Lückenbüßer - Volker Klüpfel - E-Book

Lückenbüßer E-Book

Volker Klüpfel

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Beschreibung

»Wählt's den Klufti. Also mich. Und jetzt lasst mir meinen Frieden, ich muss endlich was schaffen, Himmelarschkreizkruzifixmalefizsaubande!« Es ist ein großer Tag für Interims-Polizeipräsident Kluftinger, der einen Einsatz in den Bergen leitet. Der Einsatz läuft völlig aus dem Ruder, ein Polizist kommt ums Leben. Ist Kluftingers chaotische Planung schuld am Tod des Kollegen? Eigentlich kann er schlechte Schlagzeilen überhaupt nicht gebrauchen, denn er kandidiert für den Gemeinderat – zunächst nur als Lückenbüßer, um die Liste zu füllen. Aber als er erfährt, dass sein Intimfeind Doktor Langhammer gegen ihn antritt, ist sein Ehrgeiz geweckt. Schnell wird klar, dass mehr hinter dem Todesfall in den Bergen steckt als ein tragisches Unglück. Kluftinger steht vor der wichtigen Frage: Warum musste der Kollege sterben? »Tierisch gut!« Denis Scheck

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Seitenzahl: 557

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Lückenbüßer

Altusried hat einen prominenten Sohn: Kommissar Kluftinger. Volker Klüpfel, Jahrgang 1971, kommt wenigstens aus dem gleichen Ort. Nach dem Abitur zog es ihn in die weite Welt – nach Franken: In Bamberg studierte er Politikwissenschaft und Geschichte. Danach arbeitete er bei einer Zeitung in den USA und stellte beim Bayerischen Rundfunk fest, dass ihm doch eher das Schreiben liegt. Seine letzte Station vor dem Dasein als Schriftsteller war die Feuilletonredaktion der Augsburger Allgemeinen. Die knappe Freizeit verbringt er am liebsten mit seiner Familie, mit der er im Allgäu lebt. Sollte noch etwas Zeit übrig sein, treibt er Sport, fotografiert und spielt Theater. Auf der gleichen Bühne wie Kommissar Kluftinger.

Michael Kobr, geboren 1973 in Kempten im Allgäu, studierte in Erlangen ziemlich viele Fächer, aber nur zwei bis zum Schluss: Germanistik und Romanistik. Nach dem Staatsexamen arbeitete er als Realschullehrer. Momentan aber hat er schweren Herzens dem Klassenzimmer den Rücken gekehrt – die Schüler werden’s ihm danken –, um sich dem Schreiben, den ausgedehnten Lesetouren und natürlich seiner Familie widmen zu können. Kobr wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern im Unterallgäu – und in einem kleinen Häuschen mitten in den Bergen, wo die Kobrs im Winter häufig auf der Skipiste, im Sommer auf Rad- und Bergtouren unterwegs sind. Wenn nicht gerade mal wieder eine gemeinsame Reise ansteht ...

So ein Stress schon wieder! Eigentlich will Kommissar Kluftinger einfach den goldenen Herbst im Allgäu genießen, ruhig vor sich hin arbeiten und abends seine Kässpatzen essen. Aber dann sorgt ein toter Kollege für Ausnahmezustand im Präsidium – und Kluftinger muss sich die Frage gefallen lassen, ob er mitverantwortlich für dessen Ableben ist. Schließlich entgleist auch noch das Wahlduell mit Gegenkandidat Langhammer, der sich ganz spezieller Methoden bedient, um Stimmen für den Einzug in den Gemeinderat zu gewinnen …

Volker Klüpfel und Michael Kobr

Lückenbüßer

Kluftinger ermittelt

Ullstein

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© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Autorenfoto: © Frank BauerCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © Ebru Sidar / Trevillion Images; FinePic®, MünchenE-Book powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-3243-7

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

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13

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15

Leseprobe: Die Unverbesserlichen – Der große Coup des Monsieur Lipaire

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

»Zefix, kann der nicht ein bissle leiser fliegen? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!« Kluftingers Blick ging zum Himmel, wo nicht weit über seinem Kopf ein Helikopter kreiste, der mit seinen Rotorblättern nicht nur für infernalischen Lärm, sondern auch für mächtig Wind sorgte und ihm und seinen Kollegen ordentlich die Frisuren zerzauste. Ein paar der mit schweren Maschinengewehren bewaffneten Männer neben ihm folgten seinem Blick. Kluftingers Funkgerät knackte, doch es war zu laut, um etwas verstehen zu können. Deswegen presste er es sich fest ans Ohr und versuchte, alles um sich auszublenden: die aufgeregten Schreie, die Polizeiautos und Geländewagen, die mit zuckenden Blaulichtern um ihn herumstanden und ab und zu ihr Martinshorn erklingen ließen, den Lärm und den Abgasstrom des Helikopters. So gelang es ihm immerhin, die Worte »Verdächtige … geflohen … Trinkwasser« auszumachen, der Rest ging in dem plötzlich einsetzenden Dröhnen des olivgrünen Kettenfahrzeugs unter, das sich neben ihm in Bewegung setzte.

Mit einem Schnauben ließ Kluftinger das Funkgerät sinken. Sein Blick fiel auf eine Gruppe vermummter Männer und Frauen, die gerade ein paar Meter weiter aus einem Transporter sprangen. Sie waren allesamt schwarz gekleidet, bis auf die Zähne bewaffnet und wirkten mit ihren Helmen und Schutzwesten ein wenig wie aus einem Science-Fiction-Film. Sie gehörten zur Anti-Terror-Gruppe, einer Spezialeinheit der Bayerischen Polizei, und warteten nur auf einen Befehl von Kluftinger. Ihm als Polizeipräsidenten oblag das Oberkommando über diesen Einsatz. Was sollte er ihnen sagen? Ihm fehlten Informationen darüber, was genau oben am Berg geschehen war, und wenn er sie einfach aufs Geratewohl losschickte, konnte weiß Gott was passieren.

Er raufte sich die Haare: Das alles hier war viel zu laut, viel zu hektisch, viel zu viel. Noch dazu für ihn, der nur durch ungünstige Umstände ins Amt des Interims-Polizeipräsidenten hineingerutscht war. Eigentlich war er als der Leiter des K1 der Kemptener Kriminalpolizei für Kapitalverbrechen im Allgäu zuständig. Anti-Terror-Einsätze wie dieser gehörten hingegen beim besten Willen nicht zu seinem Fachgebiet.

Er schloss kurz die Augen und atmete tief ein, versuchte, das chaotische Treiben für einen Moment auszublenden, ließ im Geiste die Einsatzfahrzeuge verschwinden, all die Polizistinnen und Polizisten, die Soldaten in Tarnuniformen, die schweren Geländewagen und gepanzerten Fahrzeuge. Was zurückblieb, waren grüne Wiesen und sanfte Berghänge, die sich mit dem typischen Nadelwald abwechselten, durch den sich Wanderwege schlängelten. Dazu der Lift, dessen Sessel fast lautlos der Bergstation entgegenfuhren, und der makellos blaue Himmel eines Spätsommertages. Ein alpines Paradies, mitten im Oberallgäu.

Vor allem im Winter war Kluftinger schon oft hier gewesen, das Ofterschwanger Horn war mit seinen gemütlichen Liften und den sonnigen Pisten eines seiner Lieblings-Skigebiete. Dass er es einmal auf solche Weise erleben würde wie heute, wäre ihm bei seinen Ausflügen niemals in den Sinn gekommen.

Als er die Augen wieder öffnete, kehrte die Realität sofort mit voller Wucht zurück. »Richie, ich brauch jetzt endlich verlässliche Informationen, sonst kann ich …«

Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte nur wenige Meter über ihm etwas in der Luft. Reflexhaft duckte sich Kluftinger und hob schützend die Hände über den Kopf, verharrte ein paar Sekunden in dieser Position, um dann vorsichtig unter seinem Arm hervorzulugen und zu prüfen, ob die unmittelbare Gefahr vorbei war. Eigentlich lag ihm ein »Welcher Depp war das?« auf der Zunge, doch er schluckte die Frage hinunter. Niemand agierte in solch einer Situation leichtfertig oder gar fahrlässig, das war ihm klar. Mit wackligen Beinen stand er auf, da hörte er die Schüsse.

Er wandte den Kopf und erkannte, wie zwei bewaffnete, maskierte Männer aus dem Wald herausrannten und mit einem Mal auf die beiden Soldaten anlegten, die sich als Schutz etwas oberhalb von ihnen postiert hatten, allerdings ohne nennenswerte Deckung. Einer von ihnen taumelte, der andere kam ihm zu Hilfe, wobei er mit der rechten Hand nach einem Sanitäter winkte.

Kluftinger schüttelte ungläubig den Kopf. Kreuzhimmel, wie hatte das nur alles so aus dem Ruder laufen können? Hektisch schaute der Kommissar sich um, suchte nach einem bekannten Gesicht und entdeckte schließlich seinen Kollegen Roland Hefele, der gerade sein Fernglas absetzte. Ihre Blicke trafen sich. Hilfesuchend zuckte Kluftinger mit den Schultern.

Hefele verstand. »Schnappen wir sie uns!«, rief er mit entschiedener Miene, zog seine Waffe aus dem Schulterholster und bedeutete dem Kommissar mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

Ursprünglich war nicht geplant gewesen, dass Kluftinger sich selbst aktiv beteiligte, doch er konnte nun mal nicht nur herumstehen und das Chaos verwalten. Also rannte er hinter Hefele den Hügel hinauf. Schon nach kurzer Zeit begann sein Puls zu rasen, sein Atem pfiff, und seine Lungen brannten. Dennoch fühlte er sich leichter als eben im Kommandostand, den sie in einem olivgrünen Zelt untergebracht hatten. Endlich konnte er etwas tun, selbst ins Geschehen eingreifen. Kluftingers Funkgerät meldete sich wieder. Keuchend blieb er stehen.

»Roland, wart, der Richie!«, rief er Hefele nach.

»Maier für Klufti?«

»Klufti hört?«

»Das SEK hat das Ziel der Terroristen ausgemacht: Sie wollen das Trinkwasserreservoir amBerg zerstören.«

»Richie, wir … sind … an denen dran … auf dem Weg nach oben«, keuchte der Kommissar zur Antwort.

»Ihr seid was? Es ist nicht vorgesehen, dass wir von der Kripo eingreifen. Unsere Aufgabeist es, die Einsatzkräfte zu koordinieren.«

»Richie, jetzt nerv mich nicht. Jede Minute zählt. Also komm mit oder bleib, wo du bist, mir egal. Und out.«

Kluftinger hatte den Funkspruch kaum beendet, da sah er bereits, wie links von ihm aus dem Wald eine Gestalt im schwarzen Overall herausbrach und wild winkend auf sie zurannte.

»Offenbar hat der Richie sich spontan fürs Mitkommen entschieden«, kommentierte Hefele, der den Hügel zu Kluftingers Erstaunen ziemlich leichtfüßig nahm. Er musste bei seinem Satz nicht einmal zusätzlich Luft holen.

Maier stieß zu ihnen, als sie bei dem verletzten Soldaten ankamen, den der Heckenschütze vom Wald aus getroffen hatte. Die Uniform des Mannes hatte einen großen roten Fleck auf Höhe der Schulter, wo einer seiner Kameraden gerade einen Druckverband anlegte.

»Schlimm?«, fragte Hefele.

»Schon. Großer Blutverlust«, antwortete der Soldat. »Wir müssen ihn schnell abtransportieren.«

»Brauchst du auch Hilfe?« Maier beugte sich zu Kluftinger herunter, der seine Hände auf die Knie gestützt hatte, um besser Luft zu bekommen. »Dein Kopf ist so rot wie die Sonne von Barbados!«

Kluftinger winkte ab. »Ruf lieber einen Hubschrauber, Richie, wir müssen …«

»Aaaahhh!« Mit einem schrillen Schrei sprang urplötzlich eine vermummte Gestalt wie aus dem Nichts gegen Maiers Rücken und warf ihn zu Boden. Mit aufgerissenen Augen starrte Kluftinger auf die beiden Körper, die sich wild auf dem steinigen Weg wälzten, eingehüllt in eine Staubwolke. Es war nur schwer auszumachen, wer wer war.

»Stopp! Es reicht jetzt«, kreischte Maier, doch der Angreifer ließ nicht von ihm ab, sondern fixierte den Beamten mit einem Knie auf dem Boden und verdrehte ihm einen Arm nach hinten, sodass er einen Schmerzensschrei ausstieß. Dann zog der Vermummte eine Waffe und hielt sie Maier an den Hinterkopf. Hilfesuchend blickte Kluftinger zu Hefele, der ratlos mit den Achseln zuckte.

»Ich geb auf«, wimmerte Maier. Da riss sich die Gestalt die schwarze Sturmhaube herunter.

»Lucy?«, entfuhr es dem Kommissar.

»Wer?«, rief Maier, der in seiner Lage nicht nach hinten blicken konnte. »Lucy? Du? Sag mal, spinnst du eigentlich? Lass mich sofort los, sonst …«

»Sonst was, hm?« Luzia Beer, ihre junge Abteilungskollegin, grinste. »Wenn ich das richtig sehe, habe ich die Waffe in der Hand.«

»Aber so entspricht das nicht den Absprachen. Niemand hält sich hier an irgendetwas«, zeterte Maier.

Lucy hingegen grinste übers ganze Gesicht. »Würdest du das auch einem echten Terroristen sagen, wenn das hier keine Übung wäre?« Lachend ließ sie Maiers Arm los und stand auf.

Der rappelte sich hoch und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Sag du doch auch mal was, Chef. Das ist hier eine konzertierte, ernst zu nehmende Anti-Terror-Übung von sämtlichen Polizeikräften, der Bundeswehr und des THW, kein Spielplatz für offensichtlich zwanghaft aggressive Kollegen, die ihre Gewaltfantasien ausleben wollen.«

»Kollegin bitte«, verbesserte Lucy. »Und ich bin nun mal für die dunkle Seite der Macht eingeteilt worden – als Heckenschützin. Also stell dich jetzt bitte nicht so mädchenhaft an, Richie!«

Kluftinger hob beschwichtigend die Hände. »Richie, die Lucy hat aus meiner Sicht schon recht. Wenn das hier alles echt wäre, müssten wir ja auch mit Überfällen aus dem Hinterhalt rechnen.«

»Äh, Entschuldigung?« Alle blickten nach unten zu dem Soldaten mit dem Schulterdurchschuss. »Muss ich jetzt noch weiter den Verletzten spielen, oder hat sich das inzwischen erledigt? Dann würd ich mich nämlich umziehen, dieses rote Zeug stinkt wie die Pest.« Er deutete auf die Flüssigkeit, die er als Blutsimulation auf seiner Uniform verteilt hatte.

Kluftinger kniff die Augen zusammen. »Ach so, ja, ich glaub, das können Sie ruhig machen.« Er sah keine Notwendigkeit für eine Hubschrauberbergung: Den Sprit konnte man sich sparen, außerdem hatte ihm der Lärm vorhin schon gereicht.

Erneut knackste es in seinem Funkgerät, doch diesmal war der Funkspruch nicht für ihn bestimmt. Aus Interesse lauschte er dennoch der kurzen Unterhaltung.

»An alle Rettungskräfte. Mann am Boden in Planquadrat Vier A. Erbitte Unterstützung.«

»Kommt sofort. Schwere Verletzungen?«

»Der Mann ist womöglich tot, erbitte aber trotzdem medizinische Unterstützung.«

Kluftinger streckte seinen Arm aus, um den Soldaten hochzuziehen. »Ich glaube, wir haben gerade noch ein weiteres Opfer bekommen.«

Als sie mit Luzia Beer, die Maier immer wieder als seine »Gefangene« bezeichnete, zum Kommandostand zurückkehrten, merkte Kluftinger sofort, dass sich etwas verändert hatte. Zwar hatte auch schon vorher ein für Außenstehende chaotisch wirkendes Durcheinander geherrscht, doch nun schienen wirklich alle kopflos durch die Gegend zu laufen.

Einer der Beamten rannte auf den Kommissar zu und rief von Weitem: »Herr Polizeipräsident! Wir haben ein Todesopfer!«

»Jaja, ich hab’s schon gehört.« Kluftinger winkte ab. »War ja zu erwarten, oder?«

Wie vom Donner gerührt blieb der Mann stehen. »Aber … ich weiß nicht …«

»Kollateralschäden sind in so einem Szenario unvermeidbar«, stimmte Maier seinem Chef zu.

Der Beamte nahm seine Uniformmütze ab und kratzte sich am Kopf. »Ihr seid ja vielleicht hartgesottene Burschen. Euch geht wohl gar nichts mehr nahe, oder? Da bin ich ja froh, dass ich damals nicht zum K1 gegangen bin.«

»Na, jetzt mal nicht ausfällig werden«, motzte Hefele. »Sollen wir in Tränen ausbrechen, nur weil einer von euch sich totstellt?«

»Ach so, nein, das habt ihr missverstanden, Kollegen. Der Mann, von dem ich rede, ist wirklich tot.«

»Ist das Ihr Ernst, Herr Präsident?«

Kluftinger hörte die Entgeisterung in der Stimme, die aus dem Funkgerät drang. »Aber so was von Ernst«, bekräftigte er brummig. »Die Terrorübung Alpenglühen wird hiermit abgebrochen. Ich wiederhole: sofortiger Abbruch aller Aktivitäten!« Den Namen für die Übung hatte er sich ausgedacht, und es tat ihm weh, dass er nun einen so schalen Beigeschmack bekommen hatte.

»Der Innenminister wird gleich eintreffen.« Die Stimmte des Bundeswehr-Verantwortlichen hatte einen hysterischen Klang angenommen.

»Dann sollen die Kollegen ihn zurückschicken. Aber das braucht es wahrscheinlich gar nicht. Wenn wir ihm klarmachen, dass er morgen mit einer Leiche in der Zeitung abgebildet wird, die auf einmal aufgetaucht ist, dreht er wahrscheinlich von selber wieder ab. Over.« Ein aufgescheuchter Politiker war nun wirklich das Letzte, was Kluftinger im Moment hier brauchte.

Inzwischen hatten Kluftinger, Maier, Hefele und Luzia Beer die Stelle erreicht, an der der Tote gefunden worden war. Der Mann lag im hohen Gras unter einem steilen, vielleicht zwanzig Meter hohen Abhang, etwas entfernt von dem Wanderweg, auf dem sie gekommen waren. Ein verloren wirkender Soldat stand einige Meter von der Leiche entfernt und rauchte eine Zigarette.

Hefele schüttelte den Kopf. »Das wird dem Willi gar nicht gefallen, wenn der hier seine Kippen rumschmeißt.«

»Schon, aber der arme Bub muss da allein Totenwache halten.« Kluftinger hatte Mitleid mit dem jungen Mann, auch wenn er wusste, das Willi Renn, der Chef ihres Erkennungsdienstes, jedes Mal ausflippte, wenn Leute einen Tatort mit eigenen Spuren kontaminierten.

»Wenn man vom Teufel spricht.« Hefele deutete den Weg entlang auf das Wäldchen, aus dem Renn gerade mit einem riesigen Koffer hervorkam. Sein Kopf war knallrot, offenbar war auch er nicht der Fitteste, wie Kluftinger beruhigt feststellte. Er hatte zunächst überlegt, Willi gar nicht für die Übung einzuteilen, sich dann aber doch dafür entschieden. Zu Recht, wie sich nun zeigte.

»So, die ganze Bagage versammelt«, kommentierte Renn, als er die Kollegen erreichte. »Ganz ehrlich, ich bin froh, wenn der Schmarrn hier vorbei ist und wir wieder normale Polizisten sein können.«

»Willi, das ist nicht so, wie es scheint …«

Der Erkennungsdienstler ließ Kluftinger nicht ausreden. »Wo liegt denn der Tote? Und wie ist er zu Tode gekommen? Das ist ja alles ganz fürchterlich, macht mich ganz schrecklich betroffen, alles.« Er betonte die Worte wie ein übertrieben spielender Laiendarsteller.

»Willi, ich sag doch …«

»Ah, da haben wir ihn ja. Wollen wir ihn gleich mal schnell erkennungsdienstlich behandeln, damit er danach lazarusmäßig wieder auferstehen kann. So ein Krampf, dieses ganze Räuber-und-Gendarm-Gespiele!«

Der Kommissar blickte seine Kollegen an, die ein wenig ratlos dreinsahen. »Himmel, Willi, jetzt hör mir halt mal zu! Der Mann ist wirklich tot, das gehört nicht mehr zur Übung. Wir haben eine echte Leiche, verstehst du? Einen von uns! Also ist auch echte Spurensicherung gefragt.«

Das Grinsen auf Renns Gesicht verschwand. »Einen von uns? Kennt ihr ihn?«

Sie schüttelten die Köpfe. Auch wenn ihnen allen klar gewesen war, dass es sich der Kleidung nach nur um einen Kollegen handeln konnte, immerhin hatten sie den Berg ja sozusagen für sich, war es doch ein Schock gewesen, als sie ihn dann gefunden hatten. Dass hier ein Polizist lag, war selbst für die Beamten vom K1 alles andere als alltäglich.

Willi Renn schüttelte seinen Schrecken jedoch ziemlich schnell ab und kehrte zu seiner schnoddrig-professionellen Art zurück. »Und wer ist dann dieses Bürschle da?« Er zeigte auf den Soldaten. »Der Depp raucht doch, oder?« Willi erhob seine Stimme, die dadurch noch heller und schriller wurde. »He, du, spinnst du, oder wie? Schon mal was von Spuren-Kontamination gehört?«

Der Soldat sah ihn mit großen Augen an und ließ verunsichert seine Zigarette sinken.

»Wehe, du lässt die fallen, dann gnade dir Gott.«

»Willi, jetzt lass doch mal«, beschwichtigte Luzia Beer. »Woher soll der arme Kerl denn wissen, wie man bei einem Leichenfund vorgeht?«

»Ach, komm! Ihr hättet ihn doch mal aufklären können.«

Schimpfend stapfte der Erkennungsdienstler an dem Soldaten vorbei durchs Gras auf den Toten zu.

Die anderen folgten Willi, der Kommissar hingegen blieb bei dem jungen Mann stehen. »Sie haben ihn also gefunden?«

Er nickte. »Ja, ich wollte mich von hinten ans Wasserreservoir ranschleichen, da hab ich ihn gesehen. Erst dachte ich, dass das zur Übung gehört, aber dann …« Er zeigte auf den toten Körper, der nur noch ein paar Meter von ihnen entfernt lag.

Kluftinger verstand, was der Soldat meinte. Die Gliedmaßen und der Kopf des Mannes waren derart verdreht, dass klar war, dass er den Toten nicht nur spielte. Den Kommissar schauderte es, und er versuchte, so wenig wie möglich auf die Leiche zu schauen.

»Haben Sie irgendwas angefasst?«, rief Willi jetzt zu ihnen herüber.

»Um Gottes willen, nein.«

Der Erkennungsdienstler nickte seufzend.

»Gut, Sie können gehen«, beschloss Kluftinger. »Aber hinterlassen Sie Ihre Kontaktdaten für weitere Fragen.«

Der junge Mann nickte erleichtert und suchte schnell das Weite, wobei er im Laufen verschämt seine Zigarettenkippe wegwarf.

»Bitte austreten, gell? Einen Waldbrand brauchen wir nicht auch noch, da heroben.«

Dienstbeflissen drehte sich der Soldat noch einmal um und folgte Kluftingers Anweisung.

Der wandte sich nun seufzend an seine Kollegen. »Und, was meint ihr?«

Wie von der Schnur gezogen hoben sich ihre Köpfe in Richtung der Felskante über ihnen. »Das sind locker fünfzehn Meter«, schätzte Hefele.

»Eher zwanzig«, präzisierte Maier. »Und er ist ziemlich hart aufgekommen, der Boden ist total steinig.«

»Kein Wunder also, dass der so aussieht.« Lucy steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Sie schob ein »Sorry« nach, als sie sich bewusst zu werden schien, dass ihre Worte etwas taktlos klangen. Kluftinger vermutete, dass das ihre Art war, mit diesem schrecklichen Fund umzugehen.

Der Mann hatte kurzes braunes Haar, war mittelgroß und schlank. »Kennt den wirklich niemand?«, wollte der Kommissar wissen, doch seine Kollegen schüttelten nur die Köpfe.

Willi bat sie: »Wenn ihr keine noch wichtigeren Erkenntnisse habt, wär’s mir recht, wenn ihr mich jetzt meine Arbeit machen lasst. Meine Leute kommen gleich, da sollt nach Möglichkeit nicht alles platt getrampelt sein.«

Auf dem Weg zurück zum Kommandostand jagten dunkle Gedanken durch Kluftingers Kopf. Trug er die Schuld an diesem schrecklichen Unfall? Hatte er die Terrorübung nicht gut genug vorbereitet, und war deshalb alles so chaotisch abgelaufen? Hatte seinetwegen alles im schlimmsten aller denkbaren Szenarien geendet, dem Tod eines Kollegen, der nur seine Pflicht getan, ja letztlich einen von Kluftingers Befehlen ausgeführt hatte? Hätte er ganz allgemein mehr auf die Sicherheitsaspekte achten müssen?

»Das wird dir nicht gerade viele Stimmen bringen.« Hefele grinste ihn an.

Kluftinger winkte unwirsch ab. »Ach, lass mich doch in Ruhe mit dem Schmarrn!«

»Was ist denn mit dir los? Wollt doch nur einen kleinen Witz machen, damit die Stimmung besser wird.«

»Stimmung, Stimmung. Geht doch jetzt nicht um Stimmung. Ich hab die ganze Übung zu verantworten. Wenn da jetzt einer verunglückt ist … Ich muss der Witwe von dem Kollegen gegenübertreten und ihr sagen, dass ihr Mann im Dienst ums Leben gekommen ist.«

Schweigend stapften sie weiter durch den Wald. Als sie auf der anderen Seite herauskamen, trafen sie auf drei Soldaten und eine Frau, ebenfalls in Flecktarn-Overall, die gelangweilt an einem Kettenfahrzeug mit Kofferaufbau lehnten.

»Ihr könnt heimgehen, die Übung ist abgeblasen«, brummte Hefele ihnen zu.

»Geht leider nicht«, antwortete die Frau.

Der Kommissar sah sie stirnrunzelnd an.

Die Frau klopfte zur Antwort auf das gepanzerte Fahrzeug. »Unser fahrbarer Untersatz springt nicht an. Mal wieder.«

»Dann müsst ihr einen Abschlepper rufen, oder?«

Einer der Männer grinste breit. »Haben wir längst. Aber der ist schon seit über einem Monat nicht mehr einsatzfähig.«

»Ja, dann: viel Spaß beim Schieben!«

1

»Ja sag mal, Butzele, wieso gehst du denn nicht an dein Handy? Die Sandy hat mir auch nicht sagen können, was los ist.«

Kluftinger hatte gerade erst die Haustür aufgeschlossen, und schon brach der Redeschwall seiner Frau über ihn herein. Seufzend stellte er seine Aktentasche ab, die noch immer dasselbe enthielt wie am Morgen: zwei Salamibrote und eine Thermoskanne Pfefferminztee. Nicht einmal zur Brotzeit war er gekommen.

»Erika, jetzt beruhig dich, ich bin doch da. Was gibt’s denn zum Essen?«

»Essen? Für dich erst mal nix. Du bist doch eh schon viel zu spät dran, wenn du noch duschen willst.«

Der Kommissar runzelte die Stirn, tauschte die schwarzen Haferlschuhe gegen seine Kuhfellclogs, zupfte an seinem Hemd und roch daran. »Ist doch gar nicht nötig. Lieber erst essen.«

»Das schaffst du nicht mehr, wenn ich’s dir doch sag.«

Kluftinger hatte keine Ahnung, wieso sich Erika so seltsam verhielt. Mit fragendem Blick ging er auf sie zu und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange. »Dann dusch ich einfach morgen früh, das reicht völlig.«

Erika trat einen Schritt zurück und schüttelte vehement den Kopf. »Niemals. Es wird auf jeden Fall davor geduscht, das wär ja noch schöner.« Zur Bekräftigung stemmte sie ihre Hände in die Hüften.

Der Kommissar holte tief Luft. Anscheinend stand heute Abend noch etwas auf dem Programm. Aber was? Eine Einladung im Hause Langhammer konnte es nicht sein, da hätte er sich längst eine Ausrede einfallen lassen. Ins Theater gingen sie nie, und Erika interessierte sich weder für Sportveranstaltungen noch für den Zirkus, der gerade in Kempten gastierte. Er überlegte fieberhaft. Irgendwas mit Markus, Yumiko und der kleinen Maxima? Nein, dafür wäre ja auch keine Dusche nötig gewesen. Ein Arzttermin? Unsinn, schließlich war er zum Glück rundum gesund – für seine Verhältnisse jedenfalls. Jährte sich heute ihr Hochzeitstag, und sie gingen auswärts essen? Am Ende rechnete Erika danach noch mit einem romantischen Stelldichein im heimischen Schlafzimmer? Ihm wurde heiß, sein Gesicht lief knallrot an. Nach diesem Tag? Da fiel ihm ein, dass ihn Sandy Henske mit unumstößlicher Regelmäßigkeit an das Jubiläum seiner Eheschließung erinnerte und obendrein auch stets anbot, ihm gleich noch einen passenden, repräsentativen und dennoch nicht allzu kostspieligen Blumenstrauß zu besorgen.

»Du weißt aber schon, wer heute noch kommt, oder?«, fragte Erika mit strengem Blick.

»Ich … klar, heut kommt doch der … Dings, der …« Er stockte.

»Der Fotograf, genau«, ergänzte Erika zu seinem Erstaunen. Doch wirklich weiter brachte ihn auch diese Information nicht.

»Ja, genau, wegen dem …«, probierte er noch einmal sein Glück, doch diesmal schien Erika gar nicht daran zu denken, ihm aus der Patsche zu helfen. »Wegen dem Foto halt.«

»Ich hab dir schon mal ein paar verschiedene Kombinationen zum Anziehen aufs Bett gelegt. Komm jetzt, runter mit dem Janker, du musst das alles noch anprobieren.«

Kluftinger kratzte sich am Kopf. Was um alles in der Welt …?

»Du willst doch gut ausschauen auf dem Flyer für die Gemeinderatswahl, oder?«, gab seine Frau sich auf einmal geradezu enthusiastisch und zog ihn in Richtung Schlafzimmer.

Himmelmalefiz, natürlich, das war’s! Deshalb also das ganze Gewese um Duschen und Kleidung: Kluftinger hatte sich leichtfertigerweise breitschlagen lassen, sich auf einem der hintersten Listenplätze für die bevorstehende Gemeinderatswahl aufstellen zu lassen. Auch wenn ihm versichert wurde, er sei nur Listenfüller, und die Gefahr, ins örtliche Politgremium gewählt zu werden, liege nahe null, sollte er dennoch mit einem aktuellen Foto im Wahlprospekt abgedruckt werden. Und dazu hatten sie einen Fotografen organisiert, der offensichtlich heute Abend zu ihnen kommen wollte.

»Du, Erika, du glaubst ja gar nicht, was heut passiert ist. Wir haben doch diese Antiterrorübung gehabt, und dabei ist …«

»Das erzählst du mir schön nachher, wenn das Shooting vorbei ist«, gab sich seine Frau unnachgiebig.

»Das was?«

»Du weißt genau, was ein Fotoshooting ist, tu doch nicht immer so muhacklig.«

Er blieb stehen und schüttelte demonstrativ den Kopf.

Wieder gab sie ihm einen Klaps auf den Rücken, um ihn anzutreiben. »Los jetzt, mach schon! Wir müssen dich doch nach dem Duschen auch noch pudern und die Augenbrauen ein bissle in Form zupfen. Ich glaub nicht, dass die eine Maskenbildnerin mitschicken.«

»Augenbrauen? Simmer jetzt hier beim Topmodel-Wettbewerb, oder wie?«

»Nein, da werden dir nämlich nicht nur ein paar Härchen im Gesicht gezupft, sondern alle Körperhaare mit Wachs entfernt.«

»Jessesmaria! Sag mal, meinst nicht, dass wir doch lieber eins von den Fotos nehmen sollten, die wir sowieso schon haben?«

Erika sah ihn stirnrunzelnd an. »Welche meinst du denn?«

Kluftinger zuckte mit den Achseln. »Mei, keine Ahnung. Da gibt’s bestimmt welche von Markus’ Hochzeit. Und in Südtirol, da hast du mich doch dauernd mit dem Handy fotografiert.«

Jetzt baute sich seine Frau mit großen Augen vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Du willst allen Ernstes das Shooting absagen und mit einem drei Jahre alten Urlaubsfoto zur Gemeinderatswahl antreten? Vergiss es, Butzele. Ich lasse nicht zu, dass du dich zum Gespött der Leute machst. Stell dir mal vor, die machen Wahlplakate mit dir, und du hängst mit deinem verschwitzten Wanderhemd und der verschossenen Schildmütze an jeder Laterne in Altusried.«

»Himmel noch mal, Schätzle, wenn ich’s dir sag, die machen überhaupt keine Plakate von mir. Ich bin ja bloß der Lückenbüßer, damit die Liste voll wird!«

»So oder so: Die brauchen was Aktuelles.«

Kluftinger holte tief Luft und nickte. »Aktuell können sie haben«, erklärte er bestimmt, zog sein Handy aus der Hosentasche und hielt es seiner Frau hin.

»Mach doch einfach schnell ein Selfie von mir.«

»Das kann ich nicht«, erwiderte seine Frau entschieden.

Kluftinger zog die Brauen hoch. Normalerweise wusste Erika eigentlich ganz gut mit Handys umzugehen. »Ich zeig’s dir«, murmelte er und wischte angestrengt auf dem Bildschirm herum.

»Das wird nix ändern, Butzele.«

»Wieso?«

»Ich kann kein Selfie von dir machen, sondern nur du selber. Sonst ist es nämlich kein Selfie, sondern einfach ein normales Foto.«

Kluftinger schnaubte. »Hast du beim Richie Maier ein Gscheithafen-Seminar gemacht, oder wie?«

»Raunz mich nicht so an, sondern komm lieber mit und probier die Sachen. Hoffentlich passt dir das alles noch, bist ja nicht grad schlanker geworden in letzter Zeit«, erklärte sie mit einem prüfenden Blick auf seinen stattlichen Bauch.

Resigniert stapfte der Kommissar hinter seiner Frau her ins Schlafzimmer. Hätte er sich nur nicht zu dieser saublöden Kandidatur breitschlagen lassen. Schon ging der Stress damit los. Als ob er nicht schon genug um die Ohren hätte als Interims-Polizeipräsident, Kommissariatsleiter, Ehemann, Vater, Opa und Sohn.

Eine Viertelstunde später, Kluftinger hatte inzwischen alle von Erika vorgeschlagenen Outfits durchprobiert, wobei einige der Westen schlicht nicht mehr zugegangen waren und gleich mehrere Hemden an der Knopfleiste bedrohlich aufklafften, klingelte es an der Tür.

»Um Gottes willen, das wird doch nicht schon der Fotograf sein!«, entfuhr es Erika. »Du musst unbedingt noch unter die Dusche.«

»Ach was, Schätzle. Ich hab doch so ein tolles neues Deo. Dieses Tannennadel-Zeug, das du mir mitgebacht hast, aus Hindelang.«

»Zeder, meinst du.«

»Genau das. Das wirkt wahre Wunder. Wie hat meine Tante Uschi immer gesagt: Sprühen statt mühen.«

Wieder ertönte die Haustürglocke.

»Gehst du mal, dann zieh ich mir noch schnell die beige Cordhose an«, bat Kluftinger.

»Nix da, du nimmst die graue, die passt wenigstens zum Janker«, befahl Erika noch, dann eilte sie aus dem Zimmer.

»Die ist aber so eng, dass ich Angst hab, dass der Knopf ausreißt«, brummte er noch bei sich und zwängte sich ins beige Exemplar, das, wie er eingestehen musste, auch schon mal besser gesessen hatte.

Er wollte eben ins Bad gehen, um sich mithilfe eines Deodorants und eines Kamms für den bevorstehenden Fototermin zu wappnen, da stand auf einmal seine Mutter im Zimmer. Sie hielt einen Kleidersack in der rechten und ein Paar braune Lederschuhe in der linken Hand.

»Mutter, was machst du denn da? Seid ihr nicht beim Kegeln?«

»Grüß dich, Bub«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Kegeln fällt aus, weil der Hartmut schon wieder erkältet ist. Das bringen anscheinend immer seine Enkelkinder aus dem Kindergarten heim. Und seine Frau, die Edeltraut, hat’s auch erwischt. Wenn du mich fragst: Corona. Da haben dein Vater und ich vorsichtshalber beschlossen, nicht hinzugehen. So, und jetzt zieh diese scheußliche Hose aus, ich hab dir fürs Fotografieren den guten Trachtenanzug vom Vatter mitgebracht. Weißt schon, den, den ich ihm zur Pensionierung gekauft hab.«

»Mutter, das ist inzwischen über zwanzig Jahre her.«

»Aber er hat ihn fast nie angehabt. Das ist ein guter Stoff. Wolle. Von Riemenschneider.«

Erika erschien in der Tür. »Aber Mama, der Anzug wird ihm nicht passen. Er ist doch viel stämmiger als der Papa.«

Kluftinger nickte. Er musste zugeben, dass sein Vater sich eine weitaus bessere Figur bewahrt hatte, noch dazu seitdem er immer wieder Phasen einlegte, in denen er Basenfasten machte – was auch immer das sein mochte.

»Ach, papperlapapp. Der Bub ist stattlich. Und trotzdem gertenschlank.«

Erika konnte ein Lachen nicht unterdrücken, was Hedwig Maria Kluftinger mit einem angesäuerten und despektierlichen Schulterblick quittierte.

»Probier’s bitte mal an, Adi«, flüsterte sie ihrem Sohn zu und drückte ihm den Kleidersack in die Hand. Dann wandte sie sich mit zu Schlitzen verengten Augen an ihre Schwiegertochter und zischte: »Und du hörst bitte auf mit solchen Kommentaren, oder willst du deinen Mann noch in die Magersucht treiben, jetzt, wo er vielleicht bald Bürgermeister wird?«

Peter Reger, der Fotograf, war ein Mittdreißiger in abgetragener schwarzer Lederjacke, der sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und alle Anwesenden, Kluftingers Mutter eingeschlossen, ungefragt duzte. Zunächst bat er darum, flugs noch seine Kamera-Akkus laden und auf dem Balkon eine Zigarette rauchen zu dürfen, um »erst mal anzukommen«, wie er sich ausdrückte.

Nach einer guten Viertelstunde, während derer der Mann ständig telefoniert und sage und schreibe drei Zigaretten geraucht hatte, wurde es Kluftinger zu bunt. Er riss die Balkontür auf, um den Fotografen ordentlich in den Senkel zu stellen – doch dazu kam es nicht, denn der empfing ihn mit einem entwaffnenden Lächeln und der Ankündigung, dass er ihn jetzt nur noch ein wenig »schminken und abpudern« müsse, dann könne es auch schon losgehen.

»Nein, das braucht’s nicht. Wissen Sie, ich schau eigentlich ganz gern so aus …«, entgegnete Kluftinger, doch Reger schüttelte nur den Kopf.

»Du glänzt wie eine Speckschwarte. Wär eine Katastrophe fürs Porträt. Und mit deinen Haaren müssen wir auch dringend was machen.«

Kluftinger warf einen prüfenden Blick ins große Wohnzimmerfenster, das leidlich als Spiegelersatz taugte. Was war denn so schlecht an seinen Haaren? Er hatte sie gekämmt, dann auf Geheiß von Erika und seiner Mutter mit Pomade ein wenig in Form gebracht und schließlich seinen Seitenscheitel akkurat von rechts nach links über die kahle Stelle in der Mitte seines Kopfes gekämmt.

»Das passt schon so. Ich schau halt so aus und nicht anders«, beharrte Kluftinger.

»Na ja, wenn du meinst, okay. Muss ich halt in der Nachbearbeitung mehr machen. Komm doch grad mal hier an die Brüstung, mal sehen, wie das vom Licht her gehen tät.« Der Fotograf schob ihn forsch in die gewiesene Richtung, schnappte sich seine Kamera und erklärte: »So, jetzt schau einfach immer zu mir, Mund mal offen, mal zu, einfach bissl was anbieten.«

Was anbieten? Kluftinger kam sich vor wie im falschen Film. Dennoch folgte er brav den Anweisungen: Je schneller die Fotos im Kasten wären, desto eher würde der Typ wieder verschwinden.

Reger hielt eine Hand schützend gegen sein Display, drückte ein paar Knöpfe und kam schließlich kopfschüttelnd auf ihn zu. Ehe der Kommissar sich versah, wuschelte der Fotograf kommentarlos in seinen Haaren herum, dann öffnete er die obersten beiden Knöpfe von Kluftingers Hemd. »So ist es besser, dann schaut’s gleich ein bissle schlampig aus. Nicht so gestriegelt wie auf’m Konfirmandenbild.«

»Kommunion«, korrigierte Kluftinger.

»Wie meinst?«

»Kommunionbild. Wahlweise Firmung. Ich bin katholisch. Konfirmation gibt’s bloß bei den Evangelischen.«

»Egal. So, jetzt ist schon viel besser«, befand der Mann nach einem prüfenden Blick durch den Sucher.

Kluftinger fügte sich erneut stoisch in sein Schicksal, wechselte seinen Gesichtsausdruck so gut er konnte von ernst über fröhlich bis hin zu einem offenen Lachen.

»Schau, du groovst dich schon noch ein. Jetzt beweg dich noch ein bissl mehr in den Hüften, damit du nicht so steif dastehst.«

Stirnrunzelnd sah der Kommissar zu Reger. »Es sollen doch nur Porträts werden …«

»Schon, aber das überträgt sich auch auf die Kopfhaltung. Stell dir mal vor, drinnen im Wohnzimmer stehen lauter junge Mädels, die dir zujubeln.«

Intuitiv richtete Kluftinger seinen Blick zum Wohnzimmerfenster, wo er hinter den Orchideen die Gesichter seiner Frau und seiner Mutter ausmachte.

»Ja, komm, mach dich geschmeidig in den Gelenken. Die wollen nur deinen Körper!«

Kluftinger wollte eben vehement protestieren, da erklärte der Fotograf: »So, für dieses Motiv hier auf dem Balkon müssten wir auf jeden Fall was im Kasten haben. Das ging jetzt deutlich schneller, als ich dachte. Bist wirklich nicht ganz unbegabt, das muss man dir lassen.«

Eine gute halbe Stunde später hatten sie an noch drei weiteren Plätzen Bilder gemacht: unter dem großen Apfelbaum, vor der Brennholzbeuge und schließlich vor dem Kachelofen im Wohnzimmer. An der letzten Location hatten sich auch Erika und Hedwig Maria Kluftinger noch ein wenig beratend eingebracht – wobei sämtliche Motivvorschläge von Reger abgelehnt worden waren. Immer wieder hatte Kluftinger Komplimente für sein Posing bekommen. Dann verabschiedete sich der Fotograf mit dem Versprechen, so bald wie möglich ausgewählte Bilder zur Ansicht zu schicken.

»Also, das war ja vielleicht ein komischer Vogel«, wurde Kluftinger von Erika empfangen, als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam. »Als hätte der gar keine richtige Ahnung von dem, was er tut.«

»Mei, ich fand den gar nicht so verkehrt«, entgegnete Kluftinger zufrieden. »Immerhin hat er …«

»Dir gesagt, du wärst begabt, gell? Der weiß schon, welche Knöpfe er bei den Leuten drücken muss«, konstatierte Erika augenzwinkernd.

»Der Bua war schon in der Grundschule so fotogen, dass er auf den Klassenfotos immer rausgestochen ist«, konterte Hedwig Maria. »Manche haben es angeblich bloß wegen ihm gekauft.« Erika grinste wieder, und Kluftinger wollte die Dinge eben etwas zurechtrücken, da klingelte es an der Tür.

»Vielleicht hat der Reger ja was vergessen«, mutmaßte Erika. Der Kommissar schlurfte schweren Schrittes zurück zur Haustür. Als er sie öffnete, stand er jedoch nicht dem Fotografen, sondern seinem Vater gegenüber.

»Griaß di, Bua. Ich wollt bloß schnell die Mutter abholen.«

»Griaß di, Vatter. Mir sind im Wohnzimmer. Komm rein.«

»Aber nicht lang. Um zehn kommt noch diese Diskussionssendung, mit der dunkelhaarigen, hübschen Journalistin. Die so viel von Politik versteht.«

»Ach so? Seit wann interessierst du dich denn für so was?«

»Ich? Schon immer. Außerdem mag ich die Reporterin halt gern. Was fürs Auge. Aber du willst jetzt selber in die Politik, hat mir die Mutter erzählt. Stimmt das?«

»Politik! Ich bin Listenfüller. Sonst nix. Und jetzt komm.«

Er ließ seinem Vater den Vortritt und folgte ihm ins Wohnzimmer.

»Pass bloß auf, Bua, dass du es dir mit niemandem verscherzt, gell? Da muss man ganz vorsichtig sein. Man weiß nie, wen man noch für irgendwas brauchen kann.«

»Von was habt ihr’s?«, wollte Hedwig Maria wissen, als sie zusammen die Stube betraten.

»Dass der Bua Obacht geben und sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen soll, in der Politik.«

»Ja, Vatter, schon klar. Immer dein gleicher Ratschlag. Schon als Kind hast du mir das eingebläut: Nur nicht den Kopf zu weit aus der Schafherde herausstrecken, nicht dass man noch eine draufbekommt, gell?«

»Ist ja auch so, sind wir alle immer gut gefahren damit.«

Kluftinger kam gar nicht dazu, etwas zu erwidern, da sein Vater bereits fortfuhr: »Ganz abgesehen davon ist die Gefahr ja nicht groß. Ich mein’, wer sollt’ dich denn wählen …«

In den Augen seiner Frau und seiner Mutter sah Kluftinger deutlichen Widerspruch aufblitzen.

»Darf ich fragen, warum?«, zischte Erika ihrem Schwiegervater erstaunlich scharf entgegen.

Das hätte Kluftinger allerdings auch interessiert. Der Senior zuckte nonchalant mit den Achseln und drehte die Handflächen nach oben, als er im Brustton der Überzeugung konstatierte: »Erika, in unserer Familie ist noch nie jemand für irgendwas gewählt worden. Nicht mal als Klassensprecher. Warum sollte sich das bitt’schön grad jetzt ändern?«

»Also, was sagst du denn da?«, wandte sich nun auch Kluftingers Mutter an ihren Mann. »Denk doch mal an den Onkel Rudi. Der ist Betriebsrat gewesen. Bei Bosch. Und zwar jahrelang. Und warst du denn nicht im Elternbeirat, als der Bub im Gymnasium war, hm?«

»Im Elternbeirat? Du?«, fragte Kluftinger bass erstaunt. Die Erinnerung an diesen Umstand hatte er über die Jahre offenbar komplett verdrängt.

»Sicher war er das«, antwortete Hedwig Maria für ihren Mann.

»Stimmt. Allerdings nicht so wahnsinnig lange, weil ich ja dem Dobler, diesem idiotischen Mathelehrer, damals eine Schell’n angeboten hab, weil er mich so saublöd angeredet hat.«

Sein Vater hatte seinem Lehrer mit einer Ohrfeige gedroht? Das wurde ja immer besser!

»Und dann haben sie dich rausgeschmissen, oder wie?«, wollte Kluftinger wissen.

»Schmarrn. Ich bin selber ausgetreten. Aus freien Stücken. Der Grundmann Josef ist damals nachgerückt für mich. Waren doch eh nur Schlaumeier drin, die immer nur um den heißen Brei rumgeredet haben. Und dann hab ich auch nie mehr kandidiert.«

Der Kommissar wusste das wirklich nicht mehr. Er dachte nach. »Und ich hab mich immer gefragt, wieso mich der Dobler immer so auf dem Kieker gehabt hat. Der hat sogar mehrmals mit dem Schlüsselbund nach mir geworfen und immer gesagt, bei mir würd’s schon von daheim her fehlen.«

»Der muss grad reden, dieser Depp!«, brummte Kluftingers Vater mit geballten Fäusten. In ihm schien die jahrzehntealte Fehde gerade wieder zum Leben zu erwachen.

»Mal ehrlich, so wird natürlich ein Schuh draus! Hast du es dir eigentlich noch mit anderen Leuten aus der Schule versaut, damals?«

»Hedwig, wie hat diese Religionslehrerin geheißen? Die alte Krähe mit den Haaren auf den Zähnen?«

»Die Brüttmeier?«, platzte Kluftinger heraus. »Die hat mich auch nie gemocht. Was war denn mit der, hm?«

»Das alles tut ja jetzt gar nix zur Sache«, erklärte Hedwig Maria bestimmt. »Wir müssen auch wieder.«

Damit erhob sie sich, ging zur Zimmertür und gab ihrem Mann mit einem Wink zu verstehen, dass er ihr folgen solle. »Erika, wenn ihr die Fotos bekommt, kannst mich ja anrufen, dann suchen wir zwei zusammen die schönsten raus, gell?«

Erika sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

»Und du, Bua, sagst Bescheid, wenn ich dir helfen kann, im Wahlkampf. Wird Zeit, dass mal ein Kluftinger die Geschicke der Gemeinde in die Hand nimmt.«

»Aber er kandidiert doch gar nicht mal als Bürgermeister«, korrigierte ihr Mann.

»Ach was, papperlapapp, wirst schon sehen, wie weit er’s noch bringt!«

Es war noch nicht einmal halb elf, als Kluftinger den Fernseher ausschaltete. »Zeit für’s Bett, oder, Schätzle?«

Erika nickte ihm lächelnd zu. »Hast einen anstrengenden Tag gehabt, heut, gell?« Kluftinger hatte ihr die Übung und den furchtbaren Unfall in allen Details bei ihrem verspäteten Abendessen geschildert.

Seufzend zuckte er mit den Achseln. »Man kann sich’s nicht aussuchen. Und ganz ehrlich: Lieber mein Stress im G’schäft als das, was die Politiker jeden Tag so abspulen müssen.«

Erikas Handy bimmelte. Sie nahm es heraus und strahlte kurz darauf. »Jetzt musst du doch noch ein bissle wach bleiben. Der Reger hat die Bilder zur Auswahl geschickt.«

»Wieso schickt der die dir?«, wollte Kluftinger wissen.

»Weil ich ihm extra vorhin meine Handynummer und meine Mailadresse gegeben hab. Du kannst nicht alles selber machen, du brauchst jemanden, der sich um so was kümmert. Und ich hab ja schließlich Zeit.«

Auf Geheiß seiner Frau setzte sich Kluftinger an den Esstisch. Erika kam mit ihrem Tablet, und sie scrollten sich durch die Bildergalerie. »Gar nicht mal so ganz verkehrt«, lautete Kluftingers Fazit. Wider Erwarten schien Peter Reger tatsächlich etwas von seinem Handwerk zu verstehen: Kluftinger wirkte auf den Porträts nicht nur solide, kompetent und sympathisch, sondern auch irgendwie dynamisch, entschlossen und sogar deutlich jünger und schlanker, als er es aus dem Spiegel kannte.

»So schöne Fotos, Butzele!«, strahlte Erika ihn an.

Er nickte. »Schon toll, was man mit dem richtigen Licht alles erreichen kann.«

»Ach, ich glaube, das liegt nicht am Licht, sondern an deiner beeindruckenden Erscheinung«, widersprach Erika und küsste ihn. »Und jetzt komm mit, du zukünftiger Wahlsieger«, hauchte sie ihm ins Ohr und zog ihn aus dem Zimmer.

2

Erfrischt und fröhlich wie lange nicht sprang Kluftinger am nächsten Morgen aus dem Bett und schaltete den Wecker aus, noch bevor der einen Pieps von sich geben konnte. Er ging ins Bad und zog sich so leise es ging an, um Erika nicht zu wecken. Als er in der Küche gerade zeitunglesend seinen Morgenkaffee trank, erschien seine Frau jedoch plötzlich in einen Bademantel gehüllt im Türrahmen.

»Na, mein Spitzenkandidat, guten Morgen«, sagte sie in ungewohnt samtigem Tonfall. Er lächelte. Langsam begann er den Nutzen dieser Politiksache schätzen zu lernen.

»Guten Morgen, Schätzle. Schon auf? Hab ich dich geweckt?«

»Nein, gar nicht. Wollte mich nur verabschieden von dir. Und fragen, ob ich noch was für dich tun kann.«

Ja, wirklich, das Ganze entwickelte sich in eine unerwartete, aber sehr angenehme Richtung. »Magst du auch gleich einen Kaffee?« Noch bevor sie antworten konnte, goss er seiner Frau eine Tasse ein, und sie setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Und? Hast heut wieder wichtige politische Termine?«

Kluftinger zuckte mit den Achseln. Ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung. Bisher hatte ihn das auch nicht sonderlich interessiert, aber nun … Schnell holte er sein Handy heraus und öffnete den Kalender. Keine Einträge. »Nein, leider nix«, antwortete er fast ein wenig enttäuscht.

Erika beugte sich vor und streichelte zärtlich über seine Hand. »Ist doch gut, dann haben wir nachher ein bisschen Zeit zu zweit.«

»Na, du bist aber heute schwungvoll unterwegs, Chef.« Sandy Henske schnalzte anerkennend mit der Zunge, als Kluftinger zur Tür hereinhüpfte.

»Ja, freilich, ist ja auch ein schöner Tag.«

Die Miene seiner Sekretärin trübte sich ein. Er erinnerte sich wieder an den Toten bei der Terrorübung, woraufhin seine gute Laune schlagartig verschwunden war.

»An sich, meine ich«, schränkte er daher ein.

»Ganz schön was los heute im Kalender.«

»Ja? Ich hab vorher noch nachgeschaut, da war nix drin. Keine Versammlung wegen der Wahl …«

»Na ja, da wär das Referat zum Thema Gewaltprävention, das du bei diesem Aktionstag im Gymnasium halten sollst, dann brauchen die von deiner Partei einen Lebenslauf, den sie zu den Fotos ins Internet stellen können, außerdem kommen sie heut Abend zu dir nach Hause, um irgendeinen Fragebogen mit dir auszufüllen …«

»Woher weißt du denn das alles?«

Sandy Henske grinste. »Weil du deine Büro-Mailadresse als Kontakt angegeben hast.«

»Ach, hab ich das?« Natürlich war das Kalkül gewesen. Kluftinger hatte damit gerechnet, mehr noch darauf gehofft, dass Sandy ein bisschen Ordnung in sein Terminchaos bringen würde. Und der Plan schien aufzugehen.

»Ja, hast du. Soll ich’s in deinen digitalen Kalender übertragen?«

»Also, wenn du das machen tätest … Die Demokratie wird es dir danken.«

Lächelnd öffnete er die Tür zu seinem Büro, in dem Hefele, Maier und Luzia Beer schon auf ihn warteten. Als er ihre Gesichter sah, gefror sein Lächeln. »Was ist denn mit euch los?«

»Mit uns?« Hefele schaute in die Runde. »Ich glaub, wir alle wundern uns, dass du so fröhlich dreinschaust.«

Maier nickte. »Dabei haben wir grad besprochen, dass wir heute womöglich besonders sensibel mit dir umgehen müssen.«

»Ihr redet darüber, wie ihr mit mir umgehen sollt?«, fragte Kluftinger verwundert.

»Das ist manchmal besser«, bestätigte Roland Hefele. »Damit lässt sich so manches im Keim ersticken.«

Auch wenn es den Kommissar durchaus interessiert hätte, wie ihn seine Kollegen als Vorgesetzten so wahrnahmen – gerade war nicht der Moment für solche Grundsatzgespräche.

»Also, mir geht’s bestens, und ich hab gut geschlafen«, erklärte er daher lapidar.

Hefele zuckte mit den Schultern. »Wir haben halt gedacht, dass dir der Unfall sehr nahegeht. Weil du doch irgendwie verantwortlich bist.«

Kluftinger riss die Augen auf. »Ich? Ich bin doch nicht für den Unfall verantwortlich! Wie kommt’s ihr denn da drauf, bitte?«

»Na ja, also streng genommen …«, schaltete sich Maier ein, »… du bist der Interimspräsident, und damit trägst du zumindest die Gesamtverantwortung. Auch wenn du ihn natürlich nicht den Abhang runtergeschubst hast.«

»Immerhin, da kann ich ja froh und dankbar sein, dass ihr mich nicht verdächtigt.« Kluftinger stellte seine Ledertasche neben Lucy ab, die auf einer Ecke seines Schreibtisches saß. Seufzend erhob sie sich und gesellte sich zu den Kollegen in die kleine Sitzecke, während sich Kluftinger in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ.

»Dieser Interimsschmarrn ist hoffentlich eh bald vorbei, dann müssen wieder andere den Kopf hinhalten, wenn was schiefläuft. Wie schaut’s denn eigentlich aus, wissen wir schon, wer das Unfallopfer ist?«

Seine Kollegen sahen zu Boden, keiner sagte ein Wort. Kluftinger hatte das Gefühl, ein bisschen zu unwirsch gewesen zu sein. Sie hatten es ja eigentlich nur gut gemeint. »Ach so, ja und erst mal noch danke, dass ihr so besorgt seid, das geht mir zu Herzen.«

»Also, richtig Sorgen mach ich mir erst jetzt, nachdem du das gesagt hast«, erklärte Hefele grinsend.

»Depp. Also, was gibt’s?«

»Wir sind auch gerade erst gekommen. Der Mann heißt Lothar Schaller. Seine Personalakte müsstest du als Mail bekommen haben«, erklärte Maier.

»Hat sich jemand gemeldet, der ihn vermisst? Partnerin, Frau oder so?«

Lucy zog die Schultern hoch. »Wir wissen von nix.«

Kluftinger nickte. »Dann müssen wir dringend rausfinden, wer seine Angehörigen sind.«

Die Kollegen nickten und erhoben sich.

»In welcher Abteilung war er denn?«

Noch bevor jemand antworten konnte, klopfte es.

»Ja?«, rief Kluftinger mit gerunzelter Stirn. Da sich nichts rührte, gab Kluftinger Roland Hefele ein Zeichen, die Tür zu öffnen.

Kluftinger musterte den Mann, der im Türrahmen stand: Er war um die fünfzig, drahtig, hatte silbergraues, kurzes Haar und graue Bartstoppeln, trug eine schwarze Cargohose und ein schwarzes T-Shirt. »Guten Morgen, ich wollte zu Ihnen, Herr Kluftinger.«

»Ja, lassen Sie sich doch bitte einen Termin bei meiner Sekretärin geben, im Moment passt’s grad nicht so gut«, rief der Kommissar vom Schreibtisch aus. »Wir hatten gestern einen Unfall, da müssen wir …«

»Deswegen bin ich da. Ich bin ein Kollege aus Sonthofen.«

Damit hatte der Fremde Kluftingers volle Aufmerksamkeit.

»Ihr habt ja was zu tun, oder?«

Maier, Hefele und Luzia Beer erhoben sich und schauten interessiert dem Mann hinterher, der jetzt in das Büro ihres Chefs spazierte. Kluftinger stand auf, gab ihm die Hand und schloss dann hinter seinen Kollegen die Tür.

Sie nahmen in der Sitzgruppe Platz, dann widmete Kluftinger sich seinem Gast. »Um was geht’s denn genau, Herr …?«

»Ach so, ja, Entschuldigung, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Herbert.«

»Herbert. Servus. Ich bin der Adalbert.« Präsident hin oder her, unter Kollegen konnte man sich ruhig duzen, fand Kluftinger.

»Nein, Herbert ist mein Nachname. Mit Vornamen heiße ich Hans. Aber wir können ruhig beim Du bleiben. Also, wenn Sie nix dagegen haben. Du, meine ich, also, Herr Präsident«, stammelte der Grauhaarige.

»Du passt prima. Hans Herbert also?«

»Ja, was glaubst du, wie oft ich mich dafür schon bei meinen Eltern bedankt hab.« Er grinste.

Um die Augen des Mannes hatten sich kleine Lachfältchen tief in die Haut gegraben, stellte der Kommissar fest. Das wunderte ihn nicht, der Kollege schien durchaus Humor zu haben. »Also, erzähl doch mal, Hans Herbert.«

»Danke. Ich bin Teamleiter beim Personenschutz, wir sind uns glaub ich noch nie über den Weg gelaufen. Wir sind in Sonthofen stationiert und verirren uns nur selten ins Präsidium.«

Kluftinger dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Könnt mich auch nicht erinnern. Und was hast du mit dem Unfallopfer von gestern zu tun?«

»Lothar war Teil meines Teams.«

»Lothar Schaller, unser Toter?«

Sein Gegenüber nickte.

»Tut mir leid, das mit Ihrem … deinem Mitarbeiter.« Kluftinger musste unwillkürlich an seinen früheren Kollegen und Freund Eugen Strobl denken, und wie sehr ihn sein früher Tod damals mitgenommen hatte. Wobei die Umstände ungleich dramatischer gewesen waren, immerhin war Eugen nicht nur verunglückt, sondern im Dienst ermordet worden.

»Danke, das ist schon beschissen. Aber wir standen uns nicht sehr nahe. Lothar war eher ein Eigenbrötler, der meines Wissens zu keinem von den Kollegen engeren Kontakt gepflegt hat. Dagegen ist ja an sich nichts einzuwenden, ich sag’s bloß, damit du dich nicht wunderst, falls manche Leute nicht so trauern, wie man das vielleicht erwarten würde.«

»Verstehe.«

»Ja, aber was ich nicht verstehe, ist eine bestimmte Sache.«

Gespannt beugte sich Kluftinger nach vorn. »Was denn?«

»Der Lothar war für die Übung gestern gar nicht eingeteilt.«

»Nicht?« Kluftinger zog die Stirn in Falten.

»Nein. Im Vorfeld hat er mich zwar die ganze Zeit genervt, dass er unbedingt mitmachen will, aber es hat einfach nicht gepasst. Also hat man ihn nicht berücksichtigt.«

»Kannst du dir vorstellen, warum er trotzdem da war?«

»Eben nicht. Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit.«

»Hat er vielleicht in letzter Minute noch mit einem Kollegen getauscht?«

Herbert schüttelte den Kopf. »Es war ja nur einer von uns dort, die anderen befanden sich alle anderweitig im Einsatz.«

»Ach ja? Wo denn?«

»Weißt du, wir sind eine kleine Gruppe. Wir sind in ganz Bayern unterwegs, oft in München und Augsburg. Unsere Hauptaufgabe ist der Personenschutz von Politikern. Und es gibt da auch bei uns einen, für den wir noch ab und zu abgestellt werden, einen Ex-Bundesminister, der wohnt in Obermaisel …«

»Der Weber?«, platzte es aus dem Kommissar heraus.

»Ja, genau, Doktor Horst Weber.«

Kluftinger nickte. Weber war eine Legende im Allgäu. Über die Jahre hatte es immer mal wieder Landes- oder Bundesminister aus der Region gegeben, aber keiner hatte es so weit nach oben geschafft wie Weber. Er war Bundesinnenminister im Kabinett Kohl gewesen, hatte den Einheitsvertrag maßgeblich mitverhandelt und war an der Euroeinführung beteiligt gewesen. »Geht’s dem denn gut?«

»Und ob. Er erfreut sich bester Gesundheit und ist immer noch hochkarätiger Berater und politischer Beobachter. Wirklich fit der Mann. Und damit das so bleibt, schauen wir ab und zu bei ihm vorbei, vor allem, wenn sich eine konkrete Bedrohungslage ergibt. Über die Jahre ist das gar nicht so selten vorgekommen. Die Spinner werden immer mehr.«

»Aber ihr überwacht den doch nicht permanent …«

»Nein, wie gesagt, das kommt darauf an. An sich ist der ja eh schon gut gesichert. Panzerglasscheiben im ganzen Haus, Kameraüberwachung und so. Aber ab und zu, wenn er sich in den Wahlkampf einmischt oder ein Interview gibt, in dem er zu irgendwas deutlich Stellung bezieht, dann trudelt schon der ein oder andere Drohbrief ein. Das müssen wir dann natürlich erst mal ernst nehmen. Gut, manchmal war es dann auch nur der Nachbar, der sich drüber geärgert hat, dass der Obstbaum zu weit über den Zaun gewachsen ist oder so und der ihm eins auswischen will. Aber bei einer eher diffusen Lage sind wir vorsichtshalber vor Ort. Der Mann hat so viel geleistet fürs Land, da ist es das Mindeste, wenn wir dafür sorgen, dass er in Ruhe sein Leben leben kann. Aber eigentlich bin ich ja wegen dem Lothar Schaller da.«

»Freilich, entschuldige. Der Kollege wollte also eigentlich bei der Terrorübung mitmachen, und weil das nicht geklappt hat, hat er sich irgendwie Zugang verschafft. Und jetzt ist er tot. Schon komisch, oder?«

Herbert nickte. »Ja, finde ich auch. Komischer Zufall.«

»Wenn du mich fragst: Zufälle gibt’s selten, jedenfalls solche.«

»Das wisst ihr von der Kripo sicher besser als wir.«

Gedankenverloren nickte der Kommissar, dann stand er auf einmal ruckartig auf. »Danke dir, Herrmann …«

»Herbert. Hans.«

»Ganz genau. Danke, dass du da warst. Wir hören sicher noch voneinander.« Er schob seinen Gast gleichsam aus dem Büro. Von der Tür aus rief er seiner Sekretärin zu: »Sandy, kannst du mir beim Willi bitte mal die Fotos vom Unglücksort gestern besorgen? Möglichst sofort, bitte.«

Ein paar Minuten später brachte Sandy dem ungeduldig wartenden Kommissar eine Mappe mit ausgedruckten Fotos, die er ihr förmlich aus der Hand riss. Ein »endlich« konnte er sich gerade noch verkneifen. Aber er spürte dieses Kribbeln in der Magengegend, das sich immer dann einstellte, wenn er Witterung aufgenommen hatte. Zum Glück machte Willi Renn immer noch Ausdrucke von den Fotos, die er an Tatorten schoss. Hektisch breitete Kluftinger nun die Bilder auf seinem Schreibtisch aus, verschob sie, brachte sie immer wieder in eine andere Ordnung, ging mal nahe heran, mal weit weg, legte sie sogar vor sich auf dem Boden aus und stieg auf seinen Stuhl, um sie alle auf einmal im Blick zu haben. In diesem Moment ging die Tür auf.

»Gymnastik während der Arbeitszeit?«, fragte Sandy.

Er winkte ab, kletterte von seinem Stuhl, nahm sich eines der Fotos, betrachtete es noch einmal genauer, sog scharf die Luft ein, packte seinen Janker und verließ eilends das Büro. Der verdutzt dreinblickenden Sandy Henske rief er über die Schulter zu: »Ich muss mal schnell wohin.«

3

Kluftinger schnaufte schwer. Zwar war er mit dem Passat nicht nur das kleine Passsträßchen bis zum Allgäuer Berghof gefahren, einem altehrwürdigen Skihotel, das inzwischen zu einem modernen Familienresort umgebaut worden war. Er hatte sein Auto auch den Wirtschaftsweg hinaufgequält, der zur »Weltcuphütte« führte, die ein ganzes Stück oberhalb am Gipfelkamm des Ofterschwanger Horns lag. In der Hütte gab es tolles Essen, für die Currywurst und den knusprigen Schweinebraten mit Speckknödeln stiegen viele Leute sogar extra den Berg hinauf.

Kluftinger wusste, dass es von hier ab mit dem Auto beim besten Willen nicht mehr weiterging. Also war er ausgestiegen, hatte sich für alle Fälle die Regenjacke aus dem Kofferraum um die Schultern gebunden und war losgestapft in Richtung jener Stelle, an der sie gestern Lothar Schaller tot aufgefunden hatten.

Das Wetter sah nicht ganz so beständig und strahlend aus wie am Vortag, womöglich würde es heute ein kleines Gewitter oder einen kurzen Regenschauer geben. Natürlich hatte er auf seiner spontanen Wanderung keine Bergschuhe an, doch er konnte auf planierten Spazierwegen zu seinem Ziel kommen, und die Haferlschuhe waren obendrein mit einer ordentlichen Profilsohle ausgestattet. Dennoch hatte er die Entfernung und die zurückzulegenden Höhenmeter unterschätzt, was ihn jetzt zu einer Pause zwang. Er schwitzte stark. Die Wegstrecke hatte ihn körperlich an seine Grenzen gebracht. Ob er doch auf die Ratschläge seines Hausarztes und Zwangsbekannten Doktor Langhammer hören sollte, die der gebetsmühlenartig wiederholte? Weniger Gewicht, weniger Fleisch, mehr Bewegung an der frischen Luft … Der Kommissar seufzte und blickte misslaunig auf den Rand des Waldstücks, das oberhalb von ihm lag und das er nun noch zu durchqueren hatte, da sah er es. Erstaunt riss er die Augen auf. Ja, kein Zweifel, seine Sinne spielten ihm keinen Streich.

»Kreuzhimmelkruzifix! Ja spinn ich?« Mit einem Schlag schien seine Kurzatmigkeit wie weggeblasen. Er setzte sich in Bewegung, ohne das, was er da eben im hohen Gras entdeckt hatte, auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Er merkte, wie sich sein Puls noch einmal beschleunigte – diesmal aber wegen des einsetzenden Jagdfiebers statt aufgrund seiner mangelnden Kondition.

»Hab ich euch!«, flüsterte er, als er die Stelle erreicht hatte, und ging fast andächtig in die Knie. »Ja, wo gibt’s denn so was noch?« Was er aus der Entfernung gesehen hatte, war nur ein Bruchteil dessen, was nun vor ihm lag: Mindestens sieben oder acht herrlich junge Steinpilze mit appetitlich braunen Kappen und festen, blütenweißen Stielen. Nur ganz selten fand man so viele davon auf einem Haufen. In den letzten Jahren jedenfalls war ihm nie mehr ein solches Sammlerglück zuteilgeworden.

Reflexartig langte er in seine rechte Hosentasche – vergebens. Das kleine Schweizermesser, das er über Jahrzehnte hinweg immer bei sich getragen hatte, ruhte seit einer Weile unnütz in seiner Nachttischschublade: Seit man nämlich eine Sicherheitsschleuse passieren musste, um in die Kemptener Residenz zu kommen, in der sich Amts- und Landgericht befanden, hatte er mehrfach Ärger bei dortigen Terminen bekommen. Nie hatte er an das kleine Messerchen gedacht, und der Justizbeamte hatte stets darauf bestanden, dass er auch bei hochdekorierten Polizeibeamten keine Ausnahme machen dürfe. Die gäbe es nur bei seiner Dienstwaffe, die könne er nämlich durchaus ins Gerichtsgebäude mitnehmen. Also hatte Kluftinger schweren Herzens sein »Sackmesser«, das er von einem Großonkel zur Firmung bekommen hatte und dessen schmale Klinge durch das wiederholte Schärfen schon der eines Dolchs glich, aus seiner Hose verbannt. Nun freilich hätte er es bestens gebrauchen können, um die Pilze gleich vor Ort zu putzen, bevor er sie mitnehmen würde.

»Himmelkruzinesn!«, fluchte er. Ihm gebrach es ja nicht nur an einem Messer, sondern auch an jeglichem Behältnis zum Transportieren der Pilze. Er konnte sie unmöglich mit bloßen Händen tragen, dazu waren es viel zu viele. Und wer wusste schon, wie viele er danach noch finden würde! Wenn er sich die in die Taschen stecken würde, wären sie innerhalb kürzester Zeit völlig zermatscht. Instinktiv richtete er sich auf und ließ den Blick schweifen, als könne er hier oben, mitten am Berghang, irgendwo eine Lösung für sein Problem finden. Was sollte er nur tun? Er konnte diese makellosen Schönheiten unmöglich stehen lassen. Das wäre geradezu eine Sünde und würde obendrein mit Sicherheit für so schlechtes Pilzkarma sorgen, dass er nie wieder auch nur einen Pfifferling finden würde.

Andererseits: War es überhaupt legitim, was er da tat? Schließlich befand er sich im Dienst. Doch ein weiterer Blick auf den Boden pulverisierte seine Skrupel regelrecht. Er war nun mal Pilzsucher, und als solcher hatte man die Pflicht, anzunehmen, was einem der liebe Gott schenkte. Er langte sich in den Nacken, wo er unter der umgebundenen Regenjacke inzwischen unangenehm schwitzte. Von wegen atmungsaktiv! Dieses Zeug war in etwa so luftdurchlässig wie eine Plastiktüte.