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Auf dem Lakestone Campus zählt nur dein Talent. Doch was, wenn jemand hinter dein dunkelstes Geheimnis kommt? Harlow steht mit einem Bein im Gefängnis – denn um ihrem kleinen Bruder eine lebensrettende OP zu ermöglichen, hat sie ein milliardenschweres Bankkonto gehackt. Doch unerwartet bietet ihr der Leiter des Lakestone Campus in Seattle ein Stipendium und Sozialstunden an. Neu an der Uni hält Harlow ihre Vergangenheit geheim. Auch vor dem Literaturstudenten Zack, der aufgrund eines Gendefekts nicht sprechen kann. Aber nicht nur er kommt Harlow immer näher, sondern auch ihr ehemaliges Hackernetzwerk. Band 1 der New-Adult-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint. ***Leseprobe*** Als Zacks Hand plötzlich auf meinem Knie lag, hob ich zum ersten Mal wieder den Kopf und vergaß für einen Moment zu atmen. Er sah mich an und auch ohne, dass er es aufschrieb oder auf Gebärdensprache zurückgriff, wusste ich, was er sagen wollte. Ich vertraue dir, Harlow. Die unausgesprochenen Worte ließen mein Herz ein paar Schläge lang stolpern. Weil sie sich gut anfühlten und gleichermaßen wehtaten. Ich hatte Zacks Vertrauen nicht verdient, nicht bei dem, was ich alles vor ihm zurückhielt. Und mit einem Mal war es verdammt schwer, noch länger in seine honigfarbenen Augen zu schauen. Die Bücher der Lakestone-Campus-Reihe: Band 1: What We Fear Band 2: What We Lost Band 3: What We Hide (erscheint im Frühjahr 2025)
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Seitenzahl: 582
Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Deshalb findet ihr auf dieser Seite einen Hinweis zum Inhalt.
ACHTUNG:Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2024 Ravensburger Verlag Text © 2024, Alexandra Flint Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Silke Weniger, Gräfelfing. Cover- und Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung von Bildern von Shutterstock (TMvectorart, ElenaChelysheva) Lektorat: Nina Schnackenbeck
Verwendetes Zitat stammt aus »Odyssee« von Homer übersetzt von Johann Heinrich Voß.
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51218-8
ravensburger.com
Für alle Mädchen da draußen,
die nicht auf ein »Du kannst das nicht« hören.
Ihr könnt.
And you’re doing great, girls.
Listen to silence.
It has so much to say.
(Rumi)
Anti-Hero – Taylor Swift
Harlow
Ich hatte immer gewusst, dass mich eine meiner Handlungen früher oder später genau an diesen Punkt bringen würde. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet die eine Handlung sein würde, die ich am allerwenigsten bereute. Keine besonders gute Ausgangssituation für das, was mir bevorstand.
Seufzend ließ ich den Kopf auf meine auf dem Tisch verschränkten Arme sinken und versuchte, nicht länger an die enttäuschten Gesichter meiner Mütter oder den grimmigen Ermittler zu denken, der mich vor Stunden in diesen verdammten Verhörraum gebracht hatte. Stattdessen rief ich mir Brax ins Gedächtnis. Brax, meinen elfjährigen, starken Bruder, der dank meiner Aktion die Chance auf ein langes Leben bekommen hatte. Für den ich alles tun würde.
Ich reiste zwei Wochen zurück zu dem Moment, in dem Brax nach der schwierigen Operation die Augen geöffnet und mich angestrahlt hatte. Ich dachte an seine Erleichterung, als ihm die Ärzte gesagt hatten, dass er mit den neuen Herzklappen wieder mit seinen Freunden toben und spielen könne. An die Freudentränen meiner beiden Moms Lillian und Katy, die kaum glauben konnten, dass Brax entgegen aller Erwartungen doch operiert worden war. An das seltene, gute Gefühl, das Richtige getan zu haben. Mir war bewusst, dass ich damit streng genommen gleich mehrere Verbrechen begangen hatte, aber ohne diese Aktion … hätte Brax vermutlich keine Chance gehabt.
Zählte das alles denn überhaupt nichts?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und atmete langsam ein und wieder aus.
Nein, für die Polizei änderte das rein gar nichts. Sie sah nur die Verstöße, nicht die Gründe. In ihren Augen war ich eine Verbrecherin. Eine Hackerin, die sich über die Gesetze stellte. Mehr nicht.
Dabei sollten sie mehr sehen. Sie sollten alles sehen. Einen kleinen Jungen, der jeden Tag zu kämpfen hatte, nur weil wir uns keine Krankenversicherung mit Rundum-Sorglos-Paket leisten konnten oder genügend Rücklagen besaßen. Vermutlich hätte es auf lange Sicht einen legalen Weg gegeben, um das Geld zu beschaffen. Überstunden, mehr Schichten, Online-Nachhilfe, was weiß ich. Aber in der Realität hatte mein Bruder diese Zeit nicht gehabt. Und was auch immer das über mich aussagen mochte, ich würde es jederzeit wieder tun. Für Brax.
Ich spürte, wie sich ein taubes Gefühl in meinem linken Bein breitmachte, und richtete mich langsam wieder auf. Wie lang saß ich hier eigentlich schon? Wie lang konnte es dauern, mir einen Pflichtverteidiger zu besorgen und das hinter uns zu bringen?
Mit zusammengebissenen Zähnen begann ich, meinen eingeschlafenen Oberschenkel zu massieren, und ließ den Blick durch den Raum zu dem gewaltigen Spiegel gegenüber schweifen. Ich wusste, dass es einer dieser Einwegspiegel war, durch den mich garantiert in diesem Moment jemand beobachtete, um …
… Ja, um was? Mich zu lesen? Herauszufinden, ob ich heimlich plante, online die Weltherrschaft an mich zu reißen? Wäre meine Situation nicht so verfahren, würde ich es als Fan sämtlicher Crime-Serien vielleicht sogar cool finden, in meinem eigenen Krimi gelandet zu sein. Doch so …
Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse und versuchte, nicht zu sehr auf meinen ausgewaschenen Seahawks-Hoodie und die zerrissene, hellblaue Jeans zu achten. Oder meinen unordentlichen Knoten aus hellbraunen Locken, der mir schief auf dem Kopf saß. Vermutlich verkörperte ich in meiner ganzen unvollkommenen Erscheinung das typische Klischee einer jungen Frau, die auf die schiefe Bahn geraten und den Tücken des Darknets verfallen war.
Miyu würde jetzt sagen, dass ich mich gerade von meiner unbegründeten Melodramatik beherrschen ließ, weil mein brillantes Gehirn nicht mit meiner aktuellen Lage klarkam. Ich wünschte, sie wäre hier. Miyu würde diese Situation mit Sicherheit rocken und den Detective mit ihren schlagkräftigen Ansagen wegfegen – wie in einem dieser Filme, in denen die Bösen der Polizei immer einen Schritt voraus sind.
Nur war das hier kein Film und meine Hackerfreundin nicht bei mir, sondern im knapp fünftausend Meilen entfernten Tokio. Tja, und ich … fühlte mich alles andere als schlagkräftig. Eher erschöpft, resigniert, schuldig, ohne zu bereuen – was selbst in meinem Kopf keinen Sinn ergab.
Scheiße, ich würde diese Lage so was von überhaupt nicht rocken.
Seufzend hörte ich auf, meinen eingeschlafenen Oberschenkel zu malträtieren, und begann stattdessen, nervös an meinem Daumennagel herumzuknibbeln.
Du hast das Richtige getan, Harlow, das ist alles, worauf es ankommt. Halte dich einfach daran fest. Genau.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür mit einem vernehmlichen Quietschen, das mich unvermittelt so heftig zusammenfahren ließ, dass ich mir prompt das Knie an der Tischkante anschlug. Mit einem unterdrückten Fluchen rieb ich mir die pochende Stelle und sah auf.
Entgegen meiner Erwartung fand ich mich nicht dem grimmigen Ermittler für Cyberkriminalität von vorhin gegenüber, sondern einem gut aussehenden Mann in makellosem Dreiteiler. Ich schätzte ihn auf Mitte, Ende vierzig und sein Vermögen auf einen mindestens achtstelligen Betrag. Wenn man die funkelnde Rolex und den teuren italienischen Aktenkoffer betrachtete, vielleicht auch neunstellig.
Ich hob eine Augenbraue und legte die Hände flach auf den glänzenden Tisch.
»Guten Tag, Harlow.«
»Hi«, erwiderte ich und räusperte mich, weil meine Stimme klang, als hätte ich einen Sack Mehl verschluckt. »Sind Sie … mein Pflichtverteidiger?«
Der war mir nämlich laut der hässlichen Wanduhr vor gut drei Stunden versprochen worden.
Der Mann schüttelte den Kopf und ließ sich auf dem Platz mir gegenüber nieder. Aus irgendeinem Grund wirkte der Plastikstuhl wie sein ganz persönlicher Thron. »Nein, Harlow. Ich bin nicht dein Anwalt, nicht in dieser Angelegenheit. Mein Name ist Harvey Abbot, ich bin der Leiter des Lakestone Campus of Seattle.« Er lächelte leicht, was seine grauen Augen leuchten ließ.
Wenn ich so darüber nachdachte, hatte der Harvey Abbot vor mir durchaus Ähnlichkeit mit seinem Namensvetter Harvey Specter aus der Serie Suits.
Wie auch immer: Was hatte der Chef einer schicken Elite-Einrichtung ausgerechnet auf dem Polizeirevier in meinem Verhörraum zu suchen? Wäre es sein Konto gewesen, das ich … nun ja, gehackt hatte, würde ich verstehen, dass er sich selbst ein Bild der Täterin machen wollte. Aber so ergab das vorne und hinten keinen Sinn für mich.
Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute unschlüssig darauf herum. »Entschuldigen Sie die Frage, aber kennen wir uns von irgendwoher?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Bisher noch nicht, aber ich würde mich freuen, wenn sich das in Zukunft änderte.«
Gut, er hatte mich am Haken.
»Ich habe mir sagen lassen, dass du etwas sehr Außergewöhnliches vollbracht hast. Du musst mir verzeihen, ich verstehe nicht viel vom Programmieren oder Hacken, wie ihr das heutzutage nennt, aber meine vertrauenswürdige Quelle versicherte mir, dass du sehr talentiert darin bist.«
Hätte er mir eröffnet, er wäre der lang verschollene König von Amerika und erhebe nun Anspruch auf sein Land, ich hätte nicht verdutzter dreinschauen können.
»Bitte?«, brachte ich wenig geistreich hervor und starrte ihn perplex an.
»Mir ist bewusst, dass dir diese Situation etwas – wie soll ich es ausdrücken? – ungewöhnlich vorkommt, aber ich versichere dir, dass du absolut nichts von mir zu befürchten hast.« Harvey Abbot stellte die Ellenbogen auf und faltete seine langen Finger unter dem Kinn. »Also, Harlow, bist du gut im Programmieren?«
Miyu und den anderen aus meinem kleinen, aber feinen Netzwerk nach zu urteilen, war ich ein verdammtes Genie – ihre Worte, nicht meine. Alles, was mit Computern, Coden und Zahlen zu tun hatte, war mir schon immer unglaublich leichtgefallen. Logik und Mathematik waren wie Atmen für mich und die Welt des Hackens ein zweites, virtuelles Zuhause. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass Harvey Abbot nicht hierhergekommen war, um das zu hören. Also tat ich das Erstbeste, das mir einfiel, und griff auf meinen altbewährten Sarkasmus zurück.
»Brauchen Sie Hilfe beim Einrichten eines Routers?«
Seine Mundwinkel zuckten. Zumindest hatte er einen Sinn für Humor. »Ich werte das als ein Ja.«
Unsicher runzelte ich die Stirn. »Worum geht es hierbei wirklich, Mr Abbot?«
»Du hast dich in das komplexe Netzwerk einer Bank gehackt, das sich auf die Fahne schreibt, eines der sichersten der USA zu sein, dann eine beachtliche Summe Geld von einem Konto gestohlen und dabei nur minimale digitale Fußspuren hinterlassen, die beinahe niemandem aufgefallen wären.«
Ich presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Das Schlüsselwort war beinahe. Es war mir beinahe gelungen und beinahe war nicht gut genug gewesen. Ich hatte bei einer der Firewalls einen echt dämlichen Fehler gemacht. Einen, der mir sonst niemals passiert wäre – nur dieses Mal … hatte die Zukunft meines kleinen Bruders auf dem Spiel gestanden und ich hatte die Nerven verloren. Ein Fehltritt, der mir das Genick gebrochen und mich letztlich hierhergebracht hatte. Ich konnte nur von Glück sagen, dass ich erst nach Brax’ Operation aufgeflogen war und sie ihm seine Herzklappen nicht direkt wieder hatten nehmen können. Sonst wäre alles umsonst gewesen. Der Ärger, das schlechte Gewissen, meine vermurkste Zukunft, die Schulden, die mir diese Aktion eingebrockt hatte.
Harvey Abbot beugte sich weiter über den Tisch, die grauen Augen fest auf mich gerichtet. »Das, was du getan hast, Harlow, ist zwar rechtswidrig und falsch, aber nichtsdestotrotz beeindruckend. Du hast ein bemerkenswertes Talent im Hinblick auf das Programmieren von Algorithmen. Eines, das gefördert werden sollte.«
Mein Magen zog sich zusammen, während in meinem Kopf die wildesten Szenarien Form annahmen. »Was bedeutet das?«
»Was weißt du über meinen Campus?«
Nicht viel mehr als das, was ich hier und da aufgeschnappt hatte. Der Lakestone Campus lag im Zentrum Seattles, nicht weit von der Space Needle entfernt, und war hochexklusiv und exorbitant teuer – wenn man nicht zu den wenigen Glücklichen gehörte, die ein Stipendium bekamen. Außerdem brauchte man neben dem nötigen Kleingeld auch einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten. Um dort zu studieren, musste man ein kompliziertes Bewerbungsverfahren durchlaufen, das aus mehreren Tests bestand. Wie genau diese aussahen, wusste ich nicht, aber ich konnte mir vorstellen, dass sie nicht darin bestanden, Sudokus der Kategorie besonders knifflig zu lösen. Dass dort mehr gefordert wurde, als die meisten Menschen erbringen konnten. Viele der angesehensten und brillantesten Persönlichkeiten der Politik und Wissenschaft aus allen fachlichen Gebieten und Ländern der Welt hatten dort ihren Abschluss gemacht. Der Lakestone Campus of Seattle war sozusagen die Crème de la Crème der Ivy League, der besten Eliteunis in den USA. Eine eigene kleine Welt, zu der Normalsterbliche keinen Zugang hatten.
»Ich fürchte, nicht sehr viel«, antwortete ich verzögert und sah an ihm vorbei zu dem Einwegspiegel, weil ich immer noch vermutete, dass das hier irgendein verdrehtes Spiel war.
Harvey Abbot nickte, als hätte ich seine Vermutung bestätigt. »Der Campus ist ein Ort für Ausnahmetalente aller Sparten, Harlow. Die Studierenden dort werden allumfassend, jedoch in erster Linie hinsichtlich ihrer besonderen Fähigkeiten gefördert. Im Gegensatz zu vielen anderen namhaften Universitäten können sich die Studierenden von Anfang an auf ein Spezialgebiet festlegen – in Ausnahmefällen auch auf zwei. Ein Grundstudium findet zwar statt, nimmt jedoch weniger Raum ein. Der Lakestone Campus ist damit kurz gesagt eine Talentschmiede, wenn man es so ausdrücken möchte.«
Ich zuckte zusammen, als ich einen Hautfetzen von meinem Daumen abriss, und schüttelte den Kopf. »Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Was hat das mit mir zu tun?«
Denn auch, wenn ich wusste, wie man mit Computern und Codes umging, war ich keine Überfliegerin, kein Genie und damit nicht qualifiziert für die renommierte Privatuni. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir die Studiengebühren niemals leisten könnte und gerade so meinen Highschoolabschluss geschafft hatte.
Statt mir eine direkte Antwort zu geben, hob Harvey Abbot seinen sündhaft teuren Aktenkoffer auf den Tisch und öffnete ihn. »Du bist eine intelligente junge Frau. Was meinst du, welche Strafe steht auf dein Vergehen?«
Die Farbe wich schlagartig aus meinem Gesicht. Das war exakt der Gedanke, den ich seit dem Moment, in dem die Polizei vor unserer Haustür aufgetaucht war, nicht zuließ.
»Eine sehr hohe Geldstrafe – zusätzlich zu dem Betrag, den du gestohlen hast. Eine Anzeige, mehrere Jahre Gefängnis, wenn du keine Möglichkeit findest, das Geld zurückzuzahlen. Abgesehen von der Tatsache, dass du dir dein Leben für immer verbaust.« Das Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden, seine Stimme ernster, direkter.
Übelkeit machte sich in mir breit, während die Angst, die ich die ganze Zeit über mehr oder weniger erfolgreich unterdrückt hatte, wie eine eiskalte Welle über mir zusammenschlug. »Ich habe das doch nicht getan, um irgendjemandem zu schaden! Ich bin keine Kriminelle. Das … Es ging hierbei um meinen kleinen Bruder – um sein Leben. Er hat mich gebraucht!«
Harvey Abbot nickte langsam, holte ein paar Zettel aus dem Koffer und schob sie über den Tisch zu mir. »Das glaube ich dir. Deswegen habe ich auch das hier für dich.«
Ich verkrampfte mich und holte zittrig Luft. Versuchte mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bekommen, ehe ich den Blick auf das Dokument vor mir senkte. Nachdem ich die ersten Worte gelesen hatte, fuhr mein Kopf wieder hoch. »Ich begreife es nicht.«
»Versteh mich nicht falsch, Harlow, deine Handlung wird Konsequenzen haben. Du hast ein Verbrechen begangen und ich denke, das weißt du auch. Aber ich möchte dir eine Möglichkeit anbieten, ab diesem Zeitpunkt einen anderen Weg einzuschlagen und dein Talent für etwas Sinnvolles einzusetzen.«
»Talent?«
»Ja, Talent. Wir nehmen nur diejenigen auf, die zusätzlich zu ihrer Intelligenz noch eine Begabung aufweisen. Fehlen diesen Kandidaten und Kandidatinnen die nötigen finanziellen Mittel, vergibt der Campus Stipendien. Jetzt fragst du dich sicherlich, wo du dabei ins Spiel kommst, Harlow.«
Womit er ins Schwarze traf. Trotz, oder gerade wegen, der vielen Informationen, die er mir hinwarf und die sich nun ungebremst in meinem Kopf drehten, verstand ich nur Bahnhof.
»Nun, es gibt noch eine dritte Kategorie an Studierenden, die aufgenommen werden und mir gewissermaßen ein persönliches Anliegen sind. In meiner Zeit als Leiter des Campus bin ich bereits dem ein oder anderen jungen Menschen begegnet, der an seiner Schule nicht durch besonders gute Ergebnisse geglänzt und vielleicht sogar nicht mal einen Abschluss gemacht hat. Der niemals auf die Idee gekommen wäre, sich an einer Universität wie unserer zu bewerben. Obwohl er begabt ist. Sogar hochbegabt – auf seinem ganz speziellen Gebiet. Und damit qualifiziert für eines meiner, wie ich zugeben muss, etwas unkonventionellen Stipendiatenprogramme. Was ich damit sagen will: Das Auswahlkomitee und ich sehen großes Potenzial in deinem Verständnis für Logik. Potenzial, das nicht für kriminelle Zwecke vergeudet werden sollte.«
Ich sah ihn an, hörte seine Worte, die sich in meinem Kopf zusammensetzten, und konnte nicht verhindern, dass mir ein scharfer Fluch über die Lippen rutschte.
»Entschuldigung«, murmelte ich, als ich Harvey Abbots missbilligenden Blick bemerkte, und griff rasch nach dem dicken und sicherlich schweineteuren Papier, in das oben das Logo des Lakestone Campus of Seattle eingeprägt war. Beinahe ehrfürchtig strich ich über die drei Buchstaben L, S und C, die von einem dunkelgrünen Diamanten eingefasst wurden, und begriff zum ersten Mal wirklich, was dort stand.
Das war nicht nur ein Anmeldeformular, das war eine direkte Aufnahmebestätigung für das Semester im Herbst, die nur noch meine Unterschrift erforderte.
Beinahe hätte ich wieder geflucht. Weil ich es nicht verstand. Weil ich es nicht glauben konnte. Weil ich das Gefühl hatte, im falschen Film gelandet zu sein.
»Ich biete dir einen Deal an, auch wenn ich hierbei nicht als dein Anwalt agiere.« Abbot gestattete sich ein kurzes, trockenes Lachen, ehe er wieder ernst wurde. »Ich habe einige gute Kontakte, der Polizeichef ist zufälligerweise ein alter Freund, ich kenne einen sehr fähigen Verteidiger und die Staatsanwältin, die für deinen Fall zuständig ist, aus Studienzeiten. Wenn du einverstanden bist, dann werde ich die Sache in die Hand nehmen und für dich eine Sozialstrafe aushandeln, die du bei mir am Campus außerhalb deiner Vorlesungen abarbeitest.«
»Außerhalb meiner Vorlesungen«, plapperte ich unnötigerweise nach, unfähig, den Blick von meinem gedruckten Namen auf dem Dokument zu lösen.
»Davon wird es selbstverständlich eine Menge geben, wenn du als Studentin im nächsten Semester am Lakestone Campus beginnst.«
Die Zettel glitten zurück auf den Tisch, während ich Harvey Abbot wieder ins Auge fasste. »Warum um alles in der Welt sollten Sie mich an ihrer Universität haben wollen und das für mich tun? Ich bin nicht hochbegabt, ich bin …«
… eine Verbrecherin, wie es aussieht.
Er lächelte und schloss seinen Aktenkoffer. »Weil ich junge Leute wie dich kenne, Harlow. Und weil ich Talent erkenne, wenn ich es sehe. Du bist außergewöhnlich und besitzt etwas, das dir alle Türen öffnen kann – auf legale Art und Weise.« Schuldbewusst senkte ich den Blick. »Ich möchte dir die Chance geben, deine Fähigkeiten und dich selbst weiterzuentwickeln. Alles, was du brauchst, ist etwas Starthilfe und einen Schubs in die richtige Richtung.«
Ein paar Momente lang schwieg ich, ehe ich meine Sprache wiederfand. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Darf ich … kann ich noch etwas darüber nachdenken?« Meine Stimme war leise, kaum hörbar, als ich das sagte. Das kannte ich überhaupt nicht von mir.
»Selbstverständlich, aber lass dir nicht zu viel Zeit. Mein Angebot steht achtundvierzig Stunden, danach übernimmt die Polizei wieder.« Harvey Abbot machte Anstalten aufzustehen und richtete seinen Dreiteiler. »Ich biete dir eine erstklassige Ausbildung mit Unterkunft auf dem Gelände des LSC mit einem meiner privaten Vollstipendien auf Probe an. Die Universität kommt für sämtliche Kosten auf. Im Gegenzug erwarte ich, dass du dich von jeglichen illegalen Aktivitäten distanzierst, deine Sozialstunden und sonstige etwaige Auflagen ableistest, dich tadellos verhältst und diszipliniert arbeitest. Mein Angebot, deine Entscheidung, Harlow.« Er schenkte mir ein gutmütiges Lächeln und legte eine schicke Visitenkarte mit dem Emblem des Campus neben die Dokumente. »Ich erwarte deinen Anruf bis übermorgen, zwölf Uhr mittags.«
Meine Finger zitterten, als ich nach der Karte griff und auf die Informationen darauf starrte, bis sie vor meinen Augen verschwammen. Das konnte einfach nicht real sein. In meiner Welt spazierte das Unmögliche nicht einfach zur Tür herein, eine dicke, rote Schleife um den Hals. Oder eher einen makellosen Dreiteiler tragend.
»Überleg es dir gut. Es ist ein einmaliges Angebot«, sagte Harvey Abbot noch, nahm seinen Aktenkoffer und ging zur Tür.
Ich hob den Blick und schloss die Finger fester um die Visitenkarte. »Mr Abbot?«
Die Hand schon auf der Klinke, wandte er sich noch einmal zu mir um.
»Danke«, sagte ich heiser und meinte es so. Auch wenn ich erst mal mit meinen Moms über alles reden musste … ich war diesem fremden Mann dankbar. Weil er mir eine Chance gab, obwohl er nur die Seite von mir kannte, die mich in diesen Verhörraum des Seattle PoliceDepartment gebracht hatte.
Harvey Abbot lächelte und neigte den Kopf. »Ich freue mich darauf, von dir zu hören.«
Confident – Demi Lovato
Harlow
Fünf Wochen später
»Und du bist dir ganz sicher, dass du alles hast?«, fragte mich meine Mom Lillian zum dritten Mal, während sie wie ein Wirbelwind durch mein winziges Zimmer fegte.
»Mom, ich ziehe nur in einen anderen Bezirk von Seattle, nicht ans andere Ende der Welt.«
»Das wäre ja noch schöner!«, rief sie aus und fasste ihre langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass das wirklich passiert.«
»Ich auch nicht.« Und das war die Wahrheit. Die letzten fünf Wochen waren das reinste Chaos gewesen. Eine wilde Mischung aus Traum und Albtraum.
Ich hatte das Angebot von Harvey Abbot angenommen. Natürlich hatte ich das. Alles andere wäre nicht nur dumm, sondern schlichtweg bescheuert gewesen. Er hatte mir mit diesem Stipendium ein goldenes Ticket überreicht, eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, wenn man es mit Brax’ Leidenschaft für Monopoly ausdrücken wollte. Es war meine persönliche Chance, einen Schlussstrich zu ziehen und neu anzufangen. Nicht viele bekamen diese Möglichkeit und ich war dankbar dafür.
Auch wenn das nichts an den Bauchschmerzen änderte, die ich verspürte, wann immer ich an den Auszug aus dem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus dachte. Die gesamten neunzehn Jahre meines Lebens wohnte ich nun schon hier und es fühlte sich absolut surreal an. Genauso wie das Gespräch vergangene Woche, als ich meinen Job als Kellnerin bei Sunny’s gekündigt hatte, oder das Verschließen der letzten braunen Kiste in diesem Moment.
»Komm her«, murmelte Mom sanft, als sie den starren Blick bemerkte, mit dem ich die Umzugskartons bedachte, und zog mich an ihre Brust. Sie war mit ihren eins sechzig fast einen Kopf kleiner als ich, doch ihre Umarmungen waren voller Kraft und Liebe.
»Es tut mir leid, Mom. Das alles«, flüsterte ich in ihre Haare und nahm ihren vertrauten Geruch in mich auf. »Ich wollte euch nicht enttäuschen.« Ich hatte mittlerweile aufgehört zu zählen, wie oft ich mich in den vergangenen Wochen entschuldigt hatte. Nach jedem Streit, nach jeder Erklärung für dieses moralische Dilemma, in das ich uns gestürzt hatte.
Mom drückte mich fester an sich, dann schob sie mich eine Unterarmlänge von sich weg und strich eine meiner Haarsträhnen zurück. »Jetzt hör mir mal ganz genau zu, mein brillantes Kind. Ich werde es nur ein einziges Mal sagen, denn eigentlich sollte ich das nicht. Ich bin stolz auf dich, Harlow. Mit großer Sicherheit ist das falsch und ich weiß nicht, was das über mich als Mutter aussagt, aber was auch immer die Polizei oder sonst jemand darüber denkt, ich bin stolz. Das, was du für Brax und unsere Familie getan hast, war zwar illegal und unbedacht – und ich hoffe inständig, dass das nie wieder vorkommt –, aber es war auch verdammt mutig und selbstlos. Wäre Brax … hätte es nicht gut für ihn ausgesehen … Ich weiß nicht, was ich alles getan hätte. Für ihn und für dich.«
Meine Augen brannten und meine Kehle fühlte sich mit einem Schlag viel zu eng und trocken an. Weil ich wusste, was sie meinte. Manchmal waren Richtig und Falsch eben ein und dasselbe. »Danke, Mom.«
Lächelnd drückte sie meine Schultern und griff sich dann eine der Kisten. »Und du bist dir ganz sicher, dass du alles hast?«
Mein modifizierter Hochleistungslaptop war sicher in meinem ramponierten Kånken-Rucksack verstaut, sämtliche Bücher waren verpackt und so gut wie mein gesamter Kleiderschrank war in zwei zerbeulte Koffer gequetscht. Ich hatte definitiv alles. Mein Zimmer war wortwörtlich leer.
Vielsagend verdrehte ich die Augen, hängte mir meinen Rucksack über eine Schulter und schnappte mir meine Pilea, die ich auf den würdevollen Namen Theodora Pilea getauft hatte. Ein Geschenk von Katy, die vor zwei Jahren ihre Liebe zur Botanik entdeckt und zum Beruf gemacht hatte.
»Seid ihr so weit?«, dröhnte ihre kräftige Stimme in diesem Moment durchs Haus und markierte damit unwissentlich das Ende eines Abschnitts. Wir waren fertig – mein neues Kapitel konnte beginnen.
Eine halbe Stunde später hatten wir meine Sachen in unseren alten Volvo gestopft und waren auf dem Weg in Richtung Stadtzentrum. Meine Moms hatten es sich nicht nehmen lassen, mich zusammen mit Brax direkt zum Lakestone Campus zu fahren. Angesichts des katastrophalen Verkehrs in der Innenstadt hätte es vermutlich bessere Alternativen gegeben, aber ich hatte ihnen dieses Vergnügen nicht nehmen wollen. Nicht nach all den Sorgen und dem Ärger, den ich ihnen bereitet hatte.
»Darf ich dann in Hars Zimmer ziehen?«, fragte Brax und lehnte sich auf seinem Kindersitz weiter nach vorn. Für seine elf Jahre war er noch immer sehr klein, was zum großen Teil an seinem angeborenen Herzfehler lag. Die weizenblonden Haare hingen ihm schief in die Stirn und ein ganz besonderes Funkeln ließ seine grünen Augen strahlen.
Wie sehr ich ihn vermissen würde.
»Nein, Braxton, darüber haben wir doch schon gesprochen«, antwortete Katy vom Fahrersitz aus und warf ihm einen warnenden Blick über den Rückspiegel zu.
»Das ist gemein. Har hat jetzt zwei Zimmer und ich muss immer noch in dem winzigen Raum bleiben.«
»Dein Zimmer ist vielleicht ein paar Quadratzentimeter kleiner als meins, Brax.«
Er streckte mir nur die Zunge raus. Ich seufzte. Jap, ich würde ihn sehr vermissen. Genauso wie unsere Wettbewerbe in dem Weltraum-Raketen-Spiel, das ich zusammen mit Miyu für ihn programmiert hatte, oder die alltäglichen Diskussionen über das Abendessen.
Ein beinahe melancholisches Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich sah, dass die funkelnden Wolkenkratzer der Innenstadt von Seattle immer näher kamen. Die Male, die ich im Zentrum gewesen war, konnte ich an einer Hand abzählen, denn bisher hatte mein Alltag aus nicht viel mehr als dem kleinen Ortskern von New Holly, der Highschool und später meinem Job bei Sunny’s bestanden. Und so seltsam das auch klingen mochte, ich hatte mich damit abgefunden. Mir war nie in den Sinn gekommen, woanders hinzugehen und Brax und meine Moms alleinzulassen.
»Mom?«, fragte Brax gerade, als wir über eine der Straßenbrücken den Highway verließen. »Wenn Har jetzt nicht mehr bei uns wohnt, wer hilft mir dann bei den Hausaufgaben?«
Ich riss mich von den funkelnden Wolkenkratzern los und schaute zu meinem Bruder. Das freche Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden und einer kindlichen Traurigkeit gewichen.
»Hey«, machte ich und umschloss eine seiner kleinen Hände mit meinen. »Ich habe dir doch gezeigt, wie das mit dem Videochatten geht. Außerdem komme ich ganz oft nach Hause.«
»Versprichst du es? Versprichst du, dass du uns nicht vergisst?«
»Natürlich, Brax. Ich verspreche es.« Ich zwang mich zu einem breiten Lächeln. »Ich verspreche es«, sagte ich noch einmal und dieses Mal war es ein Versprechen an mich selbst.
Ein Versprechen, nicht zu vergessen, woher ich kam und warum ich das tat.
Ein Versprechen an mich, diese unerwartete Chance zu nutzen, um es besser zu machen – für Braxton und für meine Moms.
***
Es dauerte nicht lange, meine Sachen aus den Kisten aus- und in mein neues Zimmer einzuräumen, und ich fühlte mich sofort wohl. Es war groß, hell, in einem herrlichen Altbau mit eigenem Bad und sämtlichen Möbeln in zweifacher Ausführung. Zwei breite Betten, zwei Schreibtische, zwei Vintage-Lesesessel, zwei Schränke, zwei große Bücherregale und zwei Nachttische mit modernen Lampen darauf. Von meiner Mitbewohnerin fehlte bisher allerdings noch jede Spur. Vielleicht würde sie ja im Laufe der Einführungstage auftauchen. Schließlich hatten viele eine etwas längere Anreise als ich, die mit dem Bus nur gut eine Stunde nach Hause brauchte. Ich hatte mich dennoch entschlossen, Abbots Angebot, ins Wohnheim auf dem Campus zu ziehen, anzunehmen, zum einen, um mir das Pendeln zu ersparen, und zum anderen, weil mich meine Moms darin bestärkt hatten. Sie waren der Überzeugung, dass dieses Studium mein Neuanfang war.
Ich hoffte nur, sie würden recht behalten.
Mit einem zufriedenen Seufzen schob ich meinen letzten dicken Schmöker – eine Schmuckausgabe von Shakespeares gesammelten Werken, die ich in einem Bücherschrank bei uns im Viertel gefunden hatte – in das Regal und rückte Theodora auf der breiten Fensterbank zurecht.
Fertig. Immer noch absolut surreal, aber fertig.
Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich noch Unmengen an Zeit hatte, bevor mich Harvey Abbot in seinem Büro offiziell an der Universität begrüßen würde. Da konnte ich genauso gut auch noch die restlichen Punkte auf meiner Willkommens-Checkliste abhaken, die man mir am Empfang gegeben hatte. Ich zog mir meinen Rucksack samt Laptop wieder über eine Schulter und verließ mein neues Zuhause.
Das Gelände des LSC lag nur eine Querstraße von der Space Needle entfernt, im Stadtteil Lower Queen Anne, und umfasste mit dem einzigen Campuswohnheim fünf weitere Gebäude. Dazu kamen ein Studentencafé, eine Sportanlage und eine große Cafeteria. Mit einem See in der Mitte, Straßenlaternen an den Wegen und bewachsenen Pergolen mit Sitzecken fühlte sich die Anlage für die knapp fünftausend Studierenden beinahe wie eine eigene Kleinstadt an.
Laut der Broschüre war jedes der Bauwerke, in denen gelehrt wurde, auf einen Schwerpunkt ausgerichtet und dementsprechend gestaltet worden. In dem ältesten, unter Denkmalschutz stehenden Gebäude wurden Bildende Künste, Jura, Geschichte und Geisteswissenschaften wie Sprachen und Literatur unterrichtet. Passenderweise war hier auch die Bibliothek beheimatet. Der moderne Komplex aus zwei Gebäuden auf der anderen Seite des Campus war den Natur- und Computerwissenschaften vorbehalten. Dazu gehörte auch ein gigantisches Gewächshaus, das fast vollkommen aus Glas bestand. Ein ebenfalls gläserner Tunnel verband die beiden modernen Bauten miteinander. Der schlichteste, beinahe unscheinbare Trakt direkt neben dem Empfang beheimatete die Verwaltung und die Theorieräume für die Sportfakultät.
Ich hatte es mir nicht nehmen lassen, mir vor meinem Eintreffen auf dem Campus einen Überblick über sämtliche Raumpläne zu verschaffen. Sowohl über die offizielle Website als auch auf meine Art und Weise, sodass all diese Infos nun in digitaler Form auf meinem Tablet gespeichert waren. Manche Gewohnheiten legte man eben nicht so schnell ab.
Draußen vor dem Wohnheim zupfte ein überraschend kühler Wind an meinem dünnen Shirt. Die Nähe zum Meer wirkte sich hier definitiv stärker auf die Temperaturen aus als bei mir zu Hause. Die Arme vor der Brust verschränkt, folgte ich der Karte in meinem Kopf in Richtung des nierenförmigen Sees mit der kleinen Insel in der Mitte, die passenderweise Lakestone Island hieß. Auf den Holzbänken am Ufer saßen schon einige Studierende, auch wenn es bisher noch recht ruhig auf dem Gelände des LSC war.
Einen Moment lang blieb ich am See stehen und verfolgte, wie der Wind kleine, sanfte Wellen auf die Wasseroberfläche zeichnete. Dann riss mich die Vibration meines Handys aus der Starre. Genauer gesagt, eine Vibrationsabfolge – zweimal kurz, einmal lang –, die zu einer ganz speziellen Art von Nachricht gehörte.
Unwillkürlich spannte sich alles in mir an, als ich mein Smartphone herauszog und über drei Zugänge in die Anwendung wechselte, die Miyu und ich vor einiger Zeit zusammen programmiert hatten. Für Laien nicht mehr als eine App für Notizen, mit den richtigen Schlüsseln das ultimativ sichere Kommunikationstool.
Miyu
Keine Ahnung, was du gerade treibst, aber ich hätte da was für uns. Meld dich!
Ich biss die Zähne zusammen. Beschönigt ausgedrückt, fragte Miyu mich, ob ich mit ihr zusammen mein Hackertalent einsetzen wollte, um für irgendjemanden irgendetwas geradezubiegen. Wir hatten das in der Vergangenheit schon einige Male zum Spaß gemacht – und um ein wenig dazuzuverdienen. Es war dabei nie um ernsthaft kriminelle oder gefährliche Dinge gegangen, eher um einen Strafzettel, den man eben mal aus dem System verschwinden ließ, aber legal war es trotzdem nicht. Und damit eigentlich nicht länger Teil meines neuen Lebens. Während ich auf das Display starrte, setzte ich mich wieder in Bewegung und versuchte, gegen das ungewohnte Stechen in meiner Mitte anzuatmen. Vermutlich hätte ich diese verfluchte App einfach löschen und mein Profil im Darknet deaktivieren sollen. Schließlich war das eine von Abbots Bedingungen gewesen. Trotzdem hatte ich es nicht getan. Weil Miyu meine Freundin war, meine Codepartnerin – die ich außerhalb von Videochats noch nie persönlich getroffen hatte – und diese Kommunikations-App, die wir gemeinsam programmiert hatten, unser Ding.
Wir hatten uns im Darknet in einer kleinen Gruppe von Hacktivisten kennengelernt – ein Begriff, den ich noch nie hatte ausstehen können. Eine der obersten Regeln dort besagte, die eigene Online-Identität strikt von der Realität zu trennen, anonym zu bleiben, doch Miyu und ich hatten schnell festgestellt, dass uns mehr als nur das Coden verband. Dieselben Ansichten, dasselbe Gefühl von Machtlosigkeit, dieselben Sorgen. In den Wochen seit meinem Verhör hatte ich mich weitestgehend vom Darknet ferngehalten und mit einer wässrigen Entschuldigung offline gemeldet – auch Miyu gegenüber. Aber auch wenn meine Hackerkarriere offiziell beendet war, hatte sie es nicht verdient, geghostet zu werden.
Kurzerhand reaktivierte ich mein Handy wieder und tippte eine Antwort – als ich ungebremst gegen eine harte Brust knallte. Gerade noch rechtzeitig riss ich mein Handy aus der Gefahrenzone, da ergoss sich auch schon etwas Lauwarmes, das verdächtig nach Kaffee roch, über meine Hände und mein Shirt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war meine Checkliste nicht mehr als trauriges Matschpapier.
»Sorry, mein Fehler«, stieß ich hervor.
Vor mir stand ein zugegeben ziemlich gut aussehender Student mit dunkelbraunen Haaren, die ihm in groben Locken in die Stirn fielen, und goldenen Augen, die mich musterten, als hätte ich gerade sein Katzenjunges überfahren. Mit voller Absicht. Vermutlich, weil nun direkt neben dem Lakestone-Logo seines Hoodies, den alle Studierenden zu Beginn ihrer Zeit auf dem Campus erhielten, ein großer Fleck prangte, der sich langsam, aber sicher bis zu seinem Hosenbund und darüber hinaus ausbreitete.
Mist.
Da er immer noch keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen, ging ich in die Hocke, hob den nun leeren Becher auf und reichte ihn ihm. »Ich habe aufs Handy geschaut, kommt nicht wieder vor. Wenn du willst, besorge ich dir einen neuen Kaffee.«
Eine seiner dunklen Augenbrauen wölbte sich. Ob es an meinem plötzlichen Redeschwall oder meinem Angebot lag, vermochte ich nicht zu sagen. Dann griff er ruckartig nach dem Becher und beförderte ihn auf direktem Weg in den nächsten Mülleimer, ehe er ohne ein weiteres Wort an mir vorbeirauschte.
Verdutzt sah ich ihm nach. »Okay, hab’s kapiert, du bist nicht der gesprächigste Typ.«
Was für ein großartiger Start. Kopfschüttelnd wischte ich mir die Hände an meinem ohnehin versauten Pink-Floyd-Shirt ab und musterte es. So konnte ich definitiv nicht bei Mr Abbot auftauchen.
Mit immerhin ein wenig gesäuberten Fingern holte ich mein Handy wieder hervor und starrte auf den begonnenen Chat mit Miyu. Ich hatte ein Versprechen gegeben. Keine Ablenkungen, keine krummen Dinger, keine Abstecher ins Darknet. Und ich stand zu meinem Wort. Es würde Miyu nicht gefallen, aber ich musste jetzt an meine Familie und meine Zukunft denken und das bedeutete, diesen Teil unserer Freundschaft zu beenden.
Low
Bleibe offline, das heißt, keine Aufträge mehr. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde. CU
Ich wartete nicht auf eine Antwort, weil ich mir denken konnte, wie sie aussehen würde, sperrte die App und ließ mein Smartphone zurück in die Hosentasche gleiten.
»Wow, das war schon beim Zuschauen unangenehm.« Eine fremde weibliche Stimme ließ mich herumfahren und direkt in ein herzförmiges Gesicht schauen, das beinahe vollständig hinter Umzugskartons verschwand. Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie meinen Zusammenstoß mit ihrem ganzen Zeug überhaupt hatte sehen können.
»Ähm, ja«, erwiderte ich verzögert und blickte um die Kisten herum. »Vielleicht ist er einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Kennst du ihn?«
»Nein, ich – Shit!«
Gerade noch so bekam ich einen der Kartons zu fassen, bevor er dem Mädchen aus den Händen fiel. »Hab ihn.«
»Danke. Du bist meine Rettung. Ich bin übrigens Florence und ziemlich neu hier, falls man mir das nicht direkt an der Nasenspitze ablesen kann.«
Bei dem Namen klingelte es. »Florence Hillary?«
Sie pustete sich eine Strähne ihrer pechschwarzen, kinnlangen Haare aus den braunen Augen und nickte lächelnd.
»Dann sind wir Mitbewohnerinnen. Ich bin Harlow Lexington. Soll ich dir mit deinen Sachen helfen? Nach dem kleinen Unfall muss ich mir ohnehin was Neues anziehen.«
»Oh, hi, Harlow – danke, das wäre super. Die Kartons sind nämlich schwerer, als sie aussehen.«
Gemeinsam folgten wir dem mit hellem Kies belegten Weg zum Wohnheim, wo ich Florence direkt in den vierten Stock vor unser Zimmer führte.
»Dann ist das auch dein erstes Jahr?«, fragte sie mich und stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf, um mich durchzulassen.
Ich stellte den Karton ab. »Jap. Ich hoffe, es ist okay, dass ich mir das linke Bett ausgesucht habe, Florence.«
Meine Mitbewohnerin winkte ab und stellte ihre Kiste auf den freien Schreibtisch. »Sicher, und nenn mich ruhig Flo. Von wo haben sie dich geholt?«
Fragend hob ich eine Braue und verharrte vor meinem Schrank. »Was meinst du?«
»Na, die typische Frage, wo du hingegangen wärst, wenn es mit dem LSC nicht geklappt hätte. Schließlich ist der Campus so was wie das Einhorn unter den Elite-Unis. Die Zusage ein Sechser im Lotto. Ich wäre nach Princeton gegangen, wäre ich beim Verfahren rausgefallen. Was ist mit dir? Harvard? Brown? Yale? – Obwohl, wenn ich dich genauer anschaue, würde ich sagen, definitiv MIT. Du versprühst diese MIT-Vibes.«
Einen Moment lang konnte ich sie nur wortlos anstarren. Weil das sehr viele Fragen und Worte in sehr kurzer Zeit waren und weil ich keine Antworten darauf hatte.
Wo ich hingegangen wäre? Vermutlich ins Gefängnis.
Ich drehte mich zum Schrank, öffnete ihn und zog einen schlichten blauen Sweater hervor, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Abbot und ich hatten uns keine ausgeklügelte Lügengeschichte ausgedacht, aber irgendetwas sagte mir, dass es klug wäre, mir etwas zu überlegen. Kopfschüttelnd zog ich mich um und wandte mich dann wieder an Flo: »Äh ja, mein Studium wäre am MIT gewesen. Ich … ich habe eine Schwäche für alles, was mit Computern und Mathematik zu tun hat. Ein Nerd, sozusagen. Aber ich … bin froh, jetzt hier zu sein und in Seattle bleiben zu können. Meine Familie lebt hier.« Zumindest das entsprach irgendwie der Wahrheit. »Deswegen war ich echt froh, als im Sommer die Zusage für den Lakestone Campus gekommen ist, während ich gerade im Vorbereitungskurs am MIT saß.«
Kann mir bitte mal jemand den Mund zuhalten?
»Klingt cool«, gab Florence mit einem schiefen Lächeln zurück und machte sich daran, die erste Kiste auszupacken.
Nichts an ihr wirkte, als würde sie mir nicht glauben. Dennoch machte sich mit einem Mal eine unangenehme Enge in meiner Brust breit, die mich daran erinnerte, dass ich früher oder später auffliegen würde.
Und das fühlte sich an, als hätte ich bereits jetzt auf ganzer Linie versagt.
Silence – Marshmello ft. Khalid
Zackary
Es ist dunkel und kalt. Ein eisiger Wind fährt unter meine Decke und lässt mich erschaudern. Mit einem lautlosen Wimmern mache ich mich noch kleiner und drücke Bob, meinen Kuschelhasen, fester an meine Brust. Genau dort, wo mein Herz so schnell schlägt, dass es beinahe wehtut.
Ich mag keine Dunkelheit. Da fühle ich mich immer so allein. Mit Bob in meinen Händen rutsche ich tiefer unter die Decke, sperre mein dunkles Zimmer mit den Spiderman-Postern und dem großen Stoffdinosaurier aus. Wieso ist nachts alles so gruselig?
Ich kneife die Augen zusammen, ziehe meine Beine an und beginne, wortlos den Reim aufzusagen, den mir Mom heute Mittag beigebracht hat. Ahme die Bewegungen ihrer Lippen nach. Das hilft.
Auf einer Wiese ganz klein,
Steht ein Bäumchen so fein.
Es flüstert und schüttelt,
Und wackelt und rüttelt –
Ein lauter Knall rast durch das Haus und lässt mich erstarren. Glas splittert, etwas zerbricht und dann höre ich einen Schrei. Laut und durchdringend und viel zu nah. Ich presse die Hände auf meine Ohren. Warum hört es nicht auf?
WARUMHÖRTESNICHTAUF?!
Keuchend riss ich die Augen auf und fuhr mir über das schweißnasse Gesicht. Das Zimmer um mich herum war in das sanfte Licht eines neuen Morgens getaucht. Keine Spiderman-Poster und auch kein überdimensionaler Stoffdinosaurier. Ich atmete aus und versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Es war nur ein Albtraum gewesen. Derselbe verfluchte Albtraum wie immer – keine große Sache.
Ich war nicht länger dort, in jener Nacht, sondern in meinem Wohnheimzimmer in Seattle. Alles war in Ordnung.
Ich zwang frische Luft in meine brennende Lunge und ließ mich wieder tiefer in mein Kissen sinken.
Alles. War. In. Ordnung.
Zähneknirschend presste ich mir die Handballen auf die geschlossenen Lider und atmete ein paarmal ein und aus. So lange, bis mein Puls wieder im normalen Bereich angekommen war. Dann griff ich nach meinem Notizbuch. Um die Bilder auf Papier zu bannen, ihnen damit die Macht zu nehmen. In meiner Kindheit und Jugend war ich jahrelang in Therapie gewesen. Ein fester Bestandteil davon war das therapeutische Schreiben gewesen, und auch wenn ich mittlerweile mit den Ereignissen von damals umgehen konnte, mit dem Schreiben hatte ich nie aufgehört. Meine Großmutter meinte, dass ich dadurch meine Liebe zur Literatur erst so richtig entdeckt hätte. Weil sie mich in meinen schwersten Momenten begleitet hatte. Mir geholfen hatte, mich durchzukämpfen. Keine Ahnung, ob das der Grund war, aber wer war ich, meiner Grams zu widersprechen?
Stirnrunzelnd setzte ich den letzten Punkt unter meine Worte über heute Nacht und erwog, mich noch einmal umzudrehen und mir zumindest noch ein paar Minuten Schlaf zu holen. Doch ein Klopfen nahm mir die Entscheidung ab, und nur einen Moment später ließ sich meine beste Freundin dank Zweitschlüssels bereits in mein Zimmer. Ohne darauf zu warten, dass ich ihr öffnete, oder nur daran zu denken, dass ich noch schlafen könnte.
Chloe, wie sie leibte und lebte.
»Habe ich irgendetwas verpasst, oder warum liegst du noch im Bett, Zacky?«, begrüßte sie mich mit einem breiten Strahlen im Gesicht. Ein Strahlen, das sofort verblasste, als sie mich genauer ansah. »Oh, ich kenne diesen Blick. Du warst wieder dort.«
Eine Feststellung, keine Frage, weil sie die Antwort darauf kannte. Weil Chloe einer der wenigen Menschen war, die wussten, was mir jahrelang die Energie geraubt hatte, und weil sie mich selbst jetzt noch von Zeit zu Zeit hinterrücks erwischte. Eiskalt und ohne Vorwarnung, auch wenn ich heute damit umgehen konnte. Woran Chloe einen großen Anteil gehabt hatte und bis heute hatte. Keine Ahnung, wo ich ohne sie wäre, ganz ehrlich.
Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln wischte ich diese Gedanken zur Seite und richtete mich auf. Dann gebärdete ich: »Dir auch einen guten Morgen. Wie ich sehe, sind mein Ersatzschlüssel für Notfälle und du bereits eine innige Beziehung eingegangen.«
Bei meiner Erwiderung kehrte das Lächeln in ihr Gesicht zurück. Chloe, deren kleine Schwester gehörlos war, war eine der wenigen in meinem Umfeld, die die Gebärdensprache perfekt beherrschten. Einer der Gründe, aus dem unsere Freundschaft ganz einfach war – wir verstanden einander. Wortwörtlich und schon immer.
»Das war kein Nein«, meinte sie und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder.
Ich fuhr mir durch die Haare und hob einen Mundwinkel. »Keine große Sache, ehrlich. Hab nur schon jetzt Albträume von Professor Jenkins.«
Während sie auf meine Hände schaute, rümpfte sie kurz die Nase, dann nickte sie. Weil sie begriff, was ich ihr zwischen den Gebärden mitteilte – Es war ätzend wie immer, aber nichts, womit ich nicht fertig werde –, und meinen Themenwechsel akzeptierte.
»Mach dich nicht jetzt schon fertig wegen Jenkins. Du hast das erste und zweite Semester bei ihm schließlich auch überlebt und außerdem lieben dich alle Dozierenden, Zack.«
Ich verzog nur vielsagend das Gesicht.
»Ist doch so. Mit deinen Grübchen und dem charmanten Lächeln und deinen funkelnden Karamell-Augen …«
Grinsend stieß ich gegen ihre Schulter. »Hab’s kapiert. Hast du nicht gesagt, dass dritte Semester sei das schlimmste bei Jenkins?«
»Das habe ich auch über das erste und zweite gesagt und du hast dieKursemitAuszeichnungbestanden.KeinGrunddurchzudrehen«, antwortete sie, nun ebenfalls in der Gebärdensprache.
»Ich drehe nicht durch.«
Eine ihrer dunklen Brauen wanderte nach oben. »Nicht mal ein kleines bisschen?«
»Diese Diskussion werde ich nicht mit dir fortsetzen.« Ich schlug die Decke zur Seite und griff nach der erstbesten Jeans, die ich zu fassen bekam. »Verrätst du mir jetzt, warum du eigentlich hier bist?«
Chloe zog die Beine in den Schneidersitz und pustete sich eine Strähne ihrer kastanienbraunen Locken aus der Stirn. »Ich wollte dir eine persönliche Einladung für heute Nachmittag überbringen, bevor ich gleich in die Stadt gehe – damit du nicht einfach Nein sagst. Jetzt, wo alle wieder auf dem Campus sind, hat Ethan direkt ein Treffen im Café klargemacht.«
Ich zog mir rasch den Lakestone-Hoodie über den Kopf, sodass ich die Hände wieder frei hatte. »Ethan lässt nichts anbrennen. Warum sind schon alle da? Die Kurse beginnen doch erst am Montag.«
»Sie hatten wohl genauso viel Sehnsucht nach unseren altehrwürdigen Hallen wie du und ich. Also, bist du dabei?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Bei Ethan? Nein.«
Obwohl ich mir vorgenommen hatte, die ersten Tage auf dem Campus ruhig anzugehen und mir Zeit für mich selbst und zum Ankommen zu nehmen, freute ich mich auf das Treffen. Weil Ethan und die anderen aus unserer Clique meine Freunde waren. Etwas, das ich niemals für selbstverständlich nehmen würde.
Chloe und ich hatten uns in der Vorschule kennengelernt, als wir in dieselbe Integrationsklasse gekommen waren. Es war damals nicht besonders leicht gewesen, an mich heranzukommen. Ich hatte die Menschen um mich herum auf Abstand gehalten, mich versteckt. Nur Chloe hatte sich, anders als die restlichen Kinder, nicht davon einschüchtern lassen. Mit ihrer liebevollen Hartnäckigkeit hatte sie es irgendwie geschafft, sich zu mir in mein viel zu enges Schneckenhaus zu quetschen – und war geblieben. Sie war die Erste gewesen, der ich außerhalb meiner Familie von Addie erzählt hatte. Der ich die Texte aus meiner Schreibtherapie und damit mein Innerstes gezeigt hatte.
Gemeinsam hatten wir die Schulzeit durchgestanden, die Middle- und später die Highschool, in der Ethan zu uns gestoßen war. Anfangs hatten wir mit ihm so unsere Probleme, und das nicht nur, weil er keine Gebärden beherrschte. Ethan war schon in der Schule laut gewesen, hatte nichts wirklich ernst und nie ein Blatt vor den Mund genommen. Doch im Laufe der zehnten Klasse hatten wir festgestellt, dass uns etwas anderes verband: unser Ziel, es auf den Lakestone Campus zu schaffen. Zwar wusste Ethan nicht ansatzweise so viel über mich wie Chloe, aber mittlerweile waren wir sehr gute Freunde und ihm hatte ich es mehr oder weniger zu verdanken, dass ich auf dem Campus eine ganze Gruppe davon besaß. Menschen, die mich nicht verurteilten oder sich davon abschrecken ließen, dass ich nicht sprechen konnte. Ohne Ethan und Chloe wäre der Alltag am LSC definitiv nicht derselbe.
Ich zupfte meinen Pullover zurecht und schaute dann wieder zu meiner besten Freundin. »Mach dir keinen Kopf. Das erste Treffen nach den Semesterferien lasse selbst ich mir nicht entgehen.«
»Dein Wort in Wer-oder-was-auch-immer-da-oben-sein-mags Ohr«, gab sie schmunzelnd zurück und stand auf. »Ich mache mich dann mal auf den Weg. Wünsch mir Glück für mein Bewerbungsgespräch.«
Statt eine Antwort zu gebärden, schloss ich sie in die Arme und drückte sie einen Moment fest an meine Brust. Manchmal sagten Gesten wie diese mehr als tausend Worte.
»Bis später, Zack«, sagte sie leise, als wir einander losgelassen hatten. »Und wage es ja nicht, mich im Café mit diesem Haufen hochmotivierter Studierender alleinzulassen.«
***
Der Geruch nach frischem Kaffee begrüßte mich, als ich die Tür des Lakestone Cafés öffnete und in die Mischung aus Gemurmel, dem Gurgeln der Kaffeemaschinen und Tellerklappern eintauchte. Nachdem mir eine offensichtlich neue Studentin vorhin meinen Kaffee förmlich aus der Hand geschlagen hatte, hatte ich einen Grund mehr gehabt, die Einladung meiner Clique anzunehmen – nicht dass es den gebraucht hätte. Andernfalls hätte wahlweise Chloe mich an den Haaren ins Café geschleift oder Ethan mir mein Kneifen das restliche Semester nachgetragen. Und ich hatte in diesem Halbjahr schon genug, worüber ich nachdenken musste. Die Entscheidung zwischen meinen beiden Studienschwerpunkten, beispielsweise.
Suchend ließ ich den Blick durch das gemütliche Café schweifen, als Ethan an einem der hinteren Tische auch schon die Hand hob und wie ein Irrer zu winken begann. »Yo, Zack, hier!«
Ich verdrehte die Augen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatten jetzt wirklich alle im Raum mitbekommen, wer ich war und zu wem ich gehörte. Eine Hand in der Hosentasche schlenderte ich zum Tisch und ließ mich zwischen Ethan und Mason fallen. Chloe, die mir gegenübersaß und bis eben in eine angeregte Diskussion mit Sue vertieft gewesen war, blickte auf und zwinkerte mir zu. Ein kleiner Teil von mir entspannte sich augenblicklich. Wenn Chloe da war, bedeutete das, dass ich nicht auf Stift und Papier zurückgreifen musste, um mich zu verständigen. Meine Freunde sahen natürlich kein Problem in meiner Art zu kommunizieren und mittlerweile konnten sie sogar die eine oder andere Gebärde, aber komplette Unterhaltungen in Gebärdensprache waren (noch) nicht drin.
Außerhalb der Clique schlug mir im Alltag leider noch oft Unverständnis entgegen. Ich war zwar nicht gehörlos, aber vielen Menschen war es schlichtweg zu anstrengend, sich mit mir zu beschäftigen, wenn normale Kommunikation nicht möglich war. Sie gingen automatisch davon aus, dass ich zurückgeblieben war, nur weil ich nicht sprach, und das … nun ja, war ätzend. Dabei sprach ich, die meisten verstanden es nur eben nicht. Aufgrund eines Gendefekts war mein Gehirn beziehungsweise mein zentrales Nervensystem nicht in der Lage, die Muskeln und Organe anzusteuern, die für die Stimme zuständig waren. Einmal deutlich vereinfacht erklärt. Deshalb hatte ich von klein auf gelernt, mich mit Gebärden und dem geschriebenen Wort zu verständigen. Ein langer und steiniger Weg, in vielerlei Hinsicht.
»Wo hast du den ganzen Tag über gesteckt?«, fragte mich Ethan und stieß seine Faust gegen meinen Oberarm. Seine hellblonden Wuschellocken schienen über die Ferien noch länger geworden zu sein.
Ich hob entschuldigend die Schultern und gebärdete in Chloes Richtung. »Ich wurde in der Verwaltung aufgehalten und musste für mein Einzelzimmer kämpfen.«
»Und, warst du siegreich?«, erkundigte sich Chloe, nachdem sie meine Antwort übersetzt hatte.
Nickend zeigte ich einen Daumen nach oben. »Was ist mit dir? Wie war das Gespräch?«
Meine beste Freundin hob ebenfalls einen Daumen, was mich grinsen ließ – bei ihrem journalistischen Gespür hatte ich auch nichts anderes erwartet. Dann wandte ich mich mit Chloes Hilfe wieder an die anderen. »Warum seid ihr eigentlich schon alle auf dem Campus?«
»Vielleicht, weil wir uns über die langen, langen Semesterferien einfach alle ganz schrecklich vermisst haben.« Sue griff nach ihrem Tee und nippte daran. »Oder, wie in meinem Fall, weil der Professor meint, die praktische Pflichtveranstaltung bereits in der Einführungswoche beginnen lassen zu müssen. Obwohl wir mittlerweile im dritten Semester sind.«
Sue war ein Sprachentalent. Schon seit ihrer Kindheit begriff sie die Struktur und Grammatik von Sprachen in einem Bruchteil der Zeit, die andere dafür brauchten. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren beherrschte sie ganze neun Sprachen fließend und war gerade dabei, Nummer zehn und elf zu lernen. Ihre Ambitionen, das Gebärden zu lernen, nicht einberechnet.
»Die Dolmetschersache?«, riet Mason und legte die gebräunten Arme auf den Tisch. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er die Ferien definitiv bei seiner Familie mütterlicherseits in Indonesien verbracht hatte. »Sollte die nicht erst im November stattfinden?«
Stöhnend lehnte sich Sue zurück. »Schön wär’s. Derringham hat es vorgezogen – keine Ahnung, wie ich bis zum Beginn des Dolmetscherpraktikums die politischen Fakten und Gesetzgebungen in meinen Kopf bekommen soll. Da wäre dein Gehirn wirklich von Vorteil, Zack.«
Ich blickte auf. Alle Studierenden am Lakestone Campus of Seattle waren in irgendeiner Weise hochbegabt. Meine Talente waren mein fotografisches Gedächtnis und mein überdurchschnittliches Verständnis für das geschriebene Wort – das ich zum großen Teil meiner angeborenen Stummheit zu verdanken hatte. Ein wenig ironisch, wenn man darüber nachdachte: Ich begriff und verstand die Sprache, war aber nicht in der Lage, sie laut zu sprechen. Stattdessen konnte ich mir Texte jeder Art innerhalb von Minuten einprägen, sie durcharbeiten und noch Wochen später Buchstabe für Buchstabe wiedergeben.
»Vermutlich wäre ich dir keine besonders große Hilfe«, gab Chloe meine Antwort an Sue weiter, die daraufhin beinahe theatralisch etwas in einer Sprache sagte, die ich noch nie gehört hatte.
»Das war übrigens Finnisch und bedeutet so viel wie Ich glaube, ich habe meine Grenze erreicht. Professor Abbot spricht doch immer von Grenzen, vielleicht ist das meine.«
Ethan lachte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Meine Mundwinkel zuckten. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie lange die beiden noch umeinander herumtänzeln wollten, bis sie endlich den ersten Schritt machen würden. »Wenn du dir deiner Grenze bewusst bist, heißt das, dass du sie noch nicht erreicht hast«, imitierte er Harvey Abbot mit verzerrter Stimme auf so grässliche Art, dass alle am Tisch in schallendes Gelächter ausbrachen.
Sue schlug Ethans Arm weg. »Idiot. Du hast leicht reden. Das Einzige, worum du dir Gedanken machen musst, sind deine Käfer.«
»Autsch«, kommentierte Mason. »Das hat gesessen.«
»Damit ist die Schlacht eröffnet«, fügte Chloe in einem leichten Singsang an und beugte sich erwartungsvoll nach vorn.
»Sicher«, erwiderte Ethan mit einem Funkeln in den hellblauen Augen und rückte näher an Sue heran. »Weil es ja auch ein Kinderspiel ist, in der Welt der Entomologie neue Arten durch einfaches In-der-Erde-Herumstochern …«
Das war mein Stichwort. Ethan war mein bester Freund und unsere Playstationabende gehörten seit der Highschool zu den Top Five meiner Freizeitaktivitäten – aber wenn er einmal mit seinen Käfern anfing, gab es nur zwei Möglichkeiten: einen verdammt langen Vortrag über Insekten ertragen, oder weglaufen. So schnell man nur konnte.
Ich gab ein Zeichen, dass ich mir einen Kaffee besorgen wollte, und seilte mich grinsend ab, bevor Ethan zu sehr ins Detail gehen konnte.
Das Lakestone Café lag im ältesten Bau des Campus und war mit seinen knarrenden Holzdielen und gemütlichen Sesseln, Pflanzen, Kronleuchtern und halbhohen Bücherregalen, die den Raum in kleine Nischen unterteilten, einer der beliebtesten Orte. Selbst jetzt, wo das neue Semester noch nicht einmal richtig angefangen hatte, war beinahe jeder der Tische besetzt. Die drei Studierenden, die als Barista hinter der langen Theke aus dunklem Holz arbeiteten, hatten alle Hände voll damit zu tun, die Bestellungen fertig zu machen und die wachsende Schlange zu bändigen.
Ich stellte mich an, kritzelte meine Bestellung auf den Notizblock, den ich immer in meiner Hosentasche trug, und verfolgte das Treiben um mich herum. Eine meiner absoluten Lieblingsbeschäftigungen. Wenn man nicht sprach, wurde man oft, ob nun freiwillig oder unfreiwillig, zum Beobachter.
Vermutlich fiel mir aus diesem Grund auch sofort die junge Frau ins Auge, die, ein Buch an ihre Brust gedrückt, in diesem Moment das Café betrat und sich umsah. Es war dieselbe junge Frau, die mich vorhin um meinen Kaffee gebracht hatte. Anders als heute Mittag trug sie nun jedoch einen blauen Sweater und hatte ihre langen Haare, die irgendwo zwischen Hellbraun und Dunkelblond changierten, zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über eine ihrer zierlichen Schultern fiel. Sie war hübsch, auf eine ganz natürliche Weise.
Und du wirkst einsam, Kaffeemädchen, dachte ich und zuckte zusammen, als mich jemand anstieß und ich bemerkte, dass sich die Schlange vor mir schon weiterbewegt hatte. Als ich endlich an der Reihe war, schob ich meinen Bestellzettel über die Theke, bezahlte und schlurfte ans andere Ende, wo die Getränke ausgegeben wurden.
Wie von selbst flog mein Blick wieder zu dem Kaffeemädchen – als Wortgenie hätte mir wahrscheinlich ein besserer Name einfallen müssen – und ich begann, mich zu fragen, was wohl ihr Talent war. Vielleicht war sie wie Sue und lebte für Sprachen oder sie gehörte auch zur Literaturfraktion wie ich. Das würde zumindest den abgenutzten Klassiker von Charles Dickens in ihren Händen erklären. Stirnrunzelnd wandte ich mich ab. Ein Zusammenstoß war definitiv kein Grund, gleich über ihre ganze Lebensgeschichte nachzudenken.
»Großer Kaffee mit einem Schuss Hafermilch für Zack?«
Ich nahm die mintfarbene Tasse entgegen und hob den Kopf, als sich eine schmale Hand mit einem Fünfdollarschein in mein Blickfeld schob.
»Hi«, sagte das Kaffeemädchen und lächelte zögerlich. »Der Unfall heute Mittag, das … ist normalerweise nicht meine Art, deswegen – wäre es okay, wenn der hier auf mich geht?«
Ich blinzelte etwas überrumpelt von ihren vielen, schnellen Worten und der plötzlichen Nähe. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie unter ihrem rechten Auge ein längliches Feuermal besaß.
»Dann wäre mein schlechtes Gewissen nicht mehr so beißend und ich hätte nicht länger das Gefühl, irgendwie alles schon zu Beginn in den Sand gesetzt zu haben«, fuhr sie einfach fort, als würde sie überhaupt nicht merken, dass ich keinen Ton von mir gab. »Als Entschuldigung, sozusagen.«
Endlich schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu lösen und hob zögerlich einen Mundwinkel, ehe ich den Kopf schüttelte und ihre Hand mit der Dollarnote sanft von mir schob.
Fragend zog sie die dunklen Augenbrauen zusammen und wandte sich ab, als einer der Barista ihren Namen rief.
Harlow.
Jetzt hatte ich auch endlich einen Namen zu ihrem Gesicht.
Während Harlow ihre Bestellung entgegennahm, schrieb ich eine Nachricht – inklusive Smiley, damit sie nicht dachte, ich wäre ein Snob – auf meinen Block, riss den Zettel aus und schob ihn ihr zu.
Danke, aber nicht nötig. Willkommen auf dem LSC! :)
Harlow griff nach dem Papier und schaute dann mit einem fragenden Lächeln zu mir auf. »Äh, danke?«
Für einen kurzen Moment, der mich selbst irritierte, machte sich mein Blick selbstständig und wanderte zu diesem Lächeln. Zu ihren Lippen und dann zu ihren blaugrünen Augen, in denen nichts als Neugierde und Offenheit standen. Hastig riss ich mich davon los und machte einen Schritt rückwärts, ehe ich mich mit einem knappen Winken verabschiedete.
So viel zum Thema Snob.
»Wer war das denn?«, fragte Ethan, der seinen Käfermonolog offensichtlich beendet hatte, um sich seinem anderen Lieblingsthema zuzuwenden: den Privatangelegenheiten anderer. Oder wie er sie nannte: schmutzige Geheimnisse.
Ich setzte mich und zeigte meine Antwort an. »Keine Ahnung. Eine Neue, glaube ich. Und wir haben nur zusammen auf den Kaffee gewartet, Ethan, also entspann dich und sag mir lieber, warum du noch nicht weißt, wer sie ist. Sonst kennst du doch auch jedes Mädchen, das jemals einen Fuß auf diesen Campus gesetzt hat.«
Chloe kicherte, als sie das für die anderen übersetzte.
»Wow, ganze vier Sätze, pass auf, dass sich deine Finger nicht verknoten, Zacky«, erwiderte Ethan feixend und wich fluchend zurück, um meiner Kopfnuss mehr oder weniger erfolgreich zu entkommen.
»Eins zu null für Zack, würde ich sagen«, kommentierte Mason und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Sagt mal, hat sich jemand von euch schon Gedanken über das soziale interdisziplinäre Pflichtmodul gemacht?«
»Meine Spanischprofessorin meinte, dass die meisten Drittsemestler einen Teil der Einführung für die Freshmen übernehmen.« Sue überschlug die langen Beine. »Aber ich glaube, die Anmeldefrist dafür endet heute Abend.«
Ich nickte und Chloe wurde wieder zu meiner Stimme. »Lucienne sagt, dass sie noch Unterstützung im Kunstatelier braucht, und in der Bibliothek ist auch noch eine Stelle frei.«
»Wo da der soziale Aspekt liegt, ist mir ein Rätsel«, murmelte Ethan und schaute wieder zu mir. »Worauf ist deine Wahl gefallen, Zack?«
Ich gebärdete: »Bibliothek. Sie haben da wen für die digitale Archivierung und Sortierung gesucht.«
Mason lachte, nachdem Chloe meine Gebärden übersetzt hatte. »Da haben sie einen guten Fang gemacht. Niemand kann so schnell lesen wie du.«
Und nebenbei bemerkt hatte ich eine ausgeprägte Schwäche für Bücher. Ich fand es faszinierend, was einen Autoren und Autorinnen allein durch Worte fühlen lassen konnten und welche Welten dabei entstanden.
Grinsend hob ich eine Schulter und griff nach meinem Kaffee, wobei mein Blick zu dem gegenüberliegenden Tisch schweifte. Harlow hatte es sich auf einem der breiten Sessel gemütlich gemacht, ihre längst vergessene Tasse vor sich stehend. Beide Beine angezogen, kaute sie konzentriert auf ihrer Unterlippe herum und schien dabei vollkommen in ihr Buch vertieft zu sein. Ich hatte Menschen, die völlig in Texten verschwinden konnten, schon immer bewundert.
»Zack?«
Ich riss mich von Harlow los und hob fragend die Augenbrauen.
Ethans Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. »Ob du Lust hast, noch in die Stadt zu gehen? Unten am Wasser hat ein neuer Laden aufgemacht.«
Meine Finger gaben eine schnelle Antwort, die Chloe übersetzte, während meine Aufmerksamkeit wieder zu Harlow wanderte. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich unsere Blicke, dann schaute sie nach unten auf meine gebärdenden Hände, ehe sie ertappt den Kopf zur Seite drehte. So, als hätte sie erschreckt, was sie gesehen hatte.
Ohne zu wissen, wieso, machte sich Enttäuschung in mir breit. Dabei hätte ich nach all den Jahren längst daran gewöhnt sein müssen, dass die meisten Menschen eh nur das sahen, was sie sehen wollten, und bei allem anderen einfach wegschauten. Es sich leicht machten.
Und Harlow bildete da ganz offensichtlich keine Ausnahme.
Girls Will Be Girls – Sophie Beem
Harlow
»Ich schlage Ihnen vor, dass Sie sich möglichst schnell einen Partner oder eine Partnerin für das vor Ihnen liegende Semester suchen.« Professorin Karla Stolsson ließ ihren strengen Blick über die stufenförmig angeordneten Sitzreihen schweifen und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Mit ihren braunschwarzen, kurzen Haaren, der schwarzen, eckigen Brille und ihrem Outfit aus Jeans und lockerer, karierter Bluse, wirkte sie nicht viel älter als die Studierenden um sie herum. Allerdings würde ich ganz sicher nicht den Fehler begehen, die Professorin zu unterschätzen. Bereits jetzt, an Tag drei auf dem Campus, war mir ihr Ruf, die härtesten Anforderungen zu stellen, zu Ohren gekommen. Motivierende Aussichten an einem Freitagnachmittag.
»Sie sollten diesen Rat ernst nehmen. Ich bin nicht hier, um Einzelkrieger und – kriegerinnen heranzuzüchten, sondern junge Menschen, die zusammenarbeiten können. Aus diesem Grund wird ein Großteil Ihrer praktischen Aufgaben in diesem Modul Teamwork sein. Sie haben sich vielleicht für Computerwissenschaften entschieden, weil Sie nicht gerne kommunizieren und lieber für sich allein arbeiten – nun, diesen Zahn kann ich Ihnen gleich ziehen. Technik ist