Laienspiel - Volker Klüpfel - E-Book
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Volker Klüpfel

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Beschreibung

Terror im Allgäu! Ein packend-lustiger Fall für Kommissar Kluftinger  
Mit Terrorismus ist nicht zu spaßen. Es sei denn, Klufti muss sich damit befassen. Im vierten Band der erfolgreichen Allgäu-Krimis kommen Spannung und Humor garantiert nicht zu kurz.  

Das Leben im Allgäu kann wirklich beschaulich sein. Solange man nicht Hauptkommissar Kluftinger heißt. Dieses Mal muss er sich mit einem Unbekannten unter Terrorverdacht, einer Zusammenarbeit von BKA, österreichischer Polizei und den Ermittlern vor Ort, einem Tanzkurs und einem »Laienspiel« herumschlagen.    

Das Autorenduo Volker Klüpfel und Michael Kobr gönnt Kommissar Kluftinger in seiner erfolgreichen  Regionalkrimireihe aus dem Allgäu nicht eine Sekunde zum Durchatmen. Und die Leser lieben es! Große Themen und rasante Fälle werden mit einer gehörigen Portion Humor serviert, die jeden Krimi-Bestseller dieser Reihe zu einem besonderen Lesevergnügen für Fans klug  konstruierter Mordgeschichten machen.  

»Klüpfel & Kobr erzählen mit komödiantischem Überschwang, Intelligenz und Vitalität.« – SPIEGEL Online  

Kommissar Kluftiger ist der Prototyp des grantelnden Polizisten, dem Neues zuwider und Aufregung suspekt ist. Umso besser! Wenn sich Klufti über Gott, die Welt und seine Allgäuer Mitbewohner echauffiert, müssen Leser laut lachen und Kritiker anerkennend nicken.  

 »Kluftinger ist ein Volltreffer!« – Süddeutsche Zeitung  

Entdecken Sie die lustigen Bestseller, und folgen Sie Kommissar Kluftinger in mittlerweile zwölf Fällen durch menschliche Abgründe im Schatten beeindruckender Berge. So viel charmanten Witz hat ein Polizei-Krimi selten zu bieten.  

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Für Silke und Paulina. Und für meine Eltern.Michael Kobr

Meiner Familie, allen voran meinen Eltern.Danke für alles.Volker Klüpfel

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

3. Auflage Dezember 2009

© Piper Verlag GmbH, München 2009

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung: Karin Huber

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-492-95081-7

Noch 12 Tage, 2 Stunden, 14 Minuten, 38 Sekunden

Kluftinger keuchte. Im Augenwinkel sah er die beiden Männer, die sich die Böschung hinunter zu dem kleinen Kahn am Ufer kämpften. Er blickte ihnen nach. Das Bild, das er sah, rief Erinnerungen in ihm wach, an die er lieber nicht rühren wollte. Das Wasser, das Boot … er kniff die Augen zusammen, ganz als könnte er so die Bilder verjagen. Als er die Augen wieder öffnete, hatten die beiden Männer den Kahn bereits vom Ufer abgestoßen. Das Hemd des einen war übersät von blutroten Flecken; in der rechten Hand hielt er ein Beil. Von dessen Schneide tropfte es ebenfalls rot. Jetzt hatte sich der Ältere, ein bulliger Typ mit dichtem, schwarzen Bart, ins Boot gesetzt und die Ruder ergriffen. Als er sich noch einmal umdrehte, flackerte Panik in seinen Augen auf, dann ruderte er mit aller Kraft los.

»Ich hab getan, was ich nicht lassen konnte«, schrie er ihnen noch hinterher, dann begann auch er zu keuchen.

Schweiß rann Kluftinger von der Stirn. Er wischte mit dem Handrücken über seine brennenden Augen. Da hörte er es hinter sich krachen und poltern. Blitzschnell drehte er sich um. Die Gestalten, die ihm gegenüberstanden, waren pechschwarz gekleidet und bis auf die Zähne bewaffnet.

»Den Mörder …«, zischte einer von ihnen, »… gebt ihn heraus.«

Dann presste er einen Fluch hervor. Er ließ seine Hand sinken, griff an seinen Gürtel und zog ein riesiges Messer. Damit fuchtelte er vor Kluftingers Gesicht herum.

Sie sahen sich eine Weile starr in die Augen, keiner sagte etwas. Nur ihr Keuchen war zu hören, bis …

»Die rote Sonne von Barbados, für dich und mich scheint sie immer noch …« Die Melodie platzte wie ein Kanonenschlag in die Stille.

Irritiert blickten die Männer sich um und suchten die Quelle des Geräusches.

»… nur du und ich im Palmenhain, leise Musik und roter Wein …«

Kluftingers Gesicht lief knallrot an. Er ließ seine Hand sinken, umfasste den Lederbeutel an seinem Gürtel, und die Melodie verstummte. Keine zwei Sekunden später zerriss ein spitzer Schrei die Stille: »Wer war das?« Die durchdringende Stimme schien überall zu sein, ihr Ursprung war nicht zu lokalisieren.

»Wer? War? Das?« Beim letzten Wort überschlug sich die Stimme und ging in ein hysterisches Kreischen über. Dann hallten Schritte durch die Abenddämmerung.

Kluftinger sah sein Gegenüber an. Der schwarz gekleidete Mann zuckte mit den Schultern und steckte sein Messer weg. Sie wussten beide nur zu gut, was nun folgen würde.

»Was glaubt ihr eigentlich, wo wir hier sind?«, schrie der spindeldürre Mann, der mit wehenden Haaren auf sie zu rannte. Obwohl er noch gut fünfzig Meter von ihnen entfernt war, war seine Stimme ganz nah und dröhnte in ihren Ohren, verstärkt durch den Hall, den die riesigen Lautsprecher rechts und links von ihnen erzeugten. Dann hatte er sie erreicht.

»Ich will jetzt sofort wissen, wer das war«, brüllte er noch einmal in sein Mikrofon.

Kluftinger zeigte auf das kleine schwarze Kästchen, das an seinem Gürtel befestigt war. »Das können Sie jetzt ruhig ausschalten«, schlug er vor.

»Ich schalte und walte hier, wie ich will«, rief der Mann und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Armen herum. »Und ich will jetzt endlich wissen, wessen Handy da eben geklingelt hat!«

Betretenes Schweigen.

»Hören Sie, meine Herren«, brachte der Mann mit bebender Stimme hervor, »wir sind hier nicht zum Rumtollen. Das ist kein Spielplatz für Erwachsene, verstehen Sie das? Das ist Theater. Großes Theater, um genau zu sein. Und das können Sie ruhig wörtlich nehmen.« Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte er auf die riesige Freilichtbühne um sie herum. »Wir proben hier einen Klassiker der deutschen Literatur. Schiller hat mit diesem Wilhelm Tell zu einer Zeit Genialität bewiesen, als man hier im Allgäu wahrscheinlich noch mit Fellen und Keulen durch die Gegend rannte und Jagd auf frei laufende Kühe machte.«

»Also, jetzt aber wirklich, Herr Frank …«, versuchte Kluftingers Nebenmann den Wütenden zu beschwichtigen.

»Nichts aber wirklich!«, wischte der den Einwand mit einer fahrigen Geste beiseite. »Sie wussten alle, worauf Sie sich einlassen.«

Kluftinger rollte die Augen, seufzte und flüsterte dem Schwarzgekleideten mit dem Messer ein »Lass gut sein, Hans« zu.

»Nein, nichts ist gut. Hier, Herr … Hans«, sagte Frank und wedelte dabei mit dem Textbuch vor der Nase des auf einmal schuldbewusst dreinblickenden Mannes. »Es heißt nicht: Den Mörder, gebt ihn heraus. Es heißt: Den Mörder gebt heraus, den ihr verborgen.«

Die Umstehenden blickten zu Boden und versuchten mühsam, den Regisseur ihr Grinsen nicht sehen zu lassen. Vergebens.

»Da gibt es nichts zu lachen, meine Herren. In zwei Wochen ist Premiere, und auch Sie könnten durchaus mehr Textsicherheit vertragen.«

»Was war denn jetzt schon wieder?« Der Bärtige, der eben noch im Kahn gesessen hatte, kam mit seinem Begleiter im blutverschmierten Hemd aus einer engen Gasse zwischen zwei Pappmaché-Felsen.

»Ihre Kollegen bringen es einfach nicht fertig, ihren Text zu lernen, Herr Edgar.«

Kluftinger seufzte und kraulte seinen extra fürs Freilichtspiel kultivierten Vollbart. Zu Beginn der Probenzeit hatte der Kommissar der Kemptener Kriminalpolizei die Eigenart des neuen Regisseurs, die Mitspieler immer mit »Herr« oder »Frau« und ihren Vornamen anzusprechen, noch amüsant gefunden. Inzwischen nervte es ihn nur noch. Lediglich ihn sprach er mit Nachnamen an, weil Kluftinger seinen Vornamen nicht hatte preisgeben wollen und den Mitspielern unter Androhung körperlicher Gewalt verboten hatte, ihn zu verraten.

Er betrachtete den Mann mit den schlackernden Hosenbeinen. Heinrich Frank war eine große Nummer in der deutschen Theaterwelt gewesen, wie man sich erzählte. So genau wusste das von den vorgeblich so theaterinteressierten Altusriedern aber keiner, denn alle sprachen immer im Konjunktiv von der Vergangenheit des hageren Mannes mit der kleinen Brille und dem temperamentvollen Wesen: Er sei mal irgendwo Intendant gewesen, habe mal mit ganz prominenten Schauspielern zusammengearbeitet, sei einer der Einflussreichsten seiner Branche gewesen. Doch seit einigen Jahren war Heinrich Frank Rentner oder Privatier – auch das wusste so genau keiner – und hatte sich in Altusried niedergelassen. Ausgerechnet in jener Allgäuer Gemeinde, in der alle paar Jahre ein großes Freilichtspiel inszeniert wurde. So wie heuer. Wilhelm Tell stand auf dem Programm, und es schien nur logisch, den erfahrenen Theatermann mit der Regie zu betrauen. Das fand auch Kluftinger, obwohl er und die meisten anderen Mitspieler sich da im Moment nicht mehr so sicher waren. Der Regisseur aber schien mehr von sich überzeugt denn je. Frank war hart, verlangte viel und geriet schnell aus der Fassung. Für Kluftingers Geschmack deutlich zu schnell.

»Jetzt seien Sie mal nicht so streng mit uns«, sagte der Bärtige und drohte scherzhaft mit der mächtigen Armbrust, die er mit sich herumtrug. »Schließlich haben wir alle einen anstrengenden Tag hinter uns. Wir arbeiten ja alle, gell?«

Die anderen nickten.

»Ja … nun gut … Sie haben vielleicht Recht. Unterm Strich bleiben Sie Laien. Aber es ist wichtig, dass Sie sich ein bisschen konzentrieren. Wie gesagt, die Premiere ist schneller da, als Sie denken. Ich hab Sie ja nicht umsonst im Kostüm kommen lassen, heute. Ich dachte, das hilft Ihnen vielleicht, Sie haben wirklich noch einige Probleme bei der Identifikation mit den Charakteren.« Er blickte die Gruppe an und schien durch ihr betroffenes Nicken zufriedengestellt.

Sie sahen ihm nach, wie er auf seinen Platz in der mächtigen hölzernen Tribünenkonstruktion mit dem geschwungenen Dach zuschritt. Zweitausendfünfhundert Besucher würden hier schon in nicht einmal zwei Wochen dreimal pro Wochenende sitzen.

Bei dem Gedanken wurde Kluftinger bereits jetzt ganz flau im Magen. Er war kein großer Theaterenthusiast, aber bei den Freilichtspielen hatte er von Kindesbeinen an mitgewirkt. Und die Alternative zu der winzigen Sprechrolle wäre die Blaskapelle gewesen, die für die musikalische Umrahmung der Vorstellungen sorgte und bei der er eigentlich für die große Trommel zuständig war.

Der Gedanke, den ganzen Sommer im »Musikbunker« zu verbringen und auf sein verhasstes Instrument einzuschlagen, das er nur spielte, weil man noch immer keinen anderen im Dorf dafür hatte begeistern können, war aber derart abschreckend gewesen, dass er im Vorfeld mit dem Bürgermeister einen Deal ausgehandelt hatte: Er würde mit seinen guten Beziehungen zur Polizei dafür sorgen, dass an den Spielwochenenden die Alkohol-Kontrollen im Ort nicht ganz so streng durchgeführt würden. Schließlich wolle man die vielen Gäste, die in das beschauliche Dorf am Ausläufer der Alpen kamen, nicht gleich wieder verprellen. Im Gegenzug würde der Bürgermeister dafür sorgen, dass Kluftinger »unbedingt« eine Sprechrolle spielen müsse und »leider unabkömmlich« sei und deswegen auch nicht bei der Musik mitmachen könne.

Kluftinger grinste bei dem Gedanken an ihr Arrangement.

»Die rote Sonne von Barbados, für dich und mich scheint sie immer noch …« Heinrich Franks Bewegung gefror. Er stand unmittelbar vor dem Aufgang zur Tribüne, als er sich mit zu Schlitzen verengten Augen umdrehte und dabei einen Buckel machte wie eine zum Sprung bereite Raubkatze.

»… nur du und ich im Palmenhain, leise Musik und roter Wein …«

Alle Köpfe drehten sich zu Kluftinger. Dessen Wangen begannen wie vorhin zu leuchten. Leugnen hätte jetzt keinen Sinn mehr gehabt.

»Ach je, das bin ja ich«, rief er und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Dann fummelte er das Handy aus dem Lederbeutel, den er aus Ermangelung einer Hosentasche an dem breiten Gürtel seines Fischerkostüms befestigt hatte. »Eine neue Melodie. Die hat mir mein Sohn eingestellt. Ich hab mich noch gar nicht dran gewöhnt …« Mit diesen Worten führte er den Hörer an sein Ohr.

Diese Geste schien der letzte Impuls für Franks Raubkatzen-Reflex zu sein. Mit gefletschten Zähnen rannte er auf den Kommissar zu.

»Ja, Kluftinger?«, fragte der gerade in den Hörer.

»Ich bin’s, der Richard, ich muss …«

»Sie wollen doch nicht im Ernst während meiner Probe telefonieren?« Die Stimme des Regisseurs klang aggressiv und kampfbereit.

»Wie? Wer? Ich meine … Entschuldigung, das hier ist wichtig.« Mit diesem Satz nahm der Kommissar dem Regisseur für einen Moment den Wind aus den Segeln, und Frank blieb um Haltung ringend stehen. So verstand Kluftinger wenigstens, dass sein Kollege Maier am anderen Ende der Leitung war. Er schien ebenso aufgeregt wie Heinrich Frank, denn auch seine Stimme überschlug sich fast.

»Jetzt beruhig dich erst mal, atme tief durch und dann ganz langsam.«

Entsetzt ruckten die Köpfe der anderen herum und starrten den Kommissar an. Der wusste erst nicht, was die plötzliche Aufmerksamkeit zu bedeuten hatte, verstand es aber, als die Lautsprecher ein gellendes »Ich mich beruhigen? Ich bin ruhig!« in die Naturkulisse schleuderten.

»Wie? Nein, ich meine nicht Sie. Ich meine … Richard? Was ist los?«

»Es geht um die Österreicher …«

»Legen Sie sofort das Handy weg, oder ich besetze Sie um!«

»Richie, wart mal, ich kann …«

»… hat sich umgebracht …«

»Wer hat sich umgebracht? Ein Österreicher?«

»Ich sage es Ihnen zum letzten Mal: Weg mit dem Handy!«

Als Kluftinger sich zum Regisseur umdrehte, erschrak er: Frank stand unmittelbar vor ihm, seine Mundwinkel zuckten bedrohlich.

»Kempten, Schwalbenweg 3 … ich komme sofort.« Der Kommissar beendete das Gespräch.

Ein paar Sekunden war es still, dann wandte sich Kluftinger an Frank: »Ein Kollege, ich muss dringend weg. Einsatz.«

Frank starrte ihn nur an, schien ihn gar nicht zu verstehen. »O nein, Herr Kluftinger. Das Einzige, was Sie hier müssen, ist, diese Szene zu Ende spielen.«

»Das ist doch eh nur noch ein Satz.«

»Das ist mir egal. Die Szene wird zu Ende gespielt«, sagte der Regisseur nun völlig ruhig. Dann schaltete er das Mikrofon aus und fuhr fort: »Wir waren uns doch vor den Proben einig, dass Ihr Beruf uns hier keine Schwierigkeiten bereiten wird. Das haben Sie mir versprochen, verdammt.«

»Ja, das habe ich schon, aber meine Rolle ist ja schließlich doppelt besetzt. Da werde ich doch noch mal weg können, wenn es dringend ist.«

»Nicht mehr lange«, erwiderte Frank.

»Wie – nicht mehr lange?«

»Sie wird nicht mehr lange doppelt besetzt sein«, sagte Frank, und ein kaltes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Kluftinger hatte verstanden. Gerne hätte er diesen Despoten vor sich einfach stehen lassen, aber der Gedanke an einen Sommer im Musikbunker zusammen mit seiner Großtrommel ließ ihn die Beherrschung bewahren.

»Na gut, Herr Frank, spielen wir die Szene zu Ende«, sagte er schließlich mit zusammengebissenen Zähnen.

Frank ging einige Schritte zurück. »Also – Ruhe bitte. Und los!«

Kluftinger holte tief Luft für seinen letzten Satz, sagte ihn aber nicht wie sonst in Richtung seiner Mitspieler, sondern wandte sich direkt an den Regisseur: »Wann wird der Retter kommen diesem Lande?« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging.

Während er seinen alten VW-Passat durch die Abenddämmerung lenkte, gingen Kluftinger allerlei Gedanken durch den Kopf. Er hatte Maier noch nie so aufgeregt erlebt, es musste etwas Furchtbares passiert sein. Aber was? Ein toter Österreicher kam hier, nur wenige Kilometer von der Grenze zum Nachbarland, durchaus einmal vor. Und wenn er es den Kollegen von der Musikkapelle erzählen würde, würden manche wahrscheinlich sogar etwas Gehässiges wie »Immerhin. Einer weniger!« von sich geben.

Der Kommissar zermarterte sich das Hirn, ging im Geiste die Zeitungen der letzten Tage durch. Hatte es irgendeinen Kriminalfall mit Verbindungen zu Österreich gegeben? Kluftinger erinnerte sich an nichts und gab, als seine Fantasien einen immer abstruseren Verlauf nahmen, schließlich auf. Es waren ohnehin nur noch ein paar Minuten bis zu der Adresse, die Maier angegeben hatte.

Als er in den Schwalbenweg einbog, wunderte er sich. Er hatte aufgrund des dramatisch wirkenden Anrufs ein großes Aufgebot erwartet, doch es standen nur drei Wagen der Kemptener Polizei am Straßenrand: Maiers Dienstauto, der Kombi des Erkennungsdienstes und ein Streifenwagen. Kluftinger parkte seinen Passat hinter dem grünsilbrigen Kombi und stieg aus. Verwirrt blickte er sich um, denn er konnte keinen seiner Kollegen entdecken.

Erst nach einer Weile sah er einen Uniformierten, der am Eingang eines der wenig einladenden Hochhäuser stand, die Anfang der Siebzigerjahre hier am Rand der Allgäu-Metropole im Rahmen des »sozialen« Wohnungsbaus entstanden waren. Der Stadtplanung war es damals sicher ganz recht gewesen, die Probleme hierher auszulagern, dachte der Kommissar. Seither war die Hochhaussiedlung zu einem sozialen Brennpunkt allererster Güte geworden, der ihn und seine Kollegen immer wieder beschäftigte.

Kluftinger winkte dem Uniformierten schon von Weitem zu. Der jedoch behielt seinen mürrischen, skeptischen Blick bei und musterte den Kommissar mit zusammengekniffenen Augen. Erst als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, hellte sich seine Miene auf.

Kluftinger nickte ihm zu: »Was gibt’s?«

Die Augen des Polizisten glitten an Kluftinger herab, dann wieder nach oben, dann öffnete er den Mund, holte Luft, schien es sich jedoch gleich darauf anders zu überlegen, machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte erneut an: »Servus Klufti, hab dich gar nicht erkannt mit deinem Bart«, sagte er schließlich und machte dabei ein Gesicht, als sei es ihm unangenehm, dass ausgerechnet er dem Kommissar einen kurzen Abriss der Lage geben musste.

»Du … ich … du solltest da vielleicht nicht hineingehen«, brachte er schließlich hervor.

War sein Kollege noch ganz bei Trost? Er war leitender Kriminalhauptkommissar und nun wurde er von einem »Grünen« behandelt wie ein Schuljunge. Gut, seine unrühmliche Leichenunverträglichkeit hatte sich über die Jahre nicht verheimlichen lassen, aber er hatte sich meist so gut unter Kontrolle, dass er den Arbeitsablauf am Tatort nicht störte. Und nun das. Kluftinger stieg die Zornesröte ins Gesicht – verbunden mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Hier würde seine Selbstbeherrschung mal wieder auf eine harte Probe gestellt werden.

In diesem Moment riss sein Kollege Richard Maier die Eingangstür auf und stolperte ins Freie. Maier blieb abrupt stehen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein, als sei er gerade stundenlang in einer Bahnhofstoilette eingesperrt gewesen. Er war dünn, aber heute wirkten seine Wangen noch hohler als sonst, und seine vornehme Blässe war einer ungesunden Bleichheit gewichen. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte er die Anwesenheit seines Vorgesetzten. Er musterte ihn von oben bis unten, öffnete den Mund, kratzte sich am Kopf, setzte dann erneut an und sagte schließlich: »Gut, dass du endlich da bist. Also, das ist schon eine ganz harte Nummer. Wirklich, ich …«

»Was ist denn passiert?«, fragte Kluftinger ungeduldig.

»Also …« Maier schien zu überlegen, wo er anfangen sollte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich glaube, es ist trotz allem am besten, wenn du dir selbst ein Bild von der Sache machst.«

Beim Hineingehen entging Kluftinger nicht der mitleidige Blick, den die zwei anderen Beamten austauschten.

Im Aufzug sprachen sie kein Wort, denn Kluftinger hatte bereits begonnen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Ohne zu wissen, was ihn erwartete, versuchte er, seine Emotionen so weit wie möglich unter Kontrolle zu bekommen und seinem Verstand den Oberbefehl für die nächsten Minuten zu übergeben. Dann glitt die Aufzugtür zur Seite.

Der Blick, der sich dem Kommissar bot, beruhigte ihn etwas. Das Treppenhaus, trist und austauschbar, wie es die Treppenhäuser in Hochhäusern der Siebzigerjahre eben waren, dunkelgrün gestrichen und mit braunem, schäbigem Teppichboden, war von einer Betriebsamkeit erfüllt, die er von ungezählten Tatorten kannte: Ein Polizeiabsperrband war quer über den Treppenabsatz gespannt, eine der Türen war offen, davor stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen ein uniformierter Beamter.

In der Wohnung erkannte Kluftinger weitere Kollegen, darunter auch Willi Renn vom Erkennungsdienst, der in einem weißen Ganzkörperanzug und mit Fotoapparat in der Hand an der offen stehenden Tür vorbeilief. Renn verschwand nur wenige Sekunden aus seinem Blickfeld, dann tauchte er wieder auf. Er lief wie in Zeitlupe rückwärts und starrte den Kommissar ungläubig an. Dann riss er den Fotoapparat hoch, drückte auf den Auslöser, und ein heller Lichtblitz nahm Kluftinger für einige Sekunden die Sicht.

Als der Kommissar wieder klar sehen konnte, war Renn verschwunden. Er überlegte, ob er ihm nachrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Dann holte er tief Luft und betrat die Wohnung.

Er sah gleich, dass sich die Aufmerksamkeit der Beamten auf das Zimmer rechts am Ende des kleinen Korridors konzentrierte. Maier schob sich an ihm vorbei und ging voraus. Was Kluftinger sofort auffiel, war, dass die Wohnung ungewöhnlich kahl aussah. Es hingen keine Bilder an der Wand, keine Garderobe war zu sehen. Es wirkte nicht so, als ob hier tatsächlich jemand gewohnt hätte.

»Es war wohl nur eine Art Unterschlupf«, sagte Maier, der Kluftingers Blick richtig gedeutet hatte.

Der Kommissar nickte.

Vor der Tür zu dem Raum, in dem Kluftinger die Leiche vermutete, stand ein weiterer Kollege der Spurensicherung im weißen Plastikanzug. Daneben saß auf einem Stuhl, seinen Kopf an die Wand gelehnt, ein ungefähr vierzigjähriger Mann, den Kluftinger noch nie gesehen hatte. Er trug eine abgewetzte schwarze Lederjacke, kurzes Haar kräuselte sich auf seinem Kopf. Er kaute auf einem Zahnstocher herum. Ein Drei-Tage-Bart unterstrich den schlampigen Eindruck. Die Beine übereinandergeschlagen, wippte er unbeteiligt mit dem Stuhl. Als er die Neuankömmlinge bemerkte, grinste er breit übers ganze Gesicht und sagte mit unverkennbar österreichischem Akzent: »Na, jetzt kann eh nix mehr passiern. Jetzt kommen die Helden in Strumpfhosn.«

Kluftingers Kiefer klappte nach unten. Er war verwirrt, hatte er doch gedacht, er würde auf einen toten Österreicher treffen. Stattdessen musste er sich nun unverschämte Sprüche von einem offenbar quicklebendigen Exemplar anhören. Bevor er etwas erwidern konnte, stand der Mann mit dem pockennarbigen Gesicht auf, streckte ihm die Hand hin und sagte: »Bydlinski, Valentin Bydlinski mein Name. Und was sind Sie? Der Kammerjäger? Oder das deutsche Fernsehballett?«

Kluftinger blieb der Mund offen stehen. Er blickte an sich herab: Gut, er sah nicht gerade wie ein Vorzeige-Kriminalbeamter aus. Seine Beine steckten in einer Art grünen Strumpfhose, um die Unterschenkel schlangen sich lederne Bänder. Außerdem trug er ein grobes Leinenhemd und über seinen Bauch spannte sich ein breiter Gürtel mit riesiger Schnalle. Dass er sein Kostüm nicht ausgezogen hatte, bereute er jetzt, aber er hatte ja nicht wissen können, dass sich noch irgendwelche Fremde am Tatort herumtreiben würden. Seine Kemptener Kollegen wussten, dass er zurzeit in den Proben fürs Freilichtspiel steckte. Im Büro hing für solche Eventualitäten immer ein Anzug zum Wechseln bereit. Und nun grinste ihn hier dieser schlecht rasierte Kerl an und riss Späße über seinen Aufzug.

»Und Sie? Ich dachte, Sie seien tot«, gab der Kommissar schroff zurück.

Das Grinsen des anderen erstarb. Verwirrt wandte sich Maier dem Kommissar zu. »Wieso sollte er denn …«

»Na, du hast doch was von einem toten Österreicher erzählt«, unterbrach ihn Kluftinger. »Gibt’s noch einen Zweiten?«

»Jo, aber der lebt ah no.« Eine kratzige Stimme in Kluftingers Rücken ließ den Kommissar zusammenzucken. »Haas, habe die Ehre.«

Der Kommissar blickte in ein sonnengebräuntes Gesicht. Bevor er irgendetwas erwidern konnte, fügte der Mann an: »Landesgendarmerie … ich meine Polizeikommando Innsbruck. Wie mein Kollege Bydlinski, bitte.«

Jetzt war Kluftinger vollends verwirrt. Was machten Kollegen aus Österreich hier? Von einem Rechtshilfeersuchen war ihm nichts bekannt, die letzte Zusammenarbeit war mindestens ein Vierteljahr her. Und auch von einer Observation, die anmeldepflichtig gewesen wäre, wusste er nichts. Eine solche Anmeldung brauchten die Kollegen zwar nicht, wenn sie ad hoc eine Straftat verfolgten, zumindest die Einsatzzentrale musste aber darüber informiert werden. Und wenn es in seinen Bereich fiel, was hier ganz offensichtlich der Fall war, schließlich auch Kluftinger. Er beschloss, diplomatisch vorzugehen.

»Wenn Sie schon nicht tot sind, welcher Österreicher hat uns denn dann mit seinem Ableben erfreut?«, fragte er und musste sich selbst eingestehen, dass er mit dieser Art der Diplomatie als Politiker wohl schon den einen oder anderen Krieg angezettelt hätte.

Dennoch schien Kluftingers selbstbewusste Art bei den ausländischen Kollegen Wirkung zu zeigen, denn Bydlinski zog den Kopf ein, der ohnehin fast ohne Hals direkt an seiner Schulter angewachsen zu sein schien, und sie gaben den Weg ins Wohnzimmer frei. Kluftinger trat ein und bemerkte, dass Maier ihm nicht folgte. Und er sah auch sofort, warum. Kluftingers Magen drehte sich um und schlagartig wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Denn der Tote hatte genau das nicht mehr: ein Gesicht. Er lehnte mit dem Oberkörper an der Wand, die linke Kopfseite fehlte beinahe völlig. Hinter dem Mann an der Wand, etwa einen Meter über dessen jetziger Position, war ein riesiger Blutfleck; eine breite Blutspur führte nach unten. Bevor sich der Kommissar schaudernd abwandte, sah er im Augenwinkel noch die Pistole, die neben der erschlafften Hand des Mannes lag.

Kluftinger atmete schwer. Und zuckte zusammen, als ihm Georg Böhm, der Pathologe, die Hand auf die Schulter legte. Im Vorbeigehen flüsterte ihm der sarkastisch ins Ohr: »Er ist tot.« Die österreichischen Kollegen verzogen darauf ihre Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Kluftinger wankte den Hausgang entlang, bis er die Tür erreichte, hinter der er das Bad vermutete. Er blickte sich suchend um, fand dann Willi Renn, hob fragend die Augenbrauen und bekam als Antwort ein Kopfnicken. Er betrat den Raum und lehnte sich von innen gegen die Tür.

Er brauchte fast eine Minute, um seine Fassung wiederzuerlangen. Mein Gott, was für ein Anblick, fuhr es ihm immer wieder durch den Kopf. Er stützte sich auf das Waschbecken und drehte den Hahn auf. Dann klatschte er sich mehrere Ladungen eiskalten Wassers ins Gesicht. Er trocknete sich danach nicht ab, denn er verspürte ein unvorstellbares Grauen bei dem Gedanken, das Handtuch des … des Kopflosen benutzen zu müssen. Als er in den Spiegel sah, erschrak er: Er sah selbst aus wie eine Leiche.

Allerdings mit Gesicht. Immerhin.

Nach ein paar tiefen Atemzügen trat er schließlich wieder aus dem Bad heraus. Unschlüssig sah er sich um. Er würde das Zimmer nicht mehr betreten, so viel stand fest. Das musste er auch gar nicht, jede Einzelheit hatte sich in sein fotografisches Gedächtnis eingebrannt. Für immer, wie er fürchtete.

Inzwischen war auch Maier mit den beiden ausländischen Kollegen wieder bei ihm.

»Schön is was anderes«, sagte der, der sich als Haas vorgestellt hatte.

»Jo, hat sich eiskalt ’s Bimmerl wegg’schossn«, fügte Bydlinski hinzu.

»Bitte?«, fragte Maier.

»An Koopf! Wegg’schossn. Bumm, bumm!« Bei den letzten zwei Worten führte Bydlinski zwei Finger an die Schläfe und grinste.

Kluftingers Magen zog sich erneut zusammen. Was waren das nur für Zeitgenossen, denen er da gegenüberstand?

»Sie sind jetzt mal am besten ganz still«, schaltete sich Maier ein. »Was mit Ihnen passiert, steht ja noch auf einem ganz anderen Blatt.«

Kluftinger sah seinen Kollegen fragend an. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch überhaupt keine Ahnung hatte, worum es hier überhaupt ging. Und warum redete Maier so harsch mit den Polizisten aus dem Nachbarland? Sein Verstand kämpfte sich langsam wieder an die Oberfläche. Er ärgerte sich über die Blöße, die er sich vor den Fremden gegeben hatte. Und er ärgerte sich darüber, dass er hier der Einzige zu sein schien, der keinerlei Ahnung hatte, was um ihn herum passierte.

»So, meine Herren«, sagte er deshalb in die Runde und war selbst überrascht, wie fest seine Stimme schon wieder klang, »jetzt redet keiner mehr außer mir.«

Alle blickten ihn erwartungsvoll an.

»Ich meine … jetzt hör ich mal zu, und Sie erzählen mir, was hier vorgefallen ist.«

Bydlinski rieb sich sein vernarbtes Kinn und begann zu erzählen. »Na, wir sind ihm eben nachgefahren. Weil wir ihn nicht verlieren wollten. Da haben wir keine Zeit gehabt, groß irgendwelche Formalitäten einzuhalten. Weißt eh, wie schnell’s manchmal gehen muss. Also, da müsst ihr ja jetzt nicht gleich unsere Vorgesetzten …«

»Wem nachgefahren?« Der Nebel in Kluftingers Kopf hatte sich noch kein bisschen gelichtet.

»Na, dem G’sichtslosen.«

Die pietätlose Art, wie sein österreichischer Kollege über den Toten sprach, rief in Kluftinger eine Mischung aus Abscheu und Wut hervor. Der Kommissar atmete tief durch. Dies verstand Maier offenbar als Zeichen, sich einzuschalten: »Wenn ich mal zusammenfassen darf: Unsere Kollegen hier haben den Mann, der jetzt im Wohnzimmer liegt, verfolgt. Sie hatten ein Päckchen, das an ein Postfach adressiert war, das sie schon einige Zeit unter Beobachtung hatten, geöffnet und …« Maier stockte. »Was hat sich eigentlich in dem Päckchen befunden?«, fragte er, als wäre er selbst überrascht davon, dass er das noch gar nicht wusste.

»Waffen und technisches Zeug«, warf Haas ein und fuhr fort: »Über dieses ominöse Postfach in Innsbruck sind eh schon seit einiger Zeit Transaktionen gelaufen, die, gelinde gesagt, nicht ganz koscher waren. Meist waren es elektronische und mechanische Bauteile, die von den unterschiedlichsten Personen abgeholt wurden. Nicht gut zu identifizieren, wofür die Sachen eigentlich waren. Dieses eine Packerl war aber ein besonderes, weil sich darin Waffen befanden. Wir also dem Kopflosen hinterher – und prompt haut der uns über die Grenze ab. Da sind wir ihm halt einfach hintennach gefahren.«

»Sie hätten uns aber zumindest informieren müssen«, warf Maier ein. »Oder uns die Verfolgung überlassen. Sie hatten doch sein Kennzeichen.«

»Jo, eh klar«, fuhr die kratzige Stimme von Bydlinski dazwischen. »Des war ja auch bestimmt nicht gefälscht. Herrschaft, dass ihr Piefkes immer so auf den Vorschriften rumreitets.« Seinen letzten Satz unterstrich Bydlinski mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Is eh gut, Valentin«, beschwichtigte ihn sein Kollege, der auf Kluftinger einen wesentlich vernünftigeren Eindruck machte. »Sie verstehen, wir sind auch ein bisserl überrascht, wie sich das Ganze entwickelt hat. Naja, Sie haben bestimmt auch schon mal jemand über die Landesgrenze verfolgt, ohne dass das gleich über die Einsatzzentralen gelaufen ist …?« Erwartungsvoll blickte Haas zwischen Maier und Kluftinger hin und her. Als die jedoch keine Miene verzogen, fuhr er fort: »Wie auch immer, man kann das ja auch mit Gefahr im Verzug begründen, wenn Sie’s unbedingt ganz genau haben wollen. Und wir hätten Sie ja auch sicher noch informiert, die Zusammenarbeit klappt doch sonst ganz gut.« Haas sah ihnen noch einmal in die Augen, senkte dann seine Stimme und fügte hinzu: »Vor allem auf dem kleinen Dienstweg, Sie verstehen.«

Dann erzählte er mit seiner normalen Stimmlage weiter: »Jedenfalls ging es dann ganz schnell. Wir sind ihm bis hierher gefolgt, bis zu seiner Wohnung. Da haben wir geklingelt, als niemand aufgemacht hat, haben wir uns als Polizei ausgegeben und … bumm.«

Kluftinger sah seinen Kollegen mit großen Augen an. Offenbar hatte der seinen Bericht jedoch beendet. »Das war alles? Bumm … und das war’s?«

»Wann’s so einen Bumm macht, dann kommt danach eh nimmer viel«, antwortete Bydlinski.

Wieder regte sich der Zorn im Kommissar. Er hatte nicht das Gefühl, dass die Kollegen vor ihm mit offenen Karten spielten. »Wie wär’s, wenn Sie mir ein paar Details mehr geben?«, sagte er deshalb.

Die Österreicher sahen sich an. »Details?«, platzte es schließlich aus Bydlinski heraus. »Sie wollen Details? Die können Sie haben. Als wir den Schuss g’hört haben, haben wir die Tür aufgebrochen und sind hinein. Von unserer Zielperson hammer da schon nix mehr g’sehn. Aber gerochen hammer ihn. Nach Pulver und verbranntem Fleisch hat’s gerochen. Und das Hirn …«

Kluftingers Magen machte einen Satz. Bydlinski musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Dann fuhr er fort: »Sie wissen schon, die Masse an der Wand, also diese kleinen, fiesen Flecken, da, das ist …«

»Schon gut!«, bellte Kluftinger ihm entgegen. Mit aller Macht versuchte er, die Bilder, die sein Kollege heraufbeschworen hatte, niederzukämpfen. »Ich glaube, wir können uns die Details vielleicht doch für später aufheben.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging auf den Ausgang zu. Als er die Türklinke bereits in der Hand hatte, sagte er im geschäftsmäßigsten Ton, der ihm möglich war: »Und Sie … Sie kommen auf jeden Fall auch erst mal mit zu uns.«

Kluftinger, Maier und dicht hinter ihnen Haas und Bydlinski betraten den Backsteinbau der Polizei in Kempten, die bald von der bloßen »Polizeidirektion« zum »Präsidium« aufsteigen würde, was für Kluftinger den unangenehmen Umstand mit sich bringen würde, dass er und die gesamte Kriminalpolizei mit ihm in eine ehemalige Untersuchungsanstalt für Milchprodukte im Stadtzentrum würde umziehen müssen. Und das sollte bereits in wenigen Wochen geschehen. Schon seit über einem Monat stapelten sich in der gesamten Abteilung die Umzugskartons.

»Ich geh schnell noch aufs Häusl«, tönte Bydlinski und machte auf der Türschwelle kehrt.

Die anderen setzten sich und warteten auf ihren Chef, Kriminaldirektor Lodenbacher. Kluftinger fühlte ein gewisses Unbehagen wegen der Grenzübertretung der österreichischen Kollegen. Rechtlich kannte er sich da nicht allzu gut aus. Und so hatte er es für besser gehalten, Lodenbacher anzurufen, der in seinem niederbayerischen Dialekt angekündigt hatte, er werde »sofoat kemma«, und sich ausgebeten hatte, dass ohne ihn »oba scho gleich gor nix« unternommen werden solle. Haas erklärte den beiden Kemptener Beamten, während sie warteten, dass seine Kirschen im Garten gerade völlig ausgereift wären und dass, wenn er gewusst hätte, dass er hierher kommen würde, er auf jeden Fall ein Körbchen mitgebracht hätte.

Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür – für Kluftinger, Maier und Strobl, der etwas später zu ihnen gestoßen war, ein eindeutiges Zeichen, dass es nicht Lodenbacher war, der da kam. Stattdessen betrat Bydlinski das Büro.

Grinsend fragte er: »Sagts Leut, euer Kollege Lodenmacher ist ein bisserl ein Unentspannter, oder?«

Kluftinger runzelte die Stirn und sah zu Maier. Kannte Bydlinski ihren Chef? Hatte sich dessen Ruf bereits über die Landesgrenzen bis nach Innsbruck verbreitet?

»Wie … kennen Sie sich denn?«

»Jo, hab ihn grad auf dem Gang getroffen. Ist doch ein Kollege, oder? Ein so ein grantiger Mensch. Hab ihn nur gefragt, du, hab ich gefragt, wo is denn bei euch des Scheißhäusl, Kollege?«

Mit einem Lächeln sah Kluftinger zu Maier und Strobl, dann fuhr der Österreicher fort: »Drauf fährt er mich an wie so ein wildes Eichhörndl, schließlich sei er hier der Lodenmacher, ob ich das nicht wüsst. Weiß ich eh nicht, weil ich noch nie da war. Ich hab ihn nur noch gefragt, ob er aus Schottland kommt, wegen der karierten Hose. Drauf wird der rot wie ein Paradeiser und brüllt rum, dann bin ich einfach wortlos gegangen. Dem müsst ihr mal ein bisserl Baldrian in den Tee träufeln, Kollegen.«

Noch bevor Kluftinger sich innerlich entschieden hatte, ob er sich über das kleine Scharmützel Bydlinskis freuen sollte oder ob er sich ärgern sollte, weil die ganze Abteilung dann wieder die schlechte Laune des Chefs ausbaden musste, wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen, und Lodenbacher stand plötzlich aufgeregt und mit rotem Kopf vor ihnen.

»Meine Herrn«, brummte er, »Sie wissn, dass des a ganz a hoaklige Soch is, de uns de Österreicher do eibrockt homm.«

Während Bydlinski betroffen zum Fenster hinaussah und an seinen Fingernägeln herumkaute, räusperte sich Haas, stand auf und streckte Lodenbacher die Hand zur Begrüßung hin.

»Gestatten, Simon Haas, Major beim Landesgendarmerie … entschuldigen Sie, jetzt heißt es ja Landespolizeikommando Innsbruck. Herr Kriminaloberst Lodenbacher, nehm ich an?«

Jetzt fehlt bloß noch das »Küss die Hand«, dachte sich Kluftinger. Lodenbachers Miene jedoch hellte sich sichtbar auf.

»Kriminaldirektor, richtig.«

Bydlinski erhob sich nun ebenfalls und ging auf Lodenbacher zu, der sich aber abwandte.

»Meine Herrn Kollegn, werte … ausländische Gäste«, hob Lodenbacher nun zu einem gut zehnminütigen Referat über die Regelungen beim Grenzübertritt von Polizeibeamten im Einsatz an. Sie wüssten alle, dass er kraft seines Amtes Grenzbeauftragter für Tirol und Vorarlberg und somit für die ganze Misere in gewisser Weise verantwortlich sei. Kluftinger hörte aufmerksam zu, so aufmerksam wie selten, wenn sein Chef eine dienstrechtliche Standpauke hielt. Nicht nur, weil man ihm und seiner Abteilung nichts vorwerfen konnte, sondern schlichtweg, weil er die Regelungen nicht mehr im Kopf hatte.

Er wusste noch, dass man für aufwendigere Ermittlungen im anderen Land ein Rechtshilfeersuchen brauchte, das über die Staatsanwaltschaft lief. Und Observationen musste man von langer Hand planen und anmelden. Zudem hatte man im Verfolgungsfall mittlerweile spezielle Wegerechte: So durfte man mit Blaulicht fahren und Täter festnehmen, nicht jedoch abführen. Früher, erinnerte sich Kluftinger, vor dem Schengener Abkommen, vor den offenen Grenzen, hatte manche Verfolgungsfahrt in Pfronten am Grenzhäuschen geendet, und der betrunkene oder straffällige Fahrer winkte zum Abschied aus Österreich herüber. Und ganz früher war das selbst an der Grenze zu Baden-Württemberg so gewesen. Kurz vor Leutkirch war da für den bayerischen Streifenwagen Schluss. Irgendwie auch eine schöne Zeit. Sein Vater, der Dorfpolizist, und sein Onkel, der beim Zoll gewesen war, hatten sich auf Familienfeiern gerne Geschichten von Schmugglern erzählt.

»Was wissen Sie über Nacheile, Kluftinga?«

Scheinbar hatte Lodenbacher die Frage bereits mehrmals gestellt.

»Als Nacheile bezeichnet man …«, setzte Maier an, wurde aber von Lodenbacher unterbrochen: »Ich hob Eahnan Herrn Voagesetztn gfrogt, Maier.«

»Nach … eile?« Kluftinger schluckte. Was war denn nun los? Er hatte doch nichts falsch gemacht! Warum fuhr ihn Lodenbacher so an? Und Nacheile sagte ihm rein gar nichts mehr. Er kam sich vor wie in der Ausbildung, als er bei einer mündlichen Prüfung so nervös gewesen war, dass nur ein Schnaps des Prüfers damals den Frosch in seinem Hals hatte lösen können.

»Nacheile, Herr Lodenbacher, Nach…eile«, stammelte der Kommissar, bevor er einfach losredete: »Nacheile heißt, dass wenn man jemandem … nacheilt, also ihn eilig verfolgt, da hat man also gewisse … Spezialrechte, nicht wahr? Befugnisse, die …«

»Moment, wir sind nicht geeilt, sondern haben nur observiert«, lenkte Bydlinski die Aufmerksamkeit grinsend auf sich. »Und was der Kollege sagen wollte, ist, dass man im Notfall einem flüchtigen Täter oder mutmaßlichen Täter über die Grenze nachfahren kann. Da muss man dann bei der Einsatzzentrale anrufen, wissen wir eh.«

»Ah ja?«, brummte Lodenbacher gereizt. Kluftinger fiel ein Stein vom Herzen. Der Chef hatte von ihm abgelassen und ein anderes Opfer gefunden. »Und wer vo Eahna hot do ogruafa, bittschön? Bei uns is koa Ruaf eingegangen, Herr …«

»Bydlinski, Valentin. Landesgendarmeriekommando Tirol. Weiß ich, dass mir Sie nicht antelefoniert haben. Weil mir keine Umständ machen wollten.«

Kluftinger hörte noch eine Weile dem kleinen, niederbayerischösterreichischen Grenzscharmützel zu, bevor er sich verpflichtet fühlte, Bydlinski nun zur Seite zu stehen, nachdem der vorher für Kluftinger in die Bresche gesprungen war. »Herr Lodenbacher, ich denke, wichtiger als die dienstrechtlichen Verwicklungen sind im Moment der Selbstmord und die geheimnisvollen Umstände, die dazu geführt haben, meinen Sie nicht?«

Lodenbacher horchte auf. Eigentlich war er es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach. Er nickte irritiert, stand zögernd auf und verließ mit den Worten: »Mochn S’ doch, wos Sie moanan!« den Raum.

Kluftinger wandte sich an die Österreicher: »Wir suchen Ihnen am besten ein Hotel für die Nacht.«

»Hotel? Ich weiß net. Is eh schon spät und teuer isses obendrein. Hobt’s koan Häfn?«, fragte Bydlinski, grinste, und ließ dabei seine gelben Zähne sehen.

»Hm?« Kluftinger hatte keine Ahnung, was er genau wollte.

»An Häfn. Hobt’s koan? Wir nehmen auch a Doppelzell, oder, Simon?«

Haas nickte. Kluftinger schüttelte den Kopf. Zwei seltsame Vögel waren das, diese Österreicher.

»Aber ihr könnt sonst auch bei mir übernachten. Ich hätte schon Platz«, bot Maier an.

»Na, na, wir schlafen hier, wenn’s keine Umstände macht. Wir haben eh schon für genug Wirbel gesorgt. Und ein Kiberer in der Gewahrsamszelle ist eh einmal was anderes. Bloß nicht einsperrn und den Schlüssel verlieren, Kollegen!«

Nachdem Kluftinger Strobl für den nächsten Vormittag noch aufgetragen hatte, Genaueres über die Identität, die Lebensumstände und eventuelle Angehörige des Selbstmörders herauszufinden, rief er einen Kollegen der Bereitschaft, der die österreichischen Beamten in ihr Nachtlager im Zellentrakt im Untergeschoss geleiten sollte. Vorher hatten sich die beiden noch Pizza bestellt. Und dabei mehrere Minuten gebraucht, um glaubhaft zu versichern, dass die im Zellentrakt der Polizeidirektion abgegeben werden sollte.

Noch 11 Tage, 15 Stunden, 9 Minuten, 12 Sekunden

Kluftinger lächelte, als er aus dem Fenster sah. Er sog den Duft der taufrischen Wiesen hinter dem Haus ein, der durchs gekippte Fenster ins Schlafzimmer drang. Seine Frau schlief noch. Er schaltete den Wecker aus, der in zwei Minuten Schlagermusik von sich geben würde, streichelte Erika über die Wange und ging beschwingt ins Bad.

Auch die Zeitung schien ihm heute interessanter als sonst, das Brot ein wenig kerniger, die Butter einen Tick frischer. Aus dem Marmeladetopf schien der Duft seines Erdbeerbeets aufzusteigen, und als er die Kaffeetasse mit Pulverkaffee vom sonnenüberfluteten Küchentisch nahm, kam er sich vor wie in der Margarinereklame. Was hatte er nur für ein Leben!

Vom ersten Stock hörte er Geräusche, dann polterte Markus die Treppe herunter. Es war wie früher, als sein Sohn noch in der Schule gewesen war.

»Morgen, Vatter!«, sagte er gähnend und rieb sich die verschlafenen Augen. Er trug nur ein T-Shirt und Boxershorts.

Kluftinger blickte zur Küchenuhr, einer umgebauten Delfter Kachel, die sie von einem der wenigen Urlaube, die nicht nach Südtirol oder an den Gardasee gegangen waren, mitgebracht hatten. Es war bereits zehn vor sieben, und Kluftinger war schleierhaft, wie Markus, der gerade ein Praktikum bei der Kemptener Polizei ableistete – schließlich wollte er nach seinem Psychologiestudium als Profiler arbeiten –, den Dienstbeginn um sieben Uhr dreißig schaffen wollte.

»Sag mal, Markus, dir ist schon klar, dass ich in zehn Minuten fahr, oder? Mir ist das ja egal, ob du erst um halb zwei nachts heimkommst. Bist alt genug. Aber ich sag dir eins, wenn mir zu Ohren kommt, dass du da schon in der ersten Woche zu spät kommst, dann fang ich auf meine alten Tage noch an, dich zu erziehen!« Kluftingers anfängliche Verärgerung war während seines letzten Satzes einem Lächeln gewichen. »Komm jetzt, das schaffst du schon noch!«

Mit einem »Hm?«, das signalisierte, dass Markus seinem Vater überhaupt nicht zugehört hatte, hob der den Kopf, zog die Augenbrauen hoch und ging zum Wasserkocher, um sich ebenfalls einen Kaffee aufzubrühen.

»Jetzt zieh dich an, du Phlegma, Herrgottsakrament! Was macht denn das für einen Eindruck? Um halb acht ist Dienstbeginn bei uns!«

Markus drehte sich grinsend zu seinem Vater um: »Bei euch schon, Vatter! Mich holen die Kollegen um dreiviertel acht hier ab. Die müssen irgendwas im Milchwerk überprüfen, und da haben sie angeboten, vorher vorbeizukommen.«

Alle Achtung. Markus schien sich ja schon recht gut integriert zu haben. Wenn er da an seine Anfangszeit bei der Polizei dachte: Da war er allenfalls der Brotzeitholer gewesen, der am Abend auch noch die Garage zusammenkehren durfte. Saubere Zeiten waren das heutzutage, wo man Praktikanten herumchauffierte.

Ein bisschen weniger beschwingt als zuvor verabschiedete sich Kluftinger von seinem Sohn. Als er zur Garderobe ging, um seinen Janker vom Haken zu nehmen, stand Erika im Morgenmantel auf der Treppe.

»Du, probierst du bitte heute noch die schwarzen Lackschuhe?«, bat sie ihren Mann. »Ich hab sie dir gestern Abend noch geputzt und rausgestellt. Nicht, dass sie dir nicht mehr passen, dann müssen wir noch neue kaufen. Du hast ja sonst keine mit Ledersohle.«

Kluftinger sah Erika verwirrt an.

»Ledersohle? Doch, die Haferlschuhe. Die aus der Kapelle.«

»Also jetzt geh, die kannst du doch dafür nicht anziehen. Was sagen denn da die Annegret und der Martin, wenn du mit denen zur ersten Tanzstunde kommst.«

Die Wende war schlagartig und ohne jede Vorwarnung gekommen. Ein Wort hatte ausgereicht, um Kluftinger den vielversprechenden Tag zu vergällen. »Tanzkurs«, brummte er vor sich hin, als er den ersten Schnürsenkel seiner »Salontreter« band, wie er sein einziges wirklich edles Paar Schuhe nannte. Seine Frau hatte letztes Jahr den Langhammers einen Tanzkurs zu Weihnachten geschenkt – zu viert! Ohne sein Wissen. Und er hatte sich damals geschworen, dass es niemals dazu kommen würde. Ausgerechnet der Altusrieder Arzt musste mit Erikas bester Freundin verheiratet sein. Annegret ging ja noch. Kluftinger hätte sie wirklich mögen können, wenn sie nicht immer ihren blasierten, besserwisserischen Gatten bei sich gehabt hätte.

»Passen nicht mehr, viel zu eng, Erika … leider. Und wenn ich mit den Haferlschuhen nicht gehen kann, dann wird’s halt nix mit dem … Tanzkurs. Schade. Aber dann gehst du halt allein. Gibt da immer auch Leihherren, hört man.«

»Ich leih mir doch keinen, wenn ich mit einem verheiratet bin. Wir gehen Schuhe kaufen, und zwar noch heute oder notfalls irgendwann diese Woche. Wann passt es dir?«

»Heute auf keinen Fall, du bist gut, mit den internationalen Verwicklungen gerade. Und morgen wird’s nicht viel besser ausschauen, könnt ich mir vorstellen.«

»Gut, also morgen? Oder übermorgen? In der Mittagspause. Wir können uns dann ja gleich in der Stadt treffen«, sagte Erika in einem Ton, der Gedanken an eine Widerrede gar nicht erst aufkommen ließ.

Und er musste jetzt auch los. Bis zum geplanten Termin würde ihm schon noch etwas einfallen, was dazwischenkommen würde. Und vielleicht hatte er bis dahin auch schon eine Idee, wie er um diesen schrecklichen Tanzkurs ganz herumkam.

»Du, mal schauen, wie gesagt«, brummte Kluftinger. Dann schlüpfte er in seine Alltagshaferlschuhe mit Gummisohle, gab seiner Frau ohne ein weiteres Wort einen flüchtigen Kuss auf die Wange und zog die Tür hinter sich zu.

Es war seltsam: Meist gingen in seinem Leben außergewöhnliche berufliche Vorfälle mit ebenso unerwünschten Störungen seines ansonsten geregelten Privatlebens einher. Kluftinger hing diesem Gedanken eine Weile nach und dachte an den Selbstmörder, der das Geheimnis über sein freiwilliges Ableben mit ins Grab genommen hatte. Außerdem zeichneten sich wegen des unüberlegten Vorgehens der österreichischen Kollegen diplomatische Verwicklungen ab. Und zu allem Überfluss war nun auch noch das Schreckgespenst eines Tanzkurses mit den Langhammers am Horizont aufgetaucht.

Der Kommissar hatte ein ungutes Gefühl, als er seinen Wagen durch die Hügellandschaft des Voralpenlandes lenkte. Und er fasste einen Entschluss: Konnte er schon auf die Ent- und Verwicklungen in seinem aktuellen Fall keinen Einfluss nehmen, so hatte er zumindest noch eine gewisse Kontrolle über sein Privatleben. Und einen Tanzkurs würde er in seinem Leben nicht mehr bestreiten, so viel war sicher.

Zumindest etwas erleichtert über diese Entscheidung betrat er das Gebäude der Polizeidirektion. Beim Blick auf das metallene Schild am Eingang überkam ihn eine nostalgische Stimmung: Dass Kempten in Kürze Sitz des Polizeipräsidiums Schwaben-Süd/West werden würde, stimmte ihn nicht gerade fröhlich. Überhaupt schien sich außer Lodenbacher niemand darüber wirklich zu freuen. Der Zuständigkeitsbereich aller Abteilungen würde sich erheblich vergrößern und nun von Ulm bis in die Alpen, vom Bodensee bis Füssen reichen.

Natürlich hatte man ihnen versichert, dass deswegen keine Mehrarbeit, sondern nur eine andere Organisation aller vorhandenen Dienststellen nötig sein würde. Dass man die Polizei vor Ort sogar entlasten wolle und nur die Alarmierung an einer Einsatzzentrale zusammenfassen wolle. Das jedenfalls wiederholte Lodenbacher seit Monaten gebetsmühlenartig. Doch kaum einer von Kluftingers Kollegen glaubte diesen Versprechungen. Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann, dass der Staat keine Gelegenheit ausließ, ihnen mehr Arbeit aufzubürden.

Doch das Schlimmste für Kluftinger war etwas ganz anderes: Weil die Kripo infolge der Neuorganisation aus Platzmangel ausgegliedert werden musste, würde er in Zukunft durch die ganze Stadt fahren müssen, um zu seinem neuen Arbeitsplatz zu gelangen – und einen reservierten Parkplatz gab es beim neuen Gebäude auch nicht.

Seufzend nahm der Kommissar die Treppe zu seiner Abteilung. Als er die Tür zu Sandy Henskes Büro betrat, stutzte er: Das Gesicht der Abteilungssekretärin war hochrot angelaufen, und er bekam gerade noch ihren verlegenen Blick mit, den sie in Richtung seiner Bürotür warf – von wo ihr Valentin Bydlinski eine Kusshand zuwarf.

Die Österreicher verlieren ja wirklich keine Zeit, dachte Kluftinger, nickte seiner Sekretärin kurz zu und betrat sein Dienstzimmer. Es schien, als warteten alle bereits auf ihn, obwohl es erst sieben Uhr dreißig war und die anderen sicher noch nicht sehr lange hier waren. Eugen Strobl, Richard Maier und Roland Hefele hatten in der Sitzgruppe Platz genommen, während Bydlinski und Haas auf zwei Stühlen vor Kluftingers Schreibtisch saßen. Es war wie früher bei Klassenfahrten oder bei ihren Betriebsfeiern: Diejenigen, die sich sowieso schon gut kannten, saßen immer zusammen, statt sich auf das Abenteuer einzulassen, neue Bekanntschaften zu schließen. Er verurteilte diese menschliche Eigenart nicht, die sich gerade hier im Allgäu allergrößter Beliebtheit erfreute, er nahm sie lediglich zur Kenntnis. Er selbst folgte diesem Verhaltensmuster, seit er denken konnte.

Mit einem gemurmelten Gruß setzte sich Kluftinger an seinen Schreibtisch. Je mehr Arbeit und vor allem Unannehmlichkeiten er an einem Tag auf sich zukommen sah, desto vernuschelter fiel sein »Guten Morgen« aus. Heute war es kaum mehr als ein Räuspern.

Doch als er seinen Computer eingeschaltet hatte und aufblickte, wunderte er sich. War er der Einzige, der dem heutigen Tag nichts Gutes abgewinnen konnte? Die Mundwinkel seiner Kollegen hatten sich zu einem breiten Grinsen verzogen. Selbst die österreichischen Kollegen lächelten, auch wenn es bei Bydlinski eher spöttisch als amüsiert aussah. Der Kommissar blickte von einem zum anderen, und wann immer er jemanden anblickte, schien derjenige besonders bemüht, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Er sah an sich hinab: Hatte er schon wieder etwas Komisches an? Wenn, dann wäre das streng genommen sowieso Erikas Schuld gewesen. Seit vielen Jahren legte sie ihm auf dem »G’wandsessel« im Schlafzimmer immer ihren Vorschlag für seine Tagesgarderobe zurecht. Meist hielt er sich an ihre Empfehlungen, da es ihm im Großen und Ganzen sowieso egal war, was er trug – solange es bequem und zweckmäßig war.

Aber heute? Er konnte nichts Auffälliges an seiner Kleidung entdecken. Vor allem nicht im Gegensatz zu gestern.

»Brauchen Sie noch irgendwas?« Sandys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wollte gerade verneinen, doch als er aufsah, bemerkte er, dass sie nicht ihn, sondern Bydlinski ansah.

»Nein, wir rufen Sie dann schon«, antwortete Kluftinger unwirsch und blickte ihr nach. Als sie die Tür hinter sich zuzog, stutzte er. An der Innenseite klebte ein Foto. Für einen kurzen Moment war er sich nicht sicher, ob es schon immer da gehangen hatte oder nicht. Dann erst erkannte er, was darauf abgebildet war: Es war ein bärtiger Mann in grüner Strumpfhose, mit einem breiten Ledergürtel und … das war er selbst! Sein Kopf wurde heiß. Wortlos stand er auf, würdigte seine Kollegen dabei keines Blickes und riss das Foto von der Tür. Während er es zusammenknüllte, presste er ein »Willi!« aus seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen und schlug gegen den Kommissar. Lodenbacher sah ihn verdutzt an, entschuldigte sich jedoch nicht, sondern preschte zu den beiden Kollegen aus dem Nachbarland, die vor Kluftingers Schreibtisch saßen. Sofort ließ er eine Schimpfkanonade in einem solchen Tempo auf die beiden niedergehen, dass selbst Kluftinger nur Bruchstücke verstand. Dass sie »no wos zum Hearn kriagn wearn« bekam er mit, dass ihre Vorgesetzten in Österreich wegen des Vorfalls »bös gschimpft« hätten und dass sie »auf der Stei« nach Hause fahren sollten. Dann machte Lodenbacher so ruckartig kehrt, dass er dabei wie ein Militär aussah, lief zackig zur Tür und verschwand.

Bydlinski und Haas schienen ehrlich betroffen von dem unerwarteten Ausbruch und machten Anstalten, sich zu erheben.

»Kommt ja überhaupt nicht in Frage«, sagte Kluftinger bestimmt. Die beiden setzten sich wieder und sahen ihn fragend an. »Sie sagen uns jetzt erst einmal genau, was los ist, vorher geht hier niemand irgendwohin. Wir machen das folgendermaßen …« Er blickte ein paar Sekunden zur Decke und fuhr dann fort: »Sie können mit dem Kollegen Hefele in sein Büro gehen. Benutzen Sie einfach alles, was Sie brauchen – Fax, Telefon, Computer, damit Sie uns in …«, wieder blickte er kurz zur Decke, »… zwei Stunden eine detaillierte Präsentation Ihrer bisherigen Untersuchungsergebnisse abliefern können. Der Kollege wird Ihnen dabei behilflich sein.«

Weil die Österreicher nicht sofort aufstanden, hob Kluftinger die Augenbrauen und sagte: »Noch Fragen?«

Verdutzt sahen sich die beiden an. Offenbar waren sie einen solchen Umgangston nicht gewohnt, doch er zeigte Wirkung. »Na, na … is eh klar ois«, murmelten sie und erhoben sich. Hefele begleitete sie widerwillig hinaus.

Die Blicke der anderen Kollegen folgten ihnen, wobei Maier seine Freude darüber kaum verbergen konnte, dass diesmal nicht er den »Deppen-Job«, wie sie solche Aufträge nannten, erledigen musste.

»Kann sich einer von euch erklären, warum der Chef wie ein HB-Männchen hochgegangen ist?«, fragte Kluftinger schließlich, als die drei den Raum verlassen hatten.

Maier zuckte die Achseln und sah zu Strobl. Der nickte: »Es laufen doch gerade die Vorbereitungen für die Konferenz der Polizeichefs der Bodenseeanrainer.«

Natürlich, jetzt dämmerte es dem Kommissar. Tatsächlich hatte er vor ein paar Tagen davon gehört, dass sich dieses internationale Gremium regelmäßig zum Erfahrungsaustausch treffen wollte. Und der erste Gastgeber war die Allgäuer Polizei, deren Einzugsgebiet ja bis Lindau ging. Kein Wunder, dass Lodenbacher auf diese Störung der multilateralen Beziehungen so empfindlich reagierte.

Doch Strobl war noch nicht fertig. Mit einem spöttischen Grinsen um die Lippen fügte er hinzu: »Und heute treffen sich deswegen ein paar Leute im Ministerium. Er auch.«

Die anderen nickten wissend, spitzten die Münder und grinsten. Auch wenn die Sache mit den Kollegen ihre Arbeit nicht leichter machte: Ihrem Chef gönnten sie diese kleine Staatsaffäre.

Kluftinger nutzte die Zeit, die er Bydlinski und Haas zur Vorbereitung ihrer Präsentation gegeben hatte, um den Inhalt seines Schreibtisches unschlüssig von einer Schublade in die andere umzuräumen. Er hatte sich einen Umzugskarton danebengestellt, in den er seine Sachen verpacken wollte, doch er wusste nicht, welche und vor allem, nach welchem System. Bei Richard Maier war das anders. Schon seit sie vor über einem Jahr vom bevorstehenden Umzug erfahren hatten, strukturierte er irgendetwas an seinem Arbeitsplatz neu, um den Transport möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen. Er hatte sich sogar ein Buch über Methoden des effizienten Aufräumens gekauft, mit dessen Weisheiten er nun die Kollegen nervte.

Es ärgerte Kluftinger, dass Maier immer so penibel und gut organisiert war. Noch mehr ärgerte ihn jedoch die Tatsache, dass er selbst so wenig mit diesen Eigenschaften gesegnet war. Er sah auf die Uhr: In zehn Minuten waren sie alle im Besprechungsraum verabredet. Seufzend stand er auf, schob die Kiste neben seinem Schreibtisch mit dem Fuß in die Ecke und machte sich noch schnell auf den Weg zur Toilette.

Der Raum war menschenleer und somit war auch »sein« Pissoir frei. Manchmal schämte er sich dafür, dass er sich immer an derselben Schüssel seines Harndrangs entledigte. Doch in Büros war das nun einmal so, rechtfertigte er sich vor sich selbst. Es bildeten sich mit der Zeit Gewohnheiten heraus, die zu regelrechten Manien werden konnten. Auch in den Konferenzen hatten sie immer die gleiche Sitzordnung: er in der Mitte an der Stirnseite, rechts von ihm Strobl, Hefele links und – je nachdem, wie viele Kollegen sonst noch teilnahmen – Maier so weit wie möglich von ihnen entfernt. Und auf dem Klo war es nicht anders. Früher hatte er immer das Pissoir am Fenster genommen. Doch seit er in einem Fernsehbericht gesehen hatte, dass Männer in einer leeren Toilette immer die Schüssel wählten, die am weitesten vom Eingang entfernt lag, war er ein Pissoir weiter nach rechts in Richtung Tür gewandert. Er musste sich von keinem Psychologen erklären lassen, wo er zu pinkeln hatte.

So war also die zweite Schüssel von links im Laufe der vielen Jahre zu der seinen geworden. Er dachte gerade daran, dass all die lieb gewonnenen Gewohnheiten in ihren neuen Räumlichkeiten wieder völlig neu geregelt werden müssten, als er den Kopf hob. Augenblicklich versiegte sein Strahl, und sein Kiefer klappte nach unten. Direkt vor seine Augen, über seine Schüssel, hatte jemand ein Foto gehängt. Es zeigte einen bärtigen Mann mit grüner Strumpfhose und breitem Ledergürtel. Es war das gleiche Foto, das vorher an seiner Bürotür gehangen hatte. Das Foto, das Willi gestern am Tatort von ihm gemacht hatte. Mit hochrotem Kopf riss er es von der Wand und verließ die Toilette, ohne die Spülung zu betätigen oder sich die Hände zu waschen.

Heute war ihre Sitzordnung im Besprechungsraum etwas durcheinandergeraten. Es war kurz vor zehn Uhr, und die Kollegen der Tiroler Landespolizei hatten bereits am Kopfende des großen Tisches Platz genommen. Die übrigen Kollegen, die nach und nach eintrudelten, waren ein wenig irritiert, und jeder zögerte, bevor er sich einen neuen Platz mit einem neuen Sitznachbarn aussuchte.

Als Letzter betrat Kluftinger das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Noch während er auf den Tisch zuging, sagte er: »So, wir sind alle gespannt, was Sie uns zu erzählen haben. Fangen Sie doch einfach an.« Mit diesen Worten nahm er zwischen Strobl und Hefele Platz und blickte erwartungsvoll zu den Kollegen aus Tirol, von denen jeder vor einem kleinen Stapel bedruckten Papiers saß.

»Gut, dann mach ich mal den Anfang«, sagte Simon Haas, räusperte sich und stand auf. »Ich hab Ihnen eh schon erklärt, dass wir dieses Postfach beobachtet haben. Am besten fange ich da an, wo wir darauf aufmerksam geworden sind.« Er machte eine kurze Pause, als erwarte er Zustimmung oder wenigstens ein Kopfnicken. Als aber überhaupt keine Reaktion erfolgte, fuhr er fort: »Also, wir sind vor einigen Monaten bei einer Razzia in Innsbruck auf einen Mann gestoßen, der ein richtiges Waffenarsenal zu Hause hatte.« Bei diesen Worten nahm Haas eines der Papiere vom Tisch und hielt es hoch. Darauf war, in schlechter Druckqualität, ein finster dreinblickender, dunkelhaariger Mann zu sehen. »Wie sich bald herausstellte, betrieb er einen gut gehenden Waffenhandel. Keine Riesennummer, aber sicher auch kein ganz unbedeutendes Rädchen im Waffengeschäft. Er heißt Igor Metjev, wie der Name unschwer erkennen lässt, Ausländer.«

Maier murmelte etwas, was keiner der Anwesenden verstand.

»Was?«, fragte Haas.

»Migration«, sagte Maier etwas lauter.

»Wie – Migration?«

»Er ist ein Mann mit Migrationshintergrund. Ausländer sagt man nicht mehr.« Bei diesen Worten nickte Maier demonstrativ in die Runde.

Haas runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. »Metjev kommt aus Tadschikistan. Von dort bezog er auch einen großen Teil seiner Lieferungen. Und er hatte dieses Postfach. Das Seltsame daran war: Das Fach wurde auch dann noch frequentiert, nachdem wir ihn haben hochgehen lassen.«

»Post, hm?«, sprach Kluftinger einen Gedanken laut aus.

Haas hielt inne. Er schien zu ahnen, welche Frage der Kommissar nun stellen würde.

»Warum um alles in der Welt per Post? Das ist doch viel zu riskant!«

Haas grinste. »Ja, das meinen die meisten. Aber denken Sie mal drüber nach: Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Sendungen sind natürlich anonym, immer auf anderen Postämtern aufgegeben. Zugang haben immer mehrere Personen. Es findet keine echte Übergabe statt, denn abgeholt werden sie ja immer nur von den Postfachmietern. Und dann haben die Brüder natürlich vorgesorgt. Sollte ein Päckchen mal verloren gehen – kein Problem. Meist finden sich nur Waffenkomponenten darin, die Experten vor Ort dann zusammensetzen. Das begrenzt den Schaden.«

Haas machte eine kleine Pause und ließ das Gesagte ins Bewusstsein der deutschen Kommissare sickern. Der Österreicher fuhr erst fort, als seine deutschen Kollegen verständig nickten.

»Wir behielten das Postfach natürlich im Auge.« Wieder hielt er ein paar Ausdrucke hoch, die offensichtlich Bilder einer Überwachungskamera zeigten, die auf eine Wand voller Schließfächer gerichtet war. »Wenn was eingegangen ist, wurden wir verständigt. Und das Treiben ging da munter weiter. Als sei es egal, ob wir einen von ihnen einkassiert haben. Das anonyme Postfach blieb bestehen. Und das war ja ganz in unserem Sinne. Es waren übrigens die tollsten Dinger in den Sendungen. Nicht nur Waffenteile. Auch Schriftstücke in den unterschiedlichsten Sprachen, manchmal ganz belanglose Sachen. Einmal sogar mehrere Flaschen Rosenwasser. Weiß Gott, wofür die das alles gebraucht haben.«

»Marzipan, Kollege, Marzipan«, brummte Maier wissend, aber so laut, dass ruckartig alle zu ihm sahen.

»Was ist los, Richie?«

»Marzipan. Rosenwasser verwendet man zur Herstellung von Marzipan und Persipan, einer Variante, die aus Aprikosenkernen hergestellt wird.«

Alle sahen sich baff an. Wieder setzte Haas nur mit einem Kopfschütteln zur Fortsetzung seiner Erklärung an. »Jedenfalls haben wir natürlich alle beschattet, die Zugriff auf das Postfach hatten. Einige Wochen ging das so. Bis wir eine kleine Überraschung erlebten und ein Deutscher in unser Innsbrucker Postamt hereingeschneit kam.«

Haas’ Gesichtsausdruck änderte sich kaum merklich, aber Kluftinger fiel es sofort auf: Hatte er während des ganzen Vortrags sehr selbstsicher gewirkt, legten sich nun kleine Falten auf seine Stirn. Er senkte den Kopf etwas und kratzte sich mit einer Hand im Nacken. Man musste kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Haas das nun Folgende unangenehm war. »Naja, wir hätten das natürlich umständlich über die Einsatzzentralen abklären können … Ihr wisst schon, das ganze Programm mit Rechtshilfeersuchen und Staatsanwaltschaft und dem ganzen Bohei.«

Kluftinger zog die Augenbrauen bei der vertraulichen Anrede zusammen. Haas versuchte ganz offensichtlich, sich so die Absolution für seinen Fauxpas abzuholen.

»Aber dann wäre er vielleicht weg gewesen! Das versteht ihr doch, oder?« Haas sah sie einen nach dem anderen an. Als sie nicht reagierten, setzte er eindringlich hinzu: »Wir haben gedacht, es kriegt ja eh keiner mit. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Hätt euch eh nur Scherereien und Arbeit gemacht. Ihr hättet doch bestimmt genauso gehandelt …«

Wieder blieb es still. In diese Stille hinein platzte plötzlich Bydlinskis raue Stimme: »Wir ham ja nicht ahnen können, dass der gleich so … den Kopf verliert.« Dabei bleckte er seine gelben Zähne, was Kluftinger als seine spezielle Art eines Grinsens kennengelernt hatte. Er ballte die Hände: Wie dieser Kollege über Tote sprach, widerte ihn an. Er sah zu Strobl, der ebenfalls irritiert dreinblickte.

Doch Strobls Gesichtsausdruck hatte nichts mit Bydlinskis Rohheit zu tun. »Waffenschieber«, hauchte er. Sofort wurde auch Kluftinger klar, was er meinte. Der Kommissar schluckte. Er hatte sich von der Antipathie gegen den Kollegen gedanklich weit von dem Fall entfernt. Natürlich war das, was er gerade erfahren hatte, sehr beunruhigend. Viel beunruhigender als der Gedanke, dass es im Nachbarland offenbar Kollegen gab, die von Respekt gegenüber Verstorbenen nicht viel hielten. Wenn sich das wirklich bewahrheitete und die Spur der Waffenlieferungen hierher ins Allgäu führte, dann Mahlzeit, dachte Kluftinger.

»Die entscheidende Frage ist nun: warum?« Haas’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Warum was?«, fragte er.

Haas sah ihn verdutzt an. »Warum er sich umgebracht hat.«

»Die Frage beschäftigt uns seit gestern«, schaltete sich nun wieder Bydlinski ein. »Naja, und die, warum ihr Deutschen immer so korrekt tun müsst, als hätt euch jemand an Stock in den Arsch gesteckt.«

Hefele holte gerade Luft, um eine entsprechende Antwort zu geben, doch Kluftinger legte ihm die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Die Stimmung war aufgeheizt genug, auch ohne dass sie sich auf Bydlinskis Sticheleien einließen.

»Egal«, sagte Bydlinski schließlich ein wenig enttäuscht, weil sich die Kollegen überhaupt nicht hatten provozieren lassen, »jedenfalls bläst man sich wegen einem bisserl Waffenschieberei nicht gleich den Kopf weg.«

Kluftinger nickte.

»Vielleicht war er ja zusätzlich noch depressiv. Oder hatte Beziehungsprobleme. Da kommt oft eins zum andern.« Maiers Einlassung folgten einige Sekunden Schweigen der Kollegen. Strobl und Hefele sahen sich an und verdrehten die Augen. Dann brach Bydlinski in schallendes Gelächter aus. »So? Hammer jetzt auch noch einen Doktor Freud hier sitzen? Was meinen Sie, Sigmund, wenn wir nicht geklingelt, sondern sanft geklopft hätten, hätten wir dann das Schlimmste verhindern können? Oder hat’s alles mit dem erhöhten Marzipankonsum zu tun?«

Maier funkelte die Österreicher kampfeslustig an. Doch Kluftinger kam ihm zuvor: »Gut, dann ist so weit ja alles klar. Die weiteren Ermittlungen ergeben sich aus dem, was Sie uns eben erzählt haben, werte Kollegen. Vordringlich sollten wir folgende Fragen klären: Wer war der Mann? Was hat er gemacht? Wie kam er an die Waffe? In welchem Umfeld hat er sich bewegt? Eugen, Richard, Roland: Ihr kümmert euch bitte sofort darum. Danke, das war’s.« Der Kommissar erhob sich eilig.