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Nachdem Andrea Nash sich von Werhyäne Raphael Medrano getrennt hat, sind ihre Gefühle in Aufruhr. Als einige Gestaltwandler auf mysteriöse Weise zu Tode kommen, muss Andrea jedoch mit Raphael zusammenarbeiten, um herauszufinden, was hinter den Vorkommnissen steckt. Dabei wird ihr klar, dass sie über Raphael noch lange nicht hinweg ist.
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Seitenzahl: 590
Ilona Andrews
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Bernhard Kempen
Über dieses Buch
Andrea Nashs Leben liegt in Scherben: Weil aufflog, dass sie eine Gestaltwandlerin ist, musste sie den Orden der Ritter der mildtätigen Hilfe verlassen – das einzige Zuhause, das sie je kannte. Als wäre das noch nicht schlimm genug, ging auch noch ihre Beziehung zu der Werhyäne Raphael Medrano in die Brüche, weil Raphael ihr vorwarf, nicht zu ihrer Herkunft zu stehen. Doch wie könnte sie das, wenn sie durch die Hände der Gestaltwandler lange Zeit nichts als Grausamkeiten und Schmerz erfahren hat? Um sich abzulenken, arbeitet Andrea als Privatermittlerin für Cutting Edge, die Detektivfirma ihrer besten Freundin Kate Daniels. Als einige Gestaltwandler auf mysteriöse Weise getötet werden, soll Andrea in dem Fall ermitteln. Die Arbeit wird ihr allerdings nicht gerade leicht gemacht: Denn die Ausgrabungsstätte, an der die Morde geschehen sind, gehört niemand anders als Raphael – und der nutzt die Gelegenheit, um in Andreas Büro aufzutauchen und ihr seine neue Freundin zu präsentieren. Eigentlich möchte Andrea beide am liebsten auf der Stelle in Stücke reißen. Aber um herauszufinden, wer für die Mordserie verantwortlich ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit Raphael zusammenzuarbeiten. Ihre Ermittlungen führen sie in die Unterwelt Atlantas, und was sie dort vorfinden, könnte nicht nur ihnen, sondern der gesamten Menschheit zum Verhängnis werden …
Für die guten Leute von Texas,
die uns aufgenommen und wie ihresgleichen behandelt haben
Prolog
Die Welt wurde von einer magischen Apokalypse heimgesucht. Wir haben den technischen Fortschritt zu weit vorangetrieben, und schließlich ist die Magie mit voller Kraft zurückgekehrt. Sie kam wie eine unsichtbare Flutwelle, riss Flugzeuge vom Himmel, warf Monster auf die Straßen, saugte die Kraftwerke aus und machte Schusswaffen unbrauchbar. Manche Menschen wachten auf und stellten fest, dass sie plötzlich Gestaltwandler waren. Andere starben, dahingerafft von einer durch die Magie ausgelösten Krankheit, und erhoben sich wieder als geistlose Untote, ohne Denkfähigkeit und nur von einem unstillbaren Hunger angetrieben. Götter wurden real, Flüche wurden zu mächtigen Werkzeugen, und Telekinese und Telepathie waren nicht mehr das Ergebnis von Illusionen und Spezialeffekten.
Drei Tage lang tobte sich die Magie aus, dann verschwand sie ohne Vorwarnung, und die Welt war schwer erschüttert, die Bevölkerung dezimiert, und die Städte lagen in Trümmern.
Seit diesem Tag, dem Tag der Wende, kommt und geht die Magie, wie es ihr beliebt. Sie überflutet den Planeten wie eine Welle, die sich an der Küste bricht, zischend und brodelnd ausläuft, ihr gefährliches Treibgut absetzt und sich wieder zurückzieht. Eine solche Welle hält manchmal eine halbe Stunde an, manchmal drei Tage. Niemand kann sie vorhersagen, und niemand weiß, was die Zukunft für uns bereithält.
Aber wir sind zäh. Wir werden überleben.
Zum 40. Jahrestag der Wende
Atlanta Journal-Constitution
Kapitel 1
Wumm!
Mein Kopf knallte auf den Gehweg. Candy riss mich an den Haaren hoch und rammte mein Gesicht gegen den Asphalt.
Wumm!
»Schlag sie noch einmal!«, quiekte Michelle mit ihrer schrillen jugendlichen Stimme.
Ich wusste, dass es ein Traum war, weil ich keine Schmerzen hatte. Trotzdem war die Angst da, der scharfe, heiße Schrecken, der mit hilfloser Wut durchmischt war. Es war die Art von Furcht, die einen Menschen in ein Tier verwandeln konnte. Die Dinge reduzierten sich auf ganz einfache Begriffe: Ich war klein, sie waren groß. Ich war schwach, sie waren stark. Sie taten mir weh, und ich erlitt die Schmerzen.
Wumm!
Mein Schädel prallte vom Straßenpflaster ab. Blut verschmierte mein blondes Haar. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Sarah aus dem Stand losrannte, wie ein Kicker vor einem Feldtor. Das Fleisch an ihrem Körper schien zu kochen. Knochen wuchsen, Muskeln umwickelten sie wie Zuckerwatte einen Stab, Haar spross und hüllte den neuen Körper, der halb menschlich, halb tierisch war, in einen Mantel aus sandfarbenem Fell, das mit typischen Hyänenflecken durchsetzt war. Die Bouda grinste mich an, zeigte mir das deformierte Maul voller Zähne. Ich verkrampfte mich, rollte meinen zehnjährigen Körper zusammen. Der krallenbewehrte Fuß schlug gegen meine Rippen. Die zehn Zentimeter langen Klauen kratzten über Knochen, die wie Zahnstocher in mir zerbrachen. Sarah schlug immer wieder zu.
Wumm, wumm, wumm!
Es war ein Traum. Ein Erinnerungen erwachsener Traum, aber trotzdem nur ein Traum. Ich wusste es, weil meine Mutter kurz darauf mit meinem elfjährigen Ich die Flucht quer durch das halbe Land antrat und ich zehn Jahre später zurückkehrte und Sarah zwei Kugeln durch die Augen jagte. In Candys linkes Ohr entleerte ich ein komplettes Magazin. Ich erinnerte mich daran, wie ihr Schädel rot erblüht war, als die Kugeln auf der anderen Seite austraten. Ich hatte den gesamten Werhyänen-Clan getötet. Ich hatte die Bouda-Hexen vom Antlitz der Erde getilgt, weil die Welt ohne sie eine bessere war. Michelle war als Einzige entkommen.
Ich setzte mich auf und sah sie grinsend an. »Ich wache jetzt auf, meine Damen. Ihr könnt mich mal!«
Ich riss die Augen auf. Ich lag in meinem Schrank, in eine Decke gehüllt, und hielt ein Fleischermesser in der Hand. Die Tür des Schranks war nicht ganz geschlossen, und das graue Licht des frühen Morgens sickerte durch den dünnen Spalt.
Wunderbar! Andrea Nash, dekorierte Veteranin des Ordens, versteckte sich mit einem Messer und einer Kuscheldecke in ihrem Wandschrank. Ich hätte so lange in dem Traum bleiben sollen, bis ich Hackfleisch aus ihnen gemacht hatte. Wenigstens hätte ich mich dann nicht ganz so erbärmlich gefühlt.
Ich atmete ein und prüfte die Luft. Ich nahm die normalen Gerüche meiner Wohnung wahr, den synthetischen Apfelduft von der Seife im Badezimmer, die Vanille-Note der Duftkerze neben meinem Bett und am stärksten den Gestank nach Hundefell, eine Hinterlassenschaft aus der Zeit, als Grendel, der Pudel meiner Freundin Kate, mir Gesellschaft geleistet hatte. Diese Laune der Natur hatte am Fußende meines Betts geschlafen und ihren unverwechselbaren Mief auf ewig meinem Teppich eingeprägt.
Keine Einbrecher.
Die Gerüche waren gedämpft, was bedeutete, dass die Magie abgeebbt war.
Wumm-wumm-wumm!
Was hatte das zu bedeuten?
Wumm!
Jemand hämmerte gegen meine Tür.
Ich warf die Decke ab, kam auf die Beine und verließ den Schrank. Schnell blickte ich mich in meinem Schlafzimmer um: das große Bett, frei von Eindringlingen, die zerwühlte Decke auf dem Teppich, meine Jeans und der BH, die ich am Vorabend neben das Bett geworfen hatte, neben einem Taschenbuch von Lorna Sterling mit einem Piraten in tuntigem Hemd auf dem Cover, das Bücherregal, das bis oben vollgestopft war, blassblaue Vorhänge vor dem vergitterten Fenster – alles unberührt.
Ich legte das Fleischermesser auf den Nachttisch, zog meine Pyjamahosen hoch, griff nach meiner SIG Sauer P226, die unter dem Kopfkissen lag, und lief zur Tür. Mit einer Pistole in der Hand aufzuwachen wäre mindestens genauso verrückt gewesen, aber nein, ich war mit einem Messer aufgewacht. Das bedeutete, dass ich offenbar mitten in der Nacht aufgestanden war, um in die Küche zu stürmen, ein Messer aus dem Block zu ziehen, zurück ins Schlafzimmer zu rennen, mir eine Decke zu schnappen und mich im Schrank zu verstecken. Und das alles, ohne dass mir bewusst wurde, wo ich war oder was ich tat. Wenn das nicht verrückt war, wusste ich nicht, was es war.
Seit meiner Teenagerzeit hatte ich nicht mehr mit einem Messer geschlafen. Dieser Rückfall in die Vergangenheit war gar nicht gut und musste so schnell wie möglich enden.
Wumm-wumm!
Ich erreichte die Tür und reckte mich auf Zehenspitzen empor, um durch den Spion zu lugen. Auf der anderen Seite stand eine große Schwarze in den Fünfzigern. Ihr graues Haar war zerzaust, sie trug ein Nachthemd, und ihr Gesicht war so sehr von Sorgen zerfurcht, dass ich sie kaum wiedererkannte. Mrs Haffey. Sie wohnte mit ihrem Ehemann in der Wohnung genau unter mir.
Normalerweise betrachtete Mrs Haffey ihr Erscheinungsbild als ernsthafte Angelegenheit. Was ihre Kampfbereitschaft betraf, war sie meine große Heldin. Ich hatte sie nie ohne Make-up und tadellose Frisur gesehen. Damit bestand nicht der geringste Zweifel, dass etwas nicht stimmte.
Ich schloss die Tür auf.
»Andrea!«, keuchte Mrs Haffey. Hinter ihr zogen sich lange weiße Fäden durch den Flur und das Treppenhaus. Ich war mir zu einhundert Prozent sicher, dass sie noch nicht da gewesen waren, als ich mich vergangene Nacht in meine Wohnung geschleppt hatte.
»Was ist passiert?«
»Darren ist verschwunden!«
Ich zog sie in meine Wohnung und schloss die Tür. »Sie müssen mir alles langsam und deutlich von Anfang an erzählen. Was ist geschehen?«
Mrs Haffey atmete einmal tief durch. Sie war seit fünfundzwanzig Jahren mit einem Polizisten verheiratet und konnte auf eine reichhaltige Erfahrung mit Notfällen zurückgreifen. Ihre Stimme klang fast wieder normal. »Ich bin aufgewacht und habe Kaffee gemacht. Darren ist aufgestanden und mit Chief nach draußen gegangen. Dann habe ich geduscht, und als ich damit fertig war, war er noch nicht zurück. Ich bin auf den Balkon gegangen, aber Darren war nicht an seiner üblichen Stelle.«
Ich wusste genau, wo diese übliche Stelle war, zwei Stockwerke unter meinem Schlafzimmerfenster, wo Chief, die Bulldogge der Haffeys, vorzugsweise sein Revier markierte. Ich roch es jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Natürlich nahm auch Chief meine Witterung wahr, was seine Entschlossenheit umso mehr stärkte, urinierend seine territoriale Vorherrschaft zu unterstreichen.
»Ich habe Darren immer wieder gerufen, aber nichts rührte sich. Dann wollte ich nach unten gehen. Überall auf dem Treppenabsatz ist Blut, und eine weiße Substanz auf den Treppen hat mir den Weg versperrt.«
»Hat Mr Haffey seine Waffe mitgenommen?«
Mr Haffey war aus dem Dienst bei der Paranormal Activity Division der Polizei von Atlanta ausgeschieden. Polizisten der PAD nahmen es sehr genau mit ihren Waffen. Soweit ich wusste, verließ Darren Haffey das Haus niemals ohne seinen stupsnasigen Revolver vom Typ Smith & Wesson M&P340.
»Er nimmt immer seine Waffe mit«, sagte Mrs Haffey.
Und er hatte nicht damit geschossen, weil sein Revolver mit Magnum-Patronen vom Kaliber 357 gefüttert wurde. Wenn er abdrückte, klang der Schuss, als würde eine kleine Kanone losgehen. Ich hätte den Knall gehört und selbst im Traum sofort erkannt, worum es sich handelte. Was auch immer geschehen war, es war schnell geschehen.
Die mysteriöse »weiße Substanz« musste als Folge der magischen Welle in der vergangenen Nacht erschienen sein. Kate, meine beste Freundin, hatte meine Wohnung vor Monaten mit einem Wehr versehen. Unsichtbare Zaubersprüche schirmten meine Räume durch eine schützende Barriere ab. Kate hatte die Seitenwände, die Decke und den Boden gesichert. Alles Magische hätte große Schwierigkeiten gehabt, sich Zugang zu verschaffen, was wahrscheinlich erklärte, warum ich die ganze Nacht lang ungestört geschlafen hatte.
»Sie wissen, dass Darren blind wie eine Fledermaus ist«. Mrs Haffey rang die Hände. »Er könnte gar nicht sehen, worauf er schießt. Neulich kam er fluchend aus dem Bad gerannt und hatte Schaum um den Mund. Er hatte sich die Zähne nicht mit Zahnpasta, sondern mit Rheumacreme geputzt …«
Ein hysterischer Unterton schlich sich in ihre Stimme. Mit einem Meter achtundsiebzig war sie zwanzig Zentimeter größer als ich und beugte sich zu mir herab. »Ich habe auf der Wache angerufen, aber dort sagte man, dass sie erst in zwanzig Minuten oder später da sein werden. Und da Sie beim Orden waren, dachte ich mir …«
Ich hatte tatsächlich dem Orden angehört. Als ich eine Ritterin der mildtätigen Hilfe war, bestand meine Aufgabe darin, Menschen zu unterstützten, wenn die Polizisten ihnen in einer magischen Gefahrensituation nicht weiterhelfen konnten oder wollten. Ich hatte Auszeichnungen erhalten und eine herausragende Dienstakte, aber das alles spielte keine Rolle mehr, als der Orden herausfand, dass ich eine Gestaltwandlerin war. Man brandmarkte mich als mental gestört und dienstuntauglich und versetzte mich in den sogenannten Ruhestand.
Aber meine Ausbildung und meine Fähigkeiten hatten sie mir nicht nehmen können.
Ich drückte gegen einen Riegel in der Wand. Eine Tür glitt zur Seite und offenbarte eine kleine Nische, die früher ein Garderobenschrank gewesen war und die ich zu meiner privaten Waffenkammer umgebaut hatte. Aufgereihte Waffenläufe glänzten im Morgenlicht.
Mrs Haffey schloss mit einem hörbaren Geräusch den Mund.
Mal sehen. Ich würde meine SIGs mitnehmen, aber ich brauchte noch etwas mit mehr Durchschlagskraft. Die AA-12, eine Selbstladeschrotflinte vom Kaliber 12 mit 32-Schuss-Magazin, war immer eine gute Wahl. Sie gab mit minimalem Rückstoß 300 Schuss pro Minute ab. Ich lud meine Waffe mit Stahlpatronen. Einmal den Abzug drücken, und mit einer einzigen Patrone konnte man eine Autotür durchschlagen. Den Abzug gedrückt halten, und alles, was sich vor dem Lauf befand, ganz gleich, wie gut es gepanzert war, wurde innerhalb von sechseinhalb Sekunden in einen rauchenden Fleischhaufen verwandelt. Ich hatte ein Vermögen dafür bezahlt, und sie war jeden einzelnen Dollar wert.
Ich schnappte mir die AA-12 und schnallte einen Waffengürtel um, in den ich meine SIG und ihren Zwilling steckte. »Mrs Haffey, ich möchte, dass Sie hier bleiben.« Ich sah sie mit einem netten Lächeln an. »Verriegeln Sie hinter mir die Tür, und öffnen Sie sie erst dann, wenn ich wieder zurück bin. Haben Sie verstanden?«
Mrs Haffey nickte.
»Danke, Ma’am.«
Ich trat auf den Treppenabsatz und hörte, wie hinter mir der Türriegel zugeschoben wurde.
Die »weiße Substanz« zog sich in langen hellen Fäden über die Wände. Das Zeug hatte Ähnlichkeit mit Spinnweben, doch die entsprechende Spinne hätte die Größe einer Bowlingkugel haben müssen, und die Fäden waren nicht spiralförmig, sondern in vertikaler Richtung gewebt. Ich ging ein Stück weiter und inhalierte. Normalerweise gab es hier einen Luftzug, der vom Vordereingang des Gebäudes heraufkam. Heute war keine Bewegung im Treppenhaus zu spüren, aber ich nahm den strengen metallischen Geruch nach frischem Blut wahr. Meine Nackenhärchen sträubten sich. Das Raubtier in mir, mein anderes Ich, das tief in mir schlief, öffnete die Augen.
Ich tappte die Treppe hinunter, trat vorsichtig auf die Betonstufen, die Schrotflinte schussbereit. Obwohl die Magie meine Existenz überhaupt erst möglich machte, bedeutete das nicht, dass die Magie und ich gute Freundinnen waren. Waffen waren mir in jedem Fall lieber als Zaubersprüche.
Das Geflecht wurde dichter. Vor der Tür der Haffeys bedeckte es vollständig die Wände und das hölzerne Treppengeländer. Ich drehte mich um und ging weiter hinunter. Der Blutgestank drang mir unangenehm in die Nase, und nun konnte ich ihn sogar auf der Zunge schmecken. Alle meine Sinne liefen auf Hochtouren. Mein Herz schlug schneller. Meine Pupillen erweiterten sich und verbesserten mein Sehvermögen. Meine Atmung beschleunigte sich. Mein Gehör wurde feiner, und ich bemerkte ein Geräusch, fern, gedämpft, aber unverkennbar: das tiefe, kehlige Bellen einer Bulldogge.
Ich ging noch ein Stück hinunter. Die Stufen waren mit Blut beschmiert. Eine große Menge, bestimmt ein paar Liter, in großen runden Tropfen verteilt. Entweder hatte jemand geblutet und war herumgelaufen, oder er hatte geblutet und war getragen worden. Bitte nicht Darren. Ich mochte Darren und seine Frau. Mrs Haffey war immer sehr nett zu mir gewesen.
Der Treppenabsatz des ersten Stocks war nur noch ein enger Tunnel durch das Netz. Die Tür zum Apartment 1A war intakt, aber völlig mit den weißen Fäden überwuchert. Die gleiche solide Wand aus Weiß versperrte den Weg nach unten, und nirgendwo war sie aufgerissen. Kein Hinweis, dass Darren in diese Richtung gegangen war. Die Tür zu 1B bestand nur noch aus zersplitterten Trümmern. Blutspuren führten über die Schwelle in die Wohnung. Jemand war hineingeschleift worden.
Ich trat in den Flur. Ein neuer Geruch umwehte mich, eine leicht säuerliche, kratzende Note, die meinen instinktiven Alarm auslöste. Nicht gut.
Die Wohnung war genauso geschnitten wie meine: ein schmaler Flur, der sich nach rechts zur Küche öffnete, links das Wohnzimmer, dann das erste Schlafzimmer, dahinter ein kurzer Korridor, der im rechten Winkel abbog und zur Waschküche und der Gästetoilette führte, und schließlich das Hauptschlafzimmer mit eigenem Badezimmer.
Ich rückte systematisch vor und sicherte die Ecke, indem ich an der Wand anfing und mich im rechten Winkel davon entfernte, sodass ich jede Gefahr hinter der Ecke bemerken würde, bevor sie mich bemerkte. Es sieht sehr dramatisch aus, hinter einer Ecke hervorzuspringen, aber es führt häufig dazu, dass einem der Kopf von den Schultern gepustet wird.
Küche – alles klar.
Ich trat ins Wohnzimmer.
Auf der linken Seite neben einem Beistelltisch stand ein großer Weidenkorb voller Garn. Zwei lange Nadeln ragten aus den Knäueln hervor. Neben dem Korb lag ein abgetrennter menschlicher Arm. Das Blut war herausgeflossen und hatte einen dunkelroten Fleck auf dem beigefarbenen Teppich hinterlassen, der den gesamten Fußboden bedeckte.
Helle Haut. Nicht Darren Haffey. Nein, der Arm gehörte höchstwahrscheinlich zu Mrs Truman, die mit ihren zwei Katzen in dieser Wohnung lebte. Sie spielte gern Bridge mit ihrem Strickclub und sammelte Garn für »spezielle« Projekte, die sie nie realisierte. Jetzt lag ihr abgerissener Arm neben dem Korb mit ihren Stricksachen. Keine Zeit, es zu verdauen. Ich hatte Darren immer noch nicht gefunden.
Ich lief weiter. Der säuerliche Geruch wurde immer stärker.
Schlafzimmer – alles klar. Badezimmer – alles klar.
Im gefliesten Boden der Waschküche klaffte ein riesiges Loch. Etwas war von unten hindurchgebrochen.
Ich umkreiste das Loch, die Flinte nach unten gerichtet.
Keine Bewegung. Unter mir schien alles ruhig zu sein.
Ein gedämpfter Laut unterbrach die Stille.
Meine Ohren zuckten.
Wuff! Wuff!
Chief lebte noch und war irgendwo da unten. Ich sprang in das Loch, landete auf dem Betonfußboden des Erdgeschosses und trat vom Lichtschein zurück, der durch das Loch fiel. Es war nicht nötig, ein deutlich erkennbares Ziel abzugeben.
Im Erdgeschoss herrschte Zwielicht, das vom Geflecht in die dunklen Winkel sickerte. Die Wände waren nicht mehr vorhanden. Hier gab es nur noch das Netz, weiß und endlos.
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Solange es noch ein Minimum an Licht gab, bewahrte mein Sehvermögen als Gestaltwandlerin mich davor, gegen irgendwelche Gegenstände zu stoßen.
Feuchte dunkle Flecken verschandelten den Beton. Blut. Ich folgte der Spur.
Vor mir war der Beton aufgebrochen. Ein langer Riss lief durch den Boden, mindestens einen Meter breit. Das Wohngebäude war ohnehin nicht besonders stabil gebaut. Die Magie konnte Hochhäuser nicht ausstehen und nagte an ihnen, pulverisierte Ziegel und Mörtel, bis die Konstruktion einstürzte. Je größer das Gebäude, desto schneller fiel es zusammen. Unseres war zu klein und zu niedrig, und bislang waren wir unbeschadet davongekommen, aber riesige Löcher im Erdgeschoss steigerten nicht gerade das Vertrauen.
Ein Schnaufen drang aus dem Spalt. Ich beugte mich vor. Ein Hauch von stinkendem Hundefell wehte herauf.
Chief, du dummer Köter.
Ich ging neben dem Loch in die Hocke. Unten wuselte die Bulldogge herum und schnaufte aufgeregt. Chief musste in den Spalt gefallen sein, der zu tief war, um wieder nach oben springen zu können.
Ich legte meine Flinte auf den Boden, beugte mich noch weiter vor und packte das Nackenfell des Hundes. Die Bulldogge wog mindestens vierzig Kilo. Womit in aller Welt fütterten die Haffeys ihn? Mit kleinen Elefanten? Ich riss ihn hoch und heraus und sprang wieder auf die Beine, die Schrotflinte in der Hand. Das Ganze hatte nur eine halbe Sekunde gedauert.
Chief drückte sich gegen mein Bein. Er war eine Olde English Bulldogge, eine Rückzüchtung zu den Zeiten, als die Englische Bulldoggen noch zum Kampf gegen Bullen benutzt wurden. Chief war ein kräftiger, agiler Hund, der weder Müllwagen noch streunende Hunde oder Pferde scheute. Doch nun schmiegte er sich völlig verängstigt an meine Wade.
Ich nahm mir eine Sekunde, um mich zu bücken und ihm den großen Kopf zu tätscheln. Alles wird gut. Du bist jetzt bei mir.
Wir gingen weiter und bewegten uns langsam vom ersten schmalen Zimmer in einen größeren Raum. Das Geflecht überspannte die Wände und bot in den Ecken gute Versteckmöglichkeiten. Verdammt unheimlich.
Vorsichtig schob ich mich um die nächste Ecke. Vor der Wand rechts von mir standen nebeneinander zwei Öfen: der elektrische für die Zeiten, wenn die Technik die Oberhand hatte, und die altertümliche Monstrosität, die mit Kohle gefüttert wurde und während der Magiewellen lief, wenn elektrischer Strom unmöglich war. Rechts vom Kohleofen stand ein großer Kohlenbehälter, ein anderthalb Meter hoher Holzkasten voller Kohle. Auf der Kohle lag, halb darunter begraben, Mr Haffey.
Zwei Kreaturen krochen vor dem Behälter auf dem Betonboden herum. Sie waren einen knappen Meter groß und mindestens anderthalb Meter lang. Sie ähnelten riesigen flügellosen Wespen, deren Thorax sich nach unten verjüngte, bis der dicke Unterleib ansetzte. Steife braune Borsten überzogen die beigefarbenen, fast durchscheinenden Körper. Ihre Köpfe waren größer als Chiefs schwerer Schädel und mit Mandibeln ausgestattet, die die Ausmaße von Gartenscheren hatten. Ihre Krallen scharrten über den Beton, während sie sich bewegten – ein unheimliches, widerwärtiges Geräusch.
Die linke Kreatur blieb stehen und stellte alle sechs chitingepanzerten Beine auf den Boden. Dann hob sie das hintere Körperende und verschoss einen zähflüssigen Strahl, der die Wand traf und dort festklebte. Das Wesen rieb das Hinterteil über den Boden, um die Faser zu befestigen, und entfernte sich, während das Sekret zu einem blassen Faden aushärtete.
Bäh.
Mr Haffey hob den Kopf.
Die Kreaturen hielten inne und konzentrierten sich auf die Bewegung.
Ich feuerte.
Die Schrotflinte bellte und spuckte Donner. Die erste Stahlpatrone schlug in die rechte Kreatur und schlitzte das Chitin auf, als wäre es papierdünnes Sperrholz. Das Insekt zerbrach in zwei Hälften. Feuchte Innereien ergossen sich auf den Boden wie ein Bündel aus Schwimmblasen. Ohne zu zögern, drehte ich mich und feuerte einen zweiten Schuss auf seinen Kumpel ab. Chief bellte an meiner Seite und fletschte die Zähne. Die Kreaturen zuckten und schlugen um sich, schleiften ihre Körperstücke über den Boden. Der säuerliche, kratzige Geruch war noch intensiver geworden.
Darren Haffey setzte sich im Kohlenkasten auf. »Wie ich sehe, hat Kayla Sie in diese Sache hineingezogen.«
Ich sah ihn lächelnd an. »Nein, Sir. Ich wollte mir nur ein bisschen Zucker von Ihnen borgen.«
»Ha.«
Das Geflecht, das einen großen Teil des Raums verhüllte, riss auf.
»Achtung!«, rief Mr Haffey und hob seine Schusswaffe.
Das erste Insekt kam herausgestürmt. Ich feuerte. Bumm!
Zwei weitere. Bumm, bumm!
Bumm!
Bumm, bumm, bumm!
Die zerfetzten Chitinkörper krachten gegeneinander und bildeten einen Haufen aus zuckenden Beinen und Übelkeit erregenden Innereien.
Bumm, bumm, bumm! Bumm!
Ein Insekt sprang über den Haufen und kam genau auf mich zu. Ich riss die Schrotflinte hoch. Der Treffer ließ den Unterleib der Kreatur explodieren und bespritzte mich mit einer widerlichen Flüssigkeit. Insektensaft brannte auf meinen Lippen. Würg.
Ein kleineres Insekt schoss auf mich zu. Scharfe Mundwerkzeuge schlitzten mein Bein auf. Du Mistkäfer! Chief rammte das Wesen und stürzte sich darauf, bevor ich feuern konnte.
Bumm! Bumm!
Ich schoss immer wieder. Endlich versiegte die grässliche Flut. Ich wartete und horchte, aber es kam nichts mehr. Meine Wade brannte. Der Schmerz machte mir nicht viel aus, aber ich machte mir Sorgen, dass ich nun eine Blutspur hinterlassen würde, die unglaublich einfach zu verfolgen war. Ich hatte noch fünf Patronen in der AA-12. Ich wusste nicht, ob ich sie alle getötet hatte oder ob es nur die Ruhe vor dem Ansturm des zweiten Insektenschwarms war. Ich musste Mr Haffey hier rausbringen.
Er saß auf dem Kohlenhaufen und starrte auf die verstreuten Insektenteile. »Verdammt! Ein ziemlich wüstes Geballer.«
»Stets zu Ihren Diensten«, sagte ich zu ihm.
»Sie nehmen Ihren Dienst sehr ernst.«
Lob war schon etwas Komisches. Ich war ein Ass, aber wenn ich es von einem Veteranen der PAD hörte, gab es mir trotzdem ein warmes, berauschendes Gefühl. »Haben Sie Mrs Truman gesehen?«
»Ich habe ihre Leiche gesehen. Die Mistviecher haben sie in Stücke gerissen.«
Arme Mrs Truman. »Können Sie laufen?«
»Die Scheißer haben mein Bein erwischt. Ich blute wie ein abgestochenes Schwein.«
Deswegen hatte er sich in den Kohlen versteckt. Er hatte sein Bein unter Kohlenstaub begraben, um den Geruch zu überdecken. »Also wird es Zeit zu gehen.«
»Hören Sie mir zu.« Mr Haffey legte etwas mehr Polizistenhärte in seinen schroffen Tonfall. »Sie können mich hier unmöglich rausbringen. Selbst wenn ich mich auf Sie stütze, wiege ich zweihundertzwanzig Pfund, und mein Gewicht würde Sie einfach nur zu Boden drücken. Lassen Sie mir eine Waffe da und machen Sie, dass Sie hier rauskommen. Kayla hat bestimmt schon die Polizei informiert. Ich werde die Viecher in Schach halten, bis …«
Ich warf mir die Flinte über die Schulter und hob ihn aus dem Kohlenkasten. Ich war nicht so stark wie ein normaler Gestaltwandler, obwohl ich schneller und beweglicher als die meisten war, aber ein Zweihundert-Pfund-Mann stellte trotzdem keine besondere Herausforderung für mich dar.
In kürzester Zeit war ich wieder beim Loch, dicht gefolgt von Chief. Die Bulldogge hielt mit den Zähnen ein Chitinbein gepackt, das so lang wie der Hund war. Er musste den Kopf zurückstrecken, um es tragen zu können, aber sein Blick machte klar, dass keine Armee der Welt ihm dieses Bein würde wegnehmen können.
»Das ist mir sehr peinlich«, teilte Mr Haffey mir mit.
Ich zwinkerte ihm zu. »Was? Hat Mrs Haffey Sie etwa nicht in der Hochzeitsnacht über die Schwelle getragen?«
Er riss die Augen auf. »Das ist einfach nur lächerlich. Was sind Sie?«
Ich hatte den größten Teil meines Lebens vorgegeben, ein Mensch zu sein. Aber jetzt war die Hyäne aus dem Sack, und früher oder später würde ich es sowieso eingestehen müssen. »Eine Gestaltwandlerin.«
»Ein Wolf?«
»Eine Bouda.« Nun ja, nicht ganz. Die Wahrheit war etwas komplizierter, aber ich war noch nicht für eine ausführliche Erklärung bereit.
Wir erreichten das Loch. Wenn ich eine normale Bouda gewesen wäre, hätte ich einfach mit Mr Haffey in den Armen nach oben springen können. Aber ich kannte meine Grenzen und wusste, dass das nicht ging. Ihn einfach hinaufzuwerfen hätte seiner ohnehin stark geschädigten Würde den Rest gegeben. »Ich werde Sie hochheben. Können Sie sich hinaufziehen?«
»Ist der Papst katholisch?«
Ich setzte ihn ab, legte die Hände um seine Hüften und hob ihn empor. Mr Haffey zog sich über die Kante, und dabei konnte ich aus nächster Nähe seine Verletzung betrachten. Es war ein zehn Zentimeter langer Riss in seinem Bein, und nachdem ich seine Jogginghosen berührt hatte, war meine Hand blutig. Er brauchte dringend einen Notarzt, am besten noch gestern.
Ich warf Chief mit seiner Beute durch das Loch nach oben. Dann sprang ich, packte die Kante und schwang mich hinauf.
»Könnten Sie mich wenigstens im Feuerwehrmannstil tragen?«, schnaufte Mr Haffey.
»Nein, Sir. Ich versuche zu vermeiden, dass das Blut aus Ihrem Bein auf den Boden tropft.«
Er knurrte verärgert.
Ich hob ihn auf und machte mich auf den Weg. »Es wird bald überstanden sein.«
Er lachte schallend.
Ich nahm das vertraute Krabbeln hinter mir wahr. Es kam aus dem Hauptschlafzimmer.
»Ich dachte, im Orden sind keine Gestaltwandler erlaubt.«
»Richtig. Als man mir auf die Schliche kam, wurde ich sofort gefeuert.«
Das Krabbeln folgte uns.
»Das ist mies.« Mr Haffey schüttelte den Kopf. »Und diskriminierend. Haben Sie mit Ihrem Gewerkschaftsvertreter gesprochen?«
»Ja. Ich habe mich so lange wie möglich dagegen gewehrt. Jedenfalls hat man mich mit voller Pension in den Ruhestand geschickt. Ich kann keine Beschwerde einlegen.«
Mr Haffey bedachte mich mit einem abschätzenden Blick. »Sie haben das Geld angenommen?«
»Nein. Ich habe ihnen gesagt, wohin sie es sich stecken können.«
Ich ließ ihn so behutsam wie möglich zu Boden sinken und wirbelte mit schussbereiter Schrotflinte herum.
Ein riesiges blasses Insekt stürmte auf uns zu. Ich jagte ihm zwei Patronen in den Leib. Es wand sich am Boden. Ich sammelte Mr Haffey wieder auf und hetzte zur Tür.
»Hören Sie, die meisten meiner Kontakte sind inzwischen in Rente, aber ein paar von uns haben Kinder, die bei der Polizei arbeiten. Wenn Sie einen Job brauchen, kann ich vielleicht etwas für Sie tun. Die PAD wäre froh über jemanden wie Sie. Sie sind verdammt gut. Ihre Talente sollten nicht vergeudet werden.«
»Besten Dank«, sagte ich lächelnd. »Aber ich habe schon einen Job. Ich arbeite für ein Unternehmen, das meiner besten Freundin gehört.« Ich stieg die Treppe hinauf.
»Was für ein Unternehmen?«
»Behebung magischer Gefahrensituationen. Schutz. Und solche Sachen.«
Mr Haffey öffnete die Augen. »Eine Privatdetektivin? Sie arbeiten jetzt privat?«
Typisch Polizist. Ich erzähle ihm, dass ich Gestaltwandlerin bin, was er zur Kenntnis nimmt, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber Privatdetektivin? Oh, nein, das geht gar nicht!
»Und wie laufen die Geschäfte?« Mr Haffey schaute mich blinzelnd an.
»Ganz gut.« Wenn man gut mit miserabel übersetzte. Kate Daniels und ich hatten zusammen einen Ozean an Fähigkeiten, einen See an Erfahrungen und genügend schmutzige Flecken auf der Reputation, um ein Dutzend Karrieren zu vernichten. Alle unsere Klienten waren verzweifelt, weil sie erst dann zu uns kamen, wenn sie bereits von allen anderen abgewiesen worden waren.
»Was hat Ihr Freund dazu gesagt?«
Raphael Medrano. Die Erinnerung an ihn war so lebendig, dass ich wieder seinen Geruch in der Nase hatte, wenn ich nur an ihn dachte. Dieser kräftige, männliche, gesunde Geruch, der mich verrückt machte …
»Es hat nicht funktioniert«, sagte ich.
Mr Haffey bewegte sich unruhig. »Sie müssen mit diesen Albernheiten aufhören und wieder eine Uniform anziehen. Es geht um Rentenansprüche, Zusatzleistungen, Beförderungen und Gehaltserhöhungen …«
Ich lief zu meiner Tür. »Mrs Haffey!«
Die Tür schwang auf. Mrs Haffeys Gesicht erschlaffte. »Oh, Gott, Darren! Oh, Gott!«
In der Ferne heulten die vertrauten Sirenen.
*
Die Kavallerie traf bewaffnet und in großer Zahl ein. Die Leute verluden Mr Haffey in einen Krankenwagen, dankten mir für meine Hilfe und sagten, dass ich ihnen aus dem Weg gehen sollte, da ich Zivilistin war. Mir war es recht. Ich hatte das meiste getötet, was sich da unten herumtrieb, und sie hatten ihre komplette Ausrüstung angelegt und sogar Flammenwerfer mitgebracht. Es war völlig in Ordnung, wenn sie auch ein bisschen Spaß hatten.
Ich versorgte den Schnitt an meinem Bein, obwohl ich nicht allzu viel machen konnte. Lyc-V, das Virus, das für die Existenz der Gestaltwandler verantwortlich war, ließ Verletzungen ungewöhnlich schnell abheilen, und als ich mich endlich darum kümmern konnte, hatte sich die Haut bereits geschlossen. In ein paar Tagen wäre das Bein wieder wie neu, und das ohne Narben. Manche Auswirkungen von Lyc-V waren recht nützlich. Auf andere, zum Beispiel die Tobsuchtsanfälle, könnte ich verzichten.
Ich rieb mir den Insektensaft mit meinem Waschlappen zur Make-up-Entfernung aus dem Gesicht, als das Telefon klingelte. Ich wischte mir die Seife ab und rannte in die Küche, um abzunehmen.
»Hallo?«
»Nash?«, fragte eine sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung.
Die sanfte Stimme gehörte zu Jim, einem Werjaguar, dem Sicherheitschef des Rudels. Normalerweise, wenn man ihn nicht allzu gut kannte, wurde er Jim Black genannt. Während meiner Zeit beim Orden hatte ich ein paar Nachforschungen über ihn angestellt. Sein richtiger Name war James Damael Shrapshire, was ich allerdings für mich behielt, da auch er ihn nicht öffentlich machte.
Das Gestaltwandlerrudel von Atlanta war das mächtigste im Land, und meine Beziehung zu ihm war kompliziert. Aber das Rudel unterstützte Cutting Edge, das Unternehmen, für das Kate und ich jetzt arbeiteten. Das Rudel hatte das Startkapital zur Verfügung gestellt, und es hatte die höchste Priorität, wenn es um Aufträge ging.
»Hallo, Jim. Was kann ich für dich tun?« Jim war gar kein schlechter Kerl. Paranoid und geheimniskrämerisch, aber Katzen waren nun mal seltsame Wesen.
»Einer unserer Geschäftsbetriebe wurde letzte Nacht überfallen«, sagte Jim. »Vier Personen sind tot.«
Offenbar gab es jemanden mit Todessehnsucht, aber dieser Jemand konnte nicht besonders intelligent sein, weil es wesentlich einfachere Methoden gab, Selbstmord zu begehen. Das Rudel kümmerte sich fürsorglich um seine Mitglieder, und wenn man einem von ihnen wehtat, bekam man sehr schnell mit, wie wichtig das Rudel diese Angelegenheit nahm. »Jemand, den ich kenne?«
»Nein. Zwei Schakale, eine Bouda und ein Fuchs aus dem Flink-Clan. Ich möchte, dass du rübergehst und die Sache untersuchst.«
Ich machte mich auf den Weg zum Schlafzimmer. »Kein Problem. Aber warum ich?«
Jim seufzte ins Telefon. »Andrea, wie viele Jahre hast du als Ritterin zugebracht?«
»Acht.« Ich warf meine Sachen aufs Bett: Socken, Arbeitsstiefel, Jeans …
»Und wie viele Jahre davon hast du aktiv an Fällen gearbeitet?«
»Sieben.« Ich legte eine Schachtel Munition neben den Kleiderhaufen auf dem Bett.
»Das ist der Grund. Du bist die erfahrenste Ermittlerin, die ich habe und die nicht gerade mit etwas anderem beschäftigt ist. Und die Gemahlin kann ich nicht bitten, sich darum zu kümmern, weil a) sie und Curran an etwas anderem arbeiten und b) jedes Mal die halbe Stadt in die Luft fliegt, wenn die Gemahlin sich um eine Angelegenheit kümmert.«
Kate, die Gemahlin. Der Titel brachte mich immer noch zum Schmunzeln. Jedes Mal, wenn jemand ihn benutzte, nahm ihr Gesicht einen gequälten Ausdruck an.
»Diese Sache scheint sehr kompliziert zu sein, und die Polizei steckt bis zu den Ellbogen drin. Ich brauche dich, damit du das Chaos entwirrst.«
Endlich. Endlich etwas, in das ich mich hineinstürzen konnte.
Ich klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr und nahm einen Stift und meinen Notizblock vom Nachttisch. »Hast du eine Adresse?«
»Griffin Nummer vierzehn-zwölf.«
Die Griffin Street führte durch SoNo, eins der ehemaligen Finanzzentren der Innenstadt. Der Name war die Abkürzung von »South of North Avenue«. Es war ein schlimmer und instabiler Bezirk, wo ständig alte Bürogebäude einstürzten.
»Was haben die Gestaltwandler dort gemacht?«
»Gearbeitet«, sagte Jim. »Es handelt sich um ein Recyclingunternehmen.«
Recycling. Oh, nein! Das konnte er mir nicht antun. Ich bemühte mich, mit gleichmäßiger Stimme zu sprechen. »Wer war für die Leitung verantwortlich?«
Bitte, lass es nicht Raphael sein, nicht Raphael, bitte …
»Medrano Reclamations«, sagte Jim.
Verdammt!
»Raphael wird gerade von ein paar Polizisten verhört, aber ich habe einige unserer Anwälte hingeschickt, damit sie ihn nicht mitnehmen. Er wird dir helfen, sobald er wieder frei ist. Hör mal, ich weiß, dass es zwischen Raphael und dir nicht allzu gut steht, aber wir müssen alle manchmal Dinge tun, die wir nicht unbedingt …«
»Jim«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Ich habe es verstanden. Ein Job ist ein Job. Ich bin dabei.«
Kapitel 2
Ich brauchte fünfundvierzig Minuten, um mich durch die Ruinen der Stadt bis nach SoNo vorzukämpfen. Die Magie hatte Atlanta übel mitgespielt. Das Stadtzentrum hatte am schwersten gelitten, aber auch Midtown und Buckhead hatten einiges abbekommen. Einstmals imposante Wolkenkratzer lagen in Trümmern, umgestürzt wie Grabsteine menschlicher Hoffnungen. Straßenüberführungen zerbröckelten zu Staub, und neue Holzbrücken überspannten die Asphaltschluchten. Auf den Straßen türmte sich Schutt. Atlanta war immer noch quicklebendig, und die Stadt wurde Stück für Stück wieder aufgebaut, aber die Massen zusammengestürzten Betons erschwerten die Arbeit. Ich musste einen weiten Bogen um die Trümmerlandschaft machen.
An der Ecke Monroe und 10th Street war etwas Fluoreszierendes explodiert und hatte die Wände der neuen Häuser in grellem Orange lackiert, das wie einen Tag altes Erbrochenes roch. Das Biohazard-Team der Stadt leitete den Verkehr über eine einzige Spur. Zwei Kerle mit Stoppschildern ließen immer nur ein paar Fahrzeuge in jede Richtung durch, während der Rest des Biohazard-Teams den orangefarbenen Eiter mit Feuerwehrschläuchen wegspülte.
Auf der Straße um mich herum wieherte, iahte und kotete der Morgenverkehr. Benzinbetriebene Fahrzeuge gaben während der Magie den Geist auf. Mein Jeep hatte zwei Motoren, einen für Benzin, einen für Zauberwasser. Also kam ich mit meinem Wagen auch dann zuverlässig, wenn auch nicht besonders schnell, überallhin, wenn die Technik versagte. Aber ein rekonditioniertes Auto wie meins war sehr teuer, sodass sich die meisten Leute mit Pferden, Kamelen und Maultieren begnügten. Auf sie war in jeder Situation Verlass. Nur dass sie nicht so gut rochen. Es war Mitte Mai und obendrein ein recht warmer Tag, und der Gestank, der von der Straße aufstieg, weckte Fluchtreflexe.
Links von mir richtete ein Mann auf einem weißen Pferd eine Armbrust auf das Stoppschild. Die Sehne schwirrte, und ein Bolzen durchschlug das Metall, mitten ins O. Volltreffer.
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