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Auf dem Lakestone Campus zählt nur dein Talent. Doch was, wenn dein größter Fehler alles zu zerstören droht? Die Kunststudentin Lucie hat auf dem Lakestone Campus ein Zuhause und echte Freundschaft gefunden – aber niemand kennt ihre wahre Identität. Zu groß ist ihre Angst, alles zu verlieren, wenn ihre Freunde wüssten, was sie getan hat. Dabei will Lucie einfach nur sie selbst sein. Doch dann taucht plötzlich jemand aus ihrem früheren Leben auf: Callahan. Callahan, dessen Herz sie gebrochen hat und dessen Blicke sie tief berühren. Denn er ist der Einzige, der jedes ihrer dunkelsten Geheimnisse kennt … Mitreißend. Knisternd. Unwiderstehlich. Das Finale der neuen New-Adult-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Flint. Die Bücher der Lakestone-Campus-Reihe: Band 1: What We Fear Band 2: What We Lost Band 3: What We Hide Weitere fesselnde New-Adult-Romance der Autorin bei Ravensburger: Maple-Creek-Dilogie Band 1: Meet Me in Maple Creek Band 2: Save Me in Maple Creek
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Seitenzahl: 603
Veröffentlichungsjahr: 2025
Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Deshalb findet ihr auf dieser Seite einen Hinweis zum Inhalt.
ACHTUNG:Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2025 Ravensburger Verlag Text © 2025, Alexandra Flint Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Silke Weniger, Gräfelfing. Cover- und Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung von Bildern von Shutterstock (TMvectorart, ElenaChelysheva) Lektorat: Fam Schaper
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51229-4
ravensburger.com/service
Für alle, die mutig genug sind zurückzublicken,
um das, was vor ihnen liegt, zu verstehen.
»Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.«
(Albert Einstein)
Falling – Harry Styles
Lucienne
Eiskaltes Wasser umfängt mich, kaum, dass ich die Oberfläche durchbreche. Und trotzdem kommt mir der Sturz wie eine Ewigkeit vor. Wird nur vom Sinken abgelöst, das sich genauso anfühlt. Wie fallen und niemals aufschlagen. Und es hört nicht auf. Mein Fünftausend-Dollar-Kleid saugt sich gierig mit Wasser voll und zieht mich immer weiter in die Tiefe, als hätte es einen Pakt mit dem Fallen geschlossen. Als könnte es mich nicht schnell genug in die endlose Schwärze reißen. Als hätte jemand meine Füße in Beton gegossen, für all den Scheiß, den ich durchgezogen habe.
Und vielleicht habe ich das verdient.
Der Gedanke löscht alles andere aus. Lässt mich alles vergessen, weil er so verflucht endgültig scheint. Echt. Wahr. Und jeden Winkel ausfüllt. Ich weiß plötzlich nicht mehr, wie man schwimmt, ich weiß nicht, woher die Taubheit in meinem Körper kommt, ich weiß einfach gar nichtsmehr.DerpochendeSchmerz,dermichzuvorhatPunktesehen lassen, verschwindet. Die Übelkeit verschwindet. Ich verschwinde, während ich immer weiter in Richtung Boden sinke. Das Einzige, was ich noch spüre, ist die Kälte, die mein Blut in flüssiges Eis verwandelt, und das Salz in meinen brennenden Augen. Ich halte sie offen, obwohl ich längst nichts mehr sehe. Es nichts mehr zu sehen gibt. Irgendwo schreitmeineLungenachLuft,irgendwobetteltmichmeinÜberlebensinstinktdaruman,zukämpfen.Dochsiesindsoleise.Solächerlich leise in der Wattewelt, die ihre Krallen immer tiefer in mich schlägt.
Verdient. Du hast das alles verdient, Holland Lucienne Presley.
Ich weiß es und sie wissen es auch. Sie wissen es alle. Kein Wunder, dass mir niemand hinterhergesprungen ist, um mich zu retten.
Nicht einmal er.
Nicht. Einmal. Er.
Womöglich hat er nach all den Jahren endlich eingesehen, was ich bin. Gift. Hübsch verpackt, funkelnd, golden und dennoch tödliches Gift …
»Lucie? Lucienne?« Jemand rüttelte sanft, aber bestimmt an meiner Schulter und zerriss ohne Vorwarnung die finsteren Bilder. Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, nach Luft zu schnappen, als ich die Lider öffnete und gegen das helle Licht blinzelte. Ich war nicht länger unter Wasser, ich war nicht länger dabei zu ertrinken. Ich war unzählige Meilen von dort entfernt mit anderen Menschen, beinahe in einem anderen Leben.
Ich war ein anderer Mensch geworden.
Es fehlte nicht mehr viel und ich hätte über meine eigenen Gedanken gelacht. Ein bitteres, freudloses Lachen, weil das auch nichts daran änderte, dass diese Erinnerung Realität war. Dass meine Augen brannten und dass kein Ort der Welt diesen Teil meiner Vergangenheit auslöschen würde. Ganz gleich, wie viel Abstand ich zwischen Boston und mich bringen mochte.
Auch wenn es Momente gab, in denen ich sie beinahe vergaß – die Realität. Holland Presley. Momente, die eine zweite Realität schufen, wie ich Ton nach meinen Vorstellungen formte.
Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich für immer in dieser zweiten Realität geblieben. Doch die Vergangenheit war schwer zu ignorieren. Besonders eine wie die, die in meinem Nacken lauerte.
»Lucie?«
Ich fuhr mir über das Gesicht und schaffte es endlich, durch die beißende Helligkeit hindurchzuschauen. Direkt in die besorgten Züge meiner Tante Rosalie, die in dem kalten Licht des Krankenhauszimmers deutlich älter als fünfundvierzig Jahre zu sein schien. Diese Wirkung hatte ich auf die Menschen, die mir am nächsten standen. Jemand sollte mir eine Medaille dafür verleihen. Oder mich für immer wegsperren.
Resolut schob ich diese Gedanken zur Seite, die sich wie zäher Teer in mir ausbreiteten. »Tut mir leid, was hast du gesagt?«
Ein mildes Lächeln teilte ihre Lippen. »Die Ärztin kommt gleich noch einmal mit den Entlassungspapieren und befreit dich von der Infusion. Dann können wir dieses Krankenhaus endlich verlassen.«
Ich nickte und senkte den Blick auf die Nadel, die noch immer in meiner rechten Ellenbeuge steckte. »Das klingt gut.«
Die ohnehin schon tiefen Furchen auf Rosalies Stirn wurden noch ein wenig tiefer. »Ich weiß, du möchtest nicht darüber reden, aber vielleicht … Kannst du mir zumindest sagen, ob etwas vorgefallen ist? Auf dem Campus meine ich? Gibt es jemanden, der dir Schwierigkeiten macht?«
Ehrlich erstaunt hob ich die Brauen. Die kleine Regung sandte einen scharfen Schmerz durch meinen brummenden Schädel. Gehirnerschütterungen waren ätzend, keine Frage. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast niemanden sehen wollen, jeden weggeschickt. Dabei waren deine Freunde in den letzten vier Tagen ständig hier und haben nach dir gefragt.«
Sie haben nach Lucie gefragt, nicht nach mir. Aber das behielt ich für mich. Rosalie war großartig, einer der besten Menschen, die ich kannte, doch auch wenn sie mehr über mich wusste als die meisten anderen, würde sie es nicht begreifen. Ich begriff es ja selbst kaum.
»Ich wollte einfach nur nicht, dass sie mich so sehen«, gab ich leise zurück und knetete den Saum der strahlendweißen Bettdecke. Zumindest entsprach das der Wahrheit. »Es ist nichts auf dem Lakestone Campus vorgefallen, meine Freunde sind wundervoll, bloß …«
Rosalie legte eine Hand auf meine unruhigen Finger. »Ich verstehe schon.«
»Ach ja?«
Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. »Ob du es glaubst oder nicht, in den eineinhalb Jahren, die du jetzt schon bei mir bist, habe ich das eine oder andere über dich gelernt, Lucie.«
Ich presste die Lippen aufeinander. »Ich würde sie verlieren. Wenn sie wüssten, wer ich bin, was ich getan habe … und das kann ich nicht, Rosa. Ich kann das einfach nicht.« Das Brennen in meinen Augen verwandelte sich in Tränen, die mir heiß und schwer über die Wangen liefen. Dann waren da plötzlich warme Arme, die mich in einen Kokon aus blumigem Parfum und frischem Brot hüllten, und einen Moment lang erlaubte ich mir, dem Druck in meiner Brust nachzugeben.
»Ach, Lucie«, wisperte Rosalie an meinem Ohr, »du wirst niemanden verlieren. Nicht deine Freunde und ganz sicher nicht mich. Du bist ein wunderbarer Mensch mit einem großen Herzen.«
»Ich fühle mich gerade überhaupt nicht wunderbar«, schniefte ich und sah Rosa an, als sie mich ein Stück von sich schob. »Ich komme mir dumm vor. Es war dumm, das zu tun, Rosa. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Wie ich meinen Freunden wieder in die Augen schauen soll.«
»Möchtest du mir nicht doch sagen, warum du an dem Abend diese Tabletten genommen hast?« Die Stimme meiner Tante war unglaublich sanft und trotzdem hallten ihre Worte viel zu laut in mir wider. Sie trafen auf Selbstverachtung, alte Bitterkeit, weil ich eigentlich geglaubt hatte, ich wäre durch damit. Besser als das. Wie sehr man sich doch irren konnte.
Ich wusste, dass Rosalie nicht lockerlassen würde, dafür lag ich ihr zu sehr am Herzen, und ich wusste auch, dass ich ihr eine Antwort schuldig war. Weit mehr als das. Doch als sich in diesem Augenblick die Tür öffnete, war ich einfach nur froh, noch ein wenig Aufschub zu bekommen. Um meine Gedanken zu sortieren und mir selbst darüber klar zu werden, was mich vor vier Tagen über die Kante gestoßen hatte.
»Mrs McCoy, Miss Presley, danke für Ihre Geduld.« Dr. Bellamy, eine junge Ärztin mit zusammengebundenen Braids und leuchtend weißem Kittel, kam herein und trat mit freundlicher Miene an mein Bett. »Normalerweise würde ich das Ihrer Krankenpflegerin überlassen, aber ehrlich gesagt hatte ich gehofft, noch einmal unter vier Augen mit Ihnen sprechen zu können, Miss Presley.«
Mein Hals wurde eng, als ich diesen ganz bestimmten Unterton raushörte. Da hätte es ihren vielsagenden Blick gar nicht mehr gebraucht. »Sprechen?«, quetschte ich heiser an dem Kloß in meiner Kehle vorbei und zuckte zusammen, als die Ärztin die Nadel herauszog und sofort Gaze auf die kleine Wunde drückte.
»Ja, ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns kurz unterhalten könnten. Es dauert wirklich nicht lange und danach können Sie direkt nach Hause. Ich kann mir vorstellen, dass Sie es nicht erwarten können, hier rauszukommen.« Dr. Bellamy gestattete sich ein kleines Lächeln und bedeutete mir, auf die Gaze zu drücken, die sie dann mit Tape fixierte.
»Ich kann so lange draußen vor der Tür warten«, bot Rosalie an, als ich nichts erwiderte und nur stur auf meine Hände schaute. Hätte ich gekonnt, wäre ich direkt zwischen den Laken verschwunden. Ich wollte nicht mit Dr. Bellamy sprechen, weil es nichts zu besprechen gab. Die Ärztin kannte nur meine Untersuchungswerte, die für sie in irgendein Raster passten, meine Tante hielt es für einen Ausrutscher und ich hatte ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, was es für mich war. Der Beginn einer Katastrophe? Der Beweis, dass ich verkorkster war, als ich gedacht hatte? Ich wusste es nicht, und selbst wenn ich die richtigen Worte finden würde, sie würden nichts ändern. Weil die Menschen das sahen, was sie sehen wollten. Was ihnen logisch erschien. Ganz gleich, ob es eine Frage von Logik war oder nicht.
Trotzdem hörte ich mich im nächsten Moment schwer seufzen und nickte ergeben. »Okay.« Was blieb mir auch für eine Wahl?
Rosalie drückte einmal bekräftigend meine Finger und ließ uns dann allein. Ohne sie fühlte sich das geräumige Privatzimmer im UWMedical Center mit einem Mal wie ein Schuhkarton an, dessen Wände immer näher kamen.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Miss Presley. Ich kenne weder ihre gesamte medizinische Historie noch bin ich Expertin auf diesem Gebiet, aber Ihre Ergebnisse werfen für mich einige Fragen auf.«
Ich presste die Lippen aufeinander und wich ihrem Blick aus. Mir war bewusst, dass es ihr Job war, mich darauf anzusprechen, und dass sie sich um ihre Patientin sorgte, aber gerade wünschte ich mir nur, dass sie wie viele andere einfach drüber hinwegsah. Das hätte das hier so viel leichter gemacht.
»An dem Abend, als Sie kollabiert sind, haben wir große Mengen an Schmerz- und Beruhigungsmitteln in Ihrem Blut nachweisen können. Deutlich mehr, als jemand mit Ihrem Gewicht nehmen sollte.« Der Ausdruck in ihren braunen Augen war warm, einfühlsam, doch dahinter lauerte das Urteil, das sie sich längst gebildet hatte. Und das ich ihr nicht einmal verübeln konnte. Ich wusste, wie die Sache aussah, und mein aktueller Zustand sprach nicht gerade für mich.
Ich holte tief Luft, drehte den Kopf wieder zu ihr und zwang ein Lächeln auf meine ausgetrockneten Lippen. »Danke, dass Sie mich darauf angesprochen haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass es nicht wieder vorkommen wird. An dem Abend habe ich das Beruhigungsmedikament etwas zu hoch dosiert, das ist mir bewusst, und vermutlich hätte ich nicht noch Schmerzmittel dazumischen sollen. Ich hatte bloß heftige Kopfschmerzen und noch nichts Richtiges gegessen und danach war ich mit Freunden im Restaurant und habe … ein wenig Wein getrunken. Da ist einfach alles zusammengekommen. Ich weiß, dass das leichtsinnig gewesen ist.«
Dr. Bellamy wirkte angemessen skeptisch bei meiner Erklärung, die irgendwo zwischen Wahrheit und absolutem Bullshit changierte. Aber mehr hatte ich nicht. Mehr konnte ich ihr nicht geben. »Und Sie haben ein Rezept für das Ativan, richtig? Ihre Tante hat dazu eine Angabe gemacht.«
»Ja. Ich habe es verschrieben bekommen.« Eine Bestätigung, keine Erklärung.
Ich konnte der Ärztin ansehen, dass jede meiner Antworten bei ihr nur noch mehr Fragen aufwarf. »Sie sind in psychologischer Behandlung?«
»Ja.« Zumindest war ich das zu Beginn meiner Zeit in Seattle gewesen, aber ich musste ja nicht unbedingt weiter ausführen, dass ich nicht mehr hinging.
Das schien Dr. Bellamy ein wenig zu beruhigen. »In Ordnung, das ist gut. Mit Ihrem Einverständnis werde ich Ihre Befunde an Ihre Psychologin oder Ihren Psychologen weiterleiten. In den nächsten Tagen sollten Sie unabhängig davon besonders auf sich achten und keine körperlichen Anstrengungen unternehmen, damit ihre Gehirnerschütterung abheilen kann. Am besten besprechen Sie bei der nächsten Gelegenheit noch einmal die Dosierung und mögliche Wechselwirkungen Ihrer Medikamente, nicht, dass sich das hier wiederholt.«
»Danke. Das werde ich.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Presley?«
Kopfschüttelnd nahm ich die Entlassungspapiere entgegen und drückte sie an meine Brust. »Nein, alles so weit geklärt.«
Einen Moment lang schien die Ärztin noch etwas sagen zu wollen, dann atmete sie jedoch nur hörbar aus.
Unwillkürlich hatte ich Mitleid mit ihr, ich konnte mir kaum vorstellen, wie frustrierend es sein musste, Menschen um sich zu haben, die offensichtlich Hilfe brauchten, sich aber nicht helfen lassen wollten.
»Passen Sie auf sich auf, Miss Presley.« Ohne mich aus den Augen zu lassen und noch immer diesen wachsamen Ausdruck auf den Zügen, der meinen Nacken kribbeln ließ, reichte sie mir eine Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Und damit war ich frei. So frei, wie man eben sein konnte, wenn man tagtäglich in einem Käfig aus Lügen saß.
***
»Bist du dir sicher, dass du morgen direkt wieder auf den Campus gehen möchtest? Professor Abbot hat doch angeboten, dass du verspätet in das vierte Semester starten kannst.«
Ich blickte von dem Skizzenbuch auf, in dem ich bis eben lustlos herumgekritzelt hatte. Rosalie stand am Herd und rührte unentwegt in ihrer Kürbiscremesuppe, im Hintergrund lief leise das Radio und draußen regnete es Bindfäden. In der knappen Woche, die ich seit meinem Krankenhausaufenthalt zusammen mit Rosalie in ihrer Wohnung verbracht hatte, war der Spätsommer dem Herbst gewichen, als wäre ich nicht fünf Tage in der Klinik gewesen, sondern fünf Wochen. Wie konnte der Sommer schon zu Ende sein?
»Ja, es geht mir gut, und wenn ich noch länger hier rumhänge, drehe ich noch durch.« Achselzuckend legte ich den Stift zur Seite und stand von dem Hocker am Küchencounter auf. »Außerdem kann ich Harlow, Brynn und die anderen keine weitere Woche allein lassen. Ohne mich sind sie vollkommen aufgeschmissen.«
»Nicht mehr aufgeschmissen, als du es ohne sie bist.« Meine Tante reichte mir einen Löffel zum Probieren und ließ dann, wie so oft in letzter Zeit, ihren aufmerksamen Blick über mich schweifen. »Du siehst auf jeden Fall schon wieder besser aus.«
»Ich fühle mich auch besser. Dank deiner Koch- und Backkünste und Spieleabendepolitik.« Was so viel bedeutete, dass Rosalie die Abende in endlose Runden Gesellschaftsspiele verwandelt hatte, statt mich dem Fernseher oder meinem Zimmer und damit meinen finsteren Ecken zu überlassen.
»Dafür sollte ich mir ein Patent anmelden.«
Ich lachte leise und schob mir den Löffel zwischen die Lippen. Was ich gesagt hatte, stimmte. Es ging mir wirklich besser, die dunklen Erinnerungen waren wieder hinter Schloss und Riegel, genauso wie der Auslöser, der mich an diesem beschissenen Abend überhaupt erst ins Krankenhaus gebracht hatte. Ich hatte mich wieder im Griff, ich war wieder Lucienne McCoy. In dem sterilen Krankenhauszimmer war es mir schwergefallen, mich an die Person zu erinnern, zu der ich in Seattle geworden war. Holland Presley war dort in diesen farblosen vier Wänden einfach zu präsent gewesen. Doch hier in der heimeligen Maisonettewohnung über Rosalies Bäckerei war es ganz einfach, Lucie zu sein. Und noch einmal würde ich nicht zulassen, dass mir ein einzelner Zeitungsbericht im falschen Moment, über Dinge, die ich am liebsten für immer vergraben hätte, entriss, was ich hier so mühsam aufgebaut hatte.
»Gut so oder fehlt noch etwas?«, meinte Rosalie, als ich ihr den Löffel zurückreichte.
»Ist perfekt.«
»Fabelhaft, dann können wir gleich essen. Deckst du schon mal den Tisch? Dann hole ich das Brot aus dem Ofen.«
Ich schnappte mir Teller, Besteck und Servietten und verschwand in den Nebenraum, der Wohn- und Esszimmer in einem war. Die kleinen Lämpchen, die Rosalie in ihrem überdimensionalen Bücherregal positioniert hatte, verströmten warmes Licht und ich beschloss, nur noch ein paar Kerzen anzuzünden, um die gemütliche Stimmung nicht zu durchbrechen. Ich liebte jeden Quadratzentimeter ihrer Wohnung, die so ganz anders war als die Welt, in der ich bis vor eineinhalb Jahren gelebt hatte. Die enge Wendeltreppe, die nach oben zu den Schlafräumen führte, die Holzbalken, die die Decke stützten, die große Couch, auf der man bei all den bunten Kissen kaum Platz zum Sitzen fand. Ich war jeden Tag dankbar, dass es diesen Ort gab.
Eine leichte Vibration in meiner Rocktasche holte mich aus dieser seltsam melancholischen Stimmung. Noch einen Moment länger blieb mein Blick an den zusammengewürfelten Möbeln hängen, dann zog ich mein Handy hervor. Auf dem Display prangten drei neue Nachrichten in der Gruppe, die Harlow, Brynn und ich zu Beginn der Semesterferien ins Leben gerufen hatten. Als ich nach Seattle gekommen war, hätte ich nie geglaubt, hier beste Freundinnen oder überhaupt Anschluss zu finden. Und doch waren Harlow, vor der kein digitales System sicher war, und Brynn, die sich den Zahlen und Sternen verschrieben hatte, neben Rosalie zu meiner Familie geworden.
Harlow
Ich freue mich, dich morgen wiederzusehen, Lucie. Hab dich echt vermisst. Sollen wir uns um neun im Café treffen?
Bry
Geht mir genauso. Ohne dich ist der Campus einfach nicht komplett – außerdem hast du uns schon viel zu lange allein gelassen.
Bry
Zum Café: Ich habe Schicht, bin aber dabei. Ian kann sicherlich ein paar Minuten für mich einspringen.
Ihre Worte ließen mich lächeln, auch wenn sie gleichzeitig eine Erinnerung daran waren, dass ich meinen Freundinnen immer noch einige Erklärungen schuldete. Bis jetzt hatten wir nicht über den Abend gesprochen, an dem ich beim Italiener das Bewusstsein verloren hatte, und obwohl sie mich bisher nicht mit Fragen bedrängt hatten, wusste ich, dass sie sich Sorgen machten und Antworten verdienten.
Allein der Gedanke daran sorgte schon dafür, dass sich ein schaler Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete. Weil diese Antworten nichts anderes als neue Lügen sein würden.
Ob sie mich immer noch vermissenoder sagen würden, dass der Campus ohnemichnichtkomplettwar, wenn sie die ganze Geschichte kennen würden? Wenn sie erkennen würden, wer ich wirklich war, was ich getan hatte? Wie auch immer die Antwort auf all diese hypothetischen Fragen lauten würde, ich war bei Weitem nicht bereit, es herauszufinden.
Ich umklammerte das Handy fester und schob diese Welle aus Dunkelheit und Angst und Zweifel zurück, noch ehe sie mich unter sich begraben konnte. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, weil es nicht wichtig war. Es war nicht wichtig, wer ich gewesen war, sondern wer ich hier sein konnte. Jemand, der es besser machte. Jemand, der für seine Freunde da war und die Chance nutzte, die Seattle ihm gab.
Ich sog Luft in meine Lunge, bis sie gegen die allgegenwärtigen Ketten drückte, und konzentrierte mich auf dieses Gefühl. Die Finsternis war noch da, aber sie hielt mich nicht davon ab, zu atmen, und solange ich atmete, war ich am Leben. Ich würde eine Erklärung für meine Freundinnen und die anderen finden, diesen Abend aus der Welt schaffen und in das neue Semester starten. So wie zuvor. Alles war wie zuvor. Es war gut. Es war richtig. Es war genau so, wie es sein sollte.
Mit jedem tiefen Atemzug fiel es mir ein wenig leichter, das zu glauben. Sie zu meiner Realität zu machen, obwohl ich in einer ganz anderen feststeckte.
Denn ich fiel noch immer.
Ich fiel seit der Nacht auf dem Meer. Ich fiel seit dem größten Fehler meines Lebens. Ich fiel, weil da niemand war, der mich auffing.
Nicht mehr.
Call It What You Want – Taylor Swift
Lucienne
Die Wohnung meiner Tante Rosalie lag im South-Union-Lake-Viertel, nicht besonders weit vom Lakestone Campus entfernt. Mit dem Auto waren es nur ein paar Minuten, eigentlich perfekt, um von dort zur Uni zu pendeln, und einmal abgesehen davon, dass ich mir monatlich achthundert Dollar sparen würde, war mein Zimmer bei Rosalie fast doppelt so groß. Dennoch hatte ich mich für ein Wohnheimzimmer auf dem Gelände entschieden. Aus vielerlei Gründen: Niemand hier wusste, woher ich kam oder wer ich war, diese zwölf Quadratmeter gehörten allein mir und obendrauf hatte ich auf dem Campus jederzeit uneingeschränkten Zugang zum Atelier. Win-win-win.
Zumal Geld – dank des Treuhandfonds meiner Großeltern – ironischerweise eines der wenigen Dinge in meinem Leben war, die ich im Überfluss besaß. Geld, das mir das alles hier überhaupt ermöglichte, mich unabhängig von meinen Eltern machte, wo es mir zuvor so vieles genommen hatte. Ich sagte ja, ironisch.
Kopfschüttelnd wuchtete ich meine Reisetasche auf das noch unbezogene Bett und warf einen Blick auf den knallroten Wecker. In einer knappen halben Stunde würde ich mich mit Brynn und Harlow treffen, bevor um zehn Uhr meine erste Vorlesung für dieses Semester beginnen würde. Manchmal fiel es mir schwer zu glauben, dass ich bereits im vierten Semester auf dem Lakestone Campus studierte, dass es schon so lange her war, dass ich Boston den Rücken gekehrt hatte, und dass es mich noch immer aus der Bahn warf, daran zu denken. Ganz besonders die Gedanken an eine bestimmte Person.
Aus einem Impuls heraus schlang ich einen Arm um meine Mitte, als das vertraute Stechen durch meinen Körper fuhr. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich in letzter Zeit wieder so oft an ihn dachte, an all das, was wir gehabt hatten, und alles, was er für mich gewesen war.
Das, was ich uns genommen hatte.
Hoffentlich würde das nächste Semester dafür sorgen, dass diese Erinnerungen wieder in die Tiefen zurückkehrten, in die ich sie verfrachtet hatte. Andernfalls würden das verflucht harte Monate werden.
In den nächsten Minuten räumte ich meine Kleidung zu den restlichen Sachen in den Schrank und packte meine lederne Kuriertasche für den Tag – so, wie ich es schon unzählige Male in den letzten Semestern getan hatte. Die Routine half mir, die Vergangenheitsschatten wegzusperren, und als ich kurz darauf meinen Wohnheimschuhkarton in meinem dunkelblauen LSC-Hoodie, den ich über mein geblümtes Herbstkleid gezogen hatte, verließ, war ich bereit, mich für ein paar Stunden auf dem Campus und in der Kunst zu verlieren.
***
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sich gefühlt die gesamte Studierendenschaft des LSC im Lakestone Café versammelt. Kaum, dass ich durch die Tür getreten war, hüllten mich auch schon unzählige Stimmen, das Surren der Kaffeemaschinen, der Geruch nach Gebäck und Koffein und leise Hintergrundmusik ein. Wie ein Mahlstrom zog mich das Café in seinen Bann, bis ich unweigerlich zu einem Teil davon wurde. Genauso wie die vielen anderen jungen Menschen, die an den Tischen saßen und die letzten Minuten vor dem offiziellen Semesterbeginn genossen.
Diesen unverwechselbaren Lärmteppich hatte ich vermisst.
Lächelnd sah ich mich einen Moment lang um, dann fiel mein Blick auch schon auf Brynn Leary, die mit wehendem Pferdeschwanz hinter der Theke herumwuselte. Seit sie im vergangenen Frühling auf den Campus gekommen war, um an eines der begehrten Stipendien zu gelangen, waren wir Freundinnen, und sie jetzt als Studentin des LSC zu sehen, löste ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Brynn hatte hart dafür gekämpft und eine Menge Mist mit ihrer Familie erlebt. Wenn es eine verdient hatte, hier zu studieren, dann war es Brynn. Und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie verdammt Großes vollbringen würde.
Eine Hand an meiner Tasche stellte ich mich in die Schlange und war wenig später bereits an der Reihe.
»Ich bin hier, um dich von deiner Arbeit loszureißen«, begrüßte ich sie mit einem breiten Grinsen.
Brynns Augen weiteten sich, dann war sie auch schon um den Tresen herumgekommen, um mich in die Arme zu schließen. »Du bist hier!«
»Ich bin hier. Schön zu sehen, dass du mich nach der langen und harten Zeit der Trennung noch erkennst.«
»Haha.« Sie boxte mir leicht gegen die Schulter und verzog sofort entschuldigend das Gesicht. »Sorry, ich wollte nicht …«
»Hey, alles gut. Mir geht’s prima, ich bin wieder ganz die Alte.« Obwohl mein Tonfall unbeschwert war, bemerkte ich die Sorge, die in Brynns grünen Augen aufleuchtete. Gleich neben diesem aufmerksamen Blick, den sie einzig und allein für mich reserviert hielt. Vor ein paar Monaten hatte Brynn mehr von mir zu sehen bekommen, als ich normalerweise zuließ, und seitdem schlich sich dieser Ausdruck auf ihre Züge, wenn ich meinen Sonnenscheinmodus auspackte. Brynn Leary war verflucht nah dran, mich zu durchschauen.
»Du hast uns einen großen Schrecken eingejagt«, sagte sie, ohne auf meine Erwiderung einzugehen, und schob mich ein Stück aus der Schlange. Ian, einer der Barista, die meistens mit ihr im Café arbeiteten, hatte längst Brynns Platz eingenommen.
Ich senkte den Blick und nickte. »Ich weiß. Und das tut mir leid. Das war … An dem Abend ist einiges schiefgelaufen, aber ich werde es euch erklären. Versprochen.«
»Du musst uns gar nichts erklären, Lucie, wenn du nicht bereit dazu bist. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist.« Brynn drückte mich erneut an sich, und mit einem Mal war es unglaublich schwer, die Tränen zurückzuhalten, überhaupt nur zu atmen, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, endlich wieder Luft zu bekommen. Einen Moment lang blieb ich an diesem Widerspruch hängen, dann hatte sich Brynn auch schon bei mir untergehakt und führte mich ans andere Ende des Cafés. Der kleine runde Tisch, an dem unsere Freundin auf uns wartete, war durch Pflanzen und halbhohe Bücherregale ein wenig abgeschirmt und doch brauchte Harlow nur einen Sekundenbruchteil, um uns zu bemerken.
»Lucie!« Mein Name hatte kaum ihre Lippen verlassen, da zog sie mich auch schon in eine feste Umarmung. »Es tut so gut, dich zu sehen.«
»Geht mir ganz genauso«, murmelte ich in ihre hellbraunen langen Haare und lächelte, als sie mich eine Unterarmlänge von sich schob. »Ich bin ein bisschen durchgedreht, als wir nichts von dir gehört haben und du im Krankenhaus keinen Besuch empfangen hast.«
»Ein bisschen? Du bist die Wände hochgegangen und warst kurz davor, die Überwachung der Klinik zu hacken«, korrigierte Bry mit gehobener Braue und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle. »Ging uns allen so.«
Sofort überkam mich das schlechte Gewissen mit der Schlagkraft einer Abrissbirne. Ich hatte ihre Sorge nicht verdient. Nicht, nachdem ich ihnen bereits so viel Mist aufgetischt hatte … und noch auftischen würde. Ich verzog das Gesicht und ließ mich neben Bry auf einen schmalen Sessel fallen, Harlow nahm mir gegenüber Platz.
»Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber ich … ich musste erst mal selbst wieder auf die Beine kommen. Der Abend hat mich ziemlich umgehauen und ich habe Zeit gebraucht, um das alles zu sortieren.«
»Nichts davon klingt blöd«, hielt Harlow dagegen und sah mir fest in die Augen. »Und falls das gerade falsch rübergekommen ist: Wir sind dir nicht böse, Lucie. Wir wollen nur für dich da sein.«
Brynn nickte zustimmend und rutschte mit dem Stuhl ein wenig näher. »Möchtest du darüber sprechen? Was an dem Abend los war?«
Am liebsten hätte ich den Kopf geschüttelt, und da Bry und Har nun einmal unglaublich gute Menschen waren, hätten sie es mir mit großer Sicherheit durchgehen lassen. Nur hätte ich mich dann noch weniger im Spiegel anschauen können als ohnehin schon. Also blickte ich zwischen den beiden hin und her und entschied mich, ihnen zumindest einen Teil der Wahrheit anzuvertrauen: »Ich hatte an dem Tag noch nichts gegessen und es ging mir ohnehin nicht so gut. Kopfschmerzen und dazu meine Periode. Ich habe etwas dagegen genommen und dadurch ist es ein bisschen besser geworden. Aber dann habe ich … nach langer Zeit wieder etwas von meinen Eltern gehört und das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Vermutlich war es nicht richtig, aber ich habe es, so gut es ging, verdrängt und das hat auch geklappt, bis ich beim Italiener so schnell so viel Wein auf nüchternen Magen getrunken habe und … alles irgendwie zusammengekommen ist.« Ich blickte auf und bemerkte gerade noch den bedeutungsschweren Blick, den meine Freundinnen austauschten.
»Deine Eltern?«, hakte Bry mit einer Mischung aus Vorsicht und Verwirrung nach und wirkte, als würden ihr unzählige Szenarien, die sich hinter diesen zwei Wörtern verbergen konnten, gleichzeitig durch den Kopf schwirren. Harlow schien ähnlich irritiert. Vielleicht, weil ich meine Eltern bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erwähnt hatte. Aus gutem Grund. Wenn ich überhaupt von meiner Familie gesprochen hatte, dann immer nur von Tante Rosalie.
Als ich nichts erwiderte, übernahm es Harlow, die Stille zu brechen. »Was ist mit ihnen?«
»Nichts. Wir haben keinen Kontakt, seit langer Zeit schon nicht mehr, und dann plötzlich ein Lebenszeichen von ihnen …« Bei dem Gedanken an den Onlineartikel und das kurze Interview mit meinem Vater, in dem er sich zum ersten Mal über den Abend vor fast zwei Jahren geäußert hatte, den Abend, der mich überhaupt erst zu meiner Flucht nach Seattle geführt hatte, überkam es mich eiskalt. Hastig verdrängte ich die aufsteigenden Erinnerungen. »Nichts davon rechtfertigt meine Reaktion. Eine dumme, unbedachte Reaktion. Gott, ich habe das Gefühl, in letzter Zeit ständig dumme Dinge zu tun.«
Bry schnappte sich eine meiner kühlen Hände. »Wenn es um die Familie geht, sind wir vor keiner Dummheit gefeit, Lucie. Da können Harlow und ich ein Lied von singen.«
»Das kannst du laut sagen. Sonst hätte ich nicht gleich dreimal echt Mist gebaut, der mich ohne Abbot direkt ins Gefängnis gebracht hätte.«
Bei Hars Worten musste ich ein kleines bisschen lächeln. Auf den ersten Blick mochte man es ihr nicht ansehen, aber Harlow Lexington war eine begnadete Hackerin, die eine Zeitlang in krumme Geschäfte verwickelt gewesen war, um ihrem kleinen Bruder zu helfen. Letztlich war der Lakestone Campus ihre zweite Chance gewesen. Ebenso wie er meine Zuflucht war.
»Danke, ich … ich kann mich nur immer wieder entschuldigen. Dafür, dass ich euch den Abend versaut und so viel Kummer beschert habe.« Zerknirscht zog ich die Unterlippe zwischen die Zähne.
»Lucie, jetzt mach aber mal einen Punkt. Nichts davon muss dir leidtun, echt nicht. Dafür sind Freunde da«, entgegnete Brynn eindringlich. »Und es ist ja auch nicht so, als wärst du nicht schon unzählige Male für Harlow oder mich da gewesen.«
»Genau. Ich musste es auch erst lernen, aber weißt du, von Zeit zu Zeit ist es echt ganz in Ordnung, sich mal helfen zu lassen. Habe ich von einer guten Freundin gehört.« Harlow drückte meine Hand und zwinkerte mir zu. »Wir sind immer für dich da, und wenn du irgendwann über deine Eltern oder das, was dich so aufgewühlt hat, reden willst, dann werden wir immer noch da sein. Ganz gleich, was es ist.«
»So schnell hauen wir nicht ab. War schwer genug, auf den Campus zu kommen.«
Bei Brynns grimmig-selbstzufriedener Miene musste ich trotz der schweren Gedanken, die mich zu Boden drückten, schmunzeln. »Das habe ich gebraucht, ehrlich.«
»Das hätten wir dir schon vor Tagen sagen können«, meinte Harlow nur. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich könnte jetzt wirklich etwas mit Zucker gebrauchen, und da uns nur noch etwas mehr als«, sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, »zwanzig Minuten bis zur ersten Vorlesung bleiben, würde ich vorschlagen, uns besagten Zuckerschock schnell zu besorgen.«
»Ganz deiner Meinung. Lucie?«
Ich nickte. »Bin dabei. Zucker klingt nach einer verdammt guten Idee.«
Wir überließen es Harlow, die Wahl für uns zu treffen. Während sie sich einen Weg durch die Menschenmenge kämpfte, blieben Brynn und ich am Tisch zurück. Ein paar Atemzüge lang war es still, dann sagte Brynn leise: »Hatte der Abend beim Italiener etwas mit dem Tag zu tun, an dem du mich mit in diese Bar genommen hast? Du hast damals gemeint, du würdest auch vergessen wollen, und mich gebeten, keine Fragen zu stellen.«
Ich wandte mich ihr zu, während ich den geschwungenen Goldring an meinem Zeigefinger drehte. »Es hängt miteinander zusammen, ja.«
»Verdammt, Lucie.« Brynn wurde nicht lauter, trotzdem spürte ich ihren Frust, ihre Furcht als meine eigene. Vielleicht rückte ich deswegen näher an sie heran und suchte ihren Blick. »Ich komme klar, wirklich, Bry. Es ist nicht leicht, aber die Sache im Restaurant war ein Ausrutscher.« Beinahe hätte ich über diese vermaledeiten Worte gelacht, die ich wie eine kaputte Schallplatte ständig wiederholte, als könnten sie dadurch irgendwie wahr werden. Ich kam mir vor wie die größte Heuchlerin. Immerzu forderte ich meine Freundinnen auf, mit mir zu sprechen – als es Harlow letztes Jahr so schlecht gegangen war und auch, während Brynn in ihrem ganz eigenen Chaos festgesteckt hatte – doch kaum ging es um mich selbst, konnte ich meinen eigenen Ratschlag nicht annehmen. Ich wollte gar nicht wissen, was das über mich aussagte.
Brynn schluckte und wirkte alles andere als überzeugt. »Weißt du, es ist in Ordnung, wenn es nicht so ist. Wenn du nicht klarkommst, meine ich. Niemand von uns kommt immer klar, Lucie. Schon gar nicht jemand mit einem so großen Herzen, wie du es besitzt.«
***
Brynns Worte gingen mir nicht mehr aus dem Sinn. Normalerweise reichte allein das Gefühl eines Grafitstifts zwischen meinen Fingern, um sämtliche Gedanken abzuschalten, doch heute blieben sie. Die Worte und das, was sie in mir bewegten. Meine Freundinnen waren klug, einfühlsam und keine von ihnen schaute weg, wenn es kompliziert wurde. Ganz im Gegenteil. Und ich liebte und bewunderte sie dafür. Doch nun, wo ich im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stand, fühlte ich mich so nackt und hilflos wie schon lange nicht mehr.
Angespannt drehte ich die Halterung, in der eine reine Grafitmine steckte, in den Fingern und versuchte, mich auf die Worte meiner Dozentin Professorin Sander zu konzentrieren. Sie sprach über die Inhalte des Semesters, von dreidimensionaler Visualisierung und verschiedenen Stilen, die wir behandeln würden. Dinge, die ich liebte. Die mich atmen ließen. Dieses Studium war mein Schlüssel zu einer Zukunft, die lange Zeit unmöglich erschien. Ich war es mir schuldig, auf Kurs zu bleiben und nicht wegen eines einzigen Blicks zurück alles wegzuwerfen, was ich mir mühsam aufgebaut hatte. Ich musste einfach weitermachen, wieder die Lucienne McCoy werden, die Harlow und Brynn und all die anderen kennengelernt hatten, und dann wäre dieser dämliche Abend vor etwas mehr als zwei Wochen bald nicht mehr als eine verblassende Erinnerung. Ein einzelner Fehltritt.
Entschlossen straffte ich die Schultern und umfasste den Stift fester. Ein neues Semester, eine neue Leinwand, die sich in das Gesamtkunstwerk einfügen und mich ans Ziel bringen würde. Ich musste nur den ersten Strich setzen und den Mut haben, das Bild nach und nach zu vervollständigen.
Und wenn ich eines gelernt hatte, dann war es, Sitzfleisch zu haben und ein begonnenes Werk zu Ende zu bringen. Was auch immer es letztlich zeigen würde.
Shut Off The Lights – Bastille
Callahan
Zwei Monate zuvor
»Ich hoffe, du hast ein richtig schlechtes Gewissen.« Meine elfjährige Schwester Ella funkelte mich finster an. Durch ihre runden Brillengläser wirkten ihre grünen Augen viel zu groß für ihr kleines, herzförmiges Gesicht. »Weil du uns hier sitzen lässt.«
Ich blickte von dem Papierchaos in meinen Händen zu ihr auf. Ella saß auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer und ließ die Beine baumeln, als wäre das hier ihr Königreich. Kopfschüttelnd zwickte ich sie ins Knie. »Du tust so, als wäre schon klar, dass ich angenommen werde.«
»Natürlich ist das klar.«
»Ach ja?« Mit gehobener Braue betrachtete ich sie. »Was macht dich da so sicher?«
»Der Direktor der Uni, die am anderen Ende des Landes liegt, ist hier, um sich mit dir zu treffen.«
»Er ist geschäftlich in der Stadt. Das hat nichts mit mir zu tun.«
Ihre Miene verriet, was sie von meinem Einwand hielt. Nämlich gar nichts. »Er hätte sich ja wohl kaum bei dir gemeldet, wenn er deine Bewerbung scheiße gefunden hätte.«
»Scheiße sagt man nicht«, meinte ich und zwickte sie ein zweites Mal. »Einen Dollar ins Fluchglas.«
Ella zog einen Flunsch. »Jordan sagt das ständig.«
»Das heißt nicht, dass das etwas Gutes ist. Jordan redet Mist.«
»Er sagt das Gleiche über dich, Call.«
Nur mit Mühe unterdrückte ich einen scharfen Fluch und begnügte mich stattdessen mit einem frustrierten Seufzen. Jordan war unser Bruder und mit seinen sechzehn Jahren das Sandwichkind, wie ihn Mom immer nannte. Eine lange Zeit lang waren Jordan und ich beste Freunde gewesen, hatten uns gegenseitig den Rücken freigehalten, auch wenn uns fast sechs Jahre trennten. Doch seit ein paar Monaten erkannte ich meinen Bruder nicht wieder, er hing mit seltsamen Typen ab – ich hatte ihn schon ein paar Mal mit diesem Cody aus meinem Jahrgang gesehen, der definitiv auf illegale Weise Geld verdiente – und stieß alles und jeden von sich. Kurz gesagt verhielt er sich wie ein ziemliches Arschloch. Ich vermutete, dass es mit diesem dämlichen Schulprojekt über Eltern und deren Rolle im eigenen Leben zusammenhing, das den ganzen Scheiß mit Dad hochgeholt hatte. Vielleicht lag ich damit auch völlig falsch, doch was immer hinter dieser Wendung stecken mochte, ich hatte eine höllische Angst davor.
»Also, wo ist der Dollar, den du dem Glas schuldest?«, fragte ich mit einiger Verzögerung und zwang ein möglichst überzeugendes Lächeln auf meine Züge. Ella hatte einen sechsten Sinn für Spannungen und ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen wegen Jordan machte.
»Komm schon, Call.«
»Regeln sind Regeln.«
Brummend sprang sie vom Tisch, richtete ihren gestreiften Cordrock und verschwand, um besagten Dollar zu holen. Kurz sah ich ihr nach, dann blickte ich wieder auf die Papiere in meinen Fingern. Mir blieben noch etwas mehr als fünfzig Minuten, um meine Sachen zu sortieren und ins Stadtzentrum zu fahren, um mich dort mit Professor Abbot vom Lakestone Campus of Seattle zu treffen. Normalerweise verabscheute ich Zeitdruck und fehlende Vorbereitung, doch ich hatte nicht mit seiner Einladung gerechnet. Statt eines Schreibens der Uni hatte ich einen Anruf bekommen und nun stand ich hier, nervös, schwitzend und absolut unvorbereitet auf ein Treffen mit dem Leiter einer der renommiertesten Universitäten der USA.
Schritte näherten sich, dann kehrte Ella in mein Zimmer zurück, einen Dollar zwischen den Fingern und noch immer sichtlich unzufrieden. »Ich finde, du solltest auch etwas ins Glas tun.«
»Warum?«
»Weil du dein Versprechen brichst. Das ist mindestens genauso schlimm, wie ein Schimpfwort zu sagen.« Kinderlogik war unschlagbar, keine Frage.
Ich fand endlich das Empfehlungsschreiben meines Mathematikdozenten vom Communitycollege und schüttelte den Kopf. »Noch mal: Es ist noch nichts klar, Ella. Und welches Versprechen?«
Ihre Augen weiteten sich, leise Furcht und Traurigkeit schimmerten darin. »Du hast gesagt, dass du uns niemals allein lässt. Dass wir immer zusammenhalten.«
Scheiße. Meine Kehle wurde eng und ich brauchte einen Moment, ehe ich vor ihr in die Hocke ging und sanft ihre Schultern umfasste. »Ella-Bee, ich lasse hier niemandem allein. Selbst wenn das heute klappt, es ändert nichts daran, dass ich immer für dich da bin. Oder für Mom und Jordan. Das weißt du doch, oder?«
Sie nickte tapfer, aber die ungeweinten Tränen siegten und das, was noch von meinem jämmerlichen Herzen übrig geblieben war, brach ein bisschen. »Du wirst nicht wie Dad, oder?«
»Nein, Ella. Niemals. Das schwöre ich dir.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Ich schaffte es kaum, dieses eine Wort hervorzubringen, weil mir die Wut auf unseren Vater beinahe die Stimme raubte. Ich hasste, dass er Ella dazu brachte, an der Liebe innerhalb einer Familie zu zweifeln. Und ich hasste es, dass ich, sollte der Termin mit Professor Abbot gut laufen, nach Seattle ziehen würde. Weg von Mom und Jordan und Ella. Nicht zum ersten Mal dachte ich darüber nach, meine Bewerbung für das Vollstipendium zurückzuziehen und hierzubleiben. Aber das würde uns nur noch weiter in den Teufelskreis treiben, in dem wir steckten. Der Lakestone Campus war meine Chance, unser Leben langfristig zu verändern, meiner Familie etwas Besseres zu bieten, auch wenn ich dafür zunächst dreitausend Meilen zwischen uns bringen musste.
Ohne ein weiteres Wort schloss ich Ella in die Arme und drückte ihren kleinen Körper an mich. Warum nur waren die richtigen Entscheidungen im Leben so oft die schmerzhaftesten? Kein Wunder, dass wir regelmäßig den einfachen und falschen Weg wählten.
Eine kleine Weile, die ich eigentlich nicht mehr hatte, blieben wir so eng beieinander, dann schob ich meine Schwester von mir und wischte ihr die Tränen von der Wange. »Wir schaffen das, Ella-Bee. Was auch immer passiert, wir schaffen alles, das weißt du doch. Und kein Abstand der Welt wird mich davon abhalten, sofort zu dir zu kommen, wenn du mich brauchst.«
Endlich kehrte ihr Lächeln zurück und ließ ihr Gesicht leuchten. »Und ich zu dir, wenn du mich brauchst.«
Ich wuschelte ihr durch die schwarzbraunen Locken, was sie mit einem empörten Schnauben quittierte. Dann huschte Ella aus meinem Zimmer und hinterließ ein kleines Vakuum.
Mit einer gemurmelten Verwünschung fuhr ich mir durch die Haare und richtete mich wieder auf, um endlich alles für meinen Termin zusammenzupacken. Professor Abbot hatte zwar nichts von irgendwelchen Unterlagen gesagt, aber ich wollte dennoch nicht mit leeren Händen aufkreuzen und packte meine aktuellen Notenübersichten, die Ergebnisse meiner letzten Wettkämpfe und einen Terminkalender ein – wobei ich mit dem Blick an meiner Pinnwand hängen blieb. An einem ganz bestimmten Polaroidbild. Wie so oft.
Ich wusste nicht, warum ich das Foto immer noch besaß – mittlerweile war es ganz verknittert und rissig, weil ich es schon so oft geknickt und in meine Tasche gestopft hatte –, doch ich brachte es einfach nicht über mich, es wegzuwerfen. Dieses letzte Puzzlestück, das mir von unsgeblieben war. Das zu einem Talisman geworden war, obwohl es für das stand, was ich verloren hatte. Aus einem Impuls heraus nahm ich es auch heute von der Wand und betrachtete unsere jüngeren Gesichter, das strahlende Lächeln, ihr Lächeln, das mir, seit ich denken konnte, die Welt bedeutet hatte. Dabei sollte ich sie hassen für das, was sie uns angetan hatte. Ich sollte dieses beschissene Foto zerreißen, wie sie mich vor fast zwei Jahren zerrissen hatte. Nur konnte ich es nicht und vielleicht würde ich niemals dazu in der Lage sein.
Fuck, das war so was von erbärmlich. Und trotzdem steckte ich das Foto in meine Hosentasche, behielt sie bei mir, ehe ich mein Zimmer verließ. Wir alle hatten unsere Macken, unsere Schwächen und Holland Lucienne Presley war meine Achillesferse.
***
»Mr Carter, wie schön, dass es geklappt hat«, begrüßte mich Professor Abbot, als ich zehn Minuten zu spät und außer Atem den Baker’s Coffeeshop in Boston Downtown betrat. In seinem dunkelgrauen Dreiteiler wirkte der Leiter des Lakestone Campus of Seattle zwischen all den jungen Leuten hinter ihren Laptops fehl am Platz und ich fühlte mich prompt underdressed. Nicht, dass ich eine große Auswahl gehabt hätte. Die meisten meiner Sachen waren Sportklamotten oder praktisch und schwarz. Schwarze Lederboots, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt.
»Guten Tag, Professor Abbot. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung.« Ich schüttelte seine angebotene Hand und ließ mich dann ihm gegenüber nieder. »Und danke für Ihre Einladung. Ehrlich gesagt war ich ein wenig überrascht, als ich Ihren Anruf erhielt.«
Mein Plappern ließ ihn sichtlich schmunzeln, während er den Knopf seines Jacketts öffnete und mich dann mit einem freundlichen Lächeln bedachte. »Nun, ich ziehe es vor, mit allen künftigen Studierenden, denen ich eines meiner privat finanzierten Stipendien anbiete, persönlich zu sprechen und sie kennenzulernen, bevor sie ihre Zeit auf dem Campus beginnen. Und da ich ohnehin in der Stadt bin, dachte ich, wir können beides wunderbar verbinden.«
Verdattert sah ich ihn an, ehe ich wenig eloquent wiederholte: »Zukünftige Studierende?«
»Dachten Sie, ich bitte um ein Treffen, um Ihnen eine Absage zu überbringen, Mr Carter?«
Ruckartig schüttelte ich den Kopf. »Nein, natürlich nicht, ich … ich habe nur nicht …« Hastig schloss ich den Mund, um dieses sinnlose Gebrabbel zu unterbinden.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff der Leiter nach einer der beiden Tassen vor sich und schob sie mir zu. »Sie haben nicht damit gerechnet?«
Ich nickte unsicher und bedankte mich leise für den Kaffee.
»Nun, Mr Carter, dann möchte ich Ihnen jeden Zweifel nehmen und Sie zu Ihrem Stipendium für den Lakestone Campus of Seattle beglückwünschen. Vorausgesetzt, Sie haben es sich in der Zwischenzeit nicht anders überlegt.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich wieder und hätte mir am liebsten einen Tritt in den Hintern verpasst. Gut, Worte waren noch nie meine Stärke gewesen, aber normalerweise brachte ich zumindest ein halbwegs vernünftiges Gespräch zusammen.
Noch immer dieses leichte Lächeln auf den Zügen rührte Professor Abbot in seinem Getränk. »Das freut mich zu hören. Sie werden eine große Bereicherung für unsere Einrichtung sein, davon bin ich überzeugt. Nicht nur aufgrund Ihrer herausragenden sportlichen Fähigkeiten, sondern auch wegen Ihrer besonderen mathematischen Begabung und Ihrem Verständnis für die Physik. Ganz offen gesagt hat mich die Tatsache, dass Sie die Mathematik und physikalische Gesetze nutzen, um Ihre Leistungen im Bereich der Leichtathletik zu verbessern, sehr beeindruckt.«
»Danke«, gab ich schlicht zurück, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen. Es gab keine ausschweifende Geschichte oder Erklärung dahinter, nur den Moment vor ein paar Jahren, in dem ich erkannt hatte, dass sich jede Bewegung mit mathematischen Formeln darstellen und beschreiben lässt. Mit Variablen, an denen man schrauben kann, um das Ergebnis zu verbessern. Und dass es mir gefiel, die Natur mithilfe festgelegter Gesetze greifbarer, verständlicher zu machen. Seitdem nutzte ich dieses Wissen, um meine Leistungen zu steigern und immer weiterzukommen. In Richtung Olympische Spiele.
»Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Und keine Sorge, Ihre Antworten ändern nichts daran, dass Sie zu Beginn des neuen Semesters im Herbst Ihr Studium antreten können.«
Selbst jetzt, wo ich es aus Abbots Mund hörte, klang es für mich immer noch surreal. Mein Leben hier in Boston gegen den Studierendenalltag in Seattle einzuwechseln. Mein Studium am Communitycollege gegen Vorlesungen an einer schicken Privatuni zu tauschen. Alles hinter mir zu lassen.
So, wie es Holland getan hat, als sie nach Paris abgehauen ist. Ohne ein Wort, ohne noch einmal zurückzublicken.
Der Gedanke kam so schnell und unerwartet, dass er mich für einen Augenblick eiskalt erwischte. Gott, ich hätte dieses bescheuerte Foto nicht einstecken sollen. Holland gehörte nicht mehr in mein Leben. Sie hatte mich aus ihrem gestrichen und ich sollte endlich dasselbe mit ihr tun.
» … warum ist Ihre Wahl auf den Lakestone Campus of Seattle gefallen?«
Hastig konzentrierte ich mich wieder auf das, was vor mir lag. Abbot, meine Zukunft, die Zukunft meiner Familie. »Abgesehen davon, dass der Campus einen unvergleichlich guten Ruf genießt, haben Sie bei sich eines der besten Sportprogramme in den USA.«
Abbot fuhr sich mit einem langsamen Nicken über das Kinn. »Sie haben in Ihrem Motivationsschreiben von den Olympischen Spielen gesprochen und auch Ihr aktueller Trainer nannte dieses Ziel. Darf ich hierbei die Verbindung zu Ihrem Vater ziehen? Er hat bereits zweimal an den Spielen teilgenommen, richtig?«
Unwillkürlich versteifte ich mich. »Adoptivvater. Er ist mein Adoptivvater. Und es wäre eine Lüge zu behaupten, er hätte keine Rolle dabei gespielt. Aber das ist vorbei. Ich habe eigene Motive und Ambitionen, die nicht mit ihm zusammenhängen.«
Professor Abbot wirkte, als wäre er gerne darauf eingegangen, doch stattdessen neigte er den Kopf und erwiderte: »Ich verstehe.« Und aus irgendeinem Grund kaufte ich ihm das ab. Nicht, dass er die ganze komplizierte Scheiße mit meinem Adoptivvater kannte, aber er schien zu wissen, was zwischen den Silben meiner Antwort lag und was es für mich bedeutete.
»Von welchen Ambitionen sprechen Sie, Mr Carter?«
Dankbar, dass er das Thema auf mich lenkte, entspannte ich mich wieder ein wenig. »Ich möchte sehen, wozu ich imstande bin, wenn ich glaube, nicht noch schneller laufen, nicht noch höher springen, nicht noch weiter werfen zu können. Ob ich über meine Grenzen hinausgehen kann.« Das war nicht alles, natürlich verbarg sich weitaus mehr dahinter, persönliche Gründe, die nicht einmal meine Familie kannte, die ich tief in mir verborgen hielt und die mir nicht selten den Schlaf raubten. Gedanken über meinen Vater, Ängste, die sich auf die Existenz meiner Familie und unsere finanzielle Lage bezogen. Aber mehr würde ich Abbot an dieser Stelle nicht geben.
Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusste er das, denn er nahm nur einen Schluck seines Kaffees und sagte dann: »Ich bin gespannt darauf, Sie bei Ihrem Weg begleiten zu dürfen. Sowohl auf sportlicher Ebene als auch im Hinblick auf die Mathematik. Und Physik. Könnten Sie sich vorstellen, auch dort eine Zukunft zu sehen?«
Ich hatte diese Frage erwartet und dennoch hatte ich keine gute Antwort parat. »Darüber habe ich nie so wirklich nachgedacht. Für mich sind die Zahlen ein Mittel, um mich in meinen Disziplinen zu steigern. Weiter habe ich mich damit nie befasst. Leichtathletik und der Zehnkampf stehen bei mir an erster Stelle.«
»Dafür habe ich selbstverständlich volles Verständnis. Auch wenn ich neugierig bin, wie sich Ihr Blickwinkel womöglich durch Ihr Studium verändern wird.«
»Wovon genau sprechen Sie?«
»Ich denke, wir werden das erst auf uns zukommen lassen müssen, um diese Antwort herauszufinden.«
***
Später an diesem Abend lag ich im Bett und starrte an die Decke. Das Gespräch mit Abbot drehte sich unaufhörlich in meinen Gedanken, genauso wie die lebhafte Diskussion am Esstisch mit Mom und meinen Geschwistern danach. Ähnlich wie ich konnten sie noch nicht recht glauben, dass ich im September nach Seattle gehen und dort studieren würde. Sie freuten sich ehrlich für mich, nannten mich das Genie der Familie und doch hatte ich die Sorge in den Augen meiner Mutter gesehen. Seit unser Adoptivvater vor ein paar Jahren abgehauen war und alles mit sich genommen hatte – unsere Ersparnisse und das Gefühl einer halbwegs heilen Familie –, war ich Moms rechte Hand. Ich kümmerte mich um Ella und Jordan, brachte sie zur Schule und sorgte dafür, dass etwas auf dem Tisch stand, wenn unsere Mutter in einem ihrer drei Jobs festhing. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie ihr Alltag ohne mich aussehen würde, und nahm mir fest vor, sie auch von Seattle aus, so gut es ging, zu unterstützen. Vielleicht konnte ich mir dort Arbeit suchen und Mom Geld schicken, sodass sie zumindest einen ihrer schlecht bezahlten Aushilfsjobs kündigen konnte. Mit Ella würde ich weiterhin über Skype Mathehausaufgaben machen. Und was Jordan anging … Fuck, keine Ahnung, wie ich ihm helfen sollte. Er lief vor meinen Augen in die vollkommen falsche Richtung und ich war absolut machtlos. Konnte nur tatenlos dabei zusehen, wie er sich zugrunde richtete, und das … das erinnerte mich verflucht noch mal an Holland.
Meine beste Freundin.
Meine zweite Hälfte.
Den Menschen, der mich besser gekannt hatte als ich mich selbst und den ich nicht hatte retten können.
Vielleicht war das mein Fluch. Dabei zuschauen zu müssen, wie die Menschen, die mir alles bedeuteten, den Bach runtergingen.
Fluchend presste ich mir die Handballen auf die geschlossenen Augen und schwang die Beine über die Bettkante. Mit drei Schritten war ich bei der Pinnwand, bei dem Foto, das ich wieder festgesteckt hatte, und riss es herunter. Anklagend starrte ich sie an mit ihren hellen Haaren, die sie fast immer geglättet getragen hatte, und braunen Augen, die dieselbe Farbe wie meine hatten.
Ich hasste sie.
Ich liebte sie.
Nach über eineinhalb Jahren liebte ich sie noch immer und es brachte mich um. Jeden Tag ein wenig mehr. Und Holland zu lieben, raubte mir die Kraft, die ich brauchte, um meine Familie zu retten. Ich biss die Zähne zusammen und griff nach dem Feuerzeug auf meinem Schreibtisch, dann zog ich meinen metallenen, leeren Mülleimer zu mir und ließ eine Flamme auflodern. Ihr goldener Schein durchbrach die nächtliche Dunkelheit des Zimmers und stach in meinen Augen.
Tu es. Tu es endlich und vergiss dieses Mädchen.
Meine Finger zitterten ein wenig, als ich das Feuer an die unterste Ecke des Fotos hielt, als die Flamme erst mich und dann Holland auffraß, nichts mehr übrig ließ, so wie sie alles hinter sich eingerissen hatte.
Die letzten Reste des Bildes landeten im Papierkorb, verglühten zu Asche, als hätte sie nie existiert. Als hätten wir nie existiert. Regungslos starrte ich auf den farblosen Haufen, einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Noch nie in meinem Leben hatte etwas, das eigentlich nicht länger existierte, so sehr gebrannt.
Born To Be Alive – Bea and her Business
Lucienne
»Miss McCoy, haben Sie noch eine Minute für mich?«
Am liebsten hätte ich verneint, als mich meine Professorin am Ende der letzten Freitagsvorlesung aufhielt. Das Semester hatte erst vor zwei Tagen angefangen und schon konnte ich es nicht erwarten, ins Wochenende zu starten. Was nicht zwangsläufig an dem Unterricht lag, sondern viel mehr daran, dass ich mich auf die nächsten Tage freute. Brynns alte WG schmiss morgen eine Party und für Sonntag hatte ich mich mit Harlow verabredet, um das Kunstatelier wieder auf Vordermann zu bringen. Zwar musste sie dort nicht länger Sozialstunden ableisten, aber aus dem gemeinsamen Aufräumen war im Laufe der letzten Monate eine richtige Tradition geworden.
Trotzdem blieb ich nun am Ausgang des Hörsaals stehen und wandte mich wieder zu Professorin Olwinger um. Sie war eine kleine Frau in den mittleren Sechzigern, die mir nicht selten Angst einjagte, wenn sie von der Bedeutung der flämischen Meister sprach. Als wäre die Kunst eine Sekte oder so.
»Ja?«
Professorin Olwinger kam auf mich zu und hielt mir eine kleine Mappe hin. Keine Ahnung, was mich mehr verunsicherte: die Tatsache, dass sie dabei lächelte, oder das, was auf der Mappe stand. Seattle Art Museum.
»Ich habe es Ihnen gegenüber im vergangenen Semester nicht angesprochen, aber Ihr Verständnis für die Dreidimensionalität von Objekten insbesondere in Bezug auf künstlerische Darstellung ist sehr bemerkenswert. Verstehen Sie mich nicht falsch, viele Studierende im Bereich Kunst haben ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen, aber Ihres geht weit darüber hinaus. Insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung zweidimensionaler Kunstwerke in das Dreidimensionale. Ihre Skulpturen sind nicht nur technisch einwandfrei, in ihnen steckt Ihre Seele, eine Leidenschaft, die mehr ist als Freude an der Kunst. Sie sind Ihre Darstellungen, hinterlassen Teile von sich selbst darin und in meinen Augen ist es das, was eine echte Künstlerin ausmacht. Die Bereitschaft, etwas von sich zu geben.«
»Danke«, erwiderte ich, was allerdings viel mehr nach einer Frage klang, weil ich nicht wusste, worauf das hier hinauslaufen würde.
Bei Olwinger konnte man nie so genau sagen, was sich hinter ihrem Lob verbarg. Manchmal blieb es bei den netten Worten und manchmal wartete danach eine Zurechtweisung.
»Das Seattle Art Museum plant eine Ausstellung, die es in dieser Art noch nie zuvor gegeben hat, und da ich, wie Sie vielleicht wissen, engen Kontakt zu dem Komitee des Museums pflege, habe ich bereits die eine oder andere Information erhalten, die mich an Sie denken ließ.«
Abwartend sah ich sie an, die Mappe zwischen meinen Fingern, die langsam, aber sicher feucht wurden.
»Es geht dabei um ein universitäts- und bundesstaatenübergreifendes Projekt, für das Studierende aus den jeweiligen Kunstfakultäten vorgeschlagen werden können. Diese sollen in enger Zusammenarbeit mit dem Museum bekannte Kunstwerke unserer Geschichte in neuem Glanz erstrahlen lassen. In einer neuen Darstellungsform, die mit den alten Traditionen bricht.«
»Das klingt sehr interessant, aber welche Rolle soll ich dabei spielen?«
Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter, dann nahm sie sich die Brille von der Nase und ließ sie achtlos an dem bunten Band auf ihre Brust fallen. »Hinter diesem Bruch verbergen sich unendliche Möglichkeiten. Beispielsweise könnte die Mona Lisa als Graffiti zu neuem Leben erweckt werden …«
»Oder ein Monet als dreidimensionale Skulptur.« Erst als ich Olwingers begeistertes Nicken bemerkte, wurde mir bewusst, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte.
»Exakt. Ich hatte bei Ihnen an etwas Räumliches gedacht, eine Darstellung, die Platz für sich beansprucht und Ihre Talente der Umsetzung zweidimensionaler Konstrukte ins dreidimensionale widerspiegelt.«
Meine damalige Dozentin für Kunstgeschichte in Harvard hatte etwas ganz Ähnliches gesagt, als sie mir während eines Projekts vorgeschlagen hatte, noch im ersten Semester nach Seattle an den LSC zu wechseln, um dort in den Bereich Bildende Künste einzusteigen. Und Abbot waren bei unserem ersten persönlichen Gespräch beinahe die gleichen Worte über die Lippen gekommen. Nur, dass er es Begabung und Fähigkeit genannt hatte. Das Talent, das mich für das Hochbegabtenprogramm des Lakestone Campus qualifiziert hatte. Ich wusste nicht, warum, aber es war mir noch nie schwergefallen, mit der Dreidimensionalität zu spielen, gedanklich wie auf dem Papier. Ich konnte Objekte in Gedanken beliebig drehen, verzerren und dann innerhalb von wenigen Minuten aufs Papier bringen. Wo vielen die nötige Vorstellungskraft, das Begreifen von Formen und Strukturen fehlte, brauchte ich kaum einen zweiten Gedanken. Früher war mir das nie aufgefallen, doch heute war ich dankbar, diese Superkraft zu besitzen. Schließlich hatte sie mir diese Tür geöffnet.
»Das Projekt würde Sie das gesamte Semester über begleiten und natürlich zusätzliche Credits geben«, fuhr Olwinger fort, als ich nichts erwiderte, und untermalte ihre Sätze mit großen Gesten, die nur allzu oft ihre Vorlesungen begleiteten. »Im März soll die dazugehörige Ausstellung stattfinden, für die mehrere internationale Namen der Kunstszene eingeladen sind. Außerdem – und das wird Sie sicherlich besonders freuen – ist Le Principe du Monet einer der Schirmherrn dieses Projekts.«
Meine Gedanken kamen abrupt zum Stehen. »Die LPM?« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme eine Oktave höher sprang.
Meine Professorin nickte. »Ich meine mich zu erinnern, dass Sie einmal davon gesprochen haben, nach ihrem Studium gerne dort anfangen zu wollen. Dieses Projekt könnte Ihre Möglichkeit sein, erste Kontakte zu knüpfen.«
Und das war noch untertrieben. Die LPM war die Künstlergesellschaft weltweit. Sämtliche Kunstschaffende, die etwas auf sich hielten, setzten es sich zum Ziel, eine Zeit lang bei der LPM zu lernen, zu arbeiten und richtige Kunstluft zu schnuppern. Wer dort ein Praktikum absolviert hatte, dem stand tatsächlich die gesamte internationale Kunstwelt offen. Schon als ich das erste Mal von dieser Gesellschaft gehört hatte, war mir klar gewesen, dass ich dazugehören wollte. Nicht nur aufgrund ihrer Bedeutung, sondern auch, weil sie ihren Hauptsitz in Paris hatte. Der Stadt meiner Träume, der Wiege der Ästhetik, einem Ort, an dem nur mein Talent zählte. Doch Zugang zur LPM zu erhalten, war ein kleines Ding der Unmöglichkeit und das, was mir Olwinger hier anbot, deswegen wie ein goldener Schlüssel. Eine Wildcard. Eine Abkürzung, die mich schneller an mein Ziel bringen konnte, als ich jemals zu hoffen gewagt hatte.
»Das wäre … ja, es ist mein Traum, nach dem Studium einen Platz bei der LPM zu bekommen, und das … was ich sagen möchte«, ich zwang mich dazu, den Mund zu schließen und tief Luft zu holen. »Was ich sagen möchte: Ich wäre sehr gerne dabei, Professorin Olwinger.«
Zu meiner Überraschung tätschelte sie mir die Schulter. »Dabei habe ich Ihnen noch gar nicht alle Rahmenbedingungen erläutert. Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht hierbei nicht nur um eine Nebenbeschäftigung. Dieses Projekt ist zeitintensiv und erfordert viel Hingabe. Zusätzlich zu Ihrem Studium sehe ich darin eine große Herausforderung und Mehraufwand, der gutes Management und Disziplin erfordert.« Strenge und Nachdruck verwischten ihr Lächeln. »Und Ihnen sollte bewusst sein, dass Ihr Studium dabei nach wie vor an erster Stelle steht.«
Ich unterdrückte den Impuls, mir über die Arme zu fahren, und umfasste die Mappe fester. »Natürlich, aber ich bin mir sicher, dass ich das hinbekomme. Ich arbeite strukturiert und habe ein gutes Gespür für Zeitmanagement.«
»Davon bin ich überzeugt, sonst wären Sie mir erst gar nicht als Kandidatin in den Sinn gekommen«, gab Olwinger zurück, nun wieder mit deutlich weicherer Miene, und deutete auf die Unterlagen. »Ich habe Ihnen darin sämtliche Informationen zusammengestellt, die Sie über das Projekt The Definition of Art wissen sollten. Lesen Sie es sich in Ruhe durch und denken Sie darüber nach. Bei Fragen können Sie mir jederzeit eine Mail schreiben. Ich brauche Ihre Entscheidung bis nächste Woche Dienstag, Miss McCoy.«
Ich riss die Augen auf. »Dienstag?«
»Es ist alles etwas kurzfristig und spontan, wie so oft in der Kunst. Wie gesagt, nutzen Sie das Wochenende und lassen Sie es sich durch den Kopf gehen.«
Ein Teil von mir wollte sofort zusagen und sie am liebsten umarmen, doch der andere fragte sich, wie ich diese Entscheidung so schnell treffen sollte. Denn auch wenn dieses Projekt eine riesengroße Chance war und ich von meinem herausragenden Talent in Sachen Zeitmanagement gesprochen hatte, hatte Olwinger recht. Dieses Projekt bedeutete vor allem eins: verdammt viel Arbeit.