Land der Schatten - Schicksalsrad - Ilona Andrews - E-Book
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Ilona Andrews

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Beschreibung

Die ehemalige Hochstaplerin Audrey Callahan hat ihrem kriminellen Dasein abgeschworen. Doch als ihr Bruder in Schwierigkeiten gerät, erklärt sie sich bereit, einen letzten Diebstahl zu begehen. Dabei begegnet ihr der mit allen Wassern gewaschene Kaldar, der ihr Herz schon bald höher schlagen lässt.

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ILONA ANDREWS

LAND DER SCHATTEN

SCHICKSALSRAD

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Ralf Schmitz

Für Anastasia und Helen

Prolog

Wenn sie Dominic Milano mit einem einzigen Wort hätte beschreiben müssen, hätte sie sich für »unerschütterlich« entschieden, dachte Audrey Callahan. Untersetzt, hart, beginnende Glatze – er sah aus, als hätte er gerade für die Hauptrolle des »bulldogengesichtigen älteren Privatdetektivs« vorgesprochen und die Rolle prompt ergattert. Er war der Inhaber von Milano Ermittlungen, und unter seiner Aufsicht schnurrte das Unternehmen wie ein Uhrwerk. Dominic ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Nie erhob er die Stimme. Nichts brachte ihn je aus dem Tritt. Vor seinem Umzug an die Nordwestküste des Pazifiks hatte er nach über tausend gelösten Mordfällen der Kriminalpolizei von Miami den Rücken gekehrt. Er hatte alles gesehen und alles gemacht, nichts konnte ihn mehr verblüffen.

Deshalb tat es ihr gut zu sehen, wie seine buschigen Augenbrauen langsam nach oben krochen.

Dominic hob das oberste Foto von dem Stapel auf seinem Schreibtisch. Auf dem Bild sah man Spenser »Spense« Bailey eine Straße entlanglaufen. Auf dem nächsten beugte sich Spense vornüber. Dann nahm er die klassische Pose des Werfers beim Baseball ein, das rechte Bein angezogen, weit zurückgelehnt, mit einem Tennisball in der Hand. Was schön und gut gewesen wäre, wenn Spense seinem Hausarzt zufolge nicht an einem Bandscheibenvorfall gelitten hätte. Er hatte ein Lager aufgefüllt, als ihm ein handgeführter Gabelstapler weggerutscht war; seit diesem Betriebsunfall litt er permanent unter schrecklichen Schmerzen. Manchmal sah man ihn auf einen Stock gestützt oder hinter einer Gehhilfe in der Nachbarschaft umherhinken. Er konnte nur mit fremder Hilfe in ein Auto steigen und nicht selbst fahren, weil die angegriffene Bandscheibe einen Nerv im rechten Bein abklemmte.

Dominic sah Audrey an. »Tolle Fotos. Wir sind dem Kerl seit Wochen auf den Fersen, nichts. Wie sind Sie da rangekommen?«

»Durch ein sehr kurzes Tennisröckchen. Er humpelt jeden Dienstag und Donnerstag auf dem Weg zur Krankengymnastik an einem Tennisplatz vorbei.« Mühe hatte es ihr nur gemacht, den Ball so zu treffen, dass er über den hohen Zaun sauste. Ein lautes Stöhnen, ein besonders schwungvoller Gang, und schon hatte sie ihn gehabt. »Sehen Sie sich den Rest an. Es kommt noch besser.«

Dominic blätterte den Stapel durch. Das nächste Foto zeigte Spense mit einem blöden Grinsen im Gesicht und zwei Tassen Kaffee, die er anmutig wie ein Rehbock zwischen den Tischen im Starbucks hindurchmanövrierte.

»Sie haben ihn zum Kaffee eingeladen?« Dominics Brauen krochen noch höher.

»Natürlich nicht. Er hat mich eingeladen. Als Zugabe gab’s Fruchtsalat.« Audrey grinste.

»Diese Arbeit macht Ihnen echt Spaß, wie?«, bemerkte Dominic nachdenklich.

Sie nickte. »Er ist ein Lügner und Betrüger, der seit Monaten auf Kosten seiner Firma krankfeiert.« Außerdem hält er sich für oberschlau. Er hatte sie praktisch angefleht, ihn auf Normalmaß zu stutzen, und sie besaß die richtige Gartenschere dafür. Schnipp-schnapp.

Dominic legte das Kaffee-Foto weg und hielt inne. »Ist das hier, wofür ich es halte?«

Das nächste Bild zeigte Spense, wie er einen Mann im Trainingsanzug von hinten gepackt hielt und ihn rücklings kopfüber auf eine Bodenmatte beförderte.

»Hier zeigt Spense mir einen Schulterüberwurf.« Audrey lächelte breit. »Anscheinend ist er Amateurringer. Zuerst geht er im ersten Stock zur Krankengymnastik, und sobald die vorbei ist, steigt er die Treppe rauf und trainiert.«

Dominic faltete seufzend die Hände.

Etwas stimmte nicht. Audrey lehnte sich zurück. »Sie wirken unzufrieden.«

Dominic verzog das Gesicht. »Ich schaue Sie an und bin irritiert. Die Besten in unserem Berufszweig sind eher unauffällig, sehen aus wie der Durchschnitt, man hat sie schnell wieder vergessen, sodass die Verdächtigen sie gar nicht erst beachten. Diese Leute haben Erfahrung mit Polizeiarbeit und waren wenigstens auf dem College. Sie dagegen sind zu hübsch, Ihre Haare sind zu rot, Ihre Augen zu groß, Sie lachen zu laut, und wenn man Ihren Zeugnissen Glauben schenkt, haben Sie gerade mal die Highschool hinter sich.«

In ihrem Kopf schrillten Alarmsirenen. Bevor Dominic sie einstellte, wollte er ihr Abgangszeugnis sehen, also hatte sie ihm sowohl ihr Diplom als auch das Zeugnis ihres letzten Jahres auf der Highschool vorgelegt. Aus irgendeinem Grund hatte er sich ihre Akte vorgenommen und sich deren Inhalt noch mal genauer angesehen. Ihr Führerschein war erste Sahne, weil echt. Ihre Geburtsurkunde und ihre Highschool-Unterlagen hätten einer flüchtigen Überprüfung standgehalten, aber wenn er tiefer bohrte, würde er mit einiger Sicherheit auf Öl stoßen. Und ihre Fingerabdrücke hätten ihn zu ihrem Vorstrafenregister in zwei Bundesstaaten geführt.

Audrey achtete darauf, dass ihr das Lächeln nicht aus dem Gesicht fiel. »Ich kann nichts für meine großen Augen.«

Dominic seufzte erneut. »Mein Angebot: Um Geld zu sparen, beschäftige ich Selbstständige. Meine Festangestellten haben Erfahrung und sind gut ausgebildet, was bedeutet, dass ich sie für ihre Zeit anständig entlohnen muss. Solange es nicht um einen Haufen Geld geht, kann ich es mir nicht leisten, sie monatelang auf einen allzu zähen Verdächtigen anzusetzen. Ich gebe ihnen pro Fall vier Wochen. Danach muss ich Fälle wie diesen an Selbstständige wie Sie outsourcen, weil ich die pro Auftrag bezahlen kann. Freiberufler brauchen im Schnitt ein paar Monate für einen Fall. Für die meisten ein willkommener Nebenverdienst.«

Was er ihr da erzählte, wusste sie längst. Also nickte sie nur.

»Sie arbeiten jetzt seit fünf Monaten frei für mich. Sie haben vierzehn Fälle gelöst. Alle zwei Wochen einen. Verdient haben sie zwanzigtausend.« Dominic fixierte sie, ohne zu zwinkern. »Ich kann’s mir nicht leisten, Sie weiter frei zu beschäftigen.«

Was? »Sie haben durch mich Geld verdient!«

Er hob eine Hand. »Sie sind zu teuer, Audrey. Unsere berufliche Verbindung hat nur Zukunft, wenn Sie Vollzeit für mich arbeiten.«

Sie blinzelte.

»Für den Anfang zahle ich Ihnen dreißigtausend im Jahr plus Sozialleistungen. Hier ist der Papierkram.« Dominic gab ihr einen braunen Umschlag. »Wenn Sie einschlagen, sehen wir uns am Montag.«

»Ich überleg’s mir.«

»Tun Sie das.«

Audrey schnappte sich ihre Akte. Ihr Gaunerinstinkt riet ihr, cool zu bleiben, andererseits würde sie so niemanden mehr bescheißen müssen. Jedenfalls niemanden, der sie anheuerte. »Danke. Vielen herzlichen Dank. Das ist echt der Hammer für mich.«

»Jeder hat ’ne Chance verdient, Audrey. Sie verdienen Ihre. Wir freuen uns drauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« Dominic streckte ihr über den Schreibtisch die Hand hin, sie schüttelte sie und verließ sein Büro.

Ein richtiger Job. Samt Sozialleistungen. Heilige Scheiße.

Sie nahm die Treppe, lief, um sich abzureagieren, die Stufen hinunter. Mit einem richtigen Job würde sie zu den Guten gehören. Wie geil war das denn?

Wenn ihre Eltern das erfuhren, würden sie glatt ausflippen.

Audrey verließ Olympia auf der Rough Ocean Road. Ihr blauer Honda brauste durch den grauen Nieselregen, der ohne Unterbrechung die Westside von Cascades wässerte. Eine dichte Wolkendecke hing am Himmel und verdüsterte den frühen Abend. Bäume flankierten die Straße: majestätische Douglastannen mit smaragdgrünen Nadeln, hohe, schlanke schwarze Pyramidenpappeln, die mit ihren langen Ästen den Regen auffingen, rote Erlen mit silbergrauer Borke, die in der Dämmerung beinahe leuchteten.

Anderthalb Meilen in Fahrtrichtung erwartete sie eine an die Hügel geschmiegte einsame Trabantenstadt identischer Häuser; bis dahin teilte sie sich die Straße mit niemandem. Nur mit den Bäumen.

Audrey sah auf die Uhr. Bis jetzt zweiunddreißig Minuten – die Zeit, die sie an einem Lebensmittelladen angehalten hatte, um Teriyaki Jerky für Ling zu besorgen, und die Zeit, die sie benötigt hatte, um verschiedene Apotheken anzusteuern, nicht mitgerechnet. Eine Arbeit würde eine Umstellung für sie bedeuten.

Sie arbeitete gerne für Milanos Privatdetektei. Sie liebte jede Minute, die langen, heimlichen Beschattungen im Auto genauso wie die Gelegenheit, Schwindler zu betrügen, die sich für gerissen hielten. Und keinen Schimmer hatten, was gerissen bedeutete.

Der Fairness halber musste sie einräumen, dass die allermeisten Schwindler nur betrogen, weil sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Sie hatten einen Arbeitsunfall und fanden Gefallen an ihrer Arbeitsunfähigkeit. Oder sie ließen sich auf ein Techtelmechtel ein und hatten zu viel Schiss oder waren schlicht zu arrogant, ihren Ehegatten davon zu erzählen. Sie hielten sich gar nicht mal für richtige Schwindler. Sie sahen nur Notlügen, den Weg des geringsten Widerstands. Die meisten betrogen wie Amateure. Während Audrey betrog, seit sie sprechen konnte. Ein ungleicher Kampf, aber das Wort »fair« hatte in der Welt der Schwindler keine Bedeutung.

Der Weg gabelte sich. Die Hauptstraße führte rechts weiter, den Hügel hinauf zur Trabantenstadt, während die Nebenstraße links unter ein dichtes Laubdach abzweigte. Audrey sah in den Rückspiegel. Das Asphaltband hinter ihr verlor sich in der Ferne. Die Küste lag vor ihr.

Sie bog geschmeidig ab und wappnete sich. Die Panik drehte ihr den Magen um, traf sie direkt ins Sonnengeflecht. Audrey schnappte nach Luft. Die Welt drehte sich um sie, und sie ließ einen Augenblick lang das Lenkrad los, um ihr Fahrzeug nicht von der Straße abzubringen. Dann kam der Schmerz, stechend, folterte jeden Millimeter ihrer Körperoberfläche mit rot glühenden Nadeln. Obwohl Audrey damit gerechnet hatte, erwischte er sie auf dem falschen Fuß. Ein Druck lastete auf ihr, dann, als wäre nichts gewesen, waren sämtliche Beschwerden verschwunden. Sie hatte die Grenze überschritten.

Von der Brust bis in die Fingerspitzen breitete sich wohlige Wärme in ihr aus. Sie lächelte und schnippte mit den Fingern. Prickelnd, warm, wirbelten leuchtend grüne Ranken um ihre Hand. Auch als Blitz bekannt. Sie ließ sie sterben und fuhr weiter.

Auf der Hauptstraße, in Olympia, im Staat Washington, gab es keine Magie mehr. Dennoch versuchten die Bewohner so zu tun als ob. Sie flirteten mit der Vorstellung von Parapsychologen und Zauberern, waren der Wahrheit aber nie über den Weg gelaufen. Die meisten würden die Nebenstraße, über die sie gekommen war, nicht mal wahrnehmen. Für sie existierte sie einfach nicht – in ihren Augen ging der Wald einfach weiter. Jedes Mal, wenn Audrey die Grenze zu ihrer Welt überquerte, wurde sie unter Schmerzen ihrer Zauberkraft beraubt. Deshalb nannten Menschen wie sie diesen Ort Broken – wenn man dort hinging, gab man einen Teil seiner selbst auf und kam sich danach unvollständig vor. Wie die uhrwerklose Hülle einer Uhr.

In der Ferne, hinter Bergen und Meilen unwegsamen Geländes, wartete eine weitere Welt, ein Spiegel des Broken, voller Magie, aber mit sehr wenig Technik. Na ja, ganz stimmte das nicht, dachte Audrey. Es gab jede Menge komplizierter Technik im Weird, allerdings hatte sie sich in eine andere Richtung entwickelt. Das meiste funktionierte nur mithilfe von Magie. Im Weird bestimmten Zauberkraft und die Farbe des Blitzes über den Lebensweg. Je hellere Blitze man werfen konnte, desto besser stand man da. Wenn man weiße Blitze hinbekam, kam man sogar mit Blaublütigen, den adligen Familien des Weird, in Berührung.

Genau wie das Broken war das Weird ein Ort, in dem Recht und Gesetz herrschten. Deshalb lebte Audrey lieber hier, im Niemandsland zwischen den beiden Dimensionen. Die Einheimischen nannten ihre Zwischenwelt Edge und hatten recht damit. Sie lag am Rand beider Welten, ein Land ohne Staaten und Polizei, in dem Ausgestoßene wie sie strandeten. Das Edge, das die Dimensionen miteinander verknüpfte wie ein geheimer Grenzübergang, nahm jeden auf. Schwindler, Diebe, hirnrissige Separatisten, dünkelhafte Familienclans, alle waren willkommen, alle waren bettelarm und alle blieben unter sich. Die Bewohner gewährten kein Pardon und erwarteten von niemandem Mitleid.

Die Straße wich einem Feldweg. Auch die Bäume waren anders. Uralte Fichten spreizten dicke Äste aus gewaltigen kannelierten Stämmen, von den Zweigen hingen lange smaragdgrüne, verfilzte Moosbärte. Schlanker, hoher Schierling ragte himmelhoch, die Wurzeln staken in Farnpolstern. In den schmalen Lücken zwischen den Stämmen hing blauer Dunst und barg fremdartige, Beute jagende Wesen mit glühenden Augen.

Als Audrey vorbeifuhr, spürten die leuchtend gelben Schlüsselblumen des Edge die Vibrationen des Wagens, öffneten sich und entließen Wolken leuchtend blasser Pollen. Bei Tag blieben die Blumen geschlossen und harmlos. Nachts war das anders; wenn man ein paar dieser Wolken ins Gesicht bekam, vergaß man ziemlich schnell, wo man war und warum. Erst vor wenigen Wochen hatte sich Rook, einer der hiesigen Edger-Idioten, einen angetrunken und war neben einem Beet Blumen eingeschlafen. Zwei Tage später hatte man ihn gefunden, splitternackt an einen Baumstumpf gelehnt und von Ameisen bedeckt. In einem alten, von Magie genährten Wald, der, ob fröhlich oder nicht, keine Narren duldete.

Audrey lenkte den Honda über den schmalen Fahrweg, zwang den Wagen immer weiter den Berg hinauf. Vor ihr versperrte dräuend ein Schatten den Weg. Sie schaltete die Scheinwerfer ein. Eine alte Kiefer war umgestürzt. Nun würde sie wohl zu Gnoms Haus laufen müssen. Der Regenguss hatte den Weg in Matsch verwandelt. Sie trug brandneue Schuhe. Was soll’s? Schuhe konnte man putzen.

Audrey parkte, zog, so fest es ging, die Handbremse an, griff nach den Plastiktüten auf dem Beifahrersitz und stieg aus. Unter ihren Schuhsohlen quatschte Schlamm. Sie kletterte über den Baumstamm und trottete über den schmalen Weg bis zum Berggipfel hinauf. Als sie die Lichtung erreichte, begann es zu dunkeln. Gnoms Haus, ein großes, zweistöckiges Gewirr unübersichtlicher, in verrückten Winkeln angeordneter Zimmer, verschwand schon beinahe in der Dämmerung.

»Gnom!«

Keine Antwort.

»Gnooom!«

Nichts.

Er war im Haus. Er musste dort sein – sein alter, ramponierter Chevy stand auf der linken Seite des Hauses, und Gnom verließ den Berggipfel nur selten. Audrey ging zur Tür und drehte den Türknauf. Abgeschlossen. Sie legte die Hand aufs Schloss und drückte. Die Magie glitt in durchsichtigen, ineinander verschlungenen grünen Ranken aus ihren Fingern ins Schlüsselloch. Der alte zänkische Schwachkopf würde sie dafür wahrscheinlich umbringen. Das Schloss gab nach. Eher aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit öffnete Audrey die Tür so behutsam, dass sie nicht knarrte.

Blitze schleudern war der reinste Ausdruck von Magie. Die meisten, die als Magier geboren waren, hatten ein paar weitere Asse im Ärmel. Einige im Edge wirkten Flüche, andere sagten die Zukunft voraus. Sie öffnete Türen.

Audrey ging durch den schmalen Flur in das Wohnzimmer, wo hohe, mit Gnoms Schnickschnack und Handelsware vollgestellte Regale den Raum teilten. In seiner Eigenschaft als Hehler unterhielt er ein Sortiment, vor dem Costco vor Neid erblasst wäre. Außerdem fungierte er im Notfall als Gemischtwarenladen. Edger, die ein Deo oder Seife brauchten und keine Lust hatten, dafür den weiten Weg über die Grenze zurückzulegen, kamen zu Gnom’s. Und zahlten am Ende zehn Dollar für eine Tube Zahnpasta.

Aus den Eingeweiden des Hauses ließ sich schleimiger, rasselnder Husten vernehmen. Wie ein Schatten schlüpfte Audrey zwischen den Regalen hindurch und stand schließlich auf der Freifläche im Zentrum des Raums. Gnom, ein Bär von einem Mann, saß zusammengesunken in seinem ausgebesserten Polstersessel. Auf einem Schreibtisch vor ihm lag aufgeschlagen ein Buch, am Sessel lehnte eine Schrotflinte. Mit roter Haut, verfilzten Haaren und fiebrigen Augen saß er in eine Wolldecke gehüllt. Er sah furchtbar aus.

»Da sind Sie ja.«

Er starrte sie aus tränenden, blutunterlaufenen Augen an. »Was zum Teufel wollen –« Ein erneuter Hustenanfall schüttelte seine Riesengestalt.

»Das hört sich beschissen an.«

»Was wollen Sie …« Gnom nieste.

»Ich habe Ihnen was mitgebracht«. Sie nahm ein Medikament, das die Atemwege abschwellen ließ, aus ihrer Tasche und legte die Packung auf den Tisch. »Sehen Sie, ich habe auch Hühnersuppe in Dosen, Theraflu, Hustentropfen. Und hier haben wir eine Packung feuchter Papiertaschentücher, damit sie sich nicht die Haut von ihrem Riesenzinken scheuern.«

Stumm glotzte er sie an. Was für ein Anblick. Wenn sie eine Kamera gehabt hätte, hätte sie den Moment im Bild festgehalten.

»Und das hier, das ist vom Feinsten.« Sie klopfte auf den Plastikbehälter Magic Vaporizer. Ein altmodischer Zerstäuber. »Ich musste mir die Hacken danach ablaufen – das Zeug wird heute nicht mehr so viel hergestellt, deshalb konnte ich nur ein Generikum bekommen. Sehen Sie, Sie kochen Wasser, geben diese Tropfen rein und inhalieren – so wird Ihre Nase frei bis obenhin. Ich mach’s Ihnen erst mal vor, danach können Sie mich ruhig anschreien.«

Fünf Minuten später gab sie ihm den dampfenden Zerstäuber und ließ ihn einatmen. Eins, zwei, drei …

Gnom nahm den ersten tiefen Atemzug. »Großer Gott!«

»Sag ich doch.« Audrey stellte eine Schüssel heißer Hühnersuppe auf seinen Schreibtisch. »Wirkt Wunder.«

»Woher wussten Sie, dass ich krank bin?«

»Patricia kam gestern den Berg runter, wir sind uns auf der Hauptstraße begegnet. Sie hat erzählt, Sie seien erkältet, und beiläufig erwähnt, dass Sie ihr für die Laternen zwanzig Schleifen zu wenig abgeknöpft hätten.«

»Was?«

Audrey lächelte. »Da wusste ich, dass es Ihnen dreckig geht. Außerdem hatte ich es satt, Sie die ganze Nacht röcheln und husten zu hören. Man vermutet das nämlich den ganzen Berg runter, wissen Sie, und Ling konnte wegen Ihnen nicht schlafen.«

»Man hört mich garantiert nicht bis ganz runter.«

»Das meinen Sie. Nehmen Sie vor dem Zubettgehen dieses Generikum und das Theraflu. Beides wird Sie umhauen. Die roten Pillen schlucken Sie am Tag.«

Gnom sah sie misstrauisch an. »Und wie viel soll mich das ganze Zeug kosten?«

»Machen Sie sich deshalb keinen Kopf.«

Gnom zuckte mit den mächtigen Schultern und schob sich einen Löffel Suppe in den Mund. »Das heißt aber nicht, dass Sie Rabatt kriegen.«

Audrey seufzte theatralisch. »Oh, fein, in dem Fall muss ich Ihnen wohl sexuell zu Willen sein.«

Gnom verschluckte sich an seiner Suppe. »Ich könnte Ihr Großvater sein.«

Audrey zwinkerte ihm zu, während sie ihre leeren Tüten einsammelte. »Sind Sie aber nicht.«

»Raus hier. Sie haben ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Okay, okay, bin ja schon weg.« Es machte ihr Spaß, ihn aufzuziehen. Außerdem war sie prächtig gelaunt.

»Was ist überhaupt los mit Ihnen?«, fragte er. »Warum grinsen Sie so?«

»Ich habe einen Job. Mit Sozialleistungen.«

»Sauber?«

»Ja.«

»Glückwunsch«, sagte Gnom. »Und jetzt ab dafür. Ich kann Ihr Gesicht nicht mehr sehen.«

»Bis dann.«

Sie verließ das Haus und watete durch den Schlamm zu ihrem Wagen hinunter. Gnom war ein alter Brummbär, aber auf seine Weise ganz nett. Außerdem war er im Umkreis von zwei Meilen ihr einziger Nachbar. Niemand weit und breit, der einem geholfen hätte. Also kümmerte man sich entweder umeinander oder biss sich irgendwie alleine durch.

Den Honda im Dunkeln den Berg hinunterzusteuern erwies sich als unvermutet heikel. Schließlich dirigierte sie das Fahrzeug zu der Abzweigung, die zu ihr nach Hause führte. Der Honda rumpelte schlingernd und schaukelnd über die bucklig unter dem Fahrweg wachsenden dicken Wurzeln und sprang endlich auf die Lichtung. Rechts fiel das Gelände steil ab. Links stand im Schatten einer betagten Fichte gedrungen und blass ein Haus. Ein einfacher Bau – auf robusten Steinsäulen, die wie Käfigstangen die Holzwände einschlossen, ruhte ein mächtiges steinernes Dach. In jede der 90 Zentimeter breiten Pfeiler waren Drachen und Menschen im Schlachtgetümmel gehauen. Ein breites Basrelief, das eine Frau in einem von schlangenköpfigen Vögeln gezogenen Streitwagen zeigte, verzierte das Dach. Wie eine himmlische Herrscherin blickte die Frau auf das Kampfgeschehen hinab.

Niemand wusste, wer die Ruinen erbaut hatte und warum. Dieser Teil des Edge war damit gesprenkelt, ein Turm hier, ein Tempel dort, ausgehöhlt von der Zeit und den Elementen und von Moos überwuchert. Doch die armen, sparsamen Edger ließen nichts verkommen. Sie füllten die Steingerüste mit Holzwänden, bauten Wasser- und Stromleitungen, die sie illegal aus der nächsten Stadt speisten oder mit Generatoren betrieben, und machten es sich gemütlich. Sollte irgendein archaischer Gott deshalb beleidigt sein, konnten sie immer noch sehen, was sich da machen ließ.

Audrey parkte den Wagen unter einem uralten, vernarbten Ahornbaum und schaltete den Motor aus. Zu Hause ist es immer am schönsten!

Ein graues Pelzknäuel ließ sich aus dem Ahorn fallen und landete auf ihrer Motorhaube.

Audrey zuckte auf ihrem Sitz zusammen. Jesus.

Der Waschbär hüpfte wütend schnatternd auf der Motorhaube auf und ab, seine hellen Augen leuchteten orange wie zwei blutige Monde.

Ling die Gnadenlose! »Runter von meinem Auto, aber dalli!«

Der Waschbär drehte sich mit gesträubtem grauen Fell im Kreis, legte die Pfoten auf die Windschutzscheibe und versuchte ins Glas zu beißen.

»Was hast du denn?« Audrey stieß die Wagentür auf.

Ling kletterte hinunter und sprang ihr fauchend und sich windend auf den Schoß. Audrey sah auf. Die Küchenvorhänge klafften ein Stückchen auseinander. Durch die Lücke fiel ein haarfeiner hellgelber Lichtstrahl.

Jemand war im Haus.

Audrey glitt vom Fahrersitz, setzte Ling behutsam auf die Erde, ging um den Wagen herum und öffnete die Heckklappe. Dahinter lag eine gelbbraune Abdeckplane. Sie zerrte sie beiseite und brachte eine Excalibur-Armbrust zum Vorschein. Das Ding hatte sie neunhundert hart erarbeitete Dollar gekostet und war jeden Penny davon wert. Audrey spannte die Armbrust und trottete lautlos und rasch zum Haus. Ein paar Sekunden später drückte sie sich neben der Haustür gegen die Wand. Sie drehte den Knauf. Verschlossen.

Wer bricht in ein Haus ein und macht die Tür hinter sich zu?

Sie löste sich von der Wand und lief auf Zehenspitzen schnell ums Haus. Auf der Rückseite schlüpfte sie zwischen das Steingerüst und die Holzwand und tastete nach dem verborgenen Riegel. Er gab unter dem Druck ihrer Finger nach. Behutsam öffnete sie die Geheimtür, stieg in den begehbaren Kleiderschrank und betrat schließlich ihr Schlafzimmer. Das Haus hatte nur drei Räume: ein langes, rechteckiges Schlafzimmer, ein ebenso langes Badezimmer und einen großen, offenen Raum, der größtenteils als Wohnzimmer und – da Herd, Kühlschrank und Arbeitsplatte die Nordwand einnahmen – auch als Küche diente.

Audrey spähte durch die Tür. Am Küchenherd stand ein Mann älteren Semesters mit lockigem, rotbraunem Haar, kehrte ihr den leicht gekrümmten Rücken zu und rührte in einer Glasschüssel Teig.

Diese Haltung würde sie überall erkennen.

Audrey hob die Armbrust und betrat das Wohnzimmer.

Der Mann griff nach einer Tüte Mehl auf der Arbeitsplatte. Audrey drückte ab. Die Sehne surrte, der Bolzen schlug Millimeter neben den Fingern des Mannes in die Mehltüte ein.

Die Gestalt drehte sich mit blitzenden blauen Augen zu ihr um und grinste. Sie kannte dieses Gaunergrinsen.

»Tag, Kleines.«

Audrey richtete die Armbrust auf den Boden. »Tag, Dad.«

»Guter Schuss.« Seamus Callahan beugte sich vor und betrachtete den aus der Mehltüte ragenden Bolzen. »Würde sagen, du hast sie erledigt. Mitten ins Schwarze.«

Audrey stellte die Armbrust ab und verschränkte die Arme. In ihrem Innern schrie eine leise, verdrießliche Stimme Raus hier, raus hier, raus hier … Er war in ihrem Haus, und sie musste die Finger fest um ihre Arme schließen, um ihn nicht gewaltsam vor die Tür zu setzen.

Doch sie war seine Tochter, und dreiundzwanzig Jahre als Schwindlerin gaben ihr eine ruhige, gelassene Stimme. »Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe so meine Methoden.« Seamus machte die Tüte auf und schüttete etwas Mehl in den Teig. »Ich backe meine patentierten Silberdollarpfannkuchen. Daran kannst du dich doch bestimmt noch erinnern, oder?«

»Klar, erinnere ich mich, Dad.« Er stand in ihrer Küche, fasste ihre Sachen an. Gleich nach seinem Abgang war eine Grundreinigung fällig.

Ling huschte zur Hintertür rein, wuselte um ihre Füße und zeigte Seamus die Zähne.

»Dein kleines Biest kann mich nicht besonders gut leiden«, meinte er, während er den Teig in eine zischende Pfanne gab.

»Sie hat gute Instinkte.«

Seamus sah zu ihr auf. Seine Augen wirkten unter den buschigen roten Brauen wie Flachsblüten. »Das ist nicht nötig.«

Scheiß drauf. »Was willst du?«

Seamus breitete die Arme aus, in der Rechten hielt er einen Pfannkuchenwender. »Meine Tochter verschwindet vier Jahre lang von der Bildfläche, sagt mir nicht, wo sie hinwill, ruft mich nicht an, schreibt mir nicht. Habe ich da etwa kein Recht, mir Sorgen zu machen? Du hast uns nur einen Zettel hingelegt.«

Ja, sicher. »Da stand drauf: Sucht nicht nach mir. Hätte euch zu denken geben sollen.«

»Deine Mom vergeht vor Kummer, Kleines. Wir machen uns solche Sorgen.«

Raus hier, raus hier, raus hier. »Was willst du?«

Seamus seufzte. »Können wir nicht wie eine normale Familie miteinander essen?«

»Was willst du, Dad?«

»Ich habe einen Job in Westägypten.«

Im Weird. Die Welten des Weird und des Broken waren geografisch ähnlich sortiert, historisch hatten sie jedoch ganz andere Wege eingeschlagen. In der Welt ohne Magie war die riesige, aus dem Südosten des Kontinents herausragende Halbinsel als Florida bekannt; im Weird hieß sie Westägypten – der Alligator, der die Kobra und den Falken der dreifachen ägyptischen Krone ergänzte.

»Dauert nicht mal ’ne Woche. Bei guter, solider Bezahlung.«

»Kein Interesse.«

Er seufzte wieder. »Ich wollte das eigentlich nicht erwähnen. Es geht um deinen Bruder.«

Natürlich. Wie könnte es jemals um jemand anderen gehen?

Seamus beugte sich vor. »Es gibt da eine Einrichtung in Kalifornien …«

Sie hob die Hände. »Ich will das nicht hören.«

»Es ist schön da. Wie Ferien.« Er griff in seine Jacke. »Sieh dir die Bilder an. Die Ärzte sind alle erste Sahne. Wir müssen nur noch dieses eine Ding drehen, dann können wir ihn da einliefern lassen. Ich würd’s ja selbst machen, aber man braucht drei Leute dafür.«

»Nein.«

Seamus stellte den Herd ab und schob die Pfanne auf den kalten Brenner. »Er ist dein Bruder. Er liebt dich, Audrey. Wir haben dich seit drei Jahren um nichts gebeten.«

»Er ist süchtig, Dad. Süchtig. Wie oft hat er jetzt schon einen Entzug gemacht? Achtzehn Mal, als ich weg bin. Wie viele sind’s jetzt?«

»Audrey …«

Zu spät. Wenn sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht wieder aufhören. »Es gab Therapien, es gab Maßnahmen, es gab Ärzte, Betreuer und Entzugskliniken – nichts davon hat das Geringste gebracht. Und weißt du, wieso? Weil Alex gerne süchtig ist. Er will gar nicht, dass es ihm besser geht. Er ist ein dreckiger, heruntergekommener Junkie. Und du machst es ihm jedes Mal leichter.«

»Audrey!«

»Wie hieß noch die Lebensregel, die du mir beigebracht hast, Dad? An die wir uns unter allen Umständen halten sollten? Man bestiehlt nicht die eigene Familie. Alex hat Moms Ehering gestohlen und versetzt. Er hat dich ebenso bestohlen wie mich, und er hat mir meine Kindheit versaut. Alles landete ohne Umwege in seiner Nase oder seinem Mund. Der Mann hat noch keine Droge verschmäht.

Er will nicht, dass es ihm besser geht. Wozu auch? Mommy und Daddy stehen immer parat, um neue Pillen für ihn zu besorgen und ihn von der Straße aufzusammeln. Er kriegt seine Rauschmittel und sämtliche Aufmerksamkeit obendrein. Scheiße, warum sollte er da aufhören?«

»Er ist mein Kind«, sagte Seamus.

»Und was bin ich, Dad? Gehackte Leber?«

»Sieh dich um!« Seamus hob die Arme. »Sieh doch, sieh hin … du hast ein schönes Haus, dein Kühlschrank ist voll. Du brauchst keine Hilfe.«

Sie starrte ihn an.

»Alex ist krank. Es ist eine Krankheit. Er kann sich nicht selbst helfen.«

»Bockmist! Er will sich nicht selbst helfen.«

»Er wird sterben.«

»Schön.«

Seamus schlug auf die Arbeitsplatte. »Das nimmst du zurück, Audrey.«

Sie holte tief Luft. »Nein.«

»Gut.« Er lehnte sich zurück. »Gut. Lebe du glücklich in deinem schönen Haus. Kuschle mit deinem Schoßtier. Kauf dir schöne Sachen. Mach das alles, während dein Bruder draufgeht.«

Sie lachte. »Schuldgefühle, Dad? Warte, ich erzähl dir was über Schuldgefühle.«

Sie stapfte zu einem Bücherregal, zog ein Fotoalbum heraus und knallte es aufgeschlagen vor ihm auf die Arbeitsplatte. Auf dem Bild blickte ihr aus einem entstellten Gesicht ihr sechzehn Jahre altes Selbst entgegen. Ihr linkes Auge zu einem dicken schwarzen Klumpen angeschwollen, geronnenes Blut aus einem halben Dutzend Wunden besudelte ihre Wangen. Ihre Nase ein unförmiger Knubbel. »Was siehst du? Erinnerst du dich daran?«

Seamus verzog das Gesicht.

»Was, dazu fällt dir nichts ein? Ich helfe dir auf die Sprünge. Das war, nachdem mein lieber Bruder mich für ein bisschen Methadon an seinen Dealer verschachert hatte. Ich musste ihm mein ganzes Geld und Großmutters Goldkette geben, außerdem musste ich in die Drogenküche eines rivalisierenden Dealers einbrechen und sein Lager ausräumen, sonst hätte der Kerl mich vergewaltigt. Ich musste in das Quartier einer Gang einbrechen, Dad. Wenn ich erwischt worden wäre, hätten die mich, ohne mit der Wimper zu zucken, kaltgemacht – wenn ich Glück gehabt hätte. Und Cory, der Dealer? Der hat mich anschließend als Boxsack benutzt. Er hat mich umgehauen und mir ins Gesicht und in den Bauch getreten, bis er nicht mehr konnte. Ich musste ihn anflehen – anflehen –, mich gehen zu lassen. Schau dir mein Gesicht an. Das war zwei Tage vor meinem siebzehnten Geburtstag. Und was hast du gemacht, Dad?«

Sie ließ ihn schwitzen. Seamus sah aus dem Fenster.

»Nichts hast du getan. Weil ich nämlich nicht zähle.«

»Sag das nicht, Audrey. Natürlich zählst du. Und ich habe deshalb mit Alex geredet.«

Sie lächelte bitter. »Ja, das habe ich gehört. Du hast ihm gesagt, dass die ganze Familie darunter leiden würde, wenn mir etwas passiert, weil dann keiner mehr da wäre, der gut stehlen kann.«

»Ich habe so mit ihm gesprochen, wie er’s versteht. Keine Drogen mehr, wenn dir was passiert.«

»Weil ihn sonst nichts interessiert.« Audrey seufzte. »Ich bin vor vier Jahren weg. Ohne meine Spuren zu verwischen – ich bin einfach quer durch den ganzen Kontinent auf die andere Seite gerannt. Wenn möglich wäre ich sogar bis zum Mond gelaufen, aber auch dann hätte ich eine eindeutige Spur für dich hinterlassen, weil ich immer gehofft habe, dass meine Eltern eines Tages aufwachen und bemerken würden, dass sie eine Tochter haben. Du hast so lange gebraucht, mich zu finden, weil du erst zu suchen angefangen hast, als du mich brauchtest. Ich habe jahrelang als Diebin und Betrügerin gelebt, damit du Alex in einen Entzug nach dem anderen stecken konntest. Ich bin fertig mit dir. Komm nicht wieder her. Bitte mich um keinen weiteren Gefallen mehr. Es ist vorbei.«

»Das ist das letzte Mal«, sagte er leise. »Wenn du es nicht für mich machst, dann für deine Mutter. Du weißt, wenn Alex draufgeht, wird sie das umbringen. Ich schwöre, das ist das allerletzte Mal. Ich wäre nicht hier, wenn ich eine andere Wahl hätte, Audrey. Schau dir wenigstens die Bilder an.« Über den Tisch schob er ihr ein paar Fotografien hin.

Sie warf einen Blick darauf. Die ersten beiden Aufnahmen zeigten eine Art Ferienort. Auf der dritten erhob sich eine weiße Pyramide, ihre goldene Spitze schimmerte in der Sonne. Davor stand ein aus glänzend poliertem rötlichem Stein geschlagener stilisierter Bulle. »Die Pyramide von Ptah? Hast du den Verstand verloren? Du willst mich ins Weird schicken, damit ich etwas aus einer Pyramide stehle?«

»Nichts ist unmöglich.«

»Menschen, die die Pyramiden von Westägypten plündern, sterben, Dad.«

»Audrey, mach mich nicht zum Bittsteller. Willst du mich in die Knie zwingen? Gut, kein Problem.«

Er würde sie nicht in Frieden lassen. Wenn sie den Auftrag annahm, würde er in sechs Monaten wieder aufkreuzen und behaupten, das sei definitiv »das allerletzte Mal«. Sie musste einen Weg finden, das Ganze jetzt zu beenden, und zwar so, dass er nie wieder zu ihr kam.

Audrey beugte sich vor. »Ich mache dir einen Vorschlag: Ich übernehme den Auftrag für dich, aber danach sind wir geschiedene Leute. Du hast dann keine Tochter mehr und ich keinen Vater und keine Mutter. Wenn du trotzdem noch mal meinen Grund und Boden betrittst, knall ich dich ab. Das meine ich todernst, Dad. Ich nagle dich mit einem Bolzen fest. Oder du gehst jetzt, und ich bleibe deine Tochter. Du hast die Wahl. Er oder ich.«

Seamus betrachtete das Bild ihres lädierten Gesichts im Fotoalbum.

Sie wartete. Tief in ihrem Inneren hörte ein kleines Mädchen aufmerksam zu und hoffte auf die Antwort, von deren Ausbleiben die Erwachsene in ihr überzeugt war.

»Wir treffen uns morgen um sieben am Ende der Straße«, sagte er und ging zur Tür hinaus.

Die Enttäuschung erfasste sie so machtvoll, dass es wehtat. Ein paar kurze, schmerzerfüllte Atemzüge lang stand sie nur da, dann griff sie nach der Pfanne und packte sie. Dann stürzte sie aus der Hintertür und warf sie samt des verbrannten Pfannkuchens den Abhang hinunter.

1

Kaldar Mar trat zurück und unterzog die riesige dreidimensionale Karte des Westkontinents einer kritischen Prüfung. Die Karte, ein mit Juwelen besetztes, aus Magie und Halbedelsteinen gewirktes Meisterwerk, war an der Wand des privaten Konferenzraums ausgebreitet. Wälder aus Malachit und Jade gingen in Ebenen aus Aventurin und Peridot über. Aus den Ebenen wuchsen Berge aus braunem Opal mit Kämmen aus verbundenen Achaten und Tigerauge, gekrönt von Schneegipfeln aus Mondstein und Jaspis.

Schön, komplette Geldverschwendung, aber schön. Wenn man das Ding irgendwie stehlen könnte … würde man für den Transport einen Handwagen und Werkzeug benötigen, um es zu zerlegen. Hm, ein Schalldämpfer würde ebenfalls Wunder wirken, aber da sie sich hier im Weird befanden, würde er ziemlich sicher jemanden auftreiben, der ihm für ein entsprechendes Entgelt eine schallschluckende Sigile herstellte. Man klaut die Uniform eines Hausmeisters, geht rein, zerschneidet die Karte, wickelt die Einzelteile in eine Plane, packt alles auf den Handwagen und schiebt die ganze Chose mit mürrischem Gesicht zur Vordertür hinaus. Mit einem guten Schneidwerkzeug dauert das Ganze weniger als zwanzig Minuten. Die Karte würde die gesamte Familie Mar ein Jahr oder länger ernähren.

Beziehungsweise was von ihr noch übrig war.

Kaldar projizierte aus dem Gedächtnis das vertraute Staatenmuster auf die Karte, ohne dabei die Grenzen der Nationen des Weird zu berücksichtigen. Adrianglia nahm als langes, vertikales Band einen Großteil der Ostküste ein. Im Broken hätte das Land das meiste von New York und des südlichen Quebec bis Georgia und einen kleinen Abschnitt von Alabama beansprucht. Westägypten darunter nahm Florida und einen Teil von Kuba ein. Links von Adrianglia breitete sich das riesige Herzogtum Louisiana aus, umfasste im Süden das komplette Louisiana und einen Teil von Alabama, verschlang weiter oben ganz Mississippi und Texarcana und endete erst an den Ufern der Großen Seen. Dahinter rangen kleinere Nationen miteinander: die Republik Texas, die Nördlichen Breiten, die Demokratie Kalifornien …

Kaldar war an den Rändern dieser Welt aufgewachsen, im Edge, einem schmalen Streifen Land zwischen der komplexen Magie des Weird und der technologischen Überlegenheit des Broken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er im Moor zugebracht, einem riesigen Sumpfgebiet, das durch unpassierbares Gelände vom Rest des Edge abgeschnitten war. Das Herzogtum Louisiana ließ seine Verbannten dort versauern und brachte sie um, wenn sie ins Weird zurückzukehren versuchten. Er hatte daher nur durch das Broken entkommen können. Nun reiste er hin und her, schmuggelte, log, betrog, machte so viel Geld, wie es einem Menschen möglich war, und lieferte es bei seiner Familie ab.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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