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Charlotte de Ney ist eine Heilerin, die schon viel Leid erfahren musste. Als der Schwertkämpfer Richard Mar verletzt zu ihr gebracht wird, wird ihr Leben erneut auf den Kopf gestellt. Richard will einem gefährlichen Menschenhändlerring das Handwerk legen, und Charlotte erklärt sich bereit, ihm zu helfen.
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Seitenzahl: 621
ILONA ANDREWS
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Ralf Schmitz
Die adelige Charlotte de Ney ist eine der angesehensten Heilerinnen in Adrianglia. Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten sind hoch geschätzt, und sie gehört zur Elite des Landes. Doch trotz ihrer Gabe musste Charlotte in ihrem Leben viel Leid erfahren. Sie kann keine Kinder bekommen, und als ihr Mann sie deshalb demütigt und verlässt, flieht die junge Frau ins Edge. Dort, im Grenzland zwischen der Welt der Magie und der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, will Charlotte ihren Adelstitel ablegen und noch einmal ganz von vorne anfangen. Doch gerade als sie glaubt, dass die eigenbrötlerischen Edger sie endlich als eine der Ihren akzeptiert haben, gerät Charlottes Welt erneut ins Wanken. Der Schwertkämpfer Richard Mar wird schwer verwundet zu ihr gebracht, und es gelingt ihr nur mit größter magischer Anstrengung, ihn zu heilen. Richard befindet sich auf einer tödlichen Mission: Er will einem Menschenhändlerring das Handwerk legen, der ihm und seiner Familie in der Vergangenheit grauenvolles Leid zugefügt hat. Obwohl sie ihn nicht kennt, fühlt Charlotte sich dem mutigen Fremden augenblicklich verbunden. Und auch wenn sie ahnt, dass sie dafür mehr aufs Spiel setzt, als sie bereit ist zu opfern, beschließt sie, ihm zu helfen …
Für unsere treuen Leser
Prolog
»Mylady?«
Charlotte hob den Blick von ihrer Teetasse und sah Laisa an. Das Mädchen trug einen Umschlag aus dickem, festem Papier.
»Das ist für Sie gekommen.«
Als hätte sie etwas Lebendiges durchbohrt, fuhr Charlotte ein plötzlicher Schmerz in die Brust. Sie fror, und ihr wurde schummerig. Das konnte nichts Gutes bedeuten, sonst hätte sich die Wahrsagerin bei ihr gemeldet. Sie hatte das Gefühl, ihr blondes Haar zwischen ihren Fingern drehen und zwirbeln zu müssen. Was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.
»Danke«, zwang sie sich zu sagen.
Die Dienstmagd wartete, Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Kann ich Ihnen etwas bringen, Mylady?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
Laisa sah sie lange forschend an, ging dann widerstrebend über den Balkon zur Tür und ins Haus.
Der Umschlag lag vor Charlotte. Sie überwand sich, die Teetasse an die Lippen zu führen. Der Tassenrand bebte. Ihre Finger zitterten.
Sie konzentrierte sich auf die Tasse, besann sich auf die lange Jahre eingeübte Selbstbeherrschung. Ruhe und Sammlung lautete das Mantra der Heilerin. Eine gute Heilerin ist weder hart- noch weichherzig, flüsterte ihr die Erinnerung ein. Sie lässt sich weder von Leidenschaft noch von Verzagtheit überwältigen, und niemals gestattet sie ihren Gefühlen, ihre Gabe zu verdunkeln.
Sie lebte seit zwanzig Jahren nach dieser Überzeugung. Und sie hatte sie niemals im Stich gelassen.
Vor allem Ruhe.
Ruhe.
Charlotte holte tief Luft und zählte jedes Heben und Senken ihrer Brust. Eins, zwei, drei, vier … zehn. Die Tasse lag nun ruhig in ihrer Hand. Charlotte trank daraus, setzte sie ab und riss den Umschlag auf. In den Fingerspitzen spürte sie kein Gefühl mehr. Oben auf dem Papier prangte das Siegel der Medizinischen Akademie von Adrianglia. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …
Charlotte zwang sich, jedes einzelne Wort zu lesen, dann blickte sie über das weiße steinerne Balkongeländer in den Garten. Dort unten führte ein sandfarbener gepflasterter Weg zu den Bäumen weiter hinten. Der Weg war auf beiden Seiten von kurzem, silbrigem Gras gesäumt, an das sich niedrige smaragdgrüne Hecken anschlossen, hinter denen Blumen blühten: Rosen in einem Dutzend Schattierungen, mit perfekten schweren Blüten; Stauden mit Bündeln sternförmiger roter, pinkfarbener und weißer Blumen; gelber Rittersporn, dessen zarte Röschen wie winzige Glocken geformt waren …
Sie würde nicht blühen. Sie würde keine Frucht tragen.
Ihr war die letzte Tür vor der Nase zugefallen. Charlotte schlang ihre Arme um den Leib. Sie war unfruchtbar.
Das Wort lag auf ihr wie ein erdrückendes Gewicht. Sie würde niemals Leben in sich heranwachsen fühlen. Sie würde ihre Gabe niemals weitergeben oder den Widerschein ihrer eigenen Züge im Gesicht eines Babys erkennen. Die Behandlungen und die Magie der besten Heilerinnen von Adrianglia hatten nichts gebracht. Die Ironie lag so deutlich auf der Hand, dass sie lachen musste – es klang bitter, spröde.
Im Land Adrianglia kam es auf zwei Dinge an: auf den Namen, den man trug, und die Magie, über die man verfügte. Ihre Familie war weder alt noch wohlhabend, sie hatte einen Allerweltsnamen, aber ihre Magie stand außer Frage. Bereits mit vier hatte sie ein verletztes Kätzchen geheilt, worauf ihr Leben abrupt eine neue Richtung eingeschlagen hatte.
Medizinische Begabungen waren selten und wurden vom Reich hoch geschätzt, so selten, dass Adrianglia an sie herangetreten war, als das Mädchen das Alter von sieben erreicht hatte. Ihre Eltern erklärten ihr das weitere Geschehen: Charlotte würde sie verlassen und am Garner College of Medical Arts studieren. Adrianglia gab ihr ein Dach über dem Kopf, unterrichtete sie und förderte ihre Magie, wofür Charlotte dem Reich nach der Beendigung ihrer Ausbildung zehn Jahre lang dienen würde. Nach dem Ende dieser Dekade würde sie in den Adelsstand erhoben, zur beneideten Elite gehören und ein kleines Anwesen ihr Eigen nennen. Ihre Eltern wiederum erhielten als Ausgleich für die Trauer über den Verlust eines Kindes eine Pauschale. Obwohl noch so jung, hatte Charlotte begriffen, dass sie verkauft worden war. Drei Monate darauf ging sie aufs College und kehrte nie wieder nach Hause zurück.
Mit zehn war sie ein Wunderkind, mit vierzehn Jahren ein aufgehender Stern und mit siebzehn, als ihre Dienstzeit offiziell begann, das Beste, was das College zu bieten hatte. Man nannte sie die HEILERIN und hütete sie wie einen Schatz. Um sie auf den Erwerb ihres Titels vorzubereiten, war sie von den besten Lehrerinnen unterwiesen worden. Lady Augustine, deren Stammbaum Jahrhunderte, bis zum Alten Kontinent, zurückreichte, hatte ihre Ausbildung persönlich überwacht und dafür gesorgt, dass Charlotte in die Gesellschaft von Adrianglia eintrat, als hätte sie schon seit jeher dazugehört. Ihre Haltung war makellos, ihr Geschmack vom Feinsten, ihr Benehmen beispielhaft. Als sie das College als Charlotte de Ney, Baronesse von Ney und Besitzerin eines überschaubaren Anwesens, verließ, hatte sie bereits Tausende geheilt.
Doch sich selbst konnte sie nicht heilen.
Und auch sonst niemand konnte das. Nachdem sie 18 Monate lang von Experten auf den Kopf gestellt und mit Magie traktiert worden war, hielt sie nun das endgültige Urteil in Händen. Unfruchtbar.
Unfruchtbar. Eine Wüste. Eine Einöde.
Warum sie? Warum konnte sie kein Kind bekommen? Sie hatte zahllose Kinder geheilt, hatte sie dem Tode entrissen und sie ihren Eltern zurückgegeben, doch die Kinderstube, die sie neben ihrem Schlafzimmer eingerichtet hatte, würde leer bleiben. Hatte sie sich das bisschen Glück nicht redlich verdient? Was hatte sie so Furchtbares verbrochen, dass sie kein Kind bekommen konnte?
Ein Schluchzen brach aus Charlotte hervor. Dann riss sie sich zusammen und stand auf. Bloß nicht hysterisch werden! Sie musste Elvei Bescheid sagen. Es würde ihn hart treffen. Kinder bedeuteten ihrem Mann so viel.
Sie nahm die Stufen zu dem Weg, der zur nördlichen Terrasse führte. Das alte Haus lag im Garten wie ein träges weißes Tier, eine zweistöckige, scheinbar zufällige Ansammlung von Zimmern, Terrassen, Balkonen und steinernen Treppen. Die Nordterrasse befand sich auf der anderen Seite des Hauses, und Charlotte brauchte noch ein paar Minuten, um sich zu fassen. Sie würde ihrem Mann eine Stütze sein müssen. Armer Elvei.
Sie hatte sich gerade an ihr neues Leben gewöhnt, als Elvei Leremine sie mit einem Antrag überrascht hatte. Sie war damals achtundzwanzig, hatte das College kaum ein Jahr hinter sich und fühlte sich allein. Das Leben einer Heilerin ließ nicht viel Luft für romantische Neigungen. Da war ihr die Vorstellung, zu heiraten und das Leben mit einer anderen Menschenseele zu teilen, plötzlich sehr verlockend vorgekommen. Baron Leremine war fürsorglich, großzügig und sah gut aus. Er wünschte sich Familie. Sie auch. Aber als ein Jahr vorbei und noch kein Kind in Sicht war, ließ sie sich untersuchen und tat damit den ersten Schritt auf ihrer zermürbenden, achtzehn Monate währenden Reise.
Sie wollte ein Baby. Sie würde ihr Kind mit Liebe und Wärme umgeben, ihr Sohn oder ihre Tochter würde niemals fürchten müssen, ihren Armen entrissen zu werden, denn selbst wenn ihr Baby ihre Gabe erbte, würde es in ihrer Obhut aufs College gehen. Charlotte blieb einen Moment stehen und kniff die Augen zu. Sie würde kein Baby haben. Vor einer Woche hatten sie die Monate der Behandlungen, Tests und des Wartens eingeholt. Sie fühlte sich allein, verzagt und hatte Angst vor der Zukunft, genau wie damals, als sie sieben gewesen und zum ersten Mal durch das wuchtige steinerne Tor des Garner Colleges getreten war. Also war sie zu derselben Person gegangen, die sie damals getröstet hatte, der Frau, die ihre Mutter geworden war, nachdem ihre leiblichen Eltern sie ausgeliefert hatten. Sie war ans Garner College zurückgekehrt, um mit Lady Augustine zu sprechen.
Sie waren zusammen durch die Gärten spaziert, so wie sie es nun tat, waren über die gewundenen Steinpfade geschlendert und hatten die undurchlässigen Mauern des Colleges hinter sich gelassen. Lady Augustine hatte sich nicht sehr verändert. Dunkelhaarig, anmutig, das Gesicht klassisch schön, ging sie nicht, sondern glitt dahin. Sie benahm sich immer noch wie eine Königin, ihre Züge wirkten elegant, und ihre Magie, die den blutrünstigsten Psychopathen in ein Lämmchen verwandeln konnte, wirkte so mächtig wie eh und je.
»Glauben Sie, dass ich für etwas bestraft werde?«, hatte Charlotte gefragt.
Die Lady wölbte die Brauen. »Bestraft? Wofür?«
Charlotte biss die Zähne zusammen.
»Du kannst frei sprechen«, murmelte Lady Augustine. »Schatz, du weißt, dass ich dein Vertrauen nicht missbrauchen werde.«
»Es gibt etwas Dunkles in mir. Etwas Böses. Manchmal kann ich es fast spüren, wie es durch meine Augen aus mir hinausblickt.«
»Du spürst den Drang?«, fragte die ältere Frau.
Charlotte nickte. Der Drang war ein gespenstischer ständiger Begleiter aller Heilerinnen. Sie konnten verheerende Wunden zusammenflicken und Krankheiten heilen, aber auch ebenso leicht Schaden zufügen. Doch die destruktive Seite ihrer Magie anzuwenden war streng verboten. »Du sollst niemandem Leid zufügen«, begann der Eid, den die Heilerinnen leisten mussten. Das waren die ersten Worte der ersten Lektion, die Charlotte gelernt hatte, und mit den Jahren hatte sie sie unzählige Male gehört. Es war verführerisch, Leid zuzufügen. Die es darauf ankommen ließen, wurden süchtig danach und verloren sich darin.
»Wird er stärker?«, fragte Lady Augustine.
Charlotte nickte.
»Übe Nachsicht mit dir, dass du ein Mensch bist.«
Was? Charlotte sah die Ältere an.
Ein schwermütiges Lächeln kräuselte Lady Augustines Lippen. »Ja, meinst du denn, du bist die Erste, die solche Gedanken hegt, Liebes? Unsere Gaben versetzen uns in die Lage zu heilen und zu schädigen. Beides liegt in unserer Natur, doch man erwartet von uns, dass wir unsere eine Hälfte unterdrücken und Jahr für Jahr immer nur heilen. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Glaubst du denn, ich hätte mir nicht vorgestellt, wozu ich fähig wäre, wenn ich meine gesamte Kraft entfesselte? Ich könnte einen Raum voller Diplomaten betreten und das Land in einen Krieg stürzen. Ich könnte Unruhen anzetteln, Menschen zu Mördern machen.«
Charlotte starrte sie an. Von allen Menschen war ihre Pflegemutter die Letzte, der sie derartige Gedanken zugetraut hätte.
»Was du empfindest, ist völlig normal. Und kein Grund für irgendeine Strafe. Du musst viel aushalten, dein Körper und deine Seele sind in der Defensive. Du machst dir dermaßen viel Druck, das macht dich verwundbar. Am liebsten würdest du um dich schlagen, aber du musst deine Magie unter Kontrolle halten, Charlotte.«
»Und wenn ich strauchle?«, fragte Charlotte.
»Straucheln kommt nicht infrage. Du bist entweder Heilerin oder ein Gräuel.«
Charlotte zuckte zusammen.
»Ich vertraue dir. Du kennst die Folgen.«
Und ob sie die kannte. Jede Heilerin kannte die Konsequenzen. Diejenigen, die Leid zufügten, wurden zu Seuchenbringern, verfielen ihrer Magie und lebten nur noch, um Tod und Krankheit zu übertragen. Vor Jahrhunderten, noch auf dem Alten Kontinent, war ein Versuch unternommen worden, die Seuchenbringer als Kriegswaffe einzusetzen. Zwei Heilerinnen waren aufs Schlachtfeld marschiert und hatten ihre Kräfte entfesselt. Keine der Kriegsparteien hatte überlebt, und die Seuche, die sie entfesselten, hatte Monate gewütet und ganze Königreiche vertilgt.
Lady Augustine seufzte. »Das Königreich nimmt uns unseren Familien so jung, weil man uns unterweisen will. Doch trotz dieser sorgfältigen Erziehung bittet man uns nur um eine zehnjährige Dienstzeit, weil unsere Tätigkeit uns verschleißt. Wir geben so viel von uns preis. Wir sind die letzte Hoffnung vieler Menschen und sehen schreckliche Dinge: durch Gewalt beigebrachte Verletzungen, sterbende Kinder, von Trauer zerrissene Familien. Das ist eine schwere Bürde, die nicht ohne Auswirkungen bleibt – auf dich, auf mich, auf uns alle. Zerstören zu wollen ist ganz normal, Charlotte, aber wenn du dem nachgibst, wirst du zur Mörderin. Vielleicht nicht sofort, vielleicht kannst du dich eine Zeit lang beherrschen, doch schließlich wird die Magie dich verzehren und du wirst zu einer tödlichen Landplage werden. Es gibt keine Ausnahme von dieser Regel. Werde kein Gräuel, Charlotte.«
»Nein.« Sie würde die Dunkelheit beherrschen. Sie musste es – ihr blieb schlicht nichts anderes übrig.
Schweigend gingen sie eine Weile weiter.
»Gehen wir vom Schlimmsten aus«, sagte Lady Augustine dann. »Du bist also unfruchtbar.«
Charlottes Herzschlag setzte einen Moment lang aus.
»Das bedeutet noch lange nicht, dass du kinderlos bleiben musst. Es gibt Hunderte Kinder, die geliebt werden wollen. Du kannst kein Kind zur Welt bringen, Charlotte, aber das bedeutet nicht viel, wenn es darum geht, Eltern zu werden. Du kannst trotzdem Mutter werden und die Freude und das Leid der Kindererziehung erleben. Wir setzen viel zu sehr auf Stammbäume und Familiennamen und unsere dümmlichen Vorstellungen vom Adelsstand. Wenn jemand ein Körbchen mit einem Baby darin auf deiner Schwelle abstellen würde, würdest du zögern, es mit hineinzunehmen, nur weil das Baby nicht mit dir verwandt wäre? Schließlich ist es ein Baby, ein kleines Leben, das gefüttert werden will. Denk mal darüber nach.«
»Das muss ich nicht. Natürlich würde ich das Baby annehmen«, gab Charlotte zurück. Annehmen und lieben. Ob sie es selbst ausgetragen hatte, würde dabei keine Rolle spielen.
»Selbstverständlich. Du bist in jeder Hinsicht meine Tochter, nur dass du nicht mit mir blutsverwandt bist, und ich kenne dich. Ich glaube, du wärst eine ausgezeichnete Mutter.«
Heiß traten Charlotte Tränen in die Augen. Doch sie hielt sie zurück. »Danke.«
»Und was sagt dein Mann zu alldem?«
»Kinder bedeuten ihm sehr viel. Er erbt nur, wenn er einen Stammhalter vorweist.«
Die Ältere verdrehte die Augen. »Bedingte Erbfolge? Oh, ihr Freuden eines adligen Stammbaums und eines bescheidenen Vermögens. Ist das eine neue Entwicklung? Ich kann mich nicht erinnern, dass das Bestandteil eures Ehevertrages war.«
Charlotte seufzte. »War’s auch nicht.«
»Hat er vor eurer Heirat davon gesprochen, dass er einen Stammhalter verlangt?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
Lady Augustines Miene vereiste. »Ich halte nichts davon, wenn man mich belügt. Wann hast du es erfahren?«
»Als wir erkannten, dass wir ein Problem mit dem Kinderkriegen haben.«
»Derlei Unterhaltungen sollte man führen, ehe man seinen Namen unter den Vertrag setzt. Und nicht nur das, dieser Punkt hätte förmlich offengelegt werden müssen.« Ihr Blick ging in die Ferne, wie er es immer tat, wenn sie sich an etwas zu erinnern versuchte. »Wie konnte ich mich so irren? Er schien eine so gute Partie, ein so maßvoller Mann zu sein. Niemand, der Probleme machen würde.«
Ein maßvoller Mann? »Was soll das heißen?«
»Charlotte, du brauchst jemanden Beständiges, jemanden, auf den du dich verlassen kannst, der dir mit Rücksicht begegnet. Du bist seit über zehn Jahren Heilerin, deine Magie ist ausgehungert und erschöpft, weil sie immer wieder dasselbe tut. Du könntest leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalb bin ich noch hier.« Mit einer eleganten Geste deutete Lady Augustine auf den Garten. »Heiterkeit, Schönheit und wenig Aussichten auf psychische oder physische Traumata. Deshalb werden manche Veteranen nach einem blutigen Krieg Mönche.«
Sollte das heißen, dass sie zu anfällig war, um außerhalb der Collegemauern zu bestehen? Charlotte biss die Zähne zusammen. »Vielleicht wusste Elvei ja gar nichts von den Erbfolgebedingungen.«
»Ach was, natürlich wusste er davon. Wir wachsen wissend auf, Charlotte, er hat absichtlich damit hinter dem Berg gehalten, weil ich sonst niemals in eure Heirat eingewilligt hätte.«
Charlotte hob den Kopf. »Hätte er das zu einer Voraussetzung des Ehevertrages gemacht, hätte ich ihn nicht geheiratet. Ich wollte keinen Vertrag unterschreiben, um anschließend Kinder zu produzieren. Ich wollte heiraten, und ich glaube, er wollte dasselbe.«
»Er wollte zum Heilen begabte Kinder«, sagte die Ältere.
Charlotte blieb stehen.
»Es tut mir leid, Schatz«, sagte Lady Augustine. »Das hätte ich besser nicht gesagt. Das war grob von mir. Aber ich bin so wütend, das trübt mein Urteilsvermögen. Meine Schuld. Genau das wollte ich vermeiden, und jetzt habe ich dich enttäuscht. Es tut mir furchtbar leid.«
»Ich bin kein Kind mehr«, gab Charlotte zurück. »Ich werde bald dreißig, und für meine Heirat bin ich selbst verantwortlich.«
»Du hast eine Ausbildung, aber das Garner College hat dich nicht auf die Härten des Lebens jenseits dieser Mauern vorbereitet. Dein Alter spielt keine Rolle, du hast einfach nicht die Erfahrung, dich mit Menschen außerhalb einer überwachten Umgebung herumzuschlagen. Niemand hat dich je verraten, verletzt oder übers Ohr gehauen. Du bist niemals gekränkt worden. Ich dagegen blicke den Menschen jeden Tag tief in die Seele, und was ich dort sehe, erfüllt mich ebenso sehr mit Freude wie mit Furcht. Ich hätte dich so gerne davor bewahrt.«
Sie sprach, als sei das Ende ihrer Ehe bereits beschlossen. »Noch bin ich verheiratet, und Elvei ist kein herzloser Schuft. Schön, er hat mir nichts von seiner Erbfolge gesagt. Ein ziemlich bedauerliches Versehen, aber wir werden damit klarkommen. Mir ist bewusst, dass Liebe nicht über Nacht entsteht, aber ich glaube, ich bedeute ihm etwas, und er bedeutet mir sehr viel. Wir leben seit fast drei Jahren zusammen. Wir schlafen im selben Bett. Und bevor ich mich untersuchen ließ, hat er mir gesagt, dass er mich liebt.«
Lady Augustine sah sie aufmerksam an. »Vielleicht hast du ja recht, und er liebt dich. Wenn du ihm wirklich wichtig bist, wird er damit umgehen können.«
Sie gingen einen Schritt weiter. Die Mischung aus Sorge und Angst versetzte Charlotte in Aufruhr. Hinter ihren Augäpfeln brannte Feuer, sie presste ihre Hand auf den Mund.
Lady Augustine öffnete die Arme.
Charlottes letzte Verteidigungslinie gab nach. Weinend trat sie in die willkommene Umarmung.
»Mein Liebling, mein Schatz, alles wird gut«, tröstete Lady Augustine sie und hielt sie in den Armen. »Alles wird gut. Lass einfach los.«
Doch nichts war gut, und Charlotte musste mit Elvei reden.
Was sie über die wachsende Liebe zu einem Menschen gesagt hatte, mit dem man lebte, stimmte; ihre Liebe zu Elvei war gewachsen. Er war stets freundlich zu ihr, und etwas von dieser Freundlichkeit konnte sie jetzt gebrauchen. Sie fühlte sich schwach und hilflos. So hilflos.
Der Weg führte sie zur Nordterrasse. Ihr Mann saß auf einem Stuhl, trank seinen Morgentee und blätterte Zeitungen durch. Durchschnittlich groß und von muskulöser Gestalt, sah Elvei auf die für Aristokraten charakteristische Weise gut aus: klare, so vollkommen geschnittene Gesichtszüge, dass sie ein wenig entrückt wirkten, kantiges Kinn, schmale Nase, blaue Augen, braunes, leicht rotstichiges Haar. Morgens, wenn sie neben ihm aufwachte und das Frühlicht auf seinem Gesicht schimmerte, bewunderte sie oft seine Schönheit.
Charlotte kam die Stufen hinauf. Elvei erhob sich und schob ihr einen Stuhl hin. Sie nahm Platz und gab ihm den Brief.
Er las, ungerührt, das freundliche Gesicht zeigte keine Regung. Sie hatte eine deutlichere Reaktion erwartet.
»Bedauerlich«, meinte Elvei.
Mehr nicht? Bedauerlich? Ihre Intuition warnte sie, dass an seiner zur Schau getragenen Gelassenheit etwas nicht stimmte.
»Ich liebe dich wirklich«, sagte Elvei. »Sehr sogar.« Er griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Mit dir verheiratet zu sein ist ganz einfach, Charlotte. Ich bin voller Bewunderung für deine Arbeit und für dich.«
»Es tut mir leid«, sagte sie. Der logisch arbeitende Teil ihres Verstandes wusste, dass sie nichts für ihre Unfruchtbarkeit konnte. Sie hatte sie nicht verursacht und alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihr Problem zu beheben. Sie wünschte sich ebenso sehr wie Elvei ein Kind. Trotzdem fühlte sie sich jetzt schuldig.
»Das muss es nicht.« Er lehnte sich zurück. »Es ist weder deine noch meine Schuld. Es ist einfach ein Schicksalsschlag.«
Er war so ruhig, fast nonchalant. Es wäre besser gewesen, er hätte geflucht oder mit irgendwas um sich geworfen. Stattdessen saß er reglos auf seinem Stuhl, und jedes seiner Worte ließ ihn ein kleines Stück zurückweichen und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. »Wir könnten ein Kind adoptieren«, sagte sie hoffnungsvoll.
»Das könntest du gewiss.«
In ihrem Kopf dröhnten Alarmglocken. »Du hast gesagt, ich könnte ein Kind adoptieren, nicht wir.«
Er schob ihr über den Tisch ein Blatt Papier hin. »Ich habe damit gerechnet, dass die Dinge sich so entwickeln würden, daher habe ich mir die Freiheit genommen, das hier vorzubereiten.«
Sie warf einen Blick auf das Blatt. »Annullierung?« Sie verlor die Fassung. Er hätte ihr ebenso gut ein Messer zwischen die Rippen stoßen können. »Nach zweieinhalb Jahren willst du unsere Ehe annullieren? Hast du den Verstand verloren?«
Elvei verzog das Gesicht. »Das hatten wir doch schon. Ich hatte vom ersten Tag der Ehe an drei Jahre Zeit, um einen Erben vorzuweisen. Mein Bruder ist verlobt, Charlotte, das habe ich dir vor zwei Monaten gesagt. Er hat ebenfalls drei Jahre, um ein Kind in die Welt zu setzen. Wenn ich mich von dir scheiden lasse und wieder heirate, bleiben mir noch sechs Monate, bevor ich nicht mehr erbberechtigt bin. Man kann aber in sechs Monaten kein Kind machen. Ich brauche die Annullierung, damit meine Dreijahresfrist neu beginnt, sonst kommt Kalin vor mir ans Ziel. Da man sich nicht so schnell verheiratet, kann das ohnehin passieren, aber …«
Das konnte unmöglich wahr sein! »Dann willst du also einfach so tun, als hätte alles, was uns in all den Jahren verbunden hat, nichts bedeutet, und mich entsorgen? Wie den Müll?«
Er seufzte. »Ich habe dir eben gesagt, wie sehr ich dich bewundere. Doch der Zweck unserer Heirat war die Gründung einer Familie.«
»Wir sind eine Familie. Du und ich.«
»Nicht die Sorte Familie, die ich brauche. Ich darf mir dieses Anwesen nicht entgehen lassen, Charlotte.«
Sie fror und schwitzte zugleich, bestand nur noch aus Kränkung und Zorn unter dem Eishauch des Entsetzens. »Geht es um Geld? Du weißt schon, dass ich so viel Geld verdienen kann, wie wir benötigen?«
Wieder seufzte er. »Du bist die meiste Zeit so makellos, dass ich manchmal vergesse, dass du keine geborene Adlige bist. Nein, natürlich geht es nicht ums Geld. Aber der, dem das Anwesen gehört, ist auch Familienoberhaupt. Ich bin der Erstgeborene, ich habe die meiste Zeit meines Lebens studiert, um einmal die Interessen unserer Familie zu vertreten, das werde ich mir nun nicht durch die Lappen gehen lassen.«
»Es ist doch nur ein verdammtes Haus!« Ihre Stimme überschlug sich.
Elveis Haltung schmolz dahin, der höfliche Anstrich bröckelte. Er hob die Stimme. »Das ist mein Elternhaus. Meine Familie blickt auf 16 Generationen zurück. Erwartest du etwa von mir, dass mein schwachsinniger Bruder alles bekommt, während wir in dieser altersschwachen Ruine hier Vater-Mutter-Kind zu spielen vorgeben? Nein, danke. Ich will aus meinem Leben mehr machen.«
Seine Worte brannten wie Feuer. »War es das, was wir getan haben?«, fragte sie. »Wenn wir uns in unserem Schlafzimmer geliebt haben. Haben wir da nur Vater-Mutter-Kind gespielt?«
»Sei nicht melodramatisch. Wir hatten beide Spaß dabei, aber jetzt ist es eben aus.«
In ihr schwoll Zorn an, verband sich mit der Kränkung. Letzte Nacht noch hatte er sie geküsst, ehe sie nebeneinander eingeschlafen waren. Neben diesem Mann wachte sie jeden Morgen auf. »Elvei, ist dir klar, was du damit sagst? Dass ich für dich nicht mehr bin als eine Zuchtstute.«
»Gib mir nicht die Rolle des bösen Buben.« Elvei lehnte sich zurück. »Ich habe dich zu sämtlichen Untersuchungen und Behandlungen begleitet. Ich habe dir geduldig zugehört, als du dich über diesen Spezialisten aufgeregt hast, ich habe in Wartezimmern herumgesessen und dir so viel Zeit gewidmet, wie ich erübrigen konnte. Jetzt steht keine weitere Behandlung mehr aus. Ich will lediglich ein Kind wie jeder andere normale, gesunde Erwachsene auch.«
Jedes Mal, wenn sie die Grenze der Beleidigung erreicht zu haben glaubte, drehte er das Messer zwischen ihren Rippen ein Stückchen weiter um, bohrte tiefer und tiefer in ihr Innerstes und schuf eine blutende Wunde.
»Dann bin ich nicht normal?«
Er breitete die Arme aus. »Verstehst du das denn nicht? Nein. Du bist fehlerhaft, Charlotte.«
Fehlerhaft. Er nannte sie allen Ernstes fehlerhaft. Der Schmerz in ihrem Innern begann vor Zorn zu glühen. »Ich bin gespannt, auf welches Wort du als Nächstes verfällst. Wie weit wirst du in deiner Grausamkeit gehen, Elvei?«
»Du hast mich zweieinhalb Jahre gekostet.«
Zweieinhalb Jahre der Enttäuschung, schmerzhafter Behandlungen und zerstörter Hoffnungen, als sei sie verkrüppelt. Sie würde niemals ein Kind zur Welt bringen, doch er sah nur sich selbst als denjenigen, der Schaden genommen hatte. Sie hätte diese Seite an ihm erkennen müssen. Sie hätte es besser wissen müssen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? »Du bist ein schrecklicher Mensch.«
Er sprang auf und beugte sich über den Tisch. »Hätte ich eine andere geheiratet, ich hätte mein Erbe längst antreten können. Ich habe so anständig wie möglich versucht, einen Schlussstrich zu ziehen, aber du willst mir anscheinend eine Szene machen. Ich benötige einen Erben, Charlotte, aber du kannst ihn mir nicht geben. Was ist daran so kompliziert? Ich denke nicht daran, noch mehr Zeit mit dir zu vergeuden.«
»Du hast gesagt, dass du mich liebst.« Sie wusste noch genau, wie sein Gesicht dabei ausgesehen hatte.
»Ich musste dich ermutigen, damit du die Therapie beginnst. Du lieber Himmel, Charlotte, bist du wirklich so naiv oder einfach nur zu dumm?«
Seine Worte saßen wie eine Ohrfeige. In ihr regte sich zitternd die Dunkelheit, reckte ihr Haupt, bereit auszubrechen. Charlotte versuchte, sie aufzuhalten.
»Lass es mich in aller Deutlichkeit sagen: Ich habe dich geheiratet, weil du eine Heilerin bist. Du hättest deine Gabe und dein inneres Gleichgewicht unseren Nachkommen vererben können. Du bist attraktiv und gebildet, und ich wusste, du würdest mich in der Öffentlichkeit niemals bloßstellen. Darüber hinaus sprach nicht sehr viel für dich.«
Die Luft fühlte sich plötzlich dick an und brühend heiß wie kochender Leim. Charlotte bekam keine Luft mehr.
»Du gehörst seit weniger als drei Jahren zum Adel, während meine Familie mit der Zweiten Flotte auf diesen Kontinent kam und schon damals adlig war.«
Die Dunkelheit in ihrem Innern bebte und bettelte darum, freigesetzt zu werden.
»Mein Vater ist ein Earl, meine Mutter war schon vor ihrer Verbindung Baronesse. Dein Vater ist Koch und deine Mutter Serviererin. In welcher Welt könntest du ernsthaft davon ausgehen, mir auf irgendeine Weise ebenbürtig zu sein? Ich habe dir einen Gefallen getan. Mein Antrag war eine Auszeichnung für dich, Charlotte, aber du hast es vermasselt. Finde dich damit ab. Ich denke, meine Entschuldigung genügt.«
Er hatte so tief in ihrer Wunde gebohrt, dass er damit an die Dunkelheit rührte, die sie in ihrem Innern barg. Ihre Dämme brachen. Schleichend bahnte sich die Dunkelheit ihren Weg und stülpte ihre Haut um wie eine Wendejacke. »Du hast recht. Du wirst dich hinsetzen und dich bei mir entschuldigen.« Die Drohung tränkte ihre Stimme wie Gift.
Er blickte sie an. »Du bist kaum in der Lage, mir Befehle zu erteilen.«
Ihre Magie entschlüpfte ihr, hüllte ihre Arme ein, wand sich in schwarzen, tiefrot hinterlegten Rinnsalen um ihren Körper. Sie hatte dieses Rot noch nie zuvor gesehen. Das blasse Gold des Heilens, ja, Hunderte Male schon, aber dieses düstere Schwarz und Rot? Nein. So also sieht die Magie eines Gräuels aus.
»Ich kann deine ganze Familie verderben, du Schwachkopf. Ich bin die Heilerin. Such dir eine Seuche aus, und es ist in diesem Moment vorbei mit deinen 16 Generationen.«
Elvei stand der Mund offen. »Das würdest du nicht wagen.«
Wie eine zubeißende Schlange entfuhr ihr die Magie und grub ihre Zähne in ihn. Elvei zuckte, seine Miene zeigte Verwirrung. Sie fühlte, wie ihre Magie ihn biss, sich in die Linie seines Halses bohrte, und sie spürte den Ansturm unerwarteter Befriedigung. Du lieber Himmel. Plötzlich durchzuckte sie Furcht. Sofort unterbrach sie den düsteren Strom, nahm ihre Macht in sich zurück. Sie hatte sie nur kosten, einen winzigen Bissen nehmen lassen, doch nun wollte sie mehr, Charlotte musste sich zusammenreißen, um sie in sich zu verschließen.
Elvei hustete immer heftiger, presste die Hand auf den Mund. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch, besudelte seine Haut mit hellem, heißem Scharlach.
Er wollte aufstehen, erstarrte aber auf halber Strecke.
Da erkannte er ihren Hass, und die Lust, die es ihr bereitete, ihm Schmerz zuzufügen. Macht durchfloss sie, grimmig und berauschend. Ihre Magie wollte mehr.
Nein, das konnte sie nicht zulassen.
»Setz dich!«
Er ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Du kannst deine Annullierung haben«, sagte sie. »Allerdings hast du die ganze Zeit hier gelebt, und da du nicht mein Mann sein willst, werde ich dich zukünftig wie meinen Kostgänger behandeln. Du wirst mir die Miete, Verköstigung, Kleidung, Geschenke und die Dienste meiner Angestellten erstatten. Als du mich zum Schein geheiratet hast, hattest du nichts, und du wirst dich mit nichts wieder von mir trennen.«
Der Preis war gering, aber sie konnte ihn unmöglich einfach so davonkommen lassen. Ihr Zorn ließ es nicht zu. Sie musste für einen symbolischen Ausgleich sorgen. Tat sie es nicht, würde ihre Magie den Preis festsetzen.
»So viel Geld besitze ich nicht«, antwortete er.
»Deine Kalamitäten interessieren mich nicht«, sagte sie. »Ich habe dich all die Jahre unterstützt, und ich lasse mich nicht von dir ausnutzen. Ich werde meinen Anwalt bitten, eine Rechnung aufzustellen, die du vollständig begleichen wirst; wenn nicht, werde ich dich zwingen, dich in aller Öffentlichkeit bei mir zu entschuldigen.«
Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht. »Du wirst dein Geld bekommen.«
»Überweise es der Stiftung Mutter der Morgenröte.« So würde das Geld kranken Kindern zugutekommen, und aus diesem Albtraum würde etwas Gutes erwachsen.
Ihre Magie flehte sie an, ihr einen weiteren kleinen Bissen zu gönnen. Charlotte ballte die Faust um ihre Macht und hielt sie so zurück. »Bitte um Entschuldigung dafür, ein herzloser Bastard gewesen zu sein.«
»Ich bitte … um Entschuldigung«, stammelte er mit stockender Stimme.
Charlotte konzentrierte sich. Magie hüllte ihren Arm in den leuchtenden Goldton des Heilens. »Gib mir deine Hand.«
Er streckte seine Hand mit zitternden Fingern über den Tisch. Charlotte kämpfte gegen ihren Widerwillen an und schloss ihre Finger um sein Handgelenk. Noch heute Morgen waren sie im selben Bett aufgewacht. Sie hatte dagelegen und gedacht, wie gut er doch aussah und wie gerne sie mit ihm Kinder gehabt hätte, während er vermutlich schon die Bedingungen der Annullierung im Kopf gewälzt hatte. Das Schriftstück war sicher von einem Anwalt aufgesetzt worden, was eine Weile dauerte. Elvei musste sich schon seit Tagen auf diesen Moment vorbereitet haben. Ihr Verstand hatte Mühe zu glauben, dass er so kaltblütig sein konnte.
Sie verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf die Wiederherstellung der durch sie verursachten Wunden an Elveis Hals. Einen Augenblick später waren die inneren Verletzungen verheilt. Sie ließ ihn los und wischte sich die Hand an der Tischdecke ab.
»Du kannst jetzt gehen. Deine Sachen werden dir zugeschickt, sobald die Stiftung mich davon in Kenntnis setzt, dass deine Zahlung dort eingegangen ist.«
Er sprang auf und lief davon. Sie blieb allein auf der Terrasse eines Hauses zurück, das sich nicht länger wie ihr Zuhause anfühlte, und fragte sich, was sie nun anfangen sollte. Zuckend ringelte sich der düstere Machtstrom um sie. Sie spürte seinen Hunger, die stumme Aufforderung. Er verlangte nach Nahrung.
Endlich ergaben die unablässigen Lektionen und Unterweisungen einen Sinn. Ihre Lehrer hatten ihr beigebracht, dass die Verwendung ihrer Gabe zu bösen Zwecken süchtig machte, hatten ihr aber nicht verraten, warum. Ihrem Exgatten wehzutun hatte ihr Vergnügen bereitet. Und sie wollte es wieder tun.
Werde kein Gräuel, Charlotte.
Es gab keine Ausnahme von dieser Regel. Der dunkle Zauber würde erneut über die Ufer treten, und das Vergnügen, das damit einherging, würde sie verschlingen. Sie war der düsteren Verlockung einmal bis in den undenkbaren Abgrund gefolgt, in dem nur mehr der kurze, durch Leid entzündete nächste Augenblick der Euphorie zählte. Nun war sie eine tickende Zeitbombe. Sie musste ihre Kräfte um jeden Preis beherrschen.
Charlotte ließ sich auf ihren Stuhl zurückfallen. Sie konnte nicht viel unternehmen. Aufs Garner College zurück und sich vor aller Welt verbergen. Nein, das College, wo sie jeder kannte und von ihrer Heirat wusste, kam nicht infrage. Das Mitleid, das man ihr dort entgegenbringen würde, würde über ihre Kräfte gehen.
Sie konnte zurückgezogen weiter auf dem Anwesen leben, in der Hoffnung, dass die Versuchung, die dunkle Seite ihrer Macht einzusetzen, in der Isolation abnehmen würde, aber sie wollte auch nicht länger Charlotte de Ney sein. Lady de Ney war ein dummes, naives Mädchen, das sich von einem hübschen Gesicht und dem Versprechen einer glücklichen Zukunft hatte blenden lassen. Sie hatte geglaubt, dass sie es nach all den Jahren der Ausbildung und des Dienstes verdiente, um ihrer selbst willen geliebt zu werden, als sei Liebe so etwas wie ihr gutes Recht. Wenn sie hierblieb, musste sie sich Nachbarn und Freunden stellen und erklären, warum ihre Ehe annulliert worden war. Nein, das wäre auch keine gute Idee. Elvei würde sich auf der Jagd nach einer neuen Frau in denselben Kreisen bewegen wie sie.
Bei dem Gedanken an Elvei regte sich die Magie in ihr. Charlotte schlang die Arme um ihren Leib. Ihm wehzutun fühlte sich fantastisch an. Sie konnte sich vorstellen, ihn krank zu machen. Vielleicht nur ein bisschen. Nichts Ernstes. Sie wusste, wo er vor ihrer Heirat gelebt hatte. Das Haus gehörte ihm noch immer, vermutlich würde er dorthin zurückkehren. Und wenn er wieder heiratete, würde sie seiner errötenden Braut ein kleines bisschen von ihrer Gesichtsfarbe rauben. Dieser Gedanke würde so lange an ihr nagen, bis er sie vollständig verschlungen hatte und sie ihn in die Tat umsetzte. Obwohl es falsch war und böse. Das wusste sie, gleichzeitig fühlte sie sich aufs Äußerste zermürbt und emotional bis auf die Knochen verletzt. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie standhalten würde. Sie musste irgendwo untertauchen, wo es keine Blaublütigen, kein Adrianglia und keinen Elvei gab.
Ihr Gedächtnis servierte ihr einen halb vergessenen, Jahre zurückliegenden Vorfall, als man sie gerufen hatte, um eine Handvoll Soldaten zu heilen. Sie erinnerte sich, eine mächtige magische Grenze gespürt zu haben, eine unsichtbare Mauer, die ihre Welt zu kappen schien, und daran, wie die Soldaten diese Grenze, einer nach dem anderen, mit schmerzverzerrten Gesichtern überquert hatten. Mit einem hatte sie, während sie seine Wunden heilte, gesprochen: Er berichtete, dass seine Gruppe zum Spiegel gehörte, einer Spionageorganisation. Sie waren außerhalb ihrer Welt unterwegs gewesen, hatte der Mann gesagt, an einem Ort, an dem die Magie nur schwach ausgeprägt war. Er nannte diesen Ort ›das Edge‹. Aber der Mann war nicht bei Verstand gewesen, und sie hätte ihm keinen Glauben geschenkt, wenn sie nicht jene unsichtbare Mauer gespürt hätte, die sich wie eine Barriere aus komprimierter Magie erhob.
Im Edge, einem Ort mit schwacher Magie, war vielleicht auch der Sog des dunklen Zaubers nicht so stark und würde nicht so viel Schaden anrichten, wenn er die Oberhand gewann.
Aber die eigentliche Frage lautete: Würde sie diesen Ort finden?
Éléonore Drayton lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und nippte an dem Eistee in dem wie eine Narzisse geformten großen Glas. Die Frühlingssonne wärmte die Veranda. Éléonore lächelte behaglich eingemummt in die zahlreichen Schichten ihrer abgewetzten Kleider. In letzter Zeit hatte sie jedes ihrer hundertneun Lebensjahre einzeln gespürt, aber die Hitze fühlte sich wunderbar an.
Jenseits der Wiese verlor sich eine Straße in der Ferne, auf der anderen Seite wuchsen die Wälder des Edge, dicht, von Magie gespeist. Die Luft duftete nach frischem Laub und Frühjahrsblumen.
Neben ihr hob Melanie Dove, ihres Zeichens auch kein so junges Gemüse mehr, ihr Glas ans Licht und betrachtete es blinzelnd. Die Sonne erfasste einen darin wirbelnden dünnen Goldfaden. »Hübsche Gläser. Aus dem Weird?«
»Mhm, der Tee wird darin magisch gekühlt.« Die Gläser funktionierten sogar hier im Edge, wo die Magie nicht so mächtig war. Irgendwann schmolz das Eis, anders als die mitgelieferte Bedienungsanleitung versprochen hatte, dann doch, aber gute fünf bis sechs Stunden blieben die Getränke kühl, und, mal ehrlich, wer brauchte schon fünf Stunden für ein Glas Eistee?
»Haben deine Enkel die für dich besorgt?«
Éléonore nickte. Ein Sonderkurier hatte die Gläser direkt aus Adrianglia gebracht, das bislang letzte einer wahren Geschenkeflut. Der Karton hatte das Siegel von Earl Camarine getragen. Rose, das älteste ihrer Enkelkinder, hatte sie ausgesucht und eine nette Nachricht dazugelegt.
»Wann wirst du dorthin umziehen?«
Éléonore hob die Augenbrauen. »Willst du mich loswerden?«
»Bitte.« Die andere Hexe schüttelte ihren grauen Kopf. »Deine Enkelin hat einen stinkreichen Blaublütigen geheiratet, deine Enkel hängen dir seit Monaten in den Ohren, endlich zu ihnen zu ziehen, und du hockst hier herum wie ein Huhn auf dem Misthaufen. Ich wäre an deiner Stelle längst weg.«
»Sie leben ihr eigenes Leben, ich lebe meines. Was soll ich denn dort? Die Jungs sind den lieben langen Tag in der Schule. George ist jetzt dreizehn, Jack elf, und Rose muss sich um ihre Ehe kümmern. Ich hätte da nicht mal ein eigenes Heim. Hier gehören mir zwei Häuser.«
»Earl Camarine würde dir schon ein Haus kaufen. Schließlich lebt er auf einer Burg, Weib.«
»Ich habe noch nie Almosen angenommen und auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.«
»An deiner Stelle würde ich’s tun.«
»Aber du bist nun mal nicht an meiner Stelle, nicht wahr?«
Éléonore grinste in ihren Tee. Sie waren nun schon seit fünfzig Jahren Freundinnen, und dieses ganze halbe Jahrhundert lang hatte Melanie aller Welt erklärt, was er oder sie mit ihrem Leben anstellen sollten. Und mit dem Alter wurde sie noch unverschämter, wobei sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, noch nie besonders feinfühlig war.
In Wahrheit vermisste sie Rose, George und Jack, ihre Enkelkinder, so sehr, dass ihr manchmal das Herz wehtat, wenn sie an sie dachte. Aber sie gehörte nicht ins Weird, dachte Éléonore. Sie hatte sie besucht und würde es wahrscheinlich wieder tun, aber zu Hause fühlte sie sich dort nicht. Die Magie war dort stärker, und vermutlich würde sie dort länger leben, doch hier im Edge, einem Ort zwischen dem Weird mit seiner ganzen Magie und dem Broken, wo es gar keine Zauberei gab, lag ihre wahre Heimat. Sie war eine Drayton und durch und durch Edger. Sie kannte sich in dieser Kleinstadt aus, sie kannte ihre sämtlichen Nachbarn, ihre Kinder und Enkelkinder. Und sie besaß ihre eigene Macht. Genoss einen gewissen Respekt. Wenn sie jemanden zu verfluchen drohte, wurden die Menschen hier aufmerksam und hörten ihr zu. Im Weird dagegen würde sie Rose nur zur Last fallen.
Es ist nicht zu vermeiden, sagte sie sich, Kinder verlassen ihr Nest nun mal. Alles ist, wie es sein soll.
Ein Laster rumpelte an ihrem Hof vorüber. Am Steuer saß Sandra Wicks, ihr gebleichtes Blondhaar ein toupiertes Durcheinander.
»Flittchen«, brummte Melanie.
»Yep.«
Sandra winkte ihnen aus dem Fenster zu. Die beiden Hexen lächelten und winkten zurück.
»Dann hast du von ihrem Freund in der Gegend von Macon gehört?«, fragte Éléonore.
»Mhm, kaum dass ihr Mann aus dem Haus ist, flitzt sie über die Grenze ins Broken. So viel Zeit, wie sie dort zubringt, ist es ein Wunder, dass ihre Magie nicht versagt. Jemand sollte Michael mal einen Tipp geben.«
»Halt dich da raus«, versetzte Éléonore. »Das geht dich nichts an.«
Melanie schnitt eine Grimasse. »Als ich in ihrem Alter war…«
»Als du in ihrem Alter warst, galt es noch als gewagt, statt eines Korsetts ein Mieder zu tragen.«
Melanie schürzte die Lippen. »Dann muss ich dir sagen, dass ich einen Schlüpfer getragen habe.«
»Was bist du doch aufmüpfig.«
»Sogar aus Kunstseide.«
Eine Frau stolperte um die Wegbiegung. Auf wackligen Beinen, schwankend, als müsse sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, die blonden Haare an die Stirn geklatscht, ihr Gesicht schmutzverkrustet.
»Wer zur Hölle ist das denn?« Melanie stellte ihr Glas weg.
Die beiden kannten die gesamte Bevölkerung von East Laporte, und Éléonore war sich absolut sicher, diese Frau noch nie zuvor gesehen zu haben. Wollkleidung, im Schnitt des Weird. Jemand aus dem Broken würde Jeans oder Kaki tragen, Schuhe mit Absätzen oder Turnschuhe. Diese Frau hatte Stiefel an, und sie ging irgendwie seltsam.
Die Frau schwankte und stürzte in den Straßengraben. Éléonore stand auf.
»Lass«, zischte Melanie. »Du weißt nicht, was sie ist.«
»Halb tot, das ist sie.«
»Mir ist das nicht geheuer.«
»Dir ist überhaupt nichts geheuer.«
Éléonore verließ ihre Veranda und lief die Straße hinunter.
»Du wirst noch mal mein Tod sein«, knurrte Melanie und stapfte ihr nach. Die Frau wälzte sich herum und setzte sich auf. Sie war groß und mager, aber nicht von Natur aus. Sie ist ausgehungert, erkannte Éléonore. Kein Teenager, eine Frau, so um die dreißig. Nach Éléonores Maßstab noch ein Mädchen.
»Geht es Ihnen gut, Liebes?«, rief sie.
Die Frau blickte sie an. Ja, ohne Frage aus dem Weird und gut betucht: hübsches, faltenloses Gesicht, zweifellos früher gut gepflegt, jetzt jedoch war es hager, spitz durch den Mangel an Nahrung und schmutzig.
»Ich wurde angeschossen«, sagte sie mit leiser Stimme.
Mon dieu. »Wo?«
»Rechter Oberschenkel. Eine Fleischwunde. Bitte.« Éléonore las Verzweiflung in den grauen Augen der Frau. »Ich hätte gerne etwas Wasser.«
»Éléonore, untersteh dich, sie mit in dein Haus zu nehmen.«
Rose war viele Meilen weit entfernt, und dieses Mädchen, das da im Dreck saß, sah ihr kein bisschen ähnlich, trotzdem erkannte sie im Gesicht dieser Fremden den Schatten ihrer Enkelin. Éléonore ergriff die Hand der Frau. »Versuchen Sie aufzustehen.«
»Das wird kein gutes Ende nehmen.« Melanie nahm den anderen Arm der Frau. »Kommen Sie, stützen Sie sich auf mich.«
Die Frau stemmte sich hoch und ächzte, ein leiser Schmerzenslaut. Für ein so großes Mädchen wog sie fast nichts. Sie schafften sie die Stufen hinauf, einen winzigen Schritt nach dem anderen, führten sie hinein und zum Gästebett. Éléonore zog ihr die wollene Hose herunter, im Oberschenkel klaffte eine kleine rote Schusswunde.
»Hol den Erste-Hilfe-Kasten, Melanie.«
»Mach ich ja, mach ich ja.« Die Hexe lief in die Küche.
»Ist die Kugel draußen?«, fragte Éléonore.
Die Frau nickte.
»Wie wurden Sie angeschossen?«
»Da war ein Junge …« Die Stimme war schwach. »Er hatte einen gebrochenen Arm. Ich wollte den Bruch heilen, da hat sein Vater auf mich geschossen.« Ihre Stimme bebte vor Überraschung und Wut.
Heilmagie war überaus selten, man hörte kaum je davon. Éléonore runzelte die Stirn. Was um alles in der Welt machte sie hier im Edge?
Melanie platzte mit dem Erste-Hilfe-Kasten herein. »Warum verarzten Sie das Loch in Ihrem Bein nicht selbst, wenn Sie heilen können?«
»Ich kann mich nicht selbst heilen«, teilte die Frau ihr mit.
»Ich glaube, Sie lügen«, sagte Melanie und gab den Kasten weiter.
Die Frau hob eine Hand. Ihre Finger strichen über Melanies altersfleckigen Arm. Von ihren Fingern ging ein schwacher Strom goldener Funken aus und senkte sich unter Melanies Haut. Die dunklen Leberflecke verschwanden.
Éléonore keuchte. Melanie stand zur Salzsäule erstarrt.
Die Frau lächelte, ein trauriges, nachgebendes Kräuseln ihrer Lippen. »Könnte ich einen Schluck Wasser bekommen?«
Ihr Bein blutete noch.
»Hol ihr Wasser, Melanie.«
»Bin ich hier die Dienstmagd?« Melanie ging in die Küche.
Éléonore schraubte eine Flasche Reinigungsalkohol auf, goss etwas davon auf Mull aus dem Erste-Hilfe-Kasten und drückte es auf die Wunde. Die Frau zuckte zusammen.
»Sie kommen aus dem Weird, nicht wahr? Was machen Sie hier im Edge?«
»Ich musste fort. Ich hatte ein Pferd und Geld, aber jemand hat beides gestohlen. Ich habe versucht, etwas zu verdienen, aber niemand will sich von mir heilen lassen. Ich wollte dem Kind dieses Mannes helfen, doch er hat auf mich geschossen. Auf mich geschossen! Was ist das hier für ein verrückter Ort?«
»Für Sie das Edge.« Aus einer Tube drückte Éléonore Neosporin auf die Wunde. »Wir sind hier nicht sehr nett zu Fremden.«
Melanie kam mit einer Tasse zurück. Die Frau trank mit großen, durstigen Schlucken. »Danke.«
»Wer hat auf Sie geschossen?«, fragte Melanie. »Wie sah der Mann aus?«
»Groß, rothaarig …«
»Ein Gesicht wie ein Wiesel?«, wollte Melanie wissen.
»Eher wie ein Hermelin«, bekundete die Frau mit schwacher Stimme.
»Marvin«, sagten Éléonore und Melanie wie aus einem Mund.
»Unser Paranoiker«, übernahm Éléonore. »Der Kerl kann nicht mal in der Kirche still sitzen, weil er die Decke nach schwarzen Hubschraubern absucht.«
»Was sind Hubschrauber?«, fragte das Mädchen.
»Große Apparate aus Metall mit einem Propeller oben drauf. Die Polizei im Broken fliegt damit herum.«
»Was ist das Broken?«
»Heiliger Bimbam«, seufzte Melanie.
»Dort, wo Sie herkommen, das ist das Weird«, sagte Éléonore. »Um hierher zu gelangen, haben Sie die Grenze überquert, eine magische Barriere, alles klar?«
»Ja.«
»Schön, jetzt sind Sie im Edge. Zwischen den Welten. Auf der anderen Seite vom Edge gibt es noch eine magische Barriere, und dahinter liegt ein weiterer Ort – wie das Weird, nur dass es dort keine Magie gibt.«
»Deshalb nennt man ihn das Broken«, erklärte Melanie. »Wenn man dorthin geht, wird einem alle Magie genommen.«
»Was soll das heißen, es gibt dort keine Magie?«, fragte die Frau.
Éléonore machte sich weiter an der Wunde zu schaffen. Die Kugel war ins Fettgewebe des Oberschenkels eingedrungen und zwei Zentimeter weiter wieder ausgetreten. Kaum mehr als ein Kratzer. Marvin traf nicht mal eine Elefantenherde, die auf ihn zutrottete. »Wie heißen Sie?«
»Charlotte.«
»Sie schlafen jetzt erst mal, Charlotte. Keine Sorge. Sie sind in Sicherheit. Und Sie können bleiben, bis es Ihnen wieder besser geht. Hier wird niemand auf Sie schießen, und wir werden jede Menge Zeit haben, uns über das Broken und über Hubschrauber zu unterhalten.«
»Danke«, flüsterte Charlotte.
»Gern geschehen, Liebes.«
Die junge Frau schloss die Augen. Ihre Atmung beruhigte sich. Éléonore beendete die Versorgung der Wunde.
»Na, da hast du dir ja mal wieder ein Vögelchen mit gebrochenem Flügel eingefangen«, sagte Melanie. »Und da fragst du dich, von wem George das wohl geerbt hat.«
»Sieh sie dir an. Wie könnte ich sie wegschicken?«
Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Oh, Éléonore, ich hoffe, du weißt, was du tust.«
Es war der Abend des folgenden Tages. Éléonore saß auf der Veranda vor ihrem Haus, trank Eistee aus dem Weird-Glas, sah den hin und her gleitenden Edge-Schwalben zu und schlug nach Moskitos.
Hinter ihr schwang die Fliegendrahttür auf, und Charlotte kam in eine Decke gewickelt auf die Veranda. Ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht immer noch blass, doch ihre Augen blickten klar.
»Besser?«, fragte Éléonore.
»Ja.«
»Setzen Sie sich zu mir.«
Das Mädchen ließ sich vorsichtig auf den Stuhl sinken. Die Wunde bereitete ihr wohl noch Schmerzen.
»Was macht das Bein?«
»Das ist nur ein Kratzer. Tut mir leid, dass ich zusammengeklappt bin. Das waren vor allem der Schock und die Austrocknung.«
»Hier.« Éléonore schob ihr den Teller mit Keksen hin. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine ganze Weile nichts gegessen.«
Charlotte nahm einen Keks. »Danke für Ihre Hilfe. Keine Ahnung, wie ich das wiedergutmachen soll.«
»Nicht der Rede wert«, sagte Éléonore. »Woher kommen Sie? Im Weird, meine ich. Aus welchem Land?«
Charlotte zögerte einen Augenblick. »Adrianglia.«
»Meine Enkelin hat einen Mann aus Adrianglia geheiratet«, teilte Éléonore ihr mit. »Earl Camarine.«
»Der Marschall der Südprovinzen«, sagte Charlotte.
Womöglich kannte sie Rose. »Genau. Kennen Sie ihn?«
»Ich bin ihm nie begegnet«, erwiderte Charlotte. »Ich kenne die Familie nur vom Hörensagen.«
Sie betrachtete den Wald. Die Erschöpfung stand ihr in Gestalt ihres müden, schlaffen Mundes und dunkler Ringe unter den traurigen Augen ins Gesicht geschrieben. Zweifellos hatte sie eine »Vergangenheit«, überlegte Éléonore. Das Mädchen wirkte nicht wie eine entflohene Kriminelle. Eher wie ein Opfer, das allein, aber entschlossen vor irgendetwas davonlief. Sie hatte genau denselben Blick bei ihrer Enkelin gesehen, wenn Rose kein Geld mehr hatte oder die Jungs mit einem unvorhergesehenen Notfall ankamen. Dieser Blick besagte, dass das Leben ihr wieder mal übel mitgespielt hatte, aber dass sie schon damit klarkommen würde.
»Und wo wollen Sie hin?«, erkundigte sich Éléonore.
»An keinen bestimmten Ort«, antwortete Charlotte.
»Nun, Sie sind nicht in der Verfassung, überhaupt irgendwohin zu gehen.«
Charlotte öffnete den Mund.
»Nicht in der Verfassung«, wiederholte Éléonore. »Meine Enkelin hat hier noch ein Haus. Eigentlich wollte ich es vermieten, habe aber niemanden gefunden, dem ich nicht zugetraut hätte, alles in Schutt und Asche zu legen. Jetzt ist alles voller Spinnweben, aber wenn Sie keine Angst vor Wischwasser und einem Besen haben, müssten Sie das Haus eigentlich wieder herrichten können. Sie dürfen eine Zeit lang dort wohnen. Und wenn Sie sich in Ihren Heilkünsten üben wollen, kriegen wir das auch irgendwie auf die Reihe. Dazu müssen wir Sie den Leuten nur anständig vorstellen. Die Menschen hier haben ihren eigenen Kopf.«
Mit großen Augen sah Charlotte sie sprachlos an. »Warum? Sie kennen mich doch nicht einmal. Ich könnte eine Kriminelle sein.«
Éléonore schlürfte ihren Tee. »Als Earl Camarine zum ersten Mal ins Edge kam, war ich über sein Erscheinen nicht sehr erfreut. Meine Enkelin ist etwas Besonderes, Charlotte. Alle Großeltern halten ihre Enkel für etwas Besonderes, aber was Rose angeht, stimmt das wirklich. Sie ist freundlich, klug und willensstark. Sie hat Jahre geübt und sich beigebracht, weiße Blitze zu schleudern wie die besten Blaublütigen. Und sie ist schön. Ihre Mutter starb, und ihr Vater…«
Éléonore verzog das Gesicht.
»Ich habe im Leben die falschen Entscheidungen getroffen. Ich habe nicht klug geheiratet und es geschafft, einen Sohn großzuziehen, der seine eigenen Kinder im Stich gelassen hat. John hat Rose und ihre Brüder ohne einen roten Heller sitzenlassen. Und Rose stand plötzlich als Mutter von zwei Kleinkindern da. Sie saß im Edge fest, hatte einen schrecklichen Job im Broken und gab sich alle Mühe, ihre Brüder großzuziehen. Ich wollte eine glänzende Zukunft für sie, stattdessen musste ich mitansehen, wie sie allmählich verblühte, und ich konnte nicht das Geringste dagegen unternehmen. Und dann kam Declan Camarine und legte ihr die Welt zu Füßen, versprach, sie zu lieben und sich um sie und George und Jack zu kümmern. Ich habe sie gewarnt, das sei zu schön, um wahr zu sein, aber sie ging trotzdem mit ihm fort. Wie sich herausstellte, hatte ich unrecht. Immerhin lebt sie jetzt das Leben einer Prinzessin. Ihr Mann liebt sie. Sie denken über eigene Kinder nach, sobald die Jungen aus dem Gröbsten raus sind.«
Auf Charlottes Gesicht erschien ein Anflug von Schmerz. Das war es also: Sie lief vor einer Mesalliance oder einem toten Kind davon. Armes Ding.
Éléonore lächelte. »Meine Enkelin ist glücklich, Charlotte. Sie hat alles, was ich mir für sie gewünscht habe. Als sie von hier fortging, hatte ich Zweifel, ob sie mit den Blaublütigen auskommen würde, doch ihre Schwiegermutter hat sie unter ihre Fittiche genommen. Ich bin zwar keine Herzogin, aber jetzt habe ich Gelegenheit, mit ihr gleichzuziehen. Ich würde Providence gerne vergelten, was sie für unsere Familie getan hat. Man kann uns Draytons vieles nachsagen, dass wir Piraten, Hexen, Gauner sind … aber niemand hat uns jemals vorgeworfen, undankbar zu sein. Eine Familie braucht Maßstäbe. Sogar im Edge. Sie sind willkommen, so lange Sie mögen.«
Drei Jahre später
Richard Mar lief durch den Wald. Aus der Wunde in seiner Flanke lief dunkles, fast schwarzes Blut. Ein schlechtes Zeichen. Vermutlich war die Leber zerfetzt. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt hast du es endlich geschafft, dich umbringen zu lassen, und das auch noch von einem Amateur. Deine Familie wäre stolz auf dich, wenn sie davon wüsste.
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