In meiner Zweizimmerwohnung gab es nur ein schmales Bett, weil ich mich nach der Scheidung auf ein nonnenhaftes Leben eingestellt hatte. Ich hätte natürlich eine größere Wohnung mieten können, aber ich wollte diesbezügliche Schritte nicht von mir aus in die Wege leiten. Percy schien ja mit den seltenen Schäferstündchen vollkommen zufrieden zu sein.