Lakestone Campus of Seattle, Band 2: What We Lost (Band 2 der unwiderstehlichen New-Adult-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint) - Alexandra Flint - E-Book

Lakestone Campus of Seattle, Band 2: What We Lost (Band 2 der unwiderstehlichen New-Adult-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint) E-Book

Alexandra Flint

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

***Band 2 der unwiderstehlichen New-Adult-Romance*** Astrophysik am Lakestone Campus zu studieren, ist Brynns größter Traum. Als sie von dem Wettbewerb um ein Stipendium an der renommierten Uni erfährt, ergreift sie ihre Chance und fliegt nach Seattle. Dort angekommen gerät sie direkt mit Kace aus Dublin aneinander. Was Brynn nicht weiß: Kace ist nicht nur wegen seines musikalischen Talents am LSC. Aber sie spürt, dass sich mehr hinter seiner kühlen Fassade verbirgt. Doch je näher Brynn ihm kommt, desto heftiger stößt Kace sie von sich ... Mitreißend. Knisternd. Unwiderstehlich. Band 2 der neuen New-Adult-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint. Die Bücher der Lakestone-Campus-Reihe: Band 1: What We Fear Band 2: What We Lost Band 3: What We Hide (erscheint im Frühjahr 2025) Weitere fesselnde New-Adult-Romance der Autorin bei Ravensburger: Maple-Creek-Dilogie Band 1: Meet Me in Maple Creek Band 2: Save Me in Maple Creek

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 581

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Triggerwarnung

Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Deshalb findet ihr auf dieser Seite einen Hinweis zum Inhalt.

ACHTUNG:Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2024 Ravensburger Verlag Text © 2024, Alexandra Flint Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Silke Weniger, Gräfelfing. Cover- und Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung von Bildern von Shutterstock (TMvectorart, ElenaChelysheva) Lektorat: Nina Schnackenbeck

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51228-7

ravensburger.com

Für alle, die nicht vernünftig sind und ihrer Leidenschaft folgen.

Das ist nicht unsinnig, sondern mutig.

Lasst euch nichts anderes einreden.

Das ist das Wesen der Musik, dass sie die Seele zur Harmonie des Weltalls stimmt.

(Pythagoras von Samos)

Kapitel 1

Way down We Go – Stripped – Kaleo

Kace

»He! Du hast da eine Stelle vergessen.«

Die höhnischen Worte trafen mich im Nacken. Genau dort, wo meine nach diesem Tag ohnehin überstrapazierten Nerven saßen und kurz davor waren zu reißen. Doch so gerne ich meinen Frust auch rausgelassen hätte, der klägliche Rest meiner Selbstbeherrschung hielt mich davon ab. Weil ich diesen Scheißjob brauchte und weil ich in den seltensten Fällen am längeren Hebel saß.

Eigentlich nie.

Also atmete ich nur tief durch, umfasste den Griff meines in die Jahre gekommenen Putzwagens fester und ging einfach weiter. Achtete nicht auf den nächsten Ruf oder das selbstgefällige Lachen der Studierenden, sondern stellte die Musik in meinen weißen Kabelkopfhörern lauter und setzte meine Runde durch das abendliche Trinity College in Dublin fort. Je schneller ich fertig wurde, desto eher konnte ich nach Hause zu den Menschen, die mir wirklich etwas bedeuteten. Wie so oft war der Gedanke an meine Mam und Trix das Einzige, was mich davon abhielt durchzudrehen. Alles hinzuschmeißen. Oder wahlweise dem Studenten hinter mir klarzumachen, wohin er sich seine abfälligen Bemerkungen stecken konnte.

Wer zum Teufel machte sich heute noch über Putzkräfte lustig? Das war armselig.

Kopfschüttelnd biss ich die Zähne zusammen und blickte von meinen schwarzen Converse auf, als ich das Ende des breiten Gangs erreicht hatte. Ich war niemand, der häufig gut gelaunt war. Für die wenigen Leute, die ich meine Freunde nannte, war ich der personifizierte Pessimismus und irgendwo hatten sie recht damit. Ich stritt es nicht mal ab, zynisch und misstrauisch zu sein, dafür war die Realität in den meisten Stunden meines Tages zu grau. Dafür hatte mir das Leben einfach schon einmal zu viel ans Bein gepisst.

Doch als ich nun vor der breiten Tür stand, hinter der sich der Probensaal M3 der Musikfakultät befand, spürte ich, wie sich meine Stimmung nach Stunden zum ersten Mal merklich hob. Nicht weil ich erpicht darauf war, weitere vierhundert Quadratmeter zu wischen, sondern wegen der … Musik.

Musik, die meine Familie so viel gekostet hatte und die ich dennoch nicht hassen konnte. Zum Überleben brauchte.

Die Musik war eine Narbe, die brannte und gleichzeitig die hässlichen Risse zusammenhielt.

Paradox, wie mein ganzes kleines Leben, und gerade so widersprüchlich, dass es noch funktionierte. Aber vielleicht war ich auch einfach nur bemerkenswert masochistisch veranlagt.

Anders konnte ich mir jedenfalls nicht erklären, warum ich mich jeden Donnerstag nicht nur dem Musiksaal und damit all den schlechten Erinnerungen freiwillig aussetzte, sondern auch dem mit Abstand talentfreiesten Musikstudenten, den das Trinity je gesehen hatte. Sehr zum Leidwesen meiner Ohren.

Selbst durch meine Kopfhörer und die dicke Tür zum M3 konnte ich bereits die Disharmonien hören und fragte mich, warum ich mich überhaupt auf diesen verdrehten Bullshit eingelassen hatte. Aber ein Deal war nun einmal ein Deal und wenn ich ehrlich mit mir war, dann war Gavin gar nicht so verkehrt. Von seinem nicht vorhandenen Gespür für Musik einmal abgesehen.

Seufzend stopfte ich meine Kopfhörer in meine Hosentasche und stieß endlich die Tür zum Probensaal auf. Sofort verstummten die schiefen Klänge und ich machte mir erst gar nicht die Mühe, meine Erleichterung zu überspielen. In diesem Fall war die perfekte Akustik des Raums eher Fluch als Segen, besonders für jemanden wie mich.

»Yo, Kace, was geht? Ich dachte schon, du hättest dich auf deiner Route verlaufen.«

Ich schloss die Tür hinter mir, stellte den Putzwagen ab und wandte mich der leicht erhöhten Bühne zu, wo Gavin breitbeinig auf seinem Klavierhocker fläzte. Die Ellenbogen auf die Klaviatur gestützt und eine angebrochene Flasche Guiness auf dem glänzenden schwarzen Lack des Vordeckels – ohne Untersetzer, als wäre der Bechstein-Konzertflügel heruntergekommenes Pubinventar und kein Instrument im Wert von knapp zweihunderttausend Euro.

»Keine Sorge. Ich hätte dich nicht einmal überhören können, wenn ich es drauf angelegt hätte.«

»Du tust meiner Musik unrecht.«

»Ich könnte das Gleiche sagen.« Ich sprang zu ihm aufs Podium und verschränkte locker die Arme vor der Brust. »Welches Opfer hast du dir heute ausgesucht?«

Sein schiefes Grinsen wurde merklich breiter. »Habe ich den Song so sehr versaut, dass nicht einmal du ihn mit deinen Wunder­ohren erkannt hast?«

Ich verzog nur vielsagend das Gesicht und warf einen Blick auf die Noten, die mit unzähligen Bleistiftkritzeleien, Kommentaren und Markerspuren versehen worden waren. Inklusive einer beachtlichen Anzahl von nicht zu übersehenden Fragezeichen. Das, was Gavin gerade gespielt hatte, war also wirklich der erste Satz der Mondscheinsonate von Beethoven gewesen. Armer Ludwig.

»Mannaggia!« Gavin fuhr sich mit einem unterdrückten Fluchen durch die schwarzen Haare, die mittlerweile in alle Richtungen abstanden, sodass er ironischerweise eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Komponisten besaß. »Du brauchst gar nicht so zu schauen. Das ist eine verfluchte Wissenschaft, die Normalsterbliche gar nicht verstehen können!« Worte auf Italienisch folgten, die ich wiederum nicht verstand. »Was mache ich falsch, Kace? Was bedeuten diese Schwünge und Zeichen und … merda, ich habe keine Ahnung, wie ich dieses dämliche Stück bis nächste Woche auf die Reihe bekommen soll.« Wieder ein italienischer Fluch, dann griff er nach dem Bier. »Warum zum Teufel musste es unbedingt Musik sein?«

In den Wochen, seit wir unseren Deal geschlossen hatten, hatte ich ein paar Dinge über Gavin erfahren: Erstens, seine Eltern schwammen im Geld und gewährten ihrem Sohn sein Rundum-sorglos-Studierendenleben, solange er gemäß der Familientradition Musik am Trinity studierte. Dass die Musik nicht unbedingt sein Steckenpferd war – von einem zugegeben beeindruckenden Talent fürs Rappen einmal abgesehen –, tat dabei nichts zur Sache. Und es war wirklich nicht an mir, die Dynamiken in seiner Familie zu hinterfragen. Zweitens, Gavin war unter seiner nervtötenden Machoschale wirklich verzweifelt und stand unter enormem Druck – Verzweiflung war etwas, womit ich mich gut auskannte. Und drittens, seine Gerissenheit kannte keine Grenzen.

Als er mich vor knapp zwei Monaten am Klavier in diesem Saal erwischt hatte, obwohl ich eigentlich den Boden hätte schrubben sollen, hatte er nicht gezögert und mir sofort einen Deal angeboten. Besser gesagt, mich erpresst, auf seine charmante, italienische Art. Ich half ihm, seinen Kurs in klassischer Musik zu bestehen, dafür verpfiff er mich nicht und überließ mir die Hälfte seiner Probenzeit im Saal.

Wäre es damals ein anderer Tag gewesen, hätte ich ihm vermutlich den Mittelfinger gezeigt, doch an diesem Abend war ich schlichtweg … müde gewesen. Vom konstanten Schlafmangel der letzten Monate, von den vielen unbeglichenen Rechnungen, von der Kündigung meiner ohnehin schlecht bezahlten Stelle im Supermarkt, die ich zu diesem Zeitpunkt kaum verdaut hatte. An diesem einen Abend war ich zu erschöpft gewesen, um noch einen Kampf auszutragen, und hatte dem Deal einfach zugestimmt.

Ich würde nicht so weit gehen und sagen, diese Vereinbarung hätte Gavin und mich zu Freunden gemacht – denn das waren wir nicht –, aber mittlerweile sah ich darin weniger einen Deal als eine Pause. Eine Stunde an einem perfekt gestimmten Flügel, in der die gesamte Welt da draußen keine Rolle spielte. Eine Stunde, in der ich es mir erlaubte, in der Musik abzutauchen, während ich es mir den restlichen Tag über verbot, auch nur daran zu denken. Wegen Trix. Und wegen Mam. Weil meine Mutter und ich uns zu ähnlich waren und ich gesehen hatte, was der Rausch der Musik mit einem machen konnte.

Das helle Klacken, mit dem Gavin seine Bierflasche wieder abstellte, holte mich zurück in die Gegenwart. Resolut schob ich meine schweren Gedanken zur Seite, noch ehe daraus ein dunkles Gewitter werden konnte. Zu oft schon hatten sie mich an Orte befördert, an die niemand jemals gehen sollte.

»Also, Wunderknabe, was ist?«

Ich strich mir die längeren dunkelblonden Strähnen aus den Augen und deutete auf den Hocker. »Rutsch zur Seite.«

»Die Bühne gehört ganz dir.« Wie immer überließ Gavin mir den Platz am Flügel und zog sich einen Klappstuhl heran, um neben mir Stellung zu beziehen. »Dann zeig mir mal, wie dieses Chaos aus Punkten und Linien da eigentlich klingen soll, wenn es fertig ist.«

»Das Stück ist abgeschlossen.«

»Ja, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Dein Bier, nicht meins, Kace.«

Belustigt hob ich einen Mundwinkel, während ich die Blätter ein zweites Mal überflog. Es waren die vereinfachten Noten des ersten Satzes der Mondscheinsonate und auch ohne dass ich jede Punktierung betrachtete, konnte ich die Musik bereits hören. Die gesamte Sonate, alle Sätze mit ihren Höhen und Tiefen und Klängen, breitete sich mühelos in meinem Kopf aus.

»Man kann jede Sprache lernen«, gab ich leise zurück und legte die Finger auf das kühle Elfenbein.

»Die Grammatik ja. Das Sprechen ist eine vollkommen andere Sache.« Gavin lehnte sich nach hinten. »Und wir wissen beide, dass es keine Übungsstunde auf der Welt mit deinem Talent aufnehmen kann.«

»Ansichtssache.«

»Tatsache.« Noch einen Moment länger sah er mich überraschend ernst an, dann erklang das schrille Bimmeln seines Handys. »Shit, da muss ich rangehen. Du kannst deine Finger ja schon mal warmspielen, van Gogh.«

»Van Gogh war Maler«, brummte ich, doch Gavin war bereits aufgestanden und in sehr schnelles Italienisch verfallen, während er den Seitenausgang ansteuerte.

So viel dazu. Stirnrunzelnd sah ich ihm nach, bis die Tür ins Schloss fiel, und stieß dann den Atem aus. In der plötzlichen Stille des Probensaals erschien jedes Geräusch zu laut, erinnerte mich daran, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte, sondern mich um andere Angelegenheiten kümmern musste. Dass es unsinnig gewesen war, dieser Abmachung überhaupt zuzustimmen. Gavin brauchte weit mehr als eine wöchentliche Stunde Geklimper und ich verlor dadurch nicht nur Zeit, sondern riskierte jedes Mal meinen Job. Ich wurde nicht dafür bezahlt zu spielen, sondern zu putzen. Mein Platz war nicht an diesem arschteuren Flügel, sondern hinter dem quietschenden Putzwagen.

Und dennoch konnte ich die Finger nicht von der Klaviatur nehmen, strich über die einzelnen Tasten, das Schwarz und Weiß, bis es vor meinen Augen zu einem Grau mit unzähligen Facetten wurde. Ich biss die Kiefer aufeinander, kniff die Augen zusammen, als aus der sanften Berührung unweigerlich ein Ton wurde. Die erste Note der Sonate. Die erste, die zweite, die dritte … wie von selbst reihte sich Ton an Ton, bis aus einzelnen Klängen der Anfang des dritten Satzes der Mondscheinsonate wurde – meine liebste Stelle des ganzen Stücks – und ich nicht mehr in der Lage war aufzuhören. So war es schon immer gewesen. Es mochte so aussehen, als würde ich die Musik kontrollieren, doch eigentlich hielt sie mich gefangen.

Ich legte die zweite Hand auf die Tasten, rief geistig Melodie, Tempi und Abfolge ab, konzentrierte mich auf das Bild, das der dritte Satz bereits vor Jahren in meine Gedanken gezeichnet hatte, und begann noch einmal von vorne. Mit gesenkten Lidern, um mehr zu sehen, während die Noten den Saal um mich herum füllten, mich füllten, bis nichts anderes mehr hineinpasste. Wie schon unzählige Male zuvor flogen meine Finger über die Tastatur, wurden schneller, mal langsamer, schlugen die Töne fester an, punktiert, getragen und folgten der Musik in meinem Kopf. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte, in mir widerhallte, wie es die Klänge taten, und sich beides miteinander verband. Es mochte sich absurd anhören, aber in Augenblicken wie diesen war es schwer zu sagen, wo die Musik aufhörte und ich begann.

Der Konzertflügel dröhnte, als ich das Ende erreichte, der finalen Tonleiter folgte und die Vierklänge hervorrief. Dann irgendwann die letzten Noten, der letzte Anschlag und die Stille, die sich über den Raum legte und noch so viel lauter war.

Fuck.

Fluchend presste ich mir die Ballen auf die geschlossenen Lider, atmete heftig ein und aus, weil mein Puls noch immer in Beethovens Irrsinn feststeckte und meine Finger heiß kribbelten. Es war wie ein Rausch. In solchen Momenten verstand ich, warum Mam in ihrer Jugend nicht auf ihre Eltern gehört und jede Vernunft in den Wind geschlagen hatte. Warum sie immer wieder ihrer Leidenschaft folgte, statt sich einen verlässlichen Job zu suchen und Geld zu verdienen. Warum sie die Rechnungen und finanziellen Sorgen, sogar ihre verdammte Krankheit hintenanstellte, weil sie alles um sich herum vergaß, sobald sie an unserem ramponierten Klavier saß. Die Musik ließ ihr keine andere Wahl. Nahm ihr jede Entscheidung ab.

Und du bist auf dem besten Weg, ihr zu folgen.

Nur durfte ich das nicht, ich durfte nicht dieselben Fehler wie Mam machen. Ich brauchte Stabilität, Verlässlichkeit, ich konnte es mir nicht erlauben, mich wie meine Mutter für die Musik zu entscheiden und alles andere hintenanzustellen, weil es nicht um mich ging, sondern um Trixie. Und Trixie verdiente nur das Beste.

Ich knirschte mit den Zähnen und fuhr nur einen Sekundenbruchteil später zusammen, als ich die Gestalt im Türrahmen bemerkte. Ein Mann, vermutlich in den späten Fünfzigern, stand in dunkelbraunem Tweedanzug bewegungslos dort und starrte mich an, als wäre ich direkt aus der Hölle auf diesen Klavierhocker gestiegen.

Hastig sprang ich hoch und stieß mir dabei das Knie am schweineteuren Flügel an, was mich ein weiteres Mal derbe fluchen ließ. Großartig, damit wäre wohl geklärt, dass ich aus den weniger schicken Vierteln Dublins kam. Falls ihm meine alte Kleidung nicht schon als Hinweis gereicht hatte.

Ohne mich aus den Augen zu lassen, durchquerte der Mann den Raum, bis er ein paar Meter vor mir stehen blieb. Dann endlich brach er diese entsetzliche Stille. »Wenn ich mich recht entsinne, dann werden Sie nicht dafür bezahlt, Klavier zu spielen.«

Im Grunde genommen kann man bei meinem Hungerlohn überhaupt nicht von einer wirklichen Bezahlung sprechen, aber gut.

Ich setzte zu einer Erwiderung an, ohne zu wissen, was genau ich darauf antworten sollte, doch mein Gegenüber gab mir erst gar nicht die Gelegenheit dazu.

»Kace Holloway, richtig?«

Erstaunt hob ich die Brauen. »Ja, ich …« Ich mochte ja viele Macken haben, aber normalerweise gehörte nutzloses Stammeln in angespannten Situationen nicht dazu. »Ja, Sir.«

»Professor Grisberg reicht vollkommen.«

Grisberg? Verfluchte … Grisberg war eines der ganz hohen Tiere des Trinity Colleges und ich damit … so was von am Arsch.

»Sie … hören Sie zu, es tut mir leid.«

Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich, ehe er mich ein weiteres Mal auffällig musterte. Von meinen abgenutzten schwarzen Converse über die ausgewaschene Blue Jeans mit den Löchern an den Knien, die einmal cool gewesen waren, bis hin zu meinem dünnen Pullover, auf dem immer noch ein Fleck von Trixies Frühstück klebte.

Wo zum Teufel blieb Gavin? Ihm wäre sicherlich irgendeine Erklärung eingefallen, denn Gott, reden konnte der Typ.

»Tut es Ihnen nicht, wie wir beide wissen, Mr Holloway. Genau­­so, wie uns beiden bekannt ist, dass das nicht das erste Mal war, dass sie hier gespielt haben«, entgegnete der Mann mit einem schmallippigen Lächeln.

Treffer. »Es … ja, das stimmt, aber …«

»Und würde ich auch nur annähernd Ihr Talent besitzen, hätte ich es nicht anders gemacht.«

»Ich … was?« Perplex ließ ich die Schultern sinken. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

Grisberg fuhr sich über die dunkelgrauen Bartstoppeln an seinem Kinn und trat zu mir auf die Bühne. »Unter normalen Umständen ist es nicht meine Art, mich in das Leben anderer einzumischen, Mr Holloway, aber Sie haben es mir schwer gemacht wegzuhören, wenn ich ehrlich bin.«

Befürchtete der Prof, ich würde sein schickes Instrument mit meiner Spielweise malträtieren? Weil ich keiner der privilegierten Musikstudierenden war?

Würde mein zukünftiges Einkommen nicht von Grisberg abhängen, hätte ich ihn genau das gefragt. Doch so zwang ich bloß frische Luft in meine verkrampfte Lunge und sagte das Einzige, was er vermutlich von mir hören wollte. »Es wird nicht wieder vorkommen, Sir. Versprochen.«

»Das wäre eine Schande.« Zu meiner Überraschung wurde sein Lächeln merklich breiter. »In den vergangenen Wochen habe ich Ihre Treffen mit Gavin Mazzilini mit großem Interesse verfolgt. Wobei ich mich auf Ihre herausragenden musikalischen Fähigkeiten beziehe.«

Diese Situation wurde immer verdrehter. »Ich weiß nicht, ob …«

»Tun Sie mir – und vor allem sich selbst – den Gefallen und streiten Sie Ihr Können nicht ab. Sie scheinen mir zu intelligent, um etwas derartig Dummes zu tun«, unterbrach mich der Professor ein zweites Mal. »Ich bin schon sehr lange in der Musikwelt unterwegs, habe unzählige Talente gesehen und ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass Sie eine Gabe besitzen, Mr Holloway. Eine Gabe, die Sie meines Erachtens vergeuden.«

Sein letzter Satz traf einen empfindlichen Punkt in mir und ließ mich endlich wieder klar denken. »Bei allem Respekt, aber Sie kennen weder mein Leben noch mich, Professor.«

Er nickte langsam. »Ein Umstand, der sich womöglich ändern lässt. Haben Sie schon einmal mit jemandem über Ihre Gabe gesprochen?«

Ich verzog das Gesicht. »Gabe?« Je öfter dieses Wort ausgesprochen wurde, desto absurder klang es.

»Natürlich kann ich es nicht mit absoluter Gewissheit sagen, aber Sie weisen Anzeichen eines absoluten Gehörs auf«, präzisierte er in der nächsten Sekunde, ungerührt von meiner finsteren Miene. »Ich habe Sie in den vergangenen Wochen oft dabei beobachtet, wie Sie gänzlich ohne Noten vor sich gespielt und dabei Musik – nicht selten so ein komplexes Werk, wie Sie es gerade zum Besten gegeben haben – aus Ihrem Gedächtnis erschaffen haben. Um es mit einfachen Worten zu sagen, Ihr Spiel ist Präzision und Perfektion, weil Sie nicht einfach nur spielen, sondern verstehen, und Ihrer Miene nach zu urteilen, wissen Sie, wovon ich spreche. Das ist mehr als bloßes Talent.«

Mir war bewusst, dass es nicht jedem so leichtfiel wie mir, ein Instrument zu lernen oder umfassende Stücke zu spielen, aber eine besondere Gabe hätte ich das nie genannt. Vermutlich, weil es schon immer so mit der Musik und mir gewesen war. Es war selbstverständlich, nichts, worüber man weiter nachdenken musste. So wie Kinder das Sprechen lernten, hatte ich Musik gelernt. Ich hatte jeden einzelnen Ton, den ich gehört hatte, mit seinem ganz individuellen Klang, seiner Farbe abgespeichert, die Melodien und Lieder, die daraus entstanden. Erst viel später hatte ich erfahren, dass man Musik sichtbar machen konnte, in dem man die Töne als Noten zwischen fünf Linien auf Papier sperrte.

Mam hatte mal gesagt, dass es genauso sein musste. Dass es mit der Musik wie mit den Gefühlen war. Erst, wenn man sie erlebt und gespürt hatte, wirklich begriff, woraus sie bestanden, konnten sie mit Namen beschrieben werden. Mich hatten die festgeschriebenen Regeln der Musik nie interessiert. Ich hatte keine sichtbaren Noten gebraucht, um mich darin zu verlieren. Nur Musik. Ihren Klang, ihre Melodien, die wie von selbst ihren Weg in mich hineinfanden und blieben. Sich festsetzten, wie Emotionen, die man nicht mehr loswird.

Musik ist Gefühl.

Ein Gefühl, das dich dazu bringt, dich selbst zu verlieren.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil sich das hier mit einem Mal zu nah anfühlte, und brachte Abstand zwischen den Flügel und mich. Als würde das irgendetwas ändern. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Darauf, dass ich so frei war und einem sehr guten Bekannten von Ihrem Talent berichtet habe.«

Bei seinen Worten grub ich meine Finger unwillkürlich tiefer in den Stoff meines Pullovers und die Haut darunter. »Bitte?«

»Ich stehe zu meiner anfänglichen Aussage, Mr Holloway. Jemand wie Sie sollte seine Fähigkeiten nutzen. Daran arbeiten, statt sie herunterzuspielen.« Der Professor nahm seine winzige, runde Brille von der Nase und sah mir direkt in die Augen. »Haben Sie je darüber nachgedacht, an einer Einrichtung wie dem Trinity College Musik zu studieren?«

Hatte ich. Unzählige Male.

Unzählige Male hatte ich mir das ausgemalt und mindestens genauso oft hatte mich alles, was dagegensprach, daraufhin zu Boden geschmettert. Wieder und wieder. Bis ich aufgehört hatte, diese Gedanken zuzulassen. Weil sie unrealistisch und egoistisch für jemanden wie mich waren. Aber ganz sicher würde ich meine verkorkste Lebenssituation nicht vor Grisberg ausbreiten. Also tat ich, was ich immer tat. Ich stopfte meine Emotionen, die die Musik jedes Mal hervorholte, in die nächstbeste Kiste und verfrachtete sie irgendwo in die Tiefen meiner Gehirnwindungen. Dorthin, wo sie mir nicht im Weg standen.

»Hören Sie, Professor Grisberg, danke für die Komplimente, aber das Klavierspielen ist nur eine Freizeitbeschäftigung, ein netter Nebenverdienst in Pubs, nicht mehr.« Lüge.

Die Brille landete wieder auf seiner Nase, dann nickte er nachdenklich. »Das war keine Antwort auf meine Frage, Mr Holloway, aber Ihre Aussage verrät auch so genügend.« Er holte einen Umschlag aus seinem Jackett und hielt ihn mir hin. Ein diamantförmiges Emblem mit den Buchstaben LSC war in das schwere, elfenbeinweiße Papier des Kuverts geprägt.

Nach kurzem Zögern nahm ich den Brief entgegen und musterte misstrauisch zuerst den Absender und anschließend den Professor vor mir. Lakestone Campus of Seattle. »Was ist das?«

»Eine Möglichkeit, die ich Ihnen gerne bieten möchte. Mein Bekannter leitet in Seattle eine der angesehensten Institutionen für Hochbegabte und ist bereit, Ihnen diese Chance zu geben. Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Rahmenbedingungen für alle passen und Sie sich auf ein persönliches Kennenlerngespräch sowie eine Einschätzung Ihrer Fähigkeiten einlassen.«

»Seattle?«, wiederholte ich tonlos und schüttelte den Kopf. »Wie kommen Sie darauf, dass ich … Professor Grisberg, das ist ein großzügiges Angebot, aber mein Leben ist hier. Ich werde Dublin nicht verlassen.« Die Worte kamen mir schwerer als erwartet über die Lippen, hinterließen einen beinahe bitteren Nachgeschmack, obwohl sie der Wahrheit entsprachen. Mein Lebensmittelpunkt war hier auf der grünen Insel. Hier lebten meine Mutter und Trixie, die sich beide auf mich verließen, mich beide auf ihre Art brauchten, und Dublin war schwer in Ordnung. Wir schwammen nicht in Geld, hatten mehr Sorgen, als ich zählen konnte, aber ich hatte meine Familie und das reichte. Wir kamen klar.

Und was ist, wenn leben mehr bedeutet, als nur klarzukommen?

Ich schluckte und reichte ihm den Brief zurück.

»Behalten Sie ihn, Mr Holloway.«

»Ich denke nicht, dass ich meine Meinung ändern werde.«

Wieder erschien dieses undurchsichtige, schmale Lächeln auf seinen Lippen, das so wirkte, als wüsste er etwas, das mir ganz offensichtlich verborgen blieb. »Und genau darin besteht einer der größten Irrtümer der Menschheit«, erwiderte Grisberg kryptisch und schob meine Hand samt Brief zur Seite, ehe er kurz meine Schulter drückte. »Im Leben gibt es mehr Wege als den, den wir gehen zu müssen glauben, Kace Holloway, weit mehr als den einen. Wie dem auch sei, Sie wissen ja, wo Sie mich finden können. Passen Sie auf sich auf.« Mit diesen Worten wandte sich der Professor ab und ließ mich auf der Bühne vom M3 stehen.

Mit einem mittlerweile zerknitterten Kuvert zwischen den Fingern und einem Riss von den Ausmaßen des Marianengrabens in meiner Brust.

Zwischen dem, was ich machen wollte, aber niemals haben konnte, und dem, was ich tun musste, aber niemals lieben würde.

Ein alter Riss, der dank Grisberg weiter denn je aufklaffte und an dem kein schickes Schreiben aus Seattle etwas ändern konnte.

Also blieb ich genau dort, wo ich war.

Auf dem einzigen Weg, den ich kannte.

Kapitel 2

Drops of Jupiter (Tell Me) – Train

Brynn

Das Universum war etwa vierzehn Milliarden Jahre alt – dreizehn Komma acht Milliarden plus minus ein paar Zerquetschter, wenn man es genau nehmen wollte. Eine so unfassbar große Zahl, dass die Vorstellungskraft der meisten Menschen, mich eingeschlossen, nicht ausreichte, um diese Zahl auch nur ansatzweise zu begreifen. Wie also konnte es sein, dass mir fünf Wochen Wartezeit so unendlich lang vorkamen? Denn objektiv betrachtet waren fünfunddreißig Tage, plus minus, ein Wimpernschlag verglichen mit dem Maßstab, in dem die Zeit des Kosmos gemessen wurde. Nichts, als ein mikroskopisch kleiner Sekundenbruchteil.

Ich wusste das. Ich kannte die Fakten, Zahlen, Verhältnisse und trotzdem änderte mein Wissen nicht das Geringste. Fünf Wochen waren eine verflucht lange Zeit, wenn man auf eine Antwort wartete, die alles verändern würde. Das mochte dramatisch klingen, aber für mich traf das zu einhundert Prozent zu. Eine Zusage des Lakestone Campus of Seattle würde mein ganzes Leben ändern. Sie wäre mein Ticket raus aus Oxford, das mit seinen renommierten Universitäten eine nicht gerade subtile Erinnerung daran war, dass ich meine Zeit vergeudete. Sie würde mir ermöglichen, das zu tun, wofür mein Herz schlug. Und sie würde mich aus der Abwärtsspirale bringen, in die mich meine Familie immer tiefer hineinzog. Mit jedem Tag, den ich in unserem in die Jahre gekommenen Bed & Breakfast verbrachte, ein wenig mehr.

Und heute war der letzte Tag der Frist. Der letzte Tag, an dem der Brief aus Seattle mit der Zusage kommen konnte. Es einfach musste. Denn falls nicht –

»Brynn!«

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und fuhr herum, wobei ich den Wäschekorb neben mir umwarf, stolperte und in einem Berg aus Laken landete.

»Gott, Brynn, was tust du da?« Meine älteste Schwester Amber stemmte die Hände in die Hüfte und lehnte sich ein Stück nach hinten. Seit sie schwanger war, war das eine ihrer liebsten Haltungen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Mehr oder weniger elegant schaffte ich es, mich aus dem Bettzeug zu befreien, und kam wieder auf die Beine. »Mich um die Zimmer kümmern, was sonst?« Ja, was sonst? Was sollte ich schon anderes tun, als mich in das Familienunternehmen einzubringen? Bei der Bitterkeit, sowohl in meinen Worten als auch in meinem Kopf, verzog ich das Gesicht.

Ihr schiefes Lächeln trug eine Spur Missbilligung in sich. Wie so oft, wenn es um mich ging – in diesen Momenten fühlte ich mich immer so, als würden fünfzig Jahre Altersunterschied zwischen uns liegen und nicht nur fünf. Dann stieß sie betont langsam den Atem aus und bückte sich nach der benutzten Bettwäsche. »Komm, wir erledigen das zusammen. Die Gäste kommen in einer halben Stunde und hier sieht es aus, als wäre einer deiner geliebten Asteroiden eingeschlagen.«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Ich pustete mir eine Strähne meiner blond gefärbten Haare aus dem Gesicht. »Kein Impaktkrater, keine Fragmente. Höchstens ein Meteorit. Ein sehr kleiner.«

»Sei nicht so eine Klugscheißerin. Das ist doch dasselbe, Bry«, erwiderte Amber hörbar genervt und ging um das Bett herum, um sich an meine Arbeit zu machen.

Ist es nicht.

Seufzend ging ich in die Hocke, um die restliche Wäsche wieder einzusammeln, und versuchte, den Stich zu ignorieren, den ihre Worte hinterlassen hatten.

Mittlerweile sollte ich mich eigentlich daran gewöhnt haben, dass mich meine Familie nicht verstand. Meine Interessen nicht ernst nahm, mich nicht ernst nahm. Weil meine Liebe für die Wissenschaft über den kleinen Kosmos des Leary’s Inns, den meine Familie seit Generationen nicht verlassen hatte, hinausging. Aber die Wahrheit war, es tat immer noch weh. Jedes einzelne Mal.

Ich schluckte mühsam gegen den Kloß aus Resignation und Einsamkeit an und pfefferte die Laken heftiger als nötig in den Korb. Bei dem vierzehn Milliarden Jahre alten Universum da draußen, ich musste hier einfach raus. Bevor es zu spät war. Bevor ich wie meine älteren Geschwister Amber, Wren und Luna unwiderruflich mit dem Leary’s Inn verwachsen war.

Den Korb fest umschlungen stand ich auf und widerstand nur mit Mühe dem Drang, ihn ein weiteres Mal auf den Boden zu schmettern. Egal, wie gut es sich auch angefühlt hätte. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Schwester, die mit einem sanften Lächeln – das noch nie für mich bestimmt gewesen war – beinahe liebevoll die Kissen zurechtklopfte und die Decke an die richtige Stelle zog. Ihre braunen Haare, die sie im Gegensatz zu mir in ihrer Naturfarbe belassen hatte, flossen in sanften Wellen über ihre Schultern und alles an ihr wirkte zufrieden. Wie konnte sie so glücklich aussehen? Wie konnte das hier, dieses Gebäude, das dringend eine Renovierung gebraucht hätte, dieses Leben, in dem jeden Tag auf jeden Penny geschaut werden musste, erfüllend für sie sein? Wie konnte sie nicht … mehr wollen?

Ich verstand es nicht und gleichzeitig beneidete ich sie darum. Alles wäre so viel einfacher, wäre da nicht diese Rastlosigkeit in meiner Brust. Der Drang, auszubrechen und wortwörtlich nach den Sternen zu greifen. Dabei hatte ich versucht, mich in diese Familie einzubringen, in der offenbar alle genau da waren, wo sie hingehörten – außer mir. Dem schwarzen Schaf mit blond gefärbten Strähnen.

»So, gerade noch rechtzeitig.« Mit einem letzten prüfenden Blick zupfte meine Schwester einen Fussel vom Laken und fasste dann wieder mich ins Auge. »Du kannst meinetwegen schon runtergehen. Wren hat gesagt, es wäre ein Brief für dich ge…«

Ich riss die Augen auf, während mein Herz von der einen auf die andere Sekunde explodierte. »Wo?«

»In der Küche.« Amber zuckte mit den Schultern und nahm im nächsten Moment überrumpelt den Korb entgegen, als ich auch schon aus dem kleinen Gastzimmer ins Erdgeschoss rannte. Mehrmals geriet ich auf der alten, verzogenen Holztreppe ins Straucheln und jedes Mal fing mich die Hoffnung auf. Der Brief musste vom Lakestone Campus sein und ich wusste einfach tief in mir drin, dass sich darin nur eine Zusage befinden konnte. Eine andere Antwort kam gar nicht infrage.

Ich würde endlich gehen können. Hätte endlich die Chance, zu studieren und die Welt außerhalb von Oxford zu sehen.

Mit wehenden Haaren fing ich meinen Schwung am Geländer ab und bog schlitternd in die kleine Küche ein, in der meine Mutter gerade am Herd stand und mein Vater, wie üblich, das erste Feierabendbier öffnete.

»Himmel, Brynn, was stürmst du hier denn so rein? Bist du schon mit den Zimmern fertig?«

»Ja, bin ich«, gab ich ungeduldig zurück und sah mich um. »Wo ist er?«

Brummend blickte Dad von der Zeitung auf. Sein heiliges Ritual am Abend, bei dem er nur im äußersten Notfall gestört werden durfte – aber das hier war ein Notfall. »Wo ist was?«

»Der Brief. Amber meinte, dass Wren gesagt hat, dass …« Ich unterbrach mich selbst, als ich das Kuvert unter der krummen Obstschale entdeckte, die meine zwanzigjährige Schwester Luna vor Ewigkeiten in der Schule getöpfert hatte. »Heureka.«

»Könntest du mir bitte noch die Karotten geben, bevor du dich deiner anscheinend sehr wichtigen Post widmest, Brynn? Das Essen kocht sich schließlich nicht von allein.« Mum schenkte mir dieses ganz bestimmte Lächeln, das sie einzig für mich reserviert hatte. Irgendwo zwischen liebevoll und stolz, aber nicht vollkommen ernst nehmend – das Nesthäkchenlächeln, der Fluch des jüngsten Kindes.

Den Brief zwischen die Lippen geklemmt, reichte ich meiner Mutter den schweren Tontopf, in dem wir das Gemüse lagerten, und schob mich dann in die Sitznische zu Dad. Ich spürte seinen aufmerksamen Blick unangenehm auf mir kribbeln, aber ich überging ihn resolut, weil ich nicht länger warten wollte. Ich brauchte es schwarz auf weiß. Mit bebenden Fingern riss ich den Umschlag auf, den ich unter anderen Umständen für seine Qualität und die hübsche Prägung bewundert hätte, und zog das Blatt heraus.

Ein Bogen mit Briefkopf und ein paar wenigen Zeilen. Irgendwo tief in meinem sonst so scharfsinnigen Verstand war mir klar, dass eine Seite zu wenig war. Zu wenig Text. Zu wenig Papier, um all die Dinge zu erklären, die eine neue Studentin am Lakestone Campus wissen musste.

Aber gerade war ich nur dazu fähig, die wenigen Zeilen zu lesen. Und nicht zu begreifen.

Sehr geehrte Ms Brynn Leary,

hiermit bestätigen wir schriftlich Ihre Absage für das Vollstipendium am Lakestone Campus of Seattle. Wir bedauern diesen Umstand sehr und möchten uns noch einmal für Ihre herausragende Bewerbung bedanken.

Hochachtungsvoll

Prof. Dr. Harvey Abbot

Rektor des Lakestone Campus of Seattle

Fassungslos starrte ich auf die wenigen Worte, die mir auf einen Schlag sämtliche Luft aus der Lunge trieben. Die Sätze übten so einen immensen Druck auf meine Rippen aus, dass ich wirklich das Gefühl hatte zu ersticken. Einfach so, hier an unserem kleinen Küchentisch in der kleinen Küche dieses beschissenen kleinen Bed & Breakfasts, das mich schon seit Jahren erstickte.

Meine Augen begannen zu brennen, während ich das Schreiben so festhielt, dass die Ränder zerknitterten. Aber es war ohnehin egal, dass ich das teure, makellose Papier zerstörte, weil es nicht der Brief war, den ich gebraucht hätte. Egal, dass ich wochenlang, jahrelang alles für diese herausragende Bewerbung getan hatte, weil sie letztlich nutzlos gewesen war. Es war alles hochachtungsvoll egal, weil es nicht gereicht hatte. Ich nicht gereicht hatte.

Mir kam ein ersticktes, freudloses Lachen über die Lippen.

Vierzehn Milliarden Jahre und es brauchte nur eine einzige Sekunde, um alles belanglos werden zu lassen. Um mein eigenes kleines Universum aus naiven Hoffnungen auszulöschen.

Die Bank neben mir knarzte, dann spürte ich meine Mutter neben mir. »Was ist das, Brynn?«

»Nichts«, brachte ich hervor, zerknüllte das Papier endgültig und stand auf. »Das ist gar nichts.«

***

Meine Gedanken wogen mehrere Tonnen. Lagen schwer auf meiner Brust und machten jeden Atemzug zu einem Kraftakt, während ich bewegungslos in meinem Bett lag. An die Decke starrte, an der meine liebsten fünf der insgesamt achtundachtzig festgelegten Sternkonstellationen klebten. Kassiopeia, Pegasus, die Südliche Krone, der Wolf und das Kreuz des Südens.

Mein Großvater hatte sie mit mir angebracht. Die unangefochtene Persona non grata in diesem Haushalt, weil er es gewagt hatte, die Wissenschaft und nicht das Inn zu wählen, und damit in den Augen meiner Familie alle im Stich gelassen hatte. Als wäre es nicht möglich, zu studieren und trotzdem seine Wurzeln zu ehren. Viel eher glaubte ich, dass Grandpa gegangen war, weil ihm seine Familie keine Wahl gelassen, ihn nicht verstanden hatte. Weil er erstickt wäre. So wie ich.

Mittlerweile leuchteten die Plastiksterne kaum noch, aber ich hätte die Bilder auch blind nachzeichnen können. Unzählige Male hatte ich sie schon nachgefahren, ihre Namen gewispert, wenn mich mein aufgewühlter Kopf davon abgehalten hatte einzuschlafen. Es hatte mich immer beruhigt zu wissen, dass sie hier in meinem Zimmer waren, genauso wie da draußen in dem schier endlosen Universum. Dafür gab es keine logische Erklärung. Genauso wenig wie dafür, dass ich ihnen unwiderruflich verfallen war, nachdem Großvater mich ihnen vorgestellt hatte. Den Sternen, der Physik dahinter, den Zahlen, der Weite, all den unerklärlichen Phänomenen, die die klügsten Köpfe der Menschheit seit Anbeginn der Zeit faszinierten.

Es war einfach so. Meine Liebe zu den Sternen war einfach so. Und in all den Jahren, in denen ich mich an diese Leidenschaft geklammert hatte, während mich meine Familie, die Kinder in der Schule belächelt hatten, waren mir nie Zweifel gekommen. Doch jetzt, zwei Tage nachdem ich die Absage erhalten und sich meine Träume so unerreichbar wie nie zuvor anfühlten, tat ich es: Ich zweifelte. Ich zweifelte an meiner gesamten Existenz, während ich in meinem Kinderzimmer im Bed & Breakfast lag, das alles war, was ich kannte. Mein eigener kleiner Mikrokosmos. Mein eigenes kleines Gefängnis.

Ich krallte die Finger fester in meine Decke, als das mittlerweile so vertraute Brennen in meine Augen zurückkehrte. Gott, ich hatte es satt, mich so zu fühlen, ich hatte es so verflucht satt und ich brauchte Luft, Weite. Etwas anderes als die schrägen Wände des Dachzimmers. Entschlossen schlug ich die Decke zur Seite, schlüpfte in meinen NASA-Sweater, den ich im Secondhandladen um die Ecke gefunden hatte, und öffnete das große Giebelfenster. Meinen Laptop in der einen Hand kletterte ich, wie unzählige Male zuvor, auf den kleinen Vorsprung des Fensters und ließ mich auf den kühlen Ziegeln nieder, während meine Füße über dem Innenhof baumelten. In der kühlen Februarluft, mit dem dunklen Oxfordhimmel über mir, ließ der Druck endlich ein wenig nach.

Ich wünschte, es wäre immer so einfach. Ich wünschte, ein Blick in den Nachthimmel würde ausreichen, um alle Sorgen einfach so fortzutragen. Kopfschüttelnd schloss ich die Augen, horchte auf die Geräusche der Stadt, das leise Rauschen des Windes, dann blickte ich zu den wenigen Sternen, die es durch die Lichtverschmutzung schafften.

Und mir wurde etwas klar.

Der Brief aus Seattle hatte alles und gleichzeitig gar nichts verändert. Er hatte mir den einfachen Weg nach Seattle genommen, ja, doch der Wunsch, Oxford endlich hinter mir zu lassen und auf dem Lakestone Campus zu studieren, war nach wie vor derselbe. Daran hatte die Absage nichts geändert.

Ich wollte nach Seattle. Ich wollte den Campus mit eigenen Augen sehen und dort lernen, wo die wichtigsten Namen der NASA studiert hatten. Ich wollte an einem der besten Programme für Astrophysik, das in direktem Kontakt zur berühmten Luftfahrtbehörde stand, teilnehmen. Ich wollte dorthin, wo ich dazugehörte. Wo ich nicht erst meine Haare färben musste, um das Gefühl zu haben, ich selbst zu sein.

Diese Gedanken hallten seltsam klar und unerschütterlich in mir wider, als ich nach meinem Laptop griff und den Browser öffnete. Ohne zu zögern, tippte ich den Namen der Universität in die Suchzeile, klickte auf die offizielle Website und navigierte zu den neusten Artikeln und Informationen.

Herzlichen Glückwunsch an alle neuen Studierenden, die im Herbst auf dem Lakestone … [mehr lesen]

Ich scrollte weiter und ignorierte meine dunklen Gedanken. Immer schneller überflog ich die Überschriften, ohne wirklich zu wissen, wonach ich suchte, bis ich abrupt an einem Beitrag hängen blieb.

Auch für das kommende Herbstsemester wird es wieder einen fachübergreifenden Wettbewerb geben, bei dem … [mehr lesen]

Einem Impuls folgend klickte ich auf mehr lesen und überflog den Artikel, der bereits vor zwei Monaten verfasst worden war, … und spürte, wie sich mein Puls beschleunigte, als ich verstand, was ich da las.

Jedes Jahr im Juni fand ein Wettbewerb am LSC statt, bei dem pro Fachbereich ein Vollstipendium an die besten Teilnehmenden vergeben wurde. Zusätzlich zu den Stipendien, für die man sich regulär bewerben konnte. Und für die ich abgelehnt worden war.

Nicht hilfreich, Bry. Nicht hilfreich.

Es stand nicht viel über den Wettbewerb im Internet. Natürlich nicht, denn so konnte sich niemand darauf vorbereiten und Wissen und Fähigkeiten in einer neuen Stresssituation abgefragt werden, um die Besten unter den Besten zu finden. Was nicht bedeutete, dass man nicht doch auf diese Prüfung hinarbeiten konnte. Nur, wie sollte ich das bewerkstelligen? Wie sollte ich eine möglichst gute Startposition für diese Hintertür auf den Campus bekommen, vielleicht doch etwas über den Wettbewerb in Erfahrung bringen, wenn zwischen Seattle und mir mehrere Tausend Meilen lagen? Wie sollte ich an meinem Traum festhalten, wenn ich hier von meiner Familie umgeben war, die mich unentwegt ausbremste? Die niemals verstehen würde, dass dieser Wettbewerb meine Zukunft sein könnte?

Wie sollte aus dieser Gelegenheit eine reale Chance werden, solange ich an Oxford gefesselt war?

Im Falle einer Zusage für das Stipendium wäre der Lakestone Campus für meine Reisekosten aufgekommen, darüber hatte ich mich im Zuge meiner Bewerbung informiert, doch jetzt … stand ich mit nichts als einer Absage und dieser losen Möglichkeit da.

Du hast immer noch deine Rücklagen von den Spielen, wisperte eine kleine Stimme in meinem Kopf. Ich kniff die Lider zusammen. Das war doch total irrsinnig. Ja, ich hatte etwas Geld zur Seite gelegt. Ein paar Pfund meines verschwindend geringen Gehalts und das, was ich mir bei Pokerrunden, Blackjack und anderen Spielen im Pub dazuverdient hatte. Ich wusste nicht, woher es kam, aber ich besaß eine ziemliche Schwäche – und meinen Gewinnen nach zu urteilen auch ein gewisses Talent – für Wetten und Wahrscheinlichkeiten, aber Geld hin oder her … das würde höchstens für einen Flug rüber reichen. Vielleicht könnte ich mir ein paar Wochen lang ein günstiges Hostel leisten, aber mehr war ohne Stipendium nicht drin. Ein One-Way-Ticket in jeder Hinsicht und auch ohne meine geliebte Wahrscheinlichkeitsrechnung wusste ich, dass meine Chancen schlecht standen. Wenn ich versagte …

Und hier zu sitzen, in die Sterne zu starren und sich die nächsten achtzig Jahre zu fragen, was gewesen wäre, wenn, ist die bessere Alternative?

Stirnrunzelnd strich ich über die abgenutzte Tastatur meines Computers, während meine Gedanken immer lauter wurden. Meine Eltern würden mich erwürgen, ich wäre vollkommen auf mich allein gestellt da drüben und ich hatte keinen blassen Schimmer, was genau mich dort erwartete. Ich wusste gar nichts. Eine beängstigende Tatsache und auf verdrehte Art beruhigend.

Weil sie der Beginn war. Wenn man wissenschaftliche Theorien anging, aber auch bei den meisten anderen Dingen im Leben. Zu Beginn war man ahnungslos, bis man einen Weg fand, etwas daran zu ändern.

Und dein Weg führt dich über den großen Teich nach Seattle, Brynn.

Ich blinzelte ein paarmal.

Seattle.

Ich musste nach Seattle, weil der Wettbewerb dort meine letzte Möglichkeit war. Weil meine Eltern hier im Bed & Breakfest niemals zulassen würden, dass ich mich von der Arbeit in der Pension abwandte, um mich vorzubereiten. Weil ich nur dort herausfinden konnte, ob dieser eine Weg mein Weg war.

Mit jedem Mal, das ich diese Sätze lautlos wiederholte, fühlten sie sich weniger erschreckend an. Beinahe greifbar. Vielleicht nicht einfach, aber … machbar. Es war machbar, einen Flug zu buchen. Es war machbar, eine Unterkunft zu finden. Es war machbar, mir einen Nebenjob zu suchen und auf den Wettbewerb hinzuarbeiten, zu lernen, den Campus zu erkunden.

Ich kaute auf meinem Daumennagel herum. Das alles war keine Frage der Machbarkeit, sondern des Mutes. Mut, den ersten Schritt zu gehen, obwohl ich nicht wusste, wie der zweite aussehen würde. Ob es überhaupt einen zweiten geben würde. Aber diese Ungewissheit fühlte sich immer noch besser an als die Vorstellung, hier zu bleiben und diese Chance, so verschwindend gering sie auch sein mochte, ziehen zu lassen.

Denn nichts war so beängstigend wie Stillstand, wenn einem nur dieser mikroskopisch kleine Sekundenbruchteil blieb, um sein Leben zu leben.

Vier Wochen später

Kapitel 3

It’ll Be Okay – Shawn Mendes

Kace

Es tut uns leid, wir konnten nichts mehr für Ihre Mutter tun, Mr Holloway.EineregelmäßigeEinnahmederMedikamenteistessenziellgewesen, um die Zeit bis zum Eingriff zu überbrücken, aber wir hegen den Verdacht, dass Ms Holloway die Medikation vernachlässigt hat, wodurch der Infarkt –

Ich riss mich resolut von dieser Erinnerung los und fuhr mir über die brennenden Augen.

Verdammt, Mam. Warum hast du deine verdammten Medikamente nicht genommen? Warum hast du nicht noch ein bisschen länger durchgehalten? Warum zum Teufel hast du nichts gesagt?

Es waren dieselben nutzlosen, wütenden Fragen wie jeden Tag, seit ich vor knapp vier Wochen auf dem kalten, verregneten Friedhof am Rand von Dublin gestanden und dabei zugesehen hatte, wie ihr schmuckloser Sarg in der dunklen Erde verschwunden war. Ohne große Worte, ohne viele Menschen, weil es ohnehin nur Mam, Trixie und mich gab.

Vier Wochen und ich hatte noch immer keinen blassen Schimmer, wie ich mit all dem umgehen sollte. Wie ich klarkommen sollte, denn die Wahrheit war, es verging nicht ein Tag seit ihrem Tod, an dem meine Gedanken nicht diese verflucht düstere Abzweigung nahmen. An dem ich nicht darüber nachdachte, einfach alles und jeden zur Hölle zu jagen. An dem Leben nicht wie ein Ding der Unmöglichkeit schien. Der einzige Grund, warum ich morgens überhaupt aufstand, mich zu meinen Jobs schleppte, atmete, war Trix. Es hieß, Kinder wären ohne jemanden, der sich um sie kümmerte, nicht überlebensfähig, aber im Endeffekt war genau das Gegenteil der Fall. Meine zwei Jahre alte Tochter Trixie war alles, was mich davon abhielt aufzugeben. Ohne sie –

Eine schwere Hand landete auf meiner Schulter. »Kace, du solltest nach Hause gehen.«

Ich riss mich von dem fleckigen Lack des alten Klaviers los und sah zu Bo. Ihm gehörte das Daisy’s Pub in einer der weniger touristischen Gassen von Temple Bar, wo ich dreimal die Woche mit zwei anderen Musikern spielte. Über die Jahre war zwischen Bo und mir eine seltsame Freundschaft entstanden, nicht zuletzt, weil seine Frau Gale regelmäßig auf Trix aufpasste.

»Geht schon«, murmelte ich und knetete meine Hände, um wieder etwas Blut in meine kalten Finger zu bringen. Gott, wie lange saß ich hier schon und starrte auf diese verdammten Tasten? »Ich habe noch kein einziges Stück für heute Abend geprobt.«

»Das war keine Bitte. Und wir wissen beide, dass du nicht in der Verfassung bist, um zu spielen.« Bo musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Nimm Trix und verbring den Tag mit ihr. Geht in den Stephen’s Park oder fahrt rüber nach Howth. Irgendetwas, was dich davon abhält, in meiner dunklen Spelunke zu versauern.«

Ich verzog das Gesicht und kippte den Rest meines Wassers runter, als wäre es Whiskey. Nicht zum ersten Mal dachte ich daran, meine Prinzipien zu begraben und wieder etwas Richtiges zu trinken. Nur einmal, um diese beschissenen Gedanken auszulöschen. Den Schmerz. Taub werden.

Nur ein einziges Mal.

»Ich komme klar.«

Die Falten auf Bos Stirn gruben sich tiefer in seine wettergegerbte Haut, sodass er älter als seine fünfundfünfzig Jahre wirkte. »Ich kenne diesen Ausdruck, Junge. Du bist meilenweit davon entfernt klarzukommen. Nicht, dass ich dir Vorwürfe mache, Gemma war ne feine Frau und ich kann mir vorstellen …«

»Bo«, unterbrach ich ihn und biss die Zähne aufeinander. Nur wenige wussten, wie düster es manchmal in mir aussah, wie mein Leben vor Trix gewesen war, was damals geschehen war. Bo war einer der wenigen, die Bescheid wussten, und das machte Unterhaltungen mit ihm so verdammt schmerzhaft. Weil immer diese Note darin mitschwang, die nur wir beide hörten, die zu einem Lied gehörte, das ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis getilgt hätte.

Kopfschüttelnd strich er sich über seinen dunkelgrauen Bart und schlug dann ohne Vorwarnung den Tastaturdeckel des Klaviers runter.

Der Knall ließ mich zusammenfahren. »Was zum …?«

»Geh, Kace«, fiel er mir mit seiner freundlich-rauen Barschheit ins Wort. »Ich will dich hier heute nicht mehr sehen.«

»Und der Auftritt?«

»Scheiß auf den Auftritt. Du hast andere Dinge, um die du dich kümmern musst. Ich hätte dich gar nicht erst in mein Pub lassen sollen, aber vielleicht habe ich einfach gehofft … egal. Überleg es dir noch mal, buachaill. Das mit der Wohnung meine ich.«

Ich stellte das Wasserglas ab und stand auf. Mit meinen eins fünfundneunzig überragte ich Bo um ein gutes Stück und doch fühlte ich mich hier und jetzt vor ihm wie ein kleiner Junge, der nicht weiterwusste. »Du weißt, warum ich das nicht annehmen kann.« Meine Stimme war heiser, beinahe tonlos.

»Wir haben mehr als genügend Platz hier und Gale ist vollkommen vernarrt in deine kleine Trixie. Das Zimmer steht ohnehin leer, seit Killian …« Der Name seines verstorbenen Sohnes raubte ihm die Worte. Das passierte ihm oft seit dem Unfall vor sechs Jahren. Keine Frage, Robert Sheffield kannte Verlust. Und er kam genauso wenig damit klar wie ich. Wie ironisch, dass wir nach all der Zeit immer noch so taten, als wäre es anders.

»Schon okay. Danke, Bo.« Dieses Mal war ich es, der ihm eine Hand auf die Schulter legte und sie kurz und fest drückte. »Ich komme morgen wieder.«

Bo räusperte sich vernehmlich, dann wischte er meine Worte mit seinem üblichen Brummen zur Seite. »Dein Starrsinn wird irgendwann noch dein Untergang sein.«

Ich hob freudlos die Mundwinkel. WennihmmeineanderenDämonen nicht zuvorkommen.

***

»Warum?«

»Weil du nicht in deinem Kleid schlafen kannst, Trix.«

»Warum?«

Ich seufzte, legte den Stapel Dokumente, den ich gerade durchgeschaut hatte, zurück in die Kiste und wandte mich meiner knapp zweijährigen Tochter zu, die in ihrem Lieblingskleid auf Mams Bett hockte und auf mich herabschaute, als wäre das Schlafzimmer ihr Hoheitsgebiet und ich nur geduldet. Ihre dunkelblonden Haare waren zu zwei kleinen Hörnchen gebunden und saßen nach dem langen Tag schief auf ihrem Kopf. Ohne dass ich das Geringste dagegen hätte unternehmen können, verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Gegen Trix war eben selbst der düsterste Moment absolut machtlos. Gegen das Leuchten in ihren braunen Augen und das breite Grinsen, weil sie ganz genau wusste, wie sehr sie mich mit ihrem Warum-Spiel auf die Palme bringen konnte. Trix mochte erst zwei sein, aber bereits jetzt war dieses Kind schlauer, als gut für sie war.

»Warum?«, wiederholte sie beinahe herausfordernd und zog sich meine Bettdecke über den Kopf, sodass ihre nächsten Worte nur noch gedämpft zu mir drangen. »Warum? Warum? Warum?«

Ich lachte leise und setzte mich zu ihr aufs Bett, ehe ich sie durch die Decke hindurch zu kitzeln und zu knuffen begann. »Weil es extra dafür Schlafanzüge gibt und du das Kleid sonst morgen nicht noch mal anziehen kannst.«

Trix’ Kichern verstummte abrupt, dann riss sie sich die Decke vom Kopf und sah mich entsetzt an. Auch ohne dass sie bereits die richtigen Worte dafür kannte, wusste ich, was sie mir mit ihrem Blick zu sagen versuchte. Mittlerweile konnten wir ganze Unterhaltungen auf diese Art führen. Es erstaunte mich noch immer, wie viel einem ein Kind mitteilen konnte, obwohl die richtige Sprache noch fehlte, und in Trixies großen Augen standen ganze Welten.

Behutsam hob ich sie auf meinen Schoß, wo sie sich sofort an mich klammerte, und vergrub für einen Atemzug lang die Nase in ihren Haaren. Gott, ich hätte nie geglaubt, wie sehr man einen so kleinen Menschen lieben konnte, wie viel einem eine Umarmung, dieser winzige Moment geben konnte.

»Was hältst du davon, wenn du in deinen Schlafanzug schlüpfst und ich dir noch etwas vorlese?«

Wieder richteten sich ihre Augen auf mich. »Morgen Kleid?«

»Ja, morgen kannst du das Kleid wieder anziehen, Trix.«

Sichtlich zufrieden kletterte sie aus meinen Armen und griff nach ihrem Schlafanzug, den ich vorher neben sie aufs Bett gelegt hatte. Mam hatte mir immer eingebläut, Trix so viel selbst machen zu lassen, wie möglich war, um ihr eigene Erfahrungen zu ermöglichen, und dazu zählte auch das An- und Umziehen. Selbst wenn Trixie eine halbe Ewigkeit dafür brauchte und meistens falsch herum in ihrer Kleidung landete.

»Kommst du klar?«, erkundigte ich mich, während sie mit ihrem Kleid kämpfte, doch meine Tochter warf mir nur einen empörten Blick zu und widmete sich weiter ihrer Aufgabe. Das nahm ich zum Anlass, mich wieder den unzähligen Kisten zuzuwenden, die aktuell so gut wie jeden Quadratmeter unserer kleinen Wohnung in Darndale bedeckten. Bisher hatte ich es nicht über mich gebracht, die Sachen meiner Mutter wegzuräumen. Es fühlte sich einfach falsch an, sie aus unserem Leben zu streichen und gleichzeitig …

Sie ist schon weg, Kace. Ihre Bücher und Klamotten ändern nichts daran, dass sie tot ist.

Wie sehr ich meine innere Stimme doch liebte.

Ich atmete hörbar aus, schaute noch einmal zu Trix und wandte mich dann wieder der aktuellen Kiste zu. Ordner über Ordner mit Rechnungen und Belegen, die wir über die Jahre nur mit Ach und Krach hatten bezahlen können. Entschlossen schob ich die aufsteigenden Erinnerungen zur Seite und nahm die nächsten Unterlagen aus dem Schrank, um sie in den Umzugskarton zu verfrachten. Ich griff gerade nach der zerbeulten Schachtel zwischen den Ordnern, in der Mam Fotos und Schnickschnack aufbewahrt hatte, als mein Blick auf einen Briefumschlag darunter fiel. Mein Name stand in ihrer unverkennbaren Schrift darauf und sorgte dafür, dass sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte. Briefe mit Namen drauf, die plötzlich ans Tageslicht kamen, waren nie ein gutes Zeichen.

Wie betäubt stellte ich die kleine Kiste zur Seite und hatte in der nächsten Sekunde bereits nach dem Umschlag gegriffen. Mein Hals wurde trocken.

»Scheiße«, murmelte ich und spürte, wie mein Name vor meinen Augen zu verschwimmen drohte. »Scheiße, verdammt.«

»Scheiße«, erklang es hinter mir und ich hätte beinahe noch ein weiteres Mal geflucht, als mir klar wurde, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Vor Trix, die gerade alles, was man von sich gab, leidenschaftlich wiederholte und abspeicherte.

Hastig fuhr ich mir über die Augen, stopfte den Brief in meine hintere Hosentasche und drehte mich zu Trixie um. Sie steckte nun in ihrem Schlafanzug, das Oberteil wie so oft falsch herum und die Hose auf links gedreht, aber es war ein Anfang.

»Warum Scheiße?«

»Nein, nein, Trix. Ich meinte …« Händeringend sah ich mich um und blieb an dem ausgeblichenen Vogelkalender hängen. »Meise. Ich habe Meise gesagt.«

Wow, Kace, ehrlich?

Trix blinzelte mich an, als würde sie dasselbe denken, dann gähnte sie und rieb sich über die Augen. »Müde, Meise.«

Ich dankte wem auch immer für diese Fügung und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Dann bringen wir dich mal ins Bett, kleine Meise.«

***

Später an diesem Abend saß ich auf der Feuerleiter vor unserem Küchenfenster, den Brief meiner Mutter in der einen, eine unangezündete Zigarette in der anderen Hand. Genauso wie dem Alkohol hatte ich auch dem Rauchen abgeschworen, als ich von Trixie erfahren hatte. Kaum zu glauben, dass der Tag schon eineinhalb Jahre zurücklag. Noch heute hatte ich diesen Morgen erschreckend klar vor Augen, die Worte, die mich beinahe wie ein elektrischer Schlag getroffen hatten. In der einen Sekunde hatte mein Leben noch daraus bestanden, irgendwie durch den Tag zu kommen, und in der nächsten musste ich mich plötzlich um ein kleines Mädchen kümmern. Weil ich ihr Vater war. Weil sie sonst niemanden mehr hatte. Weil es meine Aufgabe war.

Trixies Existenz hatte mich damals kalt erwischt, aber sie hatte mir auch das Leben gerettet. An diesem Morgen und jedem weiteren Tag. Auch wenn ich eine Scheißangst vor dem Moment hatte, in dem ich Trixie von ihrer Mutter erzählen musste. Und von mir.

Zähneknirschend warf ich die Zigarette zurück auf das Fensterbrett und betrachtete ein weiteres Mal Mams Brief. Bisher hatte ich es nicht geschafft, ihn zu öffnen. Ich hatte Trix ins Bett gebracht, hatte ihr auch dann noch vorgelesen, als sie schon längst eingeschlafen war, und danach unzählige andere, sinnlose Dinge getan, um bloß nicht hier zu landen. An diesem Punkt, wo jede Sekunde, die ich den Umschlag ungeöffnet ließ, Erleichterung und Qual gleichzeitig war. Ich fürchtete mich vor dem, was sich in dem Kuvert verbarg, was ihre Worte in mir auslösen würden, und genauso fürchtete ich mich davor, den Brief nicht zu lesen. Keine Antworten auf die ganzen Fragen zu bekommen, die Mam hinterlassen hatte.

Ich legte den Kopf an die kühlen, rauen Steine in meinem Rücken und hielt den Brief mit seinen abgestoßenen Ecken vor mein Gesicht. Trügerische Unwissenheit oder ungeschönte Wahrheit?

EinenTodmusstdusterben,Holloway.ZumindesthastdudieWahl.

Mein Atem entwich mit einem gemurmelten Fluch, dann hakte ich den Daumen unter die Lasche und riss den Umschlag auf. Mir fielen vier Dinge entgegen: ein Scheck über fünftausend Pfund, eine unbeschriebene Postkarte aus Seattle, ein zusammengefaltetes Papier und ein goldener Ring, der an einem schwarzen Lederband hing.

Und nichts davon ergab Sinn.

Mam und ich waren nie in Seattle gewesen, den Ring hatte ich kein einziges Mal an ihr gesehen und der Scheck? Wieso hatte meine Mutter einen Scheck auf meinen Namen ausgestellt? Das Geld hätten wir weiß Gott gut gebrauchen können.

Für ihre Medikamente beispielsweise.

Mam hatte unter einer koronaren Herzkrankheit gelitten, die uns jeden Cent aus den Händen gerissen hatte. Einige Zeit lang war sie falsch behandelt worden, dann verschrieben andere Ärzte endlich die richtige Medikation und rieten ihr zu einem Eingriff. Zu dem es nie gekommen war.

Ich schluckte gegen dieses erstickende Gefühl von Enge in meiner Kehle an und faltete den Bogen Briefpapier auseinander. Er war bedeckt mit Mams Handschrift und ich erkannte sie in jedem Buchstaben. Die chaotische, liebevolle Musikerin, den besten Menschen, den ich je gekannt hatte.

Und es brachte mich beinahe um.

Kace,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll, denn ich kann nur erahnen, was gerade in dir vorgeht. Du bist sicherlich wütend auf die Welt, auf mich und das ist in Ordnung. Ich kann verstehen, dass du wütend bist, mein Junge, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich das alles nur für dich und Trixie getan habe. Ich habe viele Fehler gemacht, glaub ja nicht, ich hätte das nicht gesehen, während ich meine Fehltritte immer wieder auf die Musik geschoben habe. Aber das hier ist keiner dieser Fehler. Ich bereue nicht, meiner Krankheit nachgegeben zu haben, denn ihr seid es wert. Ihr seid das Beste, was mir im Leben widerfahren ist.

Und abgesehen davon, wir wissen beide, dass meine Chancen nicht gut standen und der Eingriff unfassbar teuer geworden wäre, Kace. Geld, das tausendmal sinnvoller in eure Zukunft investiert ist als in meine. Ich wünschte, es wäre mehr. Ich wünschte, ich hätte dir die Welt geben können, aber ich bin der festen Überzeugung, dass du es auch so schaffen wirst. Denn im Gegensatz zu mir bist du nicht nur mit unglaublichem Talent gesegnet, sondern auch mit der nötigen Zielstrebigkeit, das große Ganze nie aus den Augen zu verlieren. Und noch viel wichtiger als all das: Du besitzt ein unfassbar großes Herz. Auch wenn du dir alle Mühe gibst, es zu verstecken. Aber ich bin deine Mam, vor mir kannst du nichts verbergen.

Eine Träne tropfte auf das Papier, verschmierte ihre Handschrift und ich war kurz davor, den Brief zu zerreißen, ihre Worte, die in meinen Gedanken zu ihrer Stimme wurden, in alle Winde zu verstreuen, um nichts mehr zu fühlen. Aber mit diesem Brief verhielt es sich wie mit der Musik: Ich brauchte mehr, ganz gleich, wie sehr es auch brannte, wie tief die Klingen schnitten. Ich brauchte mehr … mehr von ihr.

Vermutlich kannst du dir denken, wie der Scheck zusammengekommen ist. Es kam mir unsinnig vor, dein hart verdientes Geld in Medikamente zu stecken, die nichts ändern. Du siehst das gerade sicherlich anders, aber für mich war es leicht, diese Entscheidung zu treffen, und ich würde mich immer wieder genauso entscheiden, Kace. Aus Liebe zu meinem Kind und das ist etwas, was du sehr wohl verstehen kannst, da bin ich mir sicher.

Was ich jedoch bedauere, ist, dass ich dich in einer anderen Sache all die Jahre belogen habe. Es war feige von mir, es dir nicht direkt an deinem achtzehnten Geburtstag zu sagen, aber die Wahrheit ist, ich habe mich geschämt. Ich schäme mich jetzt noch dafür und ich hoffe, du kannst mir meine Feigheit eines Tages verzeihen, Kace.

Es geht um deinen Vater.

Mein Herz schlug ein wildes Stakkato, als ich den Papierbogen umdrehte und immer schneller über die Sätze flog.

Ich habe dir erzählt, er wäre jemand Unbedeutendes, der nie Interesse an dir gezeigt hat, der nicht mit meiner Liebe zur Musik klargekommen ist, aber die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer genau dein Vater ist, weil … mehrere Personen infrage kommen. Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, aber nach dem Abbruch meiner musikalischen Ausbildung war ich für ein paar Wochen in Seattle. Ich hatte dort unerwartet eine Anstellung in Aussicht und gehofft, auch ohne Abschluss Fuß zu fassen. Letztlich waren es nur Auftritte in mehreren Bars, ein paar Gigs, aber darum geht es jetzt auch gar nicht. Es war eine wilde Phase, ich war jung, voller Hoffnung und habe sämtliche Freiheiten der Szene genossen. Jeder von uns hat das, wenn du verstehst, und glaub mir, ich bin nicht stolz darauf, aber theoretisch kommen mehrere Männer aus dieser Zeit als dein Vater in Betracht. An die meisten kann ich mich kaum noch erinnern – noch etwas, auf das ich nicht stolz bin –, doch einer von ihnen hat diesen Ring bei mir liegen lassen und als ich vor ein paar Tagen das Schreiben aus Seattle bei dir entdeckt habe, habe ich einen bekannten Namen dort gelesen. Harvey. Harvey Abbot. Ein gut aussehender Mann in makellosem Anzug – ich habe schon immer eine Schwäche für Männer in Dreiteilern gehabt. Harvey und ich haben eine Weile lang viel Zeit miteinander verbracht und ich war auf naive Weise unsterblich in ihn verliebt. Aber ich schweife ab. Was ich sagen möchte, Kace, ich weiß nicht, ob er dein Vater ist, aber es erscheint mir richtig, diese Gedanken mit dir zu teilen, bevor ich gehe. Du solltest die Chance haben, selbst zu entscheiden, was du mit diesen Informationen anfangen möchtest, und der Brief von diesem Campus ist vielleicht nur Zufall, vielleicht Schicksal, wer kann das schon sagen? Aber glaube ja nicht, dass du wegen mir in Dublin bleiben musst. Wofür auch immer du dich entscheidest, mein hübscher Junge, lass dich nicht von deiner Vergangenheit ausbremsen. Schaue nicht zurück, sondern ergreife die Möglichkeiten, die sich dir bieten, und denke an dich und Trixie. Und nur an euch. Das hätte ich dir schon viel früher sagen müssen. Nutze dein unglaubliches Talent und hör nicht auf zu suchen. Nach deinem Weg. Deiner Wahrheit. Deiner Melodie. Du weißt schon.

Es tut mir leid, Kace.

Ich werde dich immer lieben.

Drück Trixie von mir, sie wird dich eines Tages am Klavier in den Schatten stellen.

Mam

Trotz meines dicken Hoodies spürte ich die Gänsehaut auf jedem Quadratmillimeter meines Körpers, fühlte diese Kälte, die keine Kleidung der Welt vertreiben konnte. Seltsam entrückt ließ ich das Papier mit Mams Worten sinken, die mir ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen weggerissen hatten. Sie hatte offensichtlich nie im Sinn gehabt, sich einen Stent einsetzen zu lassen. Stattdessen hatte sie nur an Trix und mich gedacht und sich dabei bewusst selbst abgeschrieben.