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Der erste Solo-Fall von »Kluftinger«-Autor Volker Klüpfel – mit dem skurrilen Ermittlerduo Svetlana und Tommi. Spannung und Humor garantiert!
»Halt an, Tommi! Kind ist ganz nass bei diese scheußliche Wetter, muss sich doch kümmern jemand.« Svetlana deutete energisch auf eine Stelle am Waldrand ...
Die erstaunliche Svetlana liebt russische Literatur und Detektivgeschichten. Ihre Lebensweisheiten sind so legendär wie ihre Grammatik. Tommi, liebenswerter Chaot Anfang 30, arbeitet konsequent an seinem Du»rchbruch als Bestsellerautor. Meistens jedenfalls. Wegen vorübergehender Finanzflaute haust er im alten Wohnmobil seines Vaters. Die Hymer B550 hat der ihm zusammen mit seiner ukrainischen Putzfrau Svetlana überlassen. Als Tommi und Svetlana eines Abends ein kleines Mädchen am Waldrand auflesen, ahnen sie nicht, dass ihre unkonventionelle und bisweilen tollkühne Suche nach der Mutter sie auf die Spur eines schrecklichen Verbrechens bringt. Und sie selbst in große Gefahr.
Der grandiose Auftakt zu einer neuen Krimireihe - vom Autor der beliebten »Kluftinger«-Krimis. Mit seinen liebenswert-schrägen Figuren voller Herz, Witz und Verstand beweist der Autor erneut seinen einzigartig humorvollen Blick auf menschliche Schwächen und Abgründe.
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein kleines Kind und ein großes Verbrechen.
Der erste grandiose Solo-Fall für das ungewöhnliche Ermittlerduo Svetlana und Tommi
»Halt an, Tommi! Kind ist ganz nass bei diese scheußliche Wetter, muss sich doch kümmern jemand.« Svetlana deutete energisch auf eine Stelle am Waldrand ...
Die erstaunliche Svetlana liebt russische Literatur und Detektivgeschichten. Ihre Lebensweisheiten sind so legendär wie ihre Grammatik. Tommi, liebenswerter Chaot Anfang 30, arbeitet konsequent an seinem Durchbruch als Bestsellerautor. Meistens jedenfalls. Wegen vorübergehender Finanzflaute haust er im alten Wohnmobil seines Vaters. Die Hymer B550 hat der ihm zusammen mit seiner ukrainischen Putzfrau Svetlana überlassen. Als Tommi und Svetlana eines Abends ein kleines Mädchen am Waldrand auflesen, ahnen sie nicht, dass ihre unkonventionelle und bisweilen tollkühne Suche nach der Mutter sie auf die Spur eines schrecklichen Verbrechens bringt. Und sie selbst in große Gefahr.
Der grandiose Auftakt zu einer neuen Krimireihe voller liebenswert-schräger Figuren mit Herz, Witz und Verstand. Volker Klüpfel in Bestform: Durch die Brille der erstaunlichen Svetlana und Dichter Tommi beweist der Autor erneut seinen einzigartig humorvollen Blick auf menschliche Schwächen und Abgründe.
Volker Klüpfel, Jahrgang 1971, wurde in Altusried geboren. In Bamberg studierte er Politikwissenschaft und Geschichte. Nachdem er einige Zeit in den USA und in Deutschland als Journalist, zuletzt als Feuilletonredakteur, gearbeitet hatte, stellte er fest, dass ihm doch eher das freie Schreiben liegt. Seine Freizeit verbringt er am liebsten mit seiner Familie – auf Urlaubsreisen oder im Allgäu. Zusammen mit Michael Kobr hat er sich u.a. mit der mehrfach verfilmten Kultreihe um Kommissar Kluftinger und weiteren Romanen ein Millionenpublikum erschrieben. »Wenn Ende gut, dann alles – Das einsame Kind« ist der großartige Auftakt zu seiner ersten Solo-Krimireihe um die geniale ukrainische Putzfrau Svetlana und den vielleicht irgendwann einmal erfolgreichen Dichter Tommi Mann.
»Liebevoll ausgemalte menschliche Schwächen sind die Stärken, sind das komödiantische Grundkapital dieser Serie.« Die Welt über die Kluftinger-Reihe
»Den beiden Autoren gelingt etwas Seltenes: Sie bringen die Deutschen dazu, über sich selbst zu lachen.« Focus über die Kluftinger-Reihe
Volker Klüpfel
Svetlana, der Dichter und der Fall mit dem einsamen Kind
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Copyright © 2025 Penguin Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch
Marcel Hartges, Literatur- und Filmagentur, München.
Lektorat: Bianca Dombrowa
Covergestaltung: buxdesign | Lisa Höfner
Coverillustration: Uli Oesterle
www.der-ulistrator.com
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32154-3V002
www.penguin-verlag.de
»Das ABC ist alles, was er kann.«*»Wer etwas weiß, bringt’s dem Unwissenden bei.«
Ostslawische Sprichwörter
»Das kannst du ruhig schreiben.« Svetlana hatte eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere wedelte mit dem Putzlappen in der Luft herum, als dirigiere sie ein Orchester. »In deine Buch da. Kannst du schreiben. Und meine Name auch.«
Ich seufzte. Was sie da in ihrem unnachahmlich ostslawischen Akzent von sich gab, war ihr Standardsatz, wenn ich am Laptop saß und sie das Gefühl hatte, ihre Weisheiten müssten zum Wohl der Nachgeborenen festgehalten werden.
»Hm?«, fragte ich halb abwesend, weil mich gerade ganz andere Probleme beschäftigten. Genau genommen hatte ich nämlich keine Ahnung, wie ich in dem Thriller, an dem ich gerade arbeitete, meinen Helden aus der im Grunde aussichtslosen Situation retten sollte, in die ich ihn hineinmanövriert hatte.
»Aber schreib meine ukrainische Name. Svitlana.«
Ich blickte auf. In ihren Augen erkannte ich, dass sie es ernst meinte. Das mit der ukrainischen Version ihres Vornamens. War das schon immer so gewesen? Oder erst seit in ihrem Heimatland dieser Krieg tobte und sie dadurch ihren Nationalstolz entdeckt hatte? Ich wusste es nicht, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto aussichtsloser wurde die Situation für meinen Helden. Also klappte ich den Laptop zu. Heute würde ich in der Geschichte nicht mehr weiterkommen, aber ich war ja auch schon auf Seite … zwölf. Vierzehn sogar, wenn man die Schrift etwas vergrößerte und mit dem Zeilenabstand spielte. Fünfzehn mit Vorwort. Für drei Monate Schreibzeit vielleicht keine berauschende Ausbeute, aber akzeptabel, wenn man bedachte, dass ich schon auf Seite zwölf respektive fünfzehn einen Hinterhalt und eine ausweglose Situation für den Helden untergebracht hatte. Das ist ja ein Geschenk für die Leserinnen und Leser, wenn’s gleich richtig zur Sache geht. Meist werden erst wortreich die Hauptfiguren eingeführt und umständlich die Schauplätze vorgestellt.
Nicht so bei mir.
Allerdings stand ich nun vor der ungleich größeren Herausforderung, meinen Helden, den Millionärssohn Timothy, aus seiner verzwickten Lage (gefesselt in einem verlassenen Lagerhaus, eine maskierte Gestalt mit einem Messer vor sich) wieder herauszubekommen. Schaffte ich das nicht, konnte ich mir die weiteren mindestens zehn Bände meiner geplanten Serie mit dem klingenden Reihentitel Der Erbe des Bösen in die Haare schmieren.
Übers Knie brechen durfte ich das Ganze aber auch nicht, so ein Thriller war ein diffiziles Geflecht wohl überlegter …
»Warum klappst du zu? Hast du aufgeschrieben?«
Ich biss die Zähne zusammen. Svetlana hatte es wieder einmal geschafft, mich komplett aus dem Konzept zu bringen. Endlich war ich einmal im Flow gewesen, endlich hatte mich die Muse geküsst. Ach was, geküsst: Ein wildes Knutschen war das gewesen, mit Zunge und allem Drum und Dran. Und jetzt ging nichts mehr. Da konnte ich mich genauso gut ihrem Anliegen widmen. »Ja, ist drin«, log ich.
Sie kniff die Augen zusammen und musterte mich. Sofort wurde ich nervös. Svetlana erkannte immer, wenn ich die Unwahrheit sagte. Sie war ein menschlicher Lügendetektor, ihr blieb nichts verborgen. So kam es mir jedenfalls vor. Ich fühlte mich aber gleich besser bei dem Gedanken, dass ich ja nicht der Einzige war, in dem sie las wie in einem offenen Buch.
Buch. Wieder seufzte ich. War Thriller wirklich das Genre, mit dem ich Erfolg haben würde? Würde ich endlich einen Verlag finden?
»Wie hast du formuliert?«
Bestimmt nicht, wenn meine Zugehfrau mich ständig in dem Bestreben unterbrach, Literatur zu erschaffen.
»Hast du geschrieben: von deine Putzfrau?«
»Ja, hab ich.« Keine Ahnung, was sie damit immer hatte. Reinigungskraft, Raumkosmetikerin, Reinemachexpertin – ich hatte schon so viele Bezeichnungen durch, aber sie bestand auf: Putzfrau. Weil sie fand, dass es genau das bezeichnete, was sie war, jedenfalls in der Funktion, in der sie zu mir kam. Und sie war für klare Verhältnisse. Klare Verhältnisse. Ausgerechnet bei mir. Ich blickte mich in dem Raum um, der mir zur Heimat geworden war. Obwohl ich vorgehabt hatte, nur einen vorübergehenden finanziellen Engpass im Wohnmobil meines Vaters zu überbrücken. Das war vor einem Jahr gewesen, kurz nachdem mich Michelle, nun ja, nachdem sie gemeint hatte, eine Beziehungspause würde uns guttun. Ihr.
Der sowieso schon betagten fahrbaren Wohnung hatte dieses Jahr genauso zugesetzt wie mir. Zum Glück hatte ich Svetlana.
»Was schaust du? Ist schlecht geputzt?« Sie stemmte nun auch die andere Hand in die Hüfte.
»Nein, nein, gar nicht, ohne dich wäre ich … also du weißt schon.«
»Verloren?«, beendete sie meinen Satz. »Hilflos? Ratlos? Ohnemächtig?«
»Jaja, schon gut. So was in der Art. Und es heißt ohnmächtig.« Ich war froh, dass sich das Gespräch nun nicht mehr um die Niederschrift ihrer Lebensweisheit drehte, denn ich hatte vergessen, worum es da eigentlich gegangen war. Irgendwas mit einem Vogel, der eigentlich ein Wort ist, und wegfliegt, wenn … ja, wenn was?
»Kein Vogel. Spatz.«
Konnte sie seit Neuestem auch noch Gedanken lesen? »Spatz. Weiß ich.«
»Ist gute Sprichwort, kannst du ruhig merken. Dann geht vieles …« Sie verstummte, als sie den Bilderrahmen unter der Schmutzwäsche entdeckte, die sie gerade von dem winzigen Tischchen klaubte, das neben meinem Bett stand. Zumindest, wenn ich das Bett aufgebaut hatte. Momentan war ja Tagesbetrieb im Wohnmobil. Sie holte tief Luft und fixierte mich mit ihren grünen Augen. Ich hielt ihrem Blick stand, auch wenn sie in ihrer rosafarbenen Kittelschürze, den farblich abgestimmten Handschuhen und den Crocs wie ein großes pinkes Ausrufezeichen dastand. Ein Ausrufezeichen, das einen ihrer unzähligen Leitsprüche beendete: Was war, ist mit Gras bewachsen! Dabei hob sie den Bilderrahmen hoch.
»Ach, da ist der. Weiß auch nicht, wie der da hingekommen ist.«
»Letztes Mal war nicht da.«
»Nicht?« Ich suchte nach einer Ausrede, aber was hätte ich schon sagen sollen? Svetlana hatte die spärliche Einrichtung des Wohnmobils exakt kartografiert im Kopf. Sie merkte sofort, wenn etwas anders war.
»Nein. Habe weggeräumt.«
Natürlich hatte sie den Bilderrahmen weggeräumt. Sie predigte mir ja seit Monaten, dass ich Michelle endlich vergessen und mich neuen Dingen zuwenden sollte. Und mit neuen Dingen meinte sie: neuen Frauen.
»Bist du erst 32. Zu jung für traurig sein.«
»Das sagst du so leicht.«
»Nur weil bei mir fast zwanzig Jahre her ist?«
Fangfrage!, schrillte ein Alarm in meinem Kopf. Sie kokettierte gern mit ihrem Alter, aber ich ließ mich darauf nicht ein. Für ihre knapp fünfzig sah sie toll aus, auch wenn sie mehr aus sich hätte machen können. Ihr ganzes Styling bestand aus farblich abgestimmten Putzklamotten und hin und wieder wechselnder Haarfarbe. Zurzeit trug sie die Haare schwarz. Auch wenn sie darauf bestand, dass der Farbton Ebenholz hieß.
»Hm?«
Ich merkte, dass ich mir etwas zu viel Zeit mit der Antwort gelassen hatte. »Du weißt, dass du nicht so alt aussiehst, wie du bist.« Mist, das war jetzt irgendwie verunglückt rausgekommen, eigentlich war es als Kompliment gemeint.
»Danke«, antwortete sie schmallippig. »Das räume ich weg.« Sie nahm den Rahmen mit dem Foto von Michelle und mir, eng umschlungen auf dem Helene-Fischer-Konzert. Den Besuch hatte Michelle mir zum Geburtstag geschenkt. Sie liebte Helene Fischer, und ich war fest entschlossen, ihre Schlagerbegeisterung irgendwann zu teilen. Svetlana schob das Foto in das winzige Regal, in dem neben den alten Reiseführern meines Vaters meine Literatursammlung stand. Ein paar der Groschenromane nahm sie heraus und platzierte den Bilderrahmen so, dass man das Foto nicht mehr sehen konnte. Dann hielt sie die Romanheftchen hoch. »Soll ich wegschmeißen und Platz machen?«
»Nö. Les ich vielleicht mal wieder.«
Sie verzog das Gesicht, was sie sofort ein paar Jahre älter erscheinen ließ. »John Sinclair und der Amoklauf der Mumie?«
»Ja, das ist … ein Klassiker. Fast so gut wie Die Nonne mit der Teufelsklaue.«
Ohne sich umzudrehen, zeigte sie auf eines der wenigen Hardcover im Regal, einen Wälzer von mindestens achthundert Seiten. »Das ist Klassiker. Hast du schon gelesen?«
Vor einem halben Jahr hatte sie mir das Ding ungefragt vorbeigebracht und wollte nun ständig wissen, wie weit ich damit war. »Angefangen. Aber ich hab’s oft in der Hand.« Das war die Wahrheit, denn als Briefbeschwerer und Tassenuntersetzer war es recht nützlich.
»Glaub mir, wird dir gefallen. Beste Buch von diese Autor.«
»Ach so, dann …« Ich gönnte ihr das Faible für russische Literatur, aber dass sie mich dazu bekehren wollte, stresste mich ein bisschen. Dabei war ich wirklich guten Willens, genau wie bei Michelles Schlageraffinität, aber allein die russischen Namen … Die Hauptfigur verfügte über mehr Versionen seines Namens, als es in meinem Thriller Charaktere gab. »Das glaub ich dir ja, aber ich hab so wenig Zeit, und dann muss ich immer wieder von vorn anfangen.«
»Hast du Probleme mit Namen?«
»Ich hab keine Probleme.« Kurz überlegte ich, ob ich ihr erklären sollte, wie holprig das Buch geschrieben war, dass der Protagonist in dem Roman mal Rodion, mal Rodja und dann wieder Rodka oder Rodya hieß, was gekrönt wurde durch mehrere Varianten seines Nachnamens, etwa Raskolnikow oder Raskolnik. So schrieb man einfach nicht. Aber da ich keine Lust hatte, mir Svetlanas flammende Verteidigungsrede der russischen Literatur anzuhören, antwortete ich nur: »Ich hab einfach wenig Zeit. Intellektuell bin ich dem Buch schon gewachsen.« Vermutete ich zumindest.
»Hast du wieder Sport angefangen?«, wechselte sie ansatzlos das Thema.
Heute wollte sie es wirklich wissen.
»Hast du schon mit dem Rauchen aufgehört?«, fragte ich zurück. Irgendwann war es ja auch mal gut.
Das hatte gesessen. Sie zuckte die Achseln und räumte die Heftchen wieder ins Regal. Ich war froh, dass ich wenigstens von diesem Laster wusste, sonst hätte es gar nichts gegeben, was ich ab und zu gegen sie verwenden konnte.
Eine Weile ging sie nun still ihrer Tätigkeit nach, wobei still ein etwas beschönigender Ausdruck war, denn sie hörte dabei ohrenbetäubend laute Musik. Kopfhörer setzte sie nur auf, wenn ich arbeitete, und meine dahingehenden Bemühungen hatte sie ja eben vereitelt. Da ich also nichts zu tun hatte, beobachtete ich sie fasziniert dabei, wie sie es, begleitet von den dumpfen Bässen einer unaussprechlichen ukrainischen Hardrockband, mit wenigen Handgriffen schaffte, das Chaos im Wohnmobil in Ordnung zu verwandeln. Auch wenn sie dabei alle Grenzen meiner Privatsphäre missachtete, in Schränke schaute, meine Essensvorräte kontrollierte, um mir anschließend Tipps für gesündere Ernährung zu geben – jedenfalls das, was sie dafür hielt.
Momentan waren Datteln ihr Lieblingsthema, man müsse jeden Tag mindestens drei davon essen, vor dem Frühstück, dann arbeite das Gehirn oder der Stoffwechsel oder was auch immer auf Hochtouren. Davor waren es Paranüsse gewesen, davor eingelegter Knoblauch und davor … ich erinnerte mich nicht mehr. Anfangs hatte ich noch versucht, ihre Weisheiten kritisch zu hinterfragen, doch inzwischen war ich dazu übergegangen, zu allem nur noch zu nicken. Das beschleunigte ihre Kurzreferate immerhin ein bisschen.
»Tommi?«
»Hm?«
»Bin ich fertig. Soll ich noch Haare schneiden?«
Unwillkürlich wandte ich den Kopf und blickte in den schon leicht trüben Spiegel, den ich ebenfalls von meinem Vater übernommen hatte. Genauso wie den Rest der etwas aus der Mode gekommenen holzlastigen Einrichtung. Svetlana hatte recht: Ein paar beherzte Schnitte würden meiner Frisur guttun. Im Gegensatz zum Rest meines Körpers, der bei knapp einem Meter siebzig das Wachstum eingestellt hatte, wucherte es auf meinem Kopf wie wild.
»Aber nur die Spitzen«, antwortete ich.
»Du musst mehr Datteln essen, das ist gut für Haare.«
Haare! Das war es gewesen, was die Datteln bewirken sollten. Ich saß mit einer Plastikplane über den Schultern auf einem Klappstuhl – dem einzigen mobilen Sitzmöbel im Camper. Bei gutem Wetter stellte ich ihn manchmal draußen auf und guckte mir bei einem Bier den Sonnenuntergang an. Mein Kopf lugte aus der Öffnung, die Svetlana in die Plane geschnitten hatte – ihre improvisierte Version eines Friseurumhangs. Den frisch geputzten Boden hatte sie ebenfalls mit Folie ausgelegt. Es sah ein bisschen so aus, als wolle sie ein Blutbad an mir anrichten und keine Spuren hinterlassen. Aber ich hatte trotz der scharfen Schere größtes Vertrauen, dass ich bloß ein paar Haare lassen würde. Die allerdings flogen nur so in alle Richtungen wie Schafwolle bei einem Schafschur-Wettbewerb.
»Nächstes Mal wir müssen früher schneiden«, urteilte sie und ich widersprach nicht. Dennoch schob sie noch einen ihrer Sinnsprüche nach: Vorbeugung ist besser als heilen.
Mich beschäftigte etwas anderes, doch ich musste die Frage vorsichtig formulieren. »Sag mal, hast du beim Aufräumen … was gefunden?«
Das metallische Schnappgeräusch der Schere verstummte augenblicklich.
»Ich meine, also, vielleicht so was wie … Karten?«
»Spielerkarten?«
»Eher so Tickets.«
»Tickets?«
»Ja.«
»Tickets für was?«
Genau diese Frage hatte ich vermeiden wollen, weil die Antwort nur weitere nach sich ziehen würde. »Fürs Theater, zum Beispiel.«
»Seit wann gehst du in Theater?«
Froh darüber, dass sie mir aufgrund unserer speziellen Position nicht in die Augen schauen konnte, antwortete ich: »Recherche.«
»Für deine Benzin-Geschichte?«
»Wieso Benzin-Geschichte? Meinst du meinen Thriller?«
»Hat nichts mit Benzin zu tun? Heißt doch so.«
»Ach, du meinst wegen dem Titel der ersten Folge? Der Diesel-Dämon?«
»Genau.«
»Da geht’s eher um eine alternative Superenergiequelle und natürlich um eine Verschwörung und um einen Serienkiller … aber das führt jetzt vielleicht zu weit.«
»Finde ich auch.«
»Was?«
»Zu viel für ein Buch.«
»Nein, so hab ich das nicht gemeint. Das wollen die Leserinnen und Leser heutzutage.«
»Und dafür musst du in Theater recherchieren?«
»Ja. Nein. Ist eher ’ne allgemeine Recherche.«
Ihr Misstrauen war durch ihr Schweigen hindurch deutlich zu hören. »Welche Stück denn?«, fragte sie nach einer Weile.
Ich seufzte. Was spielte das denn für eine Rolle? »Die Möwe. Von …«
»Tschechow.«
Klar kannte sie den, war ja ein russischer Schriftsteller.
»Du weißt schon, dass da nicht um Tiere geht, oder?«
»Weiß ich.« Inzwischen jedenfalls. Tatsächlich hatte mich der Titel angesprungen, weil Michelle Vögel so liebte. Und wenn ich mit Theaterkarten eines Stückes bei ihr auftauchte, das Die Möwe hieß, würde sie nicht widerstehen können. Als ich dann allerdings in dem Schauspielführer, den ich mir gleich noch zu den Tickets gekauft hatte, las, dass es eigentlich von etwas völlig anderem handelte, war ich doch ins Zweifeln geraten.
»Stimmt gar nicht«, korrigierte sich Svetlana, »kommt schon Möwe vor.«
»Ach ja?« Ich richtete mich etwas auf.
»Ja. Wird totgeschossen.«
»Tot… ach du Scheiße, ich weiß nicht, ob Michelle …« Ich biss mir auf die Zunge.
»Aha.«
Auch wenn ich Svetlana nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie zufrieden nickte. Hatte sie mir mal wieder eine Information entlockt, die ich ihr eigentlich gar nicht hatte geben wollen.
»Haben wir doch erst beschlossen, dass du nicht mehr mit ihr …«
»Wir haben gar nichts beschlossen. Du hast beschlossen. Und nur weil ich mit Michelle ins Theater gehe, heißt das noch nichts. Vielleicht ist das bei euch in Russland …«
»Ukraine!«
»… in der Ukraine so, dass man mit seiner Ex nicht befreundet sein darf, aber bei uns ist das anders. Außerdem ist sie gar nicht meine Ex, wir machen nur eine Pause, die uns beiden guttut.« Ich hatte mich in Rage geredet und war bereit, mich mit allen argumentativen Mitteln zu verteidigen, doch Svetlana nahm mir sofort den Wind aus den Segeln.
»Pause geht aber schon lang.«
Da traf sie einen wunden Punkt. Aber wenn Michelle fand, dass sie ein Jahr brauchte, dann brauchte sie eben ein Jahr.
»Wo hast du denn Karten letztes Mal gehabt?«
Das hatte meine Oma früher auch immer gefragt, wenn jemand etwas gesucht hatte. Obwohl das die dämlichste aller Fragen in dieser Situation war. Ganz so drastisch wollte ich das meiner Putzfrau zwar nicht sagen, aber sie sollte schon einsehen, dass wir so nicht weiterkamen. »Wenn ich das wüsste, hätte ich die Karten doch schon wieder, oder?«
»Vielleicht. Lass überlegen. Bin sowieso fertig.« Sie nahm den improvisierten Umhang mit einer raffinierten Technik ab, die dafür sorgte, dass kein Haar neben der Folie auf dem Boden landete. »Kannst du schauen.«
Ich warf einen schnellen Blick in den Spiegel. »Passt!« Die Details meiner Frisur waren mir nicht besonders wichtig, wenn der Grundeindruck stimmte. Zumal ich meistens eine Schiebermütze trug, von denen mir mein Vater einen ganzen Schrank voll überlassen hatte. »Hast du jetzt eine Ahnung, wo die Tickets sein könnten?«
In aller Ruhe faltete sie die Plastikplane zusammen, setzte sich auf die Bank, die mit dem hochklappbaren Tisch tagsüber mein Wohnesszimmerbüro darstellte, legte sich Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und schloss die Augen.
Sie zog wieder ihre Sherlock-Holmes-Nummer ab. So nervtötend das auch war, führte es doch meist zum Ziel, auch wenn das Großer-Detektiv-Brimborium verzichtbar gewesen wäre. Vor allem, weil es bedeutete, dass sie mich damit zu ihrem begriffsstutzigen Watson degradierte.
»Rekapituliere ich«, begann sie, die Augen noch immer geschlossen. »Hast du Theaterkarten gekauft für Tschechow.«
Ich nickte. Da sie nicht fortfuhr, bestätigte ich mit Worten. »Ja, hab ich.«
»Für Stück Die Möwe.«
»Schon, aber was hat das denn damit zu tun, wo sich die Tickets …«
»Stück, wo keine Tiere vorkommen.«
Ich schnaufte. »Ja, das weiß ich.«
»Woher?«
»Ist doch allgemein bekannt.«
Sie öffnete die Augen und blickte mich ernst an. »Finden wir nur, wenn du mir sagst Wahrheit.«
Zähneknirschend presste ich hervor: »Ich hab’s nachgelesen.«
»Wo?«
»Na, im Schauspielführer.«
»Hast du keinen.«
»Eben doch.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Das war ihr wohl bei ihrem Einsatz entgangen. Vielleicht war ihre Auffassungsgabe doch nicht so außergewöhnlich, wie sie uns Normalsterbliche glauben machen wollte.
»Hast du gekauft noch andere Sachen?«
»Ja, die Spaghetti, die ich mir abends gemacht habe.«
»Dann Sache ist klar.«
Ich grinste. Eigentlich hätte ich Michelle zu diesem Schauspiel einladen müssen, das war viel amüsanter, als es ein Stück mit einer erschossenen Möwe je sein konnte. »Würden Sie mich Unwissenden erhellen, werter Holmes?«
»Gern. Bist du also losgegangen und hast Theatertickets gekauft für … Frau.« Sie weigerte sich standhaft, Michelles Namen auszusprechen. »Weil du Stück nicht kennst, hast du noch Schauspielführer gekauft.«
»Und?«
»Dann hast du daheim gleich nachgeschaut, was ist für Stück.«
Mein Grinsen bekam Risse. »Woher weißt du das?«
»Habe gesehen in deine Mülleimer Verpackung mit Preisschild drauf.«
Jetzt war ich doch etwas baff, ließ mir aber nichts anmerken.
»Brauchst du nicht so gucken, bis hier war leicht.«
»Ich hab gar nicht geguckt …«
»Hast aber nur Anfang gelesen, weil sonst hättest du gewusst mit erschossene Vogel. Und damit du weiterlesen kannst an richtige Stelle, du hast was in Buch hineingesteckt. Als Lesungszeichen.«
Konnte das …?
»Und was hast du gerade zu Hand gehabt für Lesungszeichen?«
Ich stand auf, holte den Schauspielführer, klappte ihn auf – und da waren die Tickets. »Du bist … also wirklich, Svetlana, vielen Dank. Das war … schon beeindruckend.«
»Danke. Hätte ich auch gekonnt, wenn ich nicht gesehen hätte Karten in Buch bei Aufräumen.«
Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. Meinte sie das nun ernst oder verarschte sie mich schon wieder?
»Aber gib lieber zurück. Ist nichts für dich.«
»Der Schauspielführer?«
»Nein, nicht der.«
»Das Stück?«
»Frau.«
Darauf wollte ich mich nun wirklich nicht einlassen. »Soll ich dich heimbringen?«
»Gut, Rest mache ich auf Fahrt.« Sie wischte sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht. Wieder musste ich feststellen, dass ihr die aktuelle Farbe sehr gut stand. Nur sagen konnte ich ihr das nicht, denn unsere Art der Beziehung sah Komplimente meinerseits nicht vor. Sie würde das als respektlos empfinden.
Ich zwängte mich ans Steuer des Wohnmobils und startete den Motor, der wie immer zuverlässig nach dem dritten Versuch ansprang.
Da tönte ihre tiefe Stimme von hinten: »Kommt auch Schriftsteller vor in Theaterstück, hast du gewusst?«
Ein Schriftsteller? Das war mir neu, aber jetzt fand ich die Idee, mit Michelle in die Aufführung zu gehen, noch besser.
»Wird auch erschossen.«
Ich dachte über Svetlanas Gehirnakrobatik nach, während ich das Wohnmobil über die verregneten Straßen lenkte. Es sah nach Herbst aus, was mir ganz recht war, denn dann war die Wohnmobilsaison vorbei, die Urlauber waren wieder zu Hause – und die Kontrollen würden weniger werden. Dann konnten Menschen wie ich wieder unbehelligt auf Parkplätzen nächtigen und mussten sich nicht ständig neue Standorte suchen. Denn technisch gesehen durfte man in Deutschland in einem Wohnmobil nicht dauerhaft wohnen, was einer gewissen Komik nicht entbehrte, denn es hieß ja schließlich nicht »Urlaubsmobil« oder »Ab-und-zu-mal-Drinschlafmobil«, sondern eben »Wohn-Mobil«.
Aber das beschäftigte mich nur am Rande. Zu gern hätte ich meine Putzfrau gefragt, ob sie sich das mit den Tickets und dem Buch alles nachträglich zurechtgelegt hatte oder ob sie tatsächlich durch Deduktion darauf gekommen war. Falls ja, war das wirklich respekteinflößend. So eine Fähigkeit hätte ich mir gewünscht, dann wäre mein Problem mit dem Firmenimperiumserbe Timothy, der von seiner hinterhältigen Stiefmutter Sheena in einen Hinterhalt gelockt wird, schnell gelöst. So wusste ich bisher nur, dass sie meinen Helden reingelegt hatte.
»Warum eigentlich englische Name?«
»Hm?« Ich blickte in den Rückspiegel und sah, wie Svetlana trotz der kurvigen Strecke erstaunlich standsicher ein T-Shirt zusammenlegte.
»Deine Leute. Heißen in Buch alle englisch. Sheena, Leonard, Timothy.«
»Ja, und?«
»Spielt doch in Göttingen.«
Hatte ich ihr das zu lesen gegeben? Oder hatte sie sich Zugang zu meinem Laptop verschafft? Dabei war der doch passwortgesichert. Gut, 12345 war nicht gerade ein narrensicherer Code, aber es war ja auch nichts drauf außer meinen zwölf Seiten. Fünfzehn. Nur: Wann hätte sie denn Zugriff auf meinen Rechner haben sollen? Ich war ja immer anwesend, wenn sie da war. Also musste ich ihr davon erzählt haben. »Ja, das ist, weil …« Ich dachte kurz nach. Weil in Thrillern die Leute immer englische Namen haben, wollte ich eigentlich sagen. Dass meiner im Gegensatz zu denen, die ich las, in Deutschland spielte, war allerdings ein gewisser Widerspruch. Böttcher oder Fröhlich waren aber nun mal völlig unthrillerige Namen. »Gute Anregung, danke.«
»Nenn Sheena doch Svetlana. Oder besser: Sveta. Ist Spitzenname für Stiefmutter. Kannst du ruhig schreiben.«
»Auf jeden Fall. Ein Spitzenname.«
»Und ist ja nach Vorbild von mir gemacht, oder?«
Wie kam sie denn darauf? »Nein, die ist ganz frei erfunden.«
»Aha.«
Wieder dachte ich an meine Geschichte, an die Intrige von Sheena oder Sveta oder wie immer sie auch heißen würde. Wobei mir ein neuer Name auch nicht bei meinem Problem half. Ich musste mir endlich einen Ausweg für meinen Firmenimperiumserben einfallen lassen, damit er in der nächsten Szene auf seinen Vater treffen konnte, bevor der seinen Herzinfarkt bekam, um ihm anschließend das wichtige Geheimnis anzuvertrauen, das die Handlung erst so richtig in Gang setzte. Ich nahm mir vor, mich einfach rückwärts durch die Geschichte zu bewegen, bis ich …
»Hast du deinen Vater eigentlich gesehen in letzte Zeit?«
Svetlana hatte wirklich ein Gespür für schlechtes Timing. Jetzt, wo ich gerade drauf und dran war, mein literarisches Problem in den Griff zu bekommen. Vielleicht dachte sie ja nur deswegen so strukturiert, weil sie nicht dauernd dabei unterbrochen wurde.
»Wen?«, antwortete ich, um etwas Zeit zu gewinnen, denn die Frage hatte ich sehr wohl verstanden. Und die einfachste Antwort wäre gewesen: Nein, habe ich nicht. Doch dann hätte sie mich wieder genötigt, umgehend zu einem Besuch aufzubrechen, was ich schuldbewusst befolgt hätte. Und mein Vater würde das merken. Er war ja nicht wie die anderen Bewohner seines Altenheims. Nicht nur, dass er mit 63 viel jünger war als die meisten. Er war fit, vital, geistig voll da – kurz: Er hatte in einer solchen Einrichtung nichts verloren.
Ganz abgesehen davon, dass er dort mein Erbe durchbrachte, nur weil er zu bequem war, für sich selbst zu sorgen. Stattdessen fuhr ich nun mit dem Wohnmobil durch die Pampa, mit dem er früher die Welt bereist hatte, während ich bei meiner Oma aufgewachsen war. Ohne Mutter. Und mit einem Vater, der nur ab und zu Postkarten schrieb und sich ansonsten irgendwo die Sonne auf das lederne Gesicht scheinen ließ.
»Nein, ich hab ihn nicht besucht, und ich hab auch keine Veranlassung, das bald zu tun«, blaffte ich lauter als beabsichtigt.
»Und die Post?«
Die Post, fuck. Mangels festen Wohnsitzes ließ ich die zu meinem Vater schicken, was wiederum bedeutete, dass ich sie ab und zu abholen musste.
»Ist doch schön. Immerhin hast du noch Vater.«
Svetlanas Stimme klang versöhnlich, aber mich machte die Aussage erneut zornig. Natürlich hatte ich einen Vater, hatte ich früher auch schon gehabt. Aber er war eben nie da gewesen. Und das, obwohl meine Mutter uns schon verlassen hatte, als ich noch ein Baby war. Wieso sollte ich jetzt ständig bei ihm rumhängen? Damit er sich nicht langweilte mit den Seniorinnen, die er als Frührentner-Don-Juan zum nachmittäglichen Tanztee ausführte? »Was soll das denn heißen? Hast du etwa keinen?«
Da sie nicht antwortete, blickte ich in den Innenspiegel und erkannte, wie sich ihre Stirn furchte. War ich zu weit gegangen? Wieder einmal wurde mir klar, wie wenig ich eigentlich von ihr wusste. Hatte sie noch einen Vater? Hatte sie überhaupt Familie? Immer wenn die Sprache darauf kam, wurde sie einsilbig.
»Wollte nur fragen.«
Sie wirkte auf einmal anders, irgendwie traurig, was mir leidtat. Svetlana konnte ja nichts dafür, dass ich mit meiner Vergangenheit haderte. Da war es wenig taktvoll von mir, sie auf ihre zu stoßen. Wobei: Interessiert hätte es mich schon. »Eltern und ihre Kinder«, seufzte ich, um dem Thema ein bisschen die Schwere zu nehmen und ihr vielleicht doch noch die ein oder andere Information zu entlocken.
»Kind.«
Schien ja zu klappen. »Warst du also ein Einzelkind?« Jetzt war ich der schlaue Detektiv.
»Nein, einzelne Kind.«
»Also, grammatikalisch richtig heißt es Einzelkind.«
»Ach was, Grammatik. Meine ich Kind draußen!«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
Da zeigte sie auf das Fensterchen über meiner Wohnesszimmerbüro-Bank. »Draußen. Da ist einsame Kind.«
Ich wandte den Kopf kurz nach rechts, dann sah ich es auch. Neben der Straße, auf einem Feldweg, ging ein kleines Mädchen, das ich auf sieben oder acht Jahre schätzte. Es hatte einen winzigen Rucksack auf dem Rücken und stapfte trotz des Regens unverdrossen über den matschigen Pfad. Dann richtete ich den Blick wieder auf die Fahrbahn.
»Hast du nicht gesehen?«
»Doch, ich hab’s gesehen.«
»Was macht Kind da auf Weg?«
»Vielleicht ist Wandertag in der Schule oder so.«
Sie lachte gekünstelt. »Ha, Wanderertag!«
»Wandertag.«
»Hab ich gesagt.«
»Nein, du hast … ist doch jetzt egal.«
»Wenn Wanderertag, dann wären viele Kinder da.«
Damit hatte sie natürlich recht, wobei ich mich erinnerte, dass auch ich manchmal, bedingt durch, nun ja, einen Mangel an Popularität bei den anderen Kindern, relativ einsam meiner Wege gezogen bin, wenn im Kindergarten oder in der Schule ein Ausflug stattfand. »Das muss nicht unbedingt sein, manchmal wollen … also müssen Kinder auch …«
»Wir müssen. Umkehren. Und nach Kind gucken.«
Das war nun wirklich das Letzte, was wir mussten. »Nein, Svetlana, du willst nach Hause und ich habe … zu tun.«
»Was denn?«
Mit Magendrücken dachte ich an Timothy, dessen Leben bedroht war, weil ein von seiner Stiefmutter Sveta geschickter Handlanger ihn mit einem Messer in der Hand zwang …
»Schauen wir nach Kind. Ist ganz nass bei diese scheußliche Wetter, muss sich doch kümmern jemand.«
»Jemand. Genau, Svetlana. Jemand muss sich kümmern, nicht wir. Heutzutage kannst du nicht einfach zu einem wildfremden Kind gehen und nach dem Rechten sehen. Da bist du gleich wegen Belästigung dran oder Schlimmerem.«
»Ah, Papperlapappe.«
Ich liebte es, wenn sie die deutsche Sprache um solche Kleinodien bereicherte. Wobei ich den Verdacht hegte, dass Svetlana das wusste und es ab und zu gezielt einsetzte.
»Heute kam schon in Radio von junge Frau, die von Auto totgefahren. Ganz in Nähe. Ist gefährlich.«
»Ach, hätten wir da auch nachschauen sollen?«
»Da nicht, aber hier können wir.«
»Also gut, meinetwegen«, lenkte ich schließlich ein. Sie würde mich sonst tage-, ach was, wochenlang mit Horrorstorys über verschwundene Kinder foltern, bis ich mir nichts mehr wünschte, als an diesem verhängnisvollen Tag umgekehrt zu sein.
Ich bremste ab, vergewisserte mich, dass auf der Allee weder von hinten noch von vorn ein Auto kam, und setzte dann zum Wendemanöver zwischen den Baumreihen an, das ich in sieben Zügen vollendete. Mein persönlicher Rekord mit diesem Ungetüm von Wohnmobil, das dem Wendekreis nach zu urteilen auf der Basis eines Flugzeugträgers gebaut worden war. Doch als wir wieder an der Stelle angelangt waren, wo wir das Mädchen entdeckt hatten, war es weg. »Ich seh’s nicht mehr. Du?«
Svetlana schaute mit zusammengekniffenen Augen durch das Fenster. Gut, dass sie es vorher geputzt hatte, sonst wäre das vergebliche Liebesmüh. Ich lenkte das Wohnmobil an den Straßenrand, achtete dabei aber nicht auf den Untergrund. Es tat einen gewaltigen Schlag, dann folgte ein schabendes Geräusch. Ich bremste abrupt. Das konnte nur Schlimmes bedeuten.
»Was war das?«
»Ach, bestimmt nichts Schlimmes.« Dass ich in einem Wohnmobil hausen musste, war nicht nur ganz prinzipiell eine Zumutung, ich hatte leider auch gar keine Ahnung von Autos. Zum Glück war mein bester Freund Mechaniker, allerdings waren selbst seine Freundschaftspreise für meinen klammen Geldbeutel eine Herausforderung.
»Kannst dich kümmern später, jetzt ist Mädchen wichtiger.«
Ich nickte, schaltete die Warnblinkanlage ein und hielt ebenfalls nach dem Kind Ausschau. Je länger wir suchten, desto mehr beschlich mich ein ungutes Gefühl. Was, wenn dem Mädchen wirklich etwas passiert war? Was, wenn mein Zaudern am Ende schuld war, dass der Kleinen …
»Da! Da ist Kleine.« Svetlana deutete vage auf eine Stelle am Waldrand.
Wir hatten in der falschen Richtung gesucht. Waren wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie weitergelaufen war. Doch sie musste umgekehrt sein und war nun drauf und dran, im Wald zu verschwinden.
»Hinterher!« Nun auch vom Jagdfieber gepackt, riss ich die Tür auf, ohne nach dem Verkehr zu schauen, worauf der Autofahrer, der gerade an uns vorbeifuhr, ein wütendes Hupkonzert veranstaltete – inklusive Fensterscheibe-Herunterkurbeln und Mittelfingerzeigen. Svetlana und ich blickten uns erschrocken an, zuckten die Achseln und liefen weiter. Wir konnten sehen, wie der rosafarbene Pullover des Mädchens vom Dunkel des Waldes verschluckt wurde. Als wir etwa auf halber Strecke hinter der Kleinen waren, wurde ich langsamer. Meine Lunge brannte. Es fühlte sich an, als läge ein Gewichtsgürtel um meine Hüften. Was ja irgendwie auch stimmte. Svetlana allerdings zog locker an mir vorbei. Sie schien nicht einmal schneller zu atmen als sonst. Dabei war sie doch die Raucherin. Wie machte die Frau das nur?
Svetlana erreichte den Waldrand einige Sekunden vor mir. Als ich bei ihr ankam, stützte ich meine Arme auf die Oberschenkel und sog pfeifend die Luft ein.
»Sag ich doch, musst du Sport machen und Datteln essen.«
Ich war mir nicht sicher, ob die Datteln in diesem Fall helfen würden, war aber gerne bereit, zumindest diesen Teil einmal zu versuchen. »Hast … du sie … gesehen?«, keuchte ich.
Sie zeigte in den Wald.
»Gott sei Dank.« Erleichtert sah ich den Pulli der Kleinen im Halbdunkel hüpfen wie einen Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flog. Wir folgten ihr, und als wir nah genug bei ihr waren, rief Svetlana: »Kleine Mädchen? Hast du dich verlaufen? Komm, wir helfen.«
Ich hatte erwartet, dass das Kind vor Schreck zusammenfahren würde, doch es drehte sich ganz ruhig um und zuckte mit den Schultern.
Nun ergriff ich das Wort. »Was ist los? Wieso bist du alleine?«
Wieder das Schulterzucken.
»Verstehst du mich?«
»Uns«, ergänzte Svetlana.
»Verstehst du uns?«
Noch einmal zuckte die Kleine mit den Schultern. Sie hatte lange braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Die Gläser ihrer Brille waren von Tropfen übersät, die das Hindurchblicken sicher schwierig machten, die Brille selbst war mit einem Gummiband am Kopf befestigt. Und das Mädchen hatte dieses Gesicht, das man hatte, wenn man …
»Mongoloid«, sagte Svetlana.
»Das sagt man nicht. Down-Syndrom ist der korrekte Ausdruck.« Warum ich in diesem Moment auf die politisch korrekte Ausdrucksweise beharrte, wusste ich nicht. Es schien lächerlich, hier im Wald, mit dem durchnässten Mädchen vor uns. »Hast du dich verlaufen?«, wollte ich wissen.
»Wo sind Eltern?«, fragte Svetlana.
Keine Antwort. Nur ab und zu ein Schulterzucken. Vielleicht war dem Mädchen kalt? Es hatte nur diesen rosa Pulli mit einem lachenden Smiley darauf an. Ich zog meine Sweatjacke aus. Sie war ebenfalls nass, aber besser als nichts. Langsam näherte ich mich der Kleinen, beschwichtigend eine Hand erhoben, als gelte es, sich an ein scheues Reh heranzupirschen. Doch das Kind machte keine Anstalten wegzulaufen. Es sah überhaupt nicht erschrocken aus, betrachtete mich nur forschend. Ich war irritiert: Es lag keine Angst in seinen Augen. Aber auch keine Freude darüber, dass es nun nicht mehr allein war. Es ließ sich ohne ein Wort die Jacke umlegen. Svetlana rubbelte das Mädchen ein bisschen warm, denn es war völlig ausgekühlt.
»Wie heißt du denn, Kleine?«
Keine Antwort.
»Hast du Durst?«
Svetlana klopfte die Taschen ihrer Kittelschürze ab, doch natürlich hatte sie nichts zu trinken dabei.
»Ihr Rucksack«, sagte ich, hob meinen Kapuzenpulli an, streifte ihr den quietschgrünen Rucksack von den Schultern und reichte ihn Svetlana. Dann wickelte ich das Mädchen wieder in meinen Sweater.
Svetlana zog den Reißverschluss auf, kramte darin herum und holte schließlich eine leere Trinkflasche hervor, zwei Scheiben matschiges Brot, ein paar Gummibärchen. »Flasche ist ausgelaufen, glaub ich.« Sie kramte weiter im Rucksack und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung.
»Was ist los? Hast du was gefunden?« Mein Atem kondensierte vor meinem Gesicht, als ich heiser die Frage ausstieß. Irgendetwas stimmte nicht, Svetlana schien erschrocken, ja erschüttert.
»Müssen Polizei rufen«, hauchte sie.
»Warum? Was ist denn?«
Langsam zog sie einen Zettel aus dem Rucksack heraus und hielt ihn mir mit zitternden Fingern hin.
Darauf standen, etwas verschmiert, aber immer noch lesbar, zwei Worte: Hilf mir.
»Und Sie haben das Mädchen vorher noch nie gesehen?«
Ich schnaubte. Wie oft musste ich diesem begriffsstutzigen Beamten denn noch erklären, was vorgefallen war? Langsam bereute ich doch, dass wir angehalten hatten. Svetlana stand an der hinteren Tür eines Krankenwagens und hielt die Hand des Mädchens darin. Es sei leicht unterkühlt, hatte der Notarzt gesagt, ansonsten könne man aber keine Verletzungen oder dergleichen erkennen. Sie nähmen sie sicherheitshalber ins Krankenhaus mit.
»Na?«
Ich wandte mich wieder dem Uniformierten vor mir zu. Jetzt schien es der untersetzte Mann auf einmal eilig zu haben. Vorher hatten wir fast eine halbe Stunde auf ihn gewartet, und dann auch noch einen Anschiss kassiert, weil wir ins Wohnmobil gegangen waren, statt draußen im Regen herumzustehen.
»Nein, das hab ich doch schon gesagt. Wir sind hier vorbeigefahren, weil ich meine … also, weil ich Svetlana heimgefahren habe.« Das Wort Putzfrau verkniff ich mir, denn genau genommen war sie nicht angemeldet, auch wenn ich bezweifelte, dass das den Polizisten im Moment sonderlich interessierte. Andererseits: So wie der aussah, konnte man nie wissen.
»Ihre Frau?«
»Wer?«
Er deutete mit dem Kopf zum Krankenwagen.
Beinahe hätte ich gelacht. Andererseits: Wäre es so undenkbar, dass Svetlana und ich ein Paar waren? Klar, sie war deutlich älter als ich, sah aber jünger aus. Und war auf eine natürliche Art attraktiv. Nicht so wie Michelle, aber …
»Na?« Der Polizist klopfte mit dem Stift auf seinen Block.
»Nein, sie ist nicht meine Frau. Sie kommt aus der Ukraine.« Schon als ich es sagte, wusste ich, dass es ein verunglückter Satz war. Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass sie nicht meine Frau war, dass sie aus der Ukraine kam, ihren Lebensunterhalt als Putzfrau verdiente, obwohl sie auch noch zu ganz anderem fähig gewesen wäre, dass sie schon bei meinem Vater geputzt hatte und nun mir half, mein Chaos nicht überhandnehmen zu lassen … Das alles war mir nach seiner Frage durch den Kopf gegangen, doch die verkürzte Antwort klang natürlich seltsam, das musste ich zugeben.
Deswegen wunderte es mich nicht, dass der Beamte nachfragte: »Was soll das denn heißen?« Misstrauisch blickte er zum Krankenwagen.
In mir keimte ein Verdacht auf. »Nicht, was Sie jetzt vielleicht denken.«
»So, was denke ich denn?«
Oh Mann, ich sollte wirklich die Klappe halten. Es regnete wieder in Strömen. Meine Kleidung klebte am ganzen Körper. »Hören Sie, mir ist kalt, ich bin nass, wir haben ein Mädchen aufgelesen und, wenn ich das richtig einschätze, mindestens vor einer Lungenentzündung bewahrt, indem wir es warm gehalten haben. Jetzt wäre es nett, wenn Sie dasselbe mit uns täten.«
»Sie warm halten?«
Hatte er Spaß daran, mich mit seinen Fragen zu quälen? »Nein, uns vor einer Erkältung zu bewahren. Indem Sie mich … uns gehen lassen. Unsere Personalien haben Sie ja, falls noch Fragen wären, auch wenn ich nicht wüsste, was ich noch sagen könnte, was ich nicht schon ein halbes Dutzend Mal zum Besten gegeben habe.«
Er schien einen Moment mit sich zu ringen, dann sagte er: »Na denn. Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung.«
Keine Ahnung, ob er das ernst meinte. Solche Sätze kannte ich eigentlich nur aus Fernsehkrimis. Wie hätte das denn aussehen sollen, sich zu seiner Verfügung zu halten? Aber ich nickte und ging zurück zum Wohnwagen. Als ich die Tür öffnete, kam Svetlana vom Krankenwagen zurück. »Wie geht’s der Kleinen?«
Sie zündete sich eine Zigarette an und schaute sich noch einmal um. »So gut, so weit.«
Ich grinste.
»Kommt in Krankenhaus. Aber glaube, wird schon wieder. Ist nur kalt. Hoffentlich finden sie bald Eltern.«
»Ja, hoffentlich.« Ich zögerte noch einen Moment, dann sagte ich: »Ich bin froh, dass wir angehalten haben.«
Sie blies lächelnd den Rauch aus. Brauchen wir alle jemand. Sagt Sprichwort: Einer ist kein Krieger im Feld.«
Auch wenn ich die Kriegsanalogie etwas martialisch fand, lächelte ich. Die Frage, die ich mir stellte, sprach ich allerdings nicht laut aus: Wen hatte denn Svetlana?
Die Geschichte mit dem Kind war schon zwei Tage her, doch irgendwie ließ mir das Ganze keine Ruhe. Und das, obwohl mein Leben nach zwei Tagen am selben Stellplatz – der Parkplatz eines Möbelhauses, das kürzlich pleitegegangen war – eine ungewohnte Konstanz bekommen hatte. Die ständige Furcht, nachts von einer Kontrolle geweckt zu werden und nicht gleich die richtige Ausrede parat zu haben, schwand mit jedem Tag mehr, an dem ich unentdeckt hier stand.
Doch stattdessen breitete sich eine andere Unruhe in mir aus. Immer wieder musste ich an die Kleine mit dem forschenden Blick denken – und an den Zettel, den wir aus ihrem Rucksack gefischt hatten.
Hilf mir.
Ständig drängten sich diese zwei Worte in mein Bewusstsein. Sie waren mehr als eine Bitte, sie waren eine Aufforderung, ein Befehl. Doch so klar die Aussage war, so rätselhaft war ihre Herkunft. Wer hatte sie geschrieben? Warum? Was steckte dahinter?
Weil mich diese Fragen nicht losließen, hatte ich mir sogar seit langem mal wieder eine Zeitung gekauft. Vielleicht stand etwas über das Mädchen drin, darüber, ob es seine Eltern wiedergefunden hatte und aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Oder zumindest, was es mit der geheimnisvollen Botschaft auf sich hatte.
Während des Frühstücks, wie immer ein Espresso und eines dieser unglaublich leckeren Milchbrötchen, die es beim Discounter so billig im Zwölferpack gab (obwohl ein Zwölferpack eine blöde Größe war, vierzehn wären besser gewesen, irgendwas, was durch sieben teilbar war, denn dann hätte ich alle zwei Wochen am gleichen Tag einkaufen gehen können, so musste ich aber entweder die Wochentage wechseln, zweimal Milchbrötchen-Fasten einlegen oder so viele Packungen kaufen, dass die Gesamtzahl eben doch durch sieben teilbar war, was auf jeden Fall zu viele gewesen wären, auch wenn ich noch nie nachgerechnet hatte, wie viele genau …), während dieses routiniert ablaufenden Frühstücks also blätterte ich immer ungläubiger die Zeitung durch. Las von einem neuen Baugebiet, das nicht vorankam, weil eine Bürgerinitiative Unterschriften für den Schutz einer seltenen Krötenart gesammelt hatte, von einer Ausstellung der Hobby-Aquarellmaler zum Thema Tröstliches Toskanalicht, von den Attraktionen des kommenden Herbstmarktes (es würde diesmal kein Riesenrad geben) und von der Diskussion über die Lasertag-Halle, die in Kürze eröffnet werden sollte, was einige besorgte Bürgerinnen und Bürger in Zeiten eines echten Krieges in Europa unmöglich fanden.
Über ein Mädchen, das einsam im Wald von zwei vorbildlichen Bürgern aufgelesen worden war, fand sich nichts. Immerhin den Unfall, von dem Svetlana berichtet hatte, schien es wirklich gegeben zu haben. Ein bisschen hatte ich ja den Verdacht gehabt, dass sie mit dem Hinweis auf die Gefahren des Straßenverkehrs ihrer Forderung, dem Mädchen zu helfen, mehr Nachdruck verleihen wollte. Mehr Nachdruck verleihen – die Formulierung gefiel mir und ich notierte sie mir in meinem Ideenbüchlein. Dann las ich die Unfallmeldung weiter und schüttelte den Kopf, als ich feststellte, dass der Verursacher Fahrerflucht begangen hatte. Jetzt war ich doppelt froh, dass wir uns des Kindes angenommen hatten. Vielleicht wäre der Kleinen sonst wirklich etwas passiert. Sich jemandes (oder hieß es jemandem?) annehmen – auch das gefiel mir. Mein Ideenbüchlein würde schon bald überquellen.
Das Aggregat meines Kühlschranks setzte sich brummend in Gang. Eigentlich war es nicht nur ein Kühlschrank, sondern ein Multifunktionsgerät, das ich Küche nannte: eine Kühleinheit mit Aufsatz, der das Ganze zu einem Herd mit zwei gasbetriebenen Kochplatten machte. Obwohl ich selten kochte, denn die Gerüche setzten sich in der Holzvertäfelung immer gleich fest. Mein Vater hatte das Wohnmobil damit ausgekleidet, um es »gemütlicher zu machen«, wie er meinte. Wobei er meiner Meinung nach genau das Gegenteil erreicht hatte. Egal. Es machte sowieso keinen Spaß, in dieser rollenden Sardinenbüchse zu kochen. Nur Svetlana schien damit keine Probleme zu haben, sie hatte schon mehrgängige Menüs hier drin gezaubert, wenn sie das Gefühl hatte, ich fiele vom Fleisch. Leider war sie momentan eher vom Gegenteil überzeugt.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es kurz vor elf war, Zeit also, sich an die Arbeit zu machen. Ich bugsierte das Frühstücksgeschirr zu dem anderen in die Spüle, wobei mir meine in jahrelangem Tetrisspiel erlernten Fähigkeiten, Dinge aufeinanderzustapeln, halfen. Dann nahm ich den Laptop und setzte mich wieder auf den gleichen Platz, der jetzt allerdings – wegen des Laptops – zum Büro geworden war. Während der Computer hochfuhr, was bei dem angejahrten Modell inzwischen fast fünf Minuten dauerte, ließ ich meine Fingerknochen und meine Halswirbel knacken, es war schließlich wichtig, entspannt an die Arbeit zu gehen. Dann nahm ich das Notizbuch zur Hand. Was stand da noch über die Stelle, an der ich weiterarbeiten wollte? Ah, da war es: Einführung Heldenfigur Timothy Wentsworth (Namen wirklich englisch?), derMillionärssohnMilliardärssohn und Firmenimperiumserbe – gerät in Hinterhalt – Stiefmutter Sheena/Sveta will geheime Akten an Konkurrenten für viel Geld verkaufen – lockt ihren Stiefsohn in Falle, er weiß nicht, dass sie verantwortlich ist (sie darf es nicht selbst sein, das würde er ja merken!!), T. befreit sich auf geniale Art und Weise.
»Sehr gut«, kommentierte ich halblaut. Eine kleine Änderung noch und der Rest würde sich praktisch von selbst schreiben. Was hatte ich mir zu dieser genialen Selbstbefreiung denn noch notiert? Ich blätterte um. Nachdruck verleihen und sich jemandes/jemandem (?) annehmen waren die nächsten Eintragungen. Die waren von gerade eben, der Rest der Seiten war leer.
Was war das denn für ein Mist? Gerne wäre ich zu meinem ein paar Tage jüngeren Ich zurückgereist und hätte ihm ordentlich die Meinung gegeigt. Einfach nur zu schreiben, etwas müsste genial gelöst werden, und es dann seinem zukünftigen Ich überlassen, Ideen dafür zu entwickeln, das war schon dreist. Moment! Ich nahm das Notizbuch und schrieb: Idee => Zeitreisen. Timothy findet heraus, dass alternative Energiequelle irgendwas mit Quantenphysik und Zeitreise zu tun hat (Recherche: Der Anschlag von S. King, Zeitmaschine von Wells, Zurück in die Zukunft). Benutzt die Forschung, trifft sein jüngeres Ich und sie geraten in Streit. Worüber sie streiten, bringt Lösung für aktuelles Problem.
Wow, das war eine großartige Idee!
Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte: schon nach elf. Höchste Zeit für eine Pause. Die konnte ich mir auch leisten, denn wenn die Ideen weiter so sprudelten, wäre ich Ende des Tages mit dem Plot der Geschichte durch.
Mangels anderer Tätigkeiten fing ich an, ein bisschen aufzuräumen. Dann hatte Svetlana schon nicht so viel zu tun, wenn sie das nächste Mal kam. Beziehungsweise: Dann hatte Svetlana nicht so viel zu schimpfen. Ich stopfte also meine Wäsche in einen Sack, den ich ihr bald mal wieder mitgeben würde, räumte die Zeitung beiseite – und hielt inne. Die Zeitung. Das Mädchen. Eltern. Mein … Vater. Das unerwartete Zusammentreffen mit dem einsamen Kind hatte an etwas gerührt, ein vages Gefühl, das sich nun an die Oberfläche kämpfte. Ich blickte noch einmal auf die Uhr, dann auf den Laptop. Schließlich zuckte ich die Achseln. Morgen war auch noch ein Tag.
Als ich auf den Parkplatz des Altenheims fuhr, in dem mein Vater … nennen wir es: residierte, gab das Wohnmobil noch immer diese komischen schabenden Geräusche von sich. Ich war über irgendetwas drübergefahren, als ich mit Svetlana das Kind gesucht hatte. Seitdem klang der Motor oder die Aufhängung oder wasweißdennich nicht mehr wie sonst. Bisher hatte auch meine beste Strategie – ignorieren und weiterfahren, bis es von selbst wieder weggeht – nicht zum Erfolg geführt.
Immerhin konnte ich hier die Batterie laden, seit ich an einer Ecke des Heims eine Außensteckdose entdeckt hatte. Dennoch blieb ein mulmiges Gefühl, als ich das Eingangsportal passierte. Nicht wegen des Stroms, der war in der horrenden Miete meines Vaters eingepreist, fand ich. Aber wie immer beschlich mich diese Mischung aus Belustigung und Wut. Belustigung, weil es einfach grotesk war, dass sich ausgerechnet mein Vater, dieser Ausbund an Vitalität und Mobilität, in so einem Siechenheim eingemietet hatte. Wobei Siechenheim natürlich übertrieben war, das hier war schon eher ein stilvolles betreutes Wohnen für Leute, die es sich leisten konnten. Wut, weil er mich damit zwang, ihn als alten Mann zu sehen, um den man sich kümmern musste, obwohl er nichts anderes tat, als mein Erbe zu verjuxen. Allerdings fiel es mir schwer, den Juxfaktor seines Aufenthaltsortes zu erkennen.
Die Pflegerin am Eingang nickte mir zu, und ich meinte in ihren Augen das gleiche Unverständnis zu erkennen, gepaart mit einer Prise Mitleid. Ich versuchte ihren Gruß mit einem Blick zu erwidern, der sagen sollte: Was kann man da schon machen, so ist er eben, davon lass ich mich aber nicht unterkriegen, jedenfalls nicht nach all den Jahren, aber danke für Ihr Verständnis. Ein bisschen viel für einen Gesichtsausdruck, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mich verstand.
Das Heim mit dem Namen Villa Sonnenschein hielt, was die klingende Bezeichnung versprach: Von außen wirkte es wie eines dieser modernen Bürogebäude mit viel Glas und Beton, die Gänge innen waren hell und sonnendurchflutet. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob das hier meinem holzdunklen Domizil auf Rädern nicht tatsächlich vorzuziehen war. Doch als sich eine der Türen öffnete, die von dem Gang abzweigten, und eine grauhaarige Frau herausschlurfte, die trotz tropischer Temperaturen hier drin eine Strickjacke trug und sich auf einen Rollator stützte, schüttelte ich entsetzt über mich selbst den Kopf.
Meine Schritte auf dem hellen Linoleumboden hallten von den weißgetünchten Wänden wider – egal wie schick es hier war, es blieb ein Altenheim, das konnten selbst noch so viel Beton und Stahl und Glas nicht verbergen. Und vor allem: Es roch nach Altenheim, nicht schlimm, nur ein bisschen nach dieser Mischung aus Moder und Medikamenten, Sagrotan und Siechtum, was aber übertüncht wurde von dem Geruch, den neue Gebäue so absondern. Das würde allerdings irgendwann vorbei sein, und dann bliebe nur noch … nun ja, der Rest eben.
Schließlich war ich vor dem Zimmer meines Vaters angelangt. 1007. Ich starrte die Zahl an. Mir war noch nie aufgefallen, dass die letzten drei Ziffern die Kennnummer von James Bond ergaben. Das konnte kein Zufall sein. Bestimmt hatte er darauf bestanden, genau hier einquartiert zu werden, bestimmt prahlte er damit und stellte sich bei den Insassen (oder hieß es Bewohner?) mit den Worten vor: »Mein Name ist Mann. Hans Mann.« Wobei er wohl eher seinen Spitznamen benutzte.
»Leo?«
Genau den. Ich drehte mich in die Richtung, aus der das Rufen gekommen war. Mein Vater, in hellen Hosen, Jackett und – ich konnte es kaum fassen – Halstuch, stürmte gerade durch eine Glastür, eine Frau mit Lockenwickler folgte ihm.
»Leo, so warte doch.«
»Nein, Elfi, tut mir leid, wenn du mir nicht glaubst, dann sollten wir das hier und jetzt beenden. Au revoir.« Da entdeckte er mich und fügte hinzu, als überraschte ihn mein Auftauchen nicht im Geringsten: »Außerdem habe ich Besuch.« Er beschleunigte seinen Schritt, klopfte mir jovial auf die Schulter und sagte so laut, dass mir klar war, dass es nicht an mich gerichtet war: »Bonjour, mein Sohn. Schön, dass du da bist. Ich habe mir den ganzen Nachmittag für dich freigeschaufelt.« Damit öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und schob mich mit einem verschwörerischen Zwinkern hinein. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen und atmete tief aus. »Du weißt ja, wie das ist, Tommes.«
Wusste ich nicht. Wollte ich nicht wissen. Schon gar nicht, wenn er mich Tommes nannte. Niemand tat das. Nur er. Gut, ihm hatte ich den Namen ja auch zu verdanken, wahrscheinlich einer weinseligen Erinnerung an irgendeine Reise geschuldet. Ich fand ihn schrecklich. Er reimte sich auf Pommes und hatte in Verbindung mit meinem Nachnamen eine unangenehme Nähe zu einem deutschen Großschriftsteller, an dem ich mich ungern messen lassen wollte.
»Setz dich doch, Tommes, ich hab ein bisschen geflunkert vorhin.«
Das war mir nicht entgangen.
»Den ganzen Nachmittag hab ich nämlich gar nicht, aber so lange willst du ja bestimmt auch nicht bleiben. Hast sicher noch was vor heute, nicht?«
Ich bereute bereits, dass ich überhaupt gekommen war.
»Na, nimm schon Platz.«
Ich blickte mich um. Der Raum, der mit seinen IKEA-Möbeln und den bodentiefen Terrassenfenstern eher wie ein Hotelzimmer wirkte, war erstaunlich aufgeräumt und sauber. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Angestellten hier auch Housekeeping-Aufgaben übernahmen, ebenso wenig allerdings, dass mein Vater auf seine alten Tage noch so ordentlich geworden war. Schließlich benutzte ich meine genetische Vorbelastung gern als Entschuldigung für das Chaos, in dem ich hauste. Wahrscheinlich hatte mein Vater eine der Frauen, vielleicht Elfi von gerade eben, dazu überredet, seine Zimmerreinigung zu übernehmen.
Ich ließ mich in den dunklen Ledersessel neben der Couch fallen und wartete seine erste Frage ab, von der ich schon wusste, wie sie lauten würde.
»Wie geht’s denn meinem alten Mädchen?«
Das interessierte ihn immer am meisten, noch bevor er nach mir fragte, bevor er wissen wollte, ob ich zurechtkam oder wie es um meine Buchprojekte stand. Zuallererst erkundigte er sich nach ihr. Wobei es mir seltsam vorkam, dass er vom Wohnmobil als einer Sie sprach. Für mich war es, wenn überhaupt, ein Er, ein knarziger älterer Herr – wie mein Vater.
»Läuft wie geschmiert«, log ich und musste dabei an die Geräusche denken, die vom Unterboden kamen, und was mich das möglicherweise kosten würde.
»Ja, die alte Dame ist nicht unterzukriegen. Die hat Charakter. Resilienz. Leider gilt das für die meisten Bewohnerinnen hier nicht.«
Ich fragte gar nicht erst nach, was er damit meinte.
»Kontrollierst du regelmäßig den Ölstand? Und das Kühlwasser? Da sind die alten Damen manchmal etwas zickig.«
Bevor er nun gleich wieder Analogien zu seinen Nachbarinnen ziehen würde, kam ich zum Punkt. »Ist Post gekommen?«
»Post? Hm, ich glaube … mal sehen, wo Gerti die hingeräumt hat.«
Na also, da hatte ich wohl richtiggelegen. War ja klar, dass er hier nicht selbst aufgeräumt hatte.
»Ah, da. Mal sehen.« Er blätterte die Sendungen durch, als würde das Briefgeheimnis für ihn nicht gelten. »Werbung, was von der Bank, ah, hier: was von der Werbeagentur, für die du schreibst …«
»Zeig mal.« Ich riss ihm den Brief aus der Hand und öffnete ihn. Darin befand sich die Abrechnung für den letzten Auftrag: einen Werbespruch für den 150. Geburtstag einer Bank. Nur widerwillig hatte ich das übernommen. Am Schluss war ein Slogan herausgekommen, der auch als Arbeitsverweigerung oder Geschäftsschädigung durchgegangen wäre: Seit 150 Jahren Wachstum. Dank Ihrem Vertrauen. Und Ihrem Geld. Doch bis zu den Bankern war die Ironie nicht durchgedrungen, und so wurde ich nun tatsächlich dafür bezahlt, was zumindest die nächsten Wochen einigermaßen sicherte.
»Gute Nachrichten?« Mein Vater zog das Sakko aus und warf es auf die Couch. Ein Schwall seines viel zu üppig aufgetragenen Rasierwassers schwappte durch den Raum. Unter dem Sakko trug er nur ein Unterhemd. Zusammen mit dem Halstuch wirkte das besonders lächerlich. Zum Glück legte er das nun auch ab. »Die Damen stehen drauf«, kommentierte er fast entschuldigend und fläzte sich auf die Couch. »Apropos, was macht deine Freundin?«
Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Auf seinen braungebrannten, definierten Oberarmen zeichneten sich die Venen deutlich ab. Die Tätowierungen, die er überall auf der Welt gesammelt hatte, verliehen ihm eine Aura des Gefährlichen, was aber wirklich nur Aura war, wie ich wusste. Dazu die kurzgeschorenen, grau melierten Haare, die wasserblauen Augen und der Dreitagebart – er hätte Werbung für eine Biermarke oder Zigaretten machen können. Allerdings war das ja auch nur deswegen alles so überraschend, weil er eben im Altersheim wohnte. Ob sie hier ein Fitnesscenter hatten, mit dem er seinen Muskeltonus hielt? Ich bezweifelte es. An so einem Ort waren wohl eher Lymphdrainagen gefragt.
»Na, raus mit der Sprache, wie steht’s mit der Freundin?« Ein belustigtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Sofort stieg in mir wieder die Wut hoch. Gut, ich hatte nicht seine Frequenz, was Beziehungen anging, aber dafür brauchten meine Partnerinnen keine Blutdrucksenker. »Wir machen gerade eine Pause.«
»Ach schade, die Laura mochte ich immer sehr.«
Laura? Wieso denn Laura? »Papa, ich war … bin mit Michelle zusammen.«
»Ach ja, stimmt. Das hatte ich verdrängt. Dabei passt die Laura viel besser zu dir.«