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Die ehemalige Söldnerin Kate Daniels soll an einem Treffen der Anführer sämtlicher übernatürlicher Fraktionen in Atlanta teilnehmen. Doch dann wird einer der Herren der Toten ermordet, und alles deutet darauf hin, dass ein Gestaltwandler die Tat begangen haben könnte. Kate muss den Schuldigen finden, um einen verheerenden Krieg zu verhindern. Als wäre das nicht schon genug, sieht sich Kate einer weiteren Bedrohung gegenüber: Roland, Vater der Untoten und Erbauer der Türme, hat von ihrer Existenz erfahren und es nun auf Kate und alle, die sie liebt, abgesehen ... INKLUSIVE DER BONUS-STORY MAGISCHE PRÜFUNGEN
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Seitenzahl: 673
Ilona Andrews
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Bernhard Kempen
Zu diesem Buch
Als Gemahlin von Curran, dem Herrn der Bestien, hat die ehemalige Söldnerin Kate Daniels mehr Baustellen, als sie eigentlich bewältigen kann. Sie kämpft nicht nur darum, ihre Detektei weiter am Laufen zu halten, auch die Angelegenheiten des Rudels erfordern immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Denn Roland, ein uraltes, grausames Wesen mit gottähnlichen Kräften und zu allem Überfluss auch noch Kates Vater, hat von ihrer Existenz erfahren und es nun auf sie und die Gestaltwandler von Atlanta abgesehen. Während die Bedrohung immer näher rückt, wird Kate zu einem Treffen der Anführer sämtlicher übernatürlicher Fraktionen der Stadt gerufen. Und als einer der Herren der Toten ermordet aufgefunden wird und alles auf einen Gestaltwandler als Täter hindeutet, bleiben Kate nur vierundzwanzig Stunden, um den Mörder zu finden. Sollte sie dabei scheitern, droht ein Krieg, der alles und jeden zerstören könnte, der ihr am Herzen liegt.
Für Anastasia und Helen.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie nun schon seit sieben Jahren Kates Abenteuer lesen. Ihre Unterstützung und Ihr Enthusiasmus für die Serie lässt uns weitermachen.
In diesem Buch passieren gewaltige Dinge. Es liest sich, als wäre es das Ende der Serie, aber das ist es nicht. Während wir dies schreiben, sind wir für drei weitere Bücher unter Vertrag. Ein Feind aus alter Zeit schließt zwar den Handlungsbogen ab, beendet aber nicht die Geschichte. Für diejenigen unter Ihnen, die neu auf die Serie gestoßen sind, haben wir eine Zusammenfassung der Handlung aus Sicht einer der populärsten Nebenfiguren beigefügt und im Anhang ein Personenverzeichnis aufgenommen. Wenn Sie schon lange Fan der Serie sind, kommen Ihnen die Informationen in diesen beiden Teilen wahrscheinlich bekannt vor, und wenn Sie sie lieber überspringen möchten, werden Sie nichts verpassen.
Einige Geschichten sind von großer Bedeutung, wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel zu stehen scheint, während andere klein, aber nicht weniger wichtig sind. Weil Ein Feind aus alter Zeit eine der großen Geschichten ist, wollten wir Ihnen auch noch eine kleinere anbieten. »Magische Prüfungen« ist eine Kurzgeschichte über Julies Abenteuer in einer neuen Schule. Das Schicksal der Welt steht zwar nicht auf dem Spiel, aber das Leben eines Kindes, und wir hoffen, dass Sie den Kontrast zwischen den beiden Erzählungen mögen.
Wie immer möchten wir denjenigen danken, die geholfen haben, diese Geschichte zu Ihnen zu bringen: unserer wunderbaren Lektorin Anne Sowards und unserer Agentin Nancy Yost, die beide bemüht sind, uns auf Linie zu halten; der Herstellerin Michelle Kasper und ihrer Assistentin Julia Quinlan; der Grafikerin Judith Lagerman, der Künstlerin Juliana Kolesova, die für das Titelbild der amerikanischen Originalausgabe verantwortlich ist, und dem Coverdesigner Jason Gill.
Wir möchten dem Rechtsanwalt Jonathon Frisby und seiner Frau danken, der Rechtsanwältin Veronique Cantrell-Avloes, der Rechtsanwältin Noel Goudreau und ihrem Mann, den Rechtsanwältinnen Sarah Javaheri, Carol Najera, Tiffany Murphy, Nina Javan und anderen für ihre unglaubliche Großzügigkeit, ihre Fachkenntnisse und Bereitschaft, hypothetische, kriminelle Fallstudien mit einem Wermungo-Anwalt zu entwickeln. Wir sind zutiefst dankbar. Etwaige gedankliche oder rechtliche Fehler stammen aus unserer Feder.
Wir möchten uns auch bei unseren Beta-Lesern bedanken, die freundlicherweise ihre Zeit und Sachkenntnis zur Verfügung gestellt haben, um das Buch zum bestmöglichen zu machen. Das sind in willkürlicher Reihenfolge: Ying Dallimore, Carrie Wassenaar, Omar Jimenez, William Stonier, Stella Won, Julie Heckert, Laura Hobbs, Antoinette Hodges, Nicole Walford, Michelle Kubecka, Melody LeBaron, Wendy Baceski, Shannon Daigle, Cathy Thilmany, Jeanine Rachau und andere.
Und schließlich möchten wir nochmals Ihnen danken, unseren wunderbaren Lesern.
Aus dem Tagebuch von Barabas Gilliam
Ich heiße Barabas. Ich wurde so genannt, weil meine Mutter ehrgeizig war. Es könnte schlimmer sein. Einer meiner Cousins heißt Luzifer. Ich fragte einmal meine Tante danach, und sie sagte: »Weil ich wollte, dass er gut aussieht und nur an sich denkt.« Boudas oder Werhyänen, wie uns die meisten Leute nennen, haben eine interessante Sicht auf die Welt. Eigentlich bin ich gar kein Bouda. Ich bin ein Wermungo, aber meine Mutter ist eine Bouda, und ich bin bei Boudas aufgewachsen.
Zum Zeitpunkt, als ich dies schreibe, bin ich neunundzwanzig Jahre alt. Ich habe einen Abschluss in Rechtswissenschaften von der University of Virginia und wohne zurzeit in Atlanta. Ich bin als Rechtsanwalt des Rudels tätig und somit Mitglied der größten Gestaltwandler-Organisation in den Südstaaten und der zweitgrößten auf dem nordamerikanischen Kontinent. Außerdem arbeite ich als Berater für die Gemahlin des Rudels. Die Gemahlin nennt mich manchmal ihren Babysitter, und ich finde den Ausdruck sehr passend. Am liebsten würde ich ihr eine dieser grässlichen Kinderleinen anlegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir dann den Arm abhacken würde.
Ich lebe in einer merkwürdigen Zeit. Vor meinen Augen geschieht etwas von großer Tragweite, etwas, das vermutlich die Zukunft nicht nur des Rudels, sondern auch meiner Generation und künftiger Generationen drastisch verändern wird. Ich habe einen Platz in der ersten Reihe. Ich bin mittendrin. Doch niemandem um mich herum scheint bewusst zu sein, dass unsere Nachfahren auf diesen Moment zurückblicken und sich fragen werden, wie das alles passiert ist. Jemand muss es dokumentieren. Schließlich wird Geschichte von und für die Überlebenden geschrieben, und zurzeit bin ich mir nicht sicher, wer diese Überlebenden sein werden. Versteht mich nicht falsch, ich habe nicht vor, mich abzuwenden und gelassen in die gute Nacht zu gehen. Ich werde mit den Besten von ihnen rasen, genau wie uns Dylan Thomas’ Gedicht rät. Aber wenn wir schlimmstenfalls nicht erfolgreich sein sollten, muss aufgezeichnet werden, wie hart wir gekämpft haben. Wie es aussieht, werde ich es dokumentieren, da sich sonst niemand dafür interessiert. Merkwürdig, dass es eigentlich immer so kommt.
Am besten fange ich mit dem Anfang an. Die Welt hat eine magische Apokalypse erlebt. Wie zu erwarten war, waren wir allein schuld daran.
In alten Zeiten ergänzten sich Technik und Magie in perfekter Harmonie, doch dann kam das Menschengeschlecht. Es baute eine auf Magie basierende Zivilisation auf. Ungeheuer und Fabelwesen durchstreiften das Land. Zauberer mit gottähnlicher Macht errichteten über Nacht ganze Städte und ließen geflügelte Schlangen und geschmolzenes Metall auf ihre Feinde regnen. (Nur so am Rande, diese Zeiten müssen ein Albtraum gewesen sein. So viel Macht in den Händen einzelner Menschen? Das konnte nur schiefgehen und zu schrecklichem Blutvergießen führen. Man muss nur die Bibel lesen.) Magie und Technik gerieten so sehr aus dem Gleichgewicht, dass die Magie schwand. Die durch Magie erschaffenen Städte zerfielen, ihre Wunder wurden zu Staub und ihre Bestien zu Mythen.
Fünftausend Jahre später. Wir befinden uns am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und haben eine auf Technik basierende Zivilisation. Wir sind wieder einmal aus dem Gleichgewicht geraten, die Magie schlägt zurück und zieht uns rachsüchtig eins über den Schädel. Sie überflutet den Planeten in Wogen. In diesem Moment regiert die Technik, Verbrennungsmotoren funktionieren, Gewehre schießen, und die Elektrizität hält die Monster fern. Im nächsten überschwemmt eine unsichtbare Woge der Magie das Land, lässt Gewehre versagen und bringt Wesen mit albtraumhaften Zähnen und starkem Appetit hervor. Dann verschwindet die Magie plötzlich und ohne Vorwarnung, das Sondereinsatzkommando der Magier hört auf, Feuer zu speien, und kehrt wieder zu den Gewehren zurück.
Diese Apokalypse wird die Wende genannt. Die Wende hat die technologische Zivilisation zerstört. Luftfahrt ist nicht mehr möglich, weil die Flugzeuge vom Himmel fallen, wenn die Magie einsetzt. Das Internet ist tot, weil wir die meiste Zeit ohne Elektrizität sind und die Magie Computerteile zu Staub zermahlt. Handys funktionieren nicht, außer man ist beim Militär und hat eine hohe Sicherheitseinstufung. Hochhäuser und Wolkenkratzer sind eingestürzt, vom Zahn der Magie zernagt, aber das Leben der Menschen geht weiter. Und im neuen Atlanta nach der Wende kommen neue Interessengruppen und Mächte ins Spiel.
Da ist erstens das Rudel. Ich bin, wie gesagt, ein Gestaltwandler und arbeite für das Rudel, darum liegt mir persönlich viel daran, genau zu erklären, wer wir sind und was wir tun. Das Rudel ist die zweitgrößte Gestaltwandler-Organisation im Land und hat über tausendfünfhundert Mitglieder. Es ist nach Tierarten in sieben Clans unterteilt, also in Boudas, Wölfe und so weiter. Jeder Clan wird von einem Alpha-Paar geleitet. Alle Alphas zusammen bilden den Rudelrat. Aber wie uns Disney gelehrt hat, muss es einen König geben, doch hat unser König den Titel Herr der Bestien, denn wir dynamischen Amerikaner haben ein Problem mit der Monarchie. Sein Name ist Curran Lennart. Curran übernahm mit fünfzehn die Verantwortung für das Rudel, nachdem er einen durchgedrehten Werbär besiegt hatte, dem sonst niemand etwas anhaben konnte. Er einte uns. Er überredete die Alphas, gemeinsam Land zu kaufen und die Festung zu bauen, damit wir einen sicheren Ort haben, wo wir unter uns sein können. Er gab uns Vorschriften und Gesetze und lehrte uns, dass Zuwiderhandlungen nicht toleriert werden. Dank ihm leben wir in relativem Wohlstand zusammen. Wenn Curran sagt, wir sollen springen, springen wir, dass der Boden wackelt. Was nicht heißt, dass er sich nicht auch mal wie ein Arschloch verhält, aber alles in allem klappt es ganz gut mit ihm. Er ist aber auch ein schrecklicher Mistkerl, der nach dem Motto regiert: »Entweder du tust, was ich sage, oder du fliegst raus.« Mehr dazu später.
Wir Gestaltwandler werden vom restlichen Atlanta argwöhnisch betrachtet. Wir verdanken unsere Existenz dem Lyc-V-Virus, doch manchmal überwältigt uns das Virus, und wir verwandeln uns in Loups. Das sind bösartige, verrückte, kannibalische Mörder. Loupismus ist nicht heilbar, darum leben wir alle sehr diszipliniert und konditionieren uns mental, um unsere Gefühle im Zaum zu halten. Wenn alles nicht hilft, bleibt nur noch das Wundermittel, ein Zaubertrunk aus Heilpflanzen. Es kann Loupismus zwar nicht heilen, aber in dreißig Prozent aller Fälle macht es die gerade einsetzende Verwandlung rückgängig. Auch dazu später mehr. In den Augen der Öffentlichkeit ist jeder Gestaltwandler potenziell ein Loup, und »Werwolf« ist immer noch ein negativ besetztes Wort.
Als Nächstes kommen wir zum Volk, auch Freie Menschen genannt. Es ist eine landesweite Organisation mit Niederlassungen in jeder größeren Stadt. Das Volk steuert die Untoten, im Besonderen die Vampire, zum Vergnügen und um Gewinn zu erzielen, aber wenn man sie fragt, geben sie einen zweifelhaften wissenschaftlichen Zweck vor. Vampire haben keinen freien Willen. Der Immortuus-Erreger, der zum Tod und zur nachfolgenden Wiederbelebung des Opfers führt, reinigt seinen Körper von allem, was nicht gebraucht wird, wie innere Organe, Haare, Genitalien und Bewusstsein. Ein Vampir ist eine von unersättlichem Hunger getriebene Fressmaschine. Er spricht nicht, er denkt nicht, er tötet impulsiv alles, und um ihn aufzuhalten, ist eine schwere Hochleistungshaubitze erforderlich, oder man muss ihn enthaupten. Es soll auch funktionieren, wenn man ihn in kleine Stücke hackt, wie die Gemahlin bei vielen Gelegenheiten bewiesen hat. Wenn ein Vampir ausbricht, wird die Stadt in einem Radius von zehn Blocks evakuiert und mehrere Noteinheiten der Polizei werden losgeschickt, weil einem einzelnen Sonderkommando die Munition ausgehen würde, bevor er erledigt ist.
Die Nekromanten – die lieber Navigatoren genannt werden möchten – bemächtigen sich des leeren Geistes eines Vampirs mittels Telepathie und projizieren ihren Willen auf diese weiße Leinwand. Man nennt es »Steuern«. Die Navigatoren benutzen die Vampire wie ferngesteuerte Autos. Sie sehen, was der Untote sieht, sie hören, was er hört, und wenn der Vampir spricht, kommt aus seinem Mund die Stimme des Navigators. Sie können den Vampir in gefährliche Gebiete schicken, während sie im gepanzerten Innern des Casinos einen Kaffee trinken. Die besten Navigatoren bezeichnen sich als Herren der Toten, denn Bescheidenheit gehört nicht gerade zu ihren Tugenden.
Das Volk hat sein Hauptquartier im Casino aufgeschlagen, während unseres die Festung ist. In der Stadt ist das Volk die stärkste Konkurrenz des Rudels. Wenn wir aneinandergeraten, gibt es unweigerlich Tote. Um mögliches Blutvergießen zu verhindern, haben wir die Stadt offiziell in ihr »Territorium« und in unseres aufgeteilt. Bei einigen Straßen und Gegenden ist es etwas komplizierter, aber vereinfacht gesagt, gehören der Norden und Nordosten uns und der Süden und Südwesten ihnen. Das ist also gemeint, wenn wir von »Stadt-Territorium« reden. Im jeweils anderen Territorium besitzen wir keine Immobilien, und wir patrouillieren an unseren imaginären Grenzen.
Das Volk ist derzeit mit einem inneren Machtkampf beschäftigt. Der Chef von Atlanta ist abgetreten – vielleicht wurde er auch ermordet, keiner weiß es –, und zwei Herren der Toten manövrieren sich gerade an die Spitze. Der eine ist Ghastek, der brillant, kompetent und äußerst gefährlich ist und sich in lebensüberdrüssige Arroganz hüllt. Im Grunde ist er ein Rechthaber mit Sachverstand und einem Vampirrudel als Unterstützung. Der andere ist Mulradin, von dem wir nur wenig wissen, außer dass er ein Familienmensch ist und sich aufregt, wenn jemand in Hörweite seiner Frau harmlose Sachen wie »Verdammter Mist!« sagt, da man sie nicht mit solchen Derbheiten besudeln darf. Der kann mich mal!
Und jetzt kommt der Hammer: Die wenigsten wissen es, aber das gesamte Volk muss sich vor einem Mann verantworten. Erinnert ihr euch an das Zeitalter der Magie und der Magier mit gottähnlicher Macht? Angeblich sind beim Verschwinden der Magie aus der Welt nicht alle Magier gestorben. Einige von ihnen sind in die Hibernation gegangen, vergleichbar dem Winterschlaf. Jahrtausende später hat die Wende einen von ihnen auferweckt. Man stelle sich vor: ein Mann losgelöst von ethischen und moralischen Werten. Ein Mann, der früher ein Imperium regierte. Ein Zauberer-König, der sich seine eigenen Gesetze machte, und der seit Jahrtausenden die Macht hat, mit einer einzigen Zauberei das Leben Abertausender auszulöschen. Eine wandelnde Atombombe. Ein so mächtiger Mann, dass er keinen Namen braucht. Man bezeichnet ihn als den Vater der Untoten, den Erbauer der Türme.
Er nennt sich jetzt Roland. Ich fragte die Gemahlin danach, und sie zeigte mir das Rolandslied. Ein Versepos aus dem zwölften Jahrhundert über einen Ritter, der aufgrund eines Verrats aus dem Hinterhalt überfallen wurde und sich aus Stolz so lange weigerte, mit dem Signalhorn um Hilfe zu rufen, bis all seine Soldaten tot waren. Schließlich blies er so heftig, dass seine Schläfen platzten und er als Märtyrer starb. Die Interpretation überlasse ich euch.
Vor Jahrtausenden erschuf Roland die Vampire, und jetzt regiert er das Volk von seinem Territorium im Mittleren Westen der USA aus. Es ranken sich viele Gerüchte und Sagen um ihn, in denen er unter verschiedenen Namen im Volksmund, in der Thora, in der Bibel und in anderen heiligen Büchern genannt wird. Roland hat angeblich zwei Leidenschaften. Erstens ist er ein Baumeister. Er baut Weltreiche auf. Er kann nicht anders. Er glaubt, dass wir nur unter seinem Regime Erleuchtung erlangen können. Er hält nicht viel von Demokratie, was für uns eine sehr schlechte Nachricht ist. Zweitens wird er von Liebe getrieben. Er verliebt sich oft und zeugt übermächtige Kinder, die sich früher oder später gegen ihn wenden, sodass er sie umbringen muss. Abraham war zum Beispiel einer von ihnen. Sie hatten einen Streit, worauf Roland ihn ins Exil verbannte, wo er später in Armut starb. Nicht unbedingt so, wie es uns die Bibel lehrt, aber was soll’s.
Bevor Roland in die Hibernation ging, schwor er der Fortpflanzung ab. Aber als er während der Wende aufwachte, muss ihn die Euphorie, dass er noch am Leben war, gepackt haben. Vermutlich aus dem gleichen Grund, warum Leute nach Beerdigungen Sex haben. Roland verliebte sich in eine Frau namens Kalina. Sie wollte Kinder, und er sah das ganz entspannt, bis ein Kind unterwegs war, eine Tochter, worauf Roland beschloss, kurzen Prozess zu machen und sie im Mutterleib zu töten. Kalina besaß ihre eigene Magie, sie konnte jeden betören und wollte unbedingt ihr Baby retten. Sie behexte Rolands Kriegsherrn Voron, sodass er glaubte, er wäre in sie verliebt. Dann rissen sie zusammen aus. Kalina brachte ihr Baby zur Welt, aber Roland holte sie schließlich ein. Kalina dachte, dass von ihnen beiden Voron die besseren Chancen hätte, zu überleben und das Baby großzuziehen, also befahl sie ihm, mit dem Baby wegzulaufen. Sie blieb zurück und trat Roland entgegen. Sie stach ihm ein Auge aus, und er tötete sie.
Keine schöne Geschichte.
Voron war ein kaltblütiger Bastard und ein talentierter Kämpfer, der eigentlich Rolands Heere hätte anführen sollen. Ein Kerl, der wahrscheinlich Hunderte von Menschen getötet hatte, um so gut zu werden, allein mit diesem Baby. Sein Gehirn ist von Kalinas Magie für immer durchgeschmort. Also sieht er sich das kleine gurrende Baby an, die Tochter der wahrscheinlich einzigen Frau, die er jemals geliebt hat, und sagt sich nicht: »Es ist mir wenigstens etwas von ihr geblieben. Ich werde das Kind großziehen und alles in meiner Macht Stehende tun, um es zu beschützen und es zu lieben, damit es ein glückliches Leben hat.« Nein, er sieht es an und denkt: »Ich werde mich rächen.« Denn er ist ein kaltblütiger Bastard.
Er nimmt das Baby auf, er formt und bildet es aus, bis es zu einer lebenden Waffe geworden ist. Sie kann mit ihrem Schwert töten. Sie kann mit einem Zahnstocher töten. Sie kann mit bloßen Händen töten. Ich bin ein Wermungo. Ich bin verdammt schnell. Wenn ich mich langweile, spiele ich mit meiner Lieblingskobra, und das meine ich nicht im übertragenen Sinn. Ich werde nie gebissen, weil ich schnell genug bin, einem Schlangenangriff auszuweichen. Wenn Kate das Schwert schwingt, kann ich es manchmal nicht sehen. So schnell ist sie.
Während das kleine Mädchen also heranwächst, zieht es mit Voron durch Nord- und Südamerika. Sie bleiben nie lange an einem Ort. Sie trainiert einen Monat in Oklahoma, im nächsten ist sie auf einem Gladiatorenkampfplatz in Brasilien. Die ganze Zeit erzählt er ihr, dass ihr Vater ihre Mutter getötet hat und auch sie töten wird, sobald er sie ausfindig gemacht hat. Das ist alles wahr. Aber Voron erzählt ihr auch, dass sie nur überleben kann, wenn sie Roland tötet. Noch bevor sie in die Pubertät kommt, lernt sie, wie man Menschenleben beendet. Der Schaden, der ihr als Kind zugefügt wurde, ist enorm. Aber das ist noch lange nicht das Schlimmste.
Voron machte aus ihr eine perfekte Mörderin, aber er konnte ihr keine Magie beibringen. Er selbst benutzte die Magie nicht, also erlernte sie einige grundlegende magische Fähigkeiten von Hexen und von Magiern, aber sie übte sich nicht in der Blutmagie, was Rolands Ressort war – erstens, weil es ihr niemand beibringen konnte, und zweitens, weil sie dachte, es würde sie verraten. Und es gibt noch einen dritten Grund. Es bestand dazu keine Notwendigkeit, denn Voron wusste, wozu Roland in der Lage war. Er wusste, dass Kates Fähigkeiten ausreichten, um sich zu Roland durchzukämpfen, aber sie würde gegen ihren Vater keine Chance haben. Das war der Haken an seiner Rache. Er hatte dieses Kind vom Babyalter an nur aufgezogen, damit er eines Tages zusehen konnte, wie Roland sein eigen Fleisch und Blut tötete oder getötet wurde. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Doch er selbst sollte es nicht mehr erleben. Roland suchte sich einen neuen Kriegsherrn und nahm Vorons besten Schüler, den Jungen, den er wie einen Sohn aufgezogen hatte, und ernannte ihn zum Kriegsherrn. Sein Name ist Hugh d’Ambray oder »krankes Ekel«, was besser zu ihm passt. Hugh d’Ambray hatte Voron seit seinem Verrat gejagt. An einem Tag, als Kate nicht im Haus war, fand Hugh ihn und tötete ihn. Er behauptet zwar, er wäre deswegen untröstlich, aber man darf dem verlogenen Mistkerl kein Wort glauben.
Nach Vorons Tod war Kate auf sich allein gestellt. Ein Ritter des Ordens der mildtätigen Hilfe übernahm vorübergehend die Vormundschaft über sie und wollte sie an die Akademie des Ordens schicken, aber dann schied sie vorzeitig aus. Der Orden ist eine halbamtliche Strafverfolgungsbehörde. Sein Rechtsstatus ist undurchsichtig, wie ich jedem erzähle, der es hören will. Es sind Fanatiker mit einer starren Geisteshaltung, die jeden, der vom durchschnittlichen Homo sapiens abweicht, als nichtmenschlich einstufen.
Ihr habt gelesen, was ich geschrieben habe. Haltet ihr mich für menschlich?
In den Augen dieser Typen sind Charles Manson und Jack the Ripper menschlicher als ich. Wäre unsere Polizei nicht überfordert, würde ihre Anwesenheit nicht toleriert werden. Man sollte sie erst gar nicht zulassen. Aber es ist nun mal so, wenn sich jemand anbietet, den lästigen Greif zu beseitigen, der in der Nachbarschaft mordet, und dazu noch kostenlos, wenn man es sich beim besten Willen nicht leisten kann, dann schauen die wenigsten dem geschenkten Gaul ins Maul.
Kate fand, dass die Gehirnwäsche des Ordens nichts für sie war. Sie vagabundierte in Georgia herum und kam immer wieder nach Atlanta. Sie arbeitete eine Weile für die Söldnergilde. Das sind die Jungs, die man rufen kann, wenn man Geld und ein Ungeheuer im Garten hat, während die Polizei alle Hände voll mit einer giftigen, fliegenden Qualle in der City zu tun hat. Sie versuchte, in der Schusslinie unsichtbar zu bleiben. Es wäre ihr vermutlich gelungen, wenn sie nicht auf den Herrn der Bestien gestoßen wäre. Wie ich bereits sagte, ist er ein furchterregender, herrischer Typ. Sie dagegen hasst jede Autorität. Er sagte: »Spring!« Sie sagte: »Leck mich!« Natürlich mussten sie sich heftig ineinander verlieben. Und wenn ich heftig sage, meine ich es auch so.
Kate gibt sich niemals mit halben Sachen zufrieden. Ich bin mir sicher, dass Voron eine Psychopathin aus ihr machen wollte, aber das ist ihm nicht gelungen. Kate würde sich in jeder Gefahrensituation vor den ersten idiotischen Schaulustigen schmeißen. Sie fand das halb verhungerte Kind einer Alkoholikerin auf der Straße und wäre fast gestorben, als sie es vor Dämonen rettete, worauf sie es adoptierte. Julie ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Kind, auch was den Ärger betrifft, den sie einem bescheren kann. Sie ist nicht leicht großzuziehen. Doch ich habe nie Klagen von Kate gehört.
Kate zählt mich zu ihren Freunden. Das ist ein Privileg. Es bedeutet, dass ich über mehrere Bundesstaaten Entfernung anrufen und sagen kann: »Ich sitze in der Patsche.« Dann kommt sie mit ihrem Schwert und holt mich raus, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung erwartet. So etwas ist selten. Curran mag zwar der Herr der Bestien sein und ein Sturkopf dazu, aber er wusste sofort, was er an ihr hatte, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Deshalb ist sie nun die Gemahlin des Rudels. Wir hätten schon vor sehr langer Zeit eine Gemahlin gebraucht. Jemanden, der dafür sorgt, dass Curran ausgeglichen bleibt. Dann kam sie, die vernünftig und auf Gerechtigkeit bedacht ist. Eine Zeitlang lief alles bestens.
Erinnert ihr euch an das Wundermittel, das ich erwähnte, die Kräutermedizin, die verhindert, dass wir uns in Loups verwandeln? Bis vor Kurzem blieb es uns verwehrt. Es wurde irgendwo in Europa hergestellt, und man wollte es uns auf gar keinen Fall verkaufen. Im letzten Sommer erhielten der Herr der Bestien und seine Gemahlin plötzlich die Einladung, in einem kleinen Land am Schwarzen Meer den Zwist in einer Familie von Gestaltwandlern zu schlichten. Man wollte sie mit dem Wundermittel bezahlen. Wir alle wussten, dass es eine Falle war, und wir alle wollten sehen, wer dahintersteckte. Es war Hugh d’Ambray. Er war den Brotkrumen gefolgt und hatte Kate gefunden. Eine Frau, die von dem Mann ausgebildet worden war, den er als seinen Vater betrachtete. Sie konnte besser mit dem Schwert umgehen als er. Sie ist die Tochter des Kerls, den er verehrt. Merkt ihr, worauf ich hinauswill? Hugh will sie haben, und er wird kein Nein akzeptieren. Sie hasst ihn, weil er ein krankes Ekel ist und ihren Sensei getötet hat. Es wurde schnell ungemütlich und endete mit einem gewaltigen Gefecht und einer Burg in Flammen.
Wir bekamen das Wundermittel nicht, aber wir retteten Christopher, einen verrückten Magier, den Kate aus einem Käfig befreit hatte, in dem Hugh ihn langsam verhungern lassen wollte. Christopher ist nicht ganz bei sich. Doch wie sich herausstellte, konnte er das Wundermittel herstellen, womit wir jetzt Selbstversorger sind, aber der Preis war hoch. Wir verloren Tante B, die Alpha des Bouda-Clans. Boudas sind Außenseiter. Die anderen Gestaltwandler vertrauen uns nicht. Wir handeln unorthodox. Tante B hatte sich um uns gekümmert. Um mich. Ich kann gar nicht sagen, was sie mir bedeutet hat. Sie ist nicht mehr da. Kate sah sie sterben. Es nagt an ihr. Ich kann es ihr ansehen. Sie sucht das Grab von Tante B öfter auf als ihr Sohn, und Raphael ist dort, wann immer er kann.
Jetzt stehen wir wieder an einem Scheideweg. Wir wissen nicht, ob Hugh noch lebt oder gestorben ist. Curran hatte Hugh das Genick gebrochen und ihn ins Feuer geworfen, aber Kate glaubt, dass er sich rechtzeitig herausteleportiert hat. Wir wissen, dass die Tage des Versteckens gezählt sind. Roland wird seine Tochter holen. Er hat das Rudel schon mehrmals durch seine Agenten angegriffen. Er mag uns nicht, weil wir wachsen und schlagkräftiger werden. Doch ganz gleich, ob Hugh überlebt hat oder nicht, jetzt wird Roland mit Sicherheit kommen. Falls Hugh tot ist, wird Roland kommen, um herauszufinden, wer ihn getötet hat. Falls Hugh am Leben ist, wird er Roland von seiner Tochter erzählt haben, und Roland wird sie aufsuchen.
Wie gesagt, jetzt ist der Moment, wo alles in der Schwebe ist. Wenn Roland uns angreift, werden wir nicht nur für die Gemahlin kämpfen, sondern auch um unser Überleben, so dramatisch es klingen mag. Roland versteht zwar das Konzept der Freiheit der Person. Er hält es nur für total überbewertet. Uns bedeutet die Freiheit alles. Wir wollen keine Sklaven sein. Kate ist unsere große Hoffnung, um ihn aufzuhalten, aber – wenn dieses lästige Wörtchen nicht wäre! – sie weiß, dass sie ihm mit ihrer Magie nicht ebenbürtig ist. Die Hexenzirkel von Atlanta unterstützen sie, indem sie sie mit dem Blut von Untoten versorgen, damit sie sich in der Blutmagie ihres Vaters üben kann. Sie lernt dazu, aber ich fürchte, nicht schnell genug. Wenn Roland Atlanta einnimmt, werden andere Städte folgen. Wir als Rudel haben die besten Chancen, ihn abzuwehren.
An unserem Horizont zieht ein Sturm auf. Wir werden Widerstand leisten, aber niemand weiß, ob es am Ende etwas nützen wird.
Kapitel 1
Kate, das ist sehr gefährlich«, sagte Ascanio.
Jugendliche Gestaltwandler haben eine sehr interessante Definition von »gefährlich«. Lyc-V, das für ihre Existenz verantwortliche Virus, beschleunigt die Heilung ihres Körpers. Wenn sie also niedergestochen werden, brauchen sie ein wenig Schlaf und anschließend eine üppige Mahlzeit, und bei einem Beinbruch reichen zwei Wochen Ruhe aus, um anschließend problemlos einen Marathon laufen zu können. Ascanio war nicht nur ein Gestaltwandler, sondern auch ein heranwachsender Bouda und somit eine Werhyäne, und einem Bouda war kein Risiko zu groß. Wenn ein Bouda etwas für gefährlich hielt, bedeutete es, dass es einen einäschern und die Asche im Wind verstreuen konnte.
»Gut«, sagte ich. »Halt das Seil fest!«
»Ich fände es wirklich besser, wenn ich an deiner Stelle gehen würde.«
Ascanio schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Ich ließ es von mir abprallen und warf ihm einen strengen Blick zu. Er war ein Meter achtzig groß und dank des schnellen Wachstums noch rank und schlank. Ascanio sah nicht nur hübsch, sondern spektakulär gut aus: perfekte Gesichtszüge, kantiger Kiefer, wohlgeformte Wangenknochen, dunkles Haar und noch dunklere Augen. Er hatte ein Gesicht, das man nur als engelsgleich bezeichnen konnte. Doch ein Blick in diese großen Augen genügte, um zu verstehen, dass er nie im Himmel gewesen war, sondern dass in der Hölle ein paar gefallene Engel einen Sechzehnjährigen vermissten. Er war sich seiner Wirkung schon früh im Leben bewusst geworden und nutzte sie aus, wann immer er konnte. In etwa fünf Jahren, mit einem etwas reiferen Gesicht, würde er umwerfend aussehen. Falls er so lange lebte. Das schien in diesem Moment recht unwahrscheinlich, weil ich sehr wütend auf ihn war.
»Halt das Seil fest!«, wiederholte ich und machte den ersten Schritt.
»Schau nicht nach unten!«, sagte Ascanio.
Ich schaute nach unten. Ich stand auf einem etwa fünfzig Zentimeter breiten Metallbalken. Unter mir hingen die Überreste des Georgian Terrace Hotel traurig über der zerstörten Straße. Die Magie war mit dem einst so stolzen Gebäude nicht gerade freundlich umgegangen. Die achtzehn Etagen waren eine nach der anderen eingestürzt und bildeten nun ein Gewirr aus Gängen, steilen Bruchkanten und zerfallenden Mauern. Das ganze Chaos drohte jeden Moment zusammenzukrachen, und ich stand genau über diesem Trümmerhaufen. Wenn ich ausrutschte, würde ich etwa dreißig Meter in die Tiefe stürzen. In meiner Fantasie platzte mein Kopf wie ein Ei, das man auf den Boden wirft. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Als wäre es nicht schon schwer genug, auf einem eisbedeckten Balken zu balancieren.
»Ich sagte, schau nicht nach unten«, sagte Ascanio hilfsbereit. »Und sei vorsichtig, das Eis ist glatt.«
»Danke, du Schlaumeier.«
Unter mir breiteten sich die Ruinen von Downtown Atlanta bis in die Ferne aus. Die wuchtigen Gebäude waren vor Jahrzehnten eingestürzt, einige waren zu Schutt zerfallen, andere waren als Ganzes der Länge nach umgekippt. Ihre Balken ragten wie freiliegende Knochen gestrandeter Walkadaver heraus. Trümmerhaufen versperrten die Straßen. Dazwischen wuchsen merkwürdige orangefarbene Pflanzen mit dünnen Stielen und einem einzelnen dreieckigen Blatt. Im Sommer flossen die Überschwemmungen durch Abwasser und Regen ins Freie ab, während sie im rauen Winter gefroren und den Boden mit schwarzem Eis überzogen.
Die Magie der Unicorn Lane wirbelte bedrohlich um mich herum. Die Magie überflutete unsere Welt in Wogen, war plötzlich da und dann wieder weg, aber an einem so wunderbaren Ort wie der Unicorn Lane behielt sie ihren Zauber auch dann, wenn die Technikphase am stärksten war. Die Gegend war eine Zuflucht, wenn einem die Probleme über den Kopf zu wachsen schienen. Hier in den eingestürzten Wolkenkratzern vermehrten sich Wesen mit glühenden Augen, und wer in diesen Ruinen lange genug wartete, traf bestimmt auf eins, das einem den Garaus machte.
Wer einigermaßen bei Verstand war, mied die Unicorn Lane, vor allem in der Dunkelheit. Aber wenn das Geschäft eher mau läuft, muss man jeden Job annehmen, erst recht, nachdem sich die Chefredakteurin der Atlanta Journal-Constitution auf deinem Bürostuhl ausgeheult hat, weil sie ihr seltenes und teures Schoßtier vermisst. Seit die Magie das Internet ausgelöscht und das Fernsehen lahmgelegt hatte, waren Zeitungen wieder die wichtigste Nachrichtenquelle, und ein Auftrag von der größten Tageszeitung der Region war Gold wert. Und wie ich schon sagte, hatte sie in meinem Büro geweint. Also hatte ich den Job angenommen.
Als Gemahlin musste ich meinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen. Das Rudel kümmerte sich um alles Nötige, aber ich wollte mit Cutting Edge erfolgreich sein und gab alles, um auf eigenen Beinen zu stehen. Selbst wenn ich dafür entlaufene Schoßtiere aufstöbern musste.
Bedauerlicherweise war das flauschige Viech schnurstracks in die Unicorn Lane getürmt, und ich brauchte mehrere Stunden, um es aufzuspüren. Ich hatte meinen sechzehnjährigen Bouda-Praktikanten mitgenommen, weil er das Tier wittern konnte und ich nicht. Ascanio war kein schlechter Kämpfer. Körperlich war er kraftvoll und schnell, er hatte eine starke Zwischengestalt, eine Verschmelzung aus Mensch und Tier, was Gestaltwandler zu unglaublich wirkungsvollen Killern werden ließ. Raphael, der Alpha des Bouda-Clans, hatte Ascanio in den vergangenen Monaten nach und nach zu einem immer besseren Kämpfer ausgebildet. Doch gesunder Menschenverstand wurde ihm bei all dem Training leider nicht beigebracht.
Endlich hatte ich das Tierchen in die Enge getrieben, und nun versteckte es sich in einer Spalte. Während ich mich ihm auf Zehenspitzen näherte und ruhige, besänftigende Geräusche machte, versuchte Ascanio, es mit wütendem Knurren aufzuscheuchen, sodass ich fast in ein Loch im Boden gefallen wäre und das Tier in Panik direkt auf die Spitze des wackligen Gebäudes getrieben wurde. So stand ich nun mit einem Seil um die Hüfte da und balancierte auf einem schmalen Balken, der über einen sieben Meter tiefen Abgrund hinausragte, während das exotische und seltene Tier am Ende desselben Balkens zitterte.
»Bitte, lass mich das machen«, sagte Ascanio. »Ich will dir helfen.«
»Du hast mir schon genug geholfen, danke.« Ich machte einen weiteren Schritt auf dem Balken. Wenn ich abstürzte, hätte er mit der Kraft eines Gestaltwandlers kein Problem, mich wieder hochzuziehen. Wenn er abstürzte, wäre es für mich erheblich schwieriger, ihn wieder zum Gebäude hinaufzubefördern. Das Gewicht eines menschlichen Körpers war nicht ohne.
»Tut mir leid, dass ich es verscheucht habe.«
»Du kannst dich entschuldigen, wenn es so weit ist.«
Das kleine Tier zitterte und schlich vorsichtig zum anderen Ende des Balkens. Toll!
Ascanio knurrte leise.
»Ich höre, dass du knurrst. Wenn ich dein Knurren höre, kann es dich auch hören. Wenn du es so sehr verschreckst, dass es in den Tod springt, werde ich ziemlich sauer auf dich sein.«
»Ich kann nichts dafür. Es ist so hässlich.«
Das hässliche Ding starrte mich mit großen grünen Augen an.
Ich machte noch einen Schritt. »Es ist nicht hässlich. Es ist ein Katzninchen.«
Das Katzninchen schob sich noch einen Zentimeter auf das Ende des Balkens zu. Es ähnelte einer extrem flauschigen Hauskatze mittlerer Größe. Sein Frauchen gab die Farbe des Pelzes als lila an, doch mir schien es eher ein mattes Graubraun zu sein. Es hatte ein niedliches Katzengesicht, eingerahmt von zwei langen Ohren, als hätte man normale Katzenohren zu Hasenohren lang gezogen. Die Hinterläufe waren stark und muskulös wie bei einem Kaninchen, während die Vorderbeine viel kürzer als die einer Katze waren. Der an Eichhörnchen erinnernde flauschige Schwanz zuckte alarmiert. Die ersten Katzninchen waren das Ergebnis eines verpfuschten magischen Experiments an der tierärztlichen Fakultät der University of California gewesen. Sie wurden an private Züchter verkauft, und da sie selten und niedlich waren, wurden sie als unverschämt teure Haustiere zum letzten Schrei.
Der Wind zerrte an mir. Ich bemühte mich, nicht zu erschauern. »Was stört dich daran?«
»Es ist falsch und gegen die Natur«, sagte Ascanio.
»Aber sich in eine Hyäne zu verwandeln ist etwas Natürliches?«
»Katzen sind Raubtiere. Kaninchen sind Beutetiere. Es sind Nagetiere. Man hat eine Katze mit einem Nager gekreuzt. Das ist nicht richtig.«
Ich ging ein paar Schritte weiter. Verdammt, dieser Balken war hoch.
»Ich meine, wovon soll es sich ernähren?«, fragte Ascanio. »Es jagt nicht, es kann allein nicht überleben; es ist etwas, das nicht existieren sollte. Wenn es doch jagt, wird es wahrscheinlich Mäuse fangen, die abgesehen von Vögeln als einzige Tiere klein genug sind, was bedeutet, dass es sich von seinen Verwandten ernährt. Es ist ein kannibalisches Nagetier. Wie aus einem schlechten Horrorfilm.«
»Nagetiere sind ohnehin kannibalisch. Frag beim Rattenclan nach, die werden es dir erklären.« Das Rudel bestand aus sieben nach Tieren aufgeteilten Clans, und die Mitglieder des Rattenclans waren gegenüber den Gewohnheiten ihrer natürlichen Gegenstücke eher pragmatisch eingestellt.
»Womit werden sie überhaupt gefüttert?«, fragte Ascanio.
»Speck und Erdbeeren.«
Hinter mir schockiertes Schweigen.
»Speck?«, brachte er schließlich heraus.
»Ja.« Ich wagte mich noch einmal fünfzehn Zentimeter vor. Ganz sachte.
»Weil es das auch in der Wildnis fangen würde, ein Wildschwein, nicht wahr? Das würde ich gern erleben, wie ein Katzninchenrudel mit diesen kurzen Beinchen ein Wildschwein zur Strecke bringt. Da würde das Schwein aber staunen.«
An ihm war ein Komiker verloren gegangen.
»Wenn ich laut genug grunze, springt es vielleicht über den Balken und versucht mich zu verschlingen.«
Ein kalter Windstoß traf mich, schnitt durch drei Kleiderschichten in die Knochen. Meine Zähne klapperten. «Ascanio …«
»Ja, Gemahlin?«
»Ich glaube, du hast nicht verstanden, was die Aufgabe eines Assistenten ist. Wir haben einen Job zu erledigen und sind gerade mittendrin. Oder zumindest ich, während du es nur schwieriger machst.«
»Ich bin kein Assistent. Ich bin ein Praktikant.«
»Versuch es mal als stummer Praktikant.«
Ich kauerte mich auf dem Balken nieder. Das Katzninchen zitterte keine dreißig Zentimeter entfernt.
»Komm her …« Kaninchen? Kätzchen? »Komm her, süßes Ding … Hab keine Angst.«
Das Katzninchen zog sich zu einem winzigen Knäuel zusammen und sah süß und unschuldig aus. Diesen Blick kannte ich von Wildkatzen. Dieser Blick bedeutete, dass es sich in einen Tornado aus rasiermesserscharfen Krallen verwandeln würde, sobald man ihm nahe genug kam.
Darauf gefasst, blutig gekratzt zu werden, hob ich es schwungvoll hoch.
Das Katzninchen sah mich mit großen grünen Augen an und schnurrte.
Ich stand auf und drehte mich um. »Ich hab es.«
Da brach der Balken unter meinen Füßen, und wir stürzten ab. Mir drehte sich der Magen um. Das Seil straffte sich mit einem Ruck, brannte sich in meine Rippen, und ich baumelte über dem Abgrund, während sich das Katzninchen in meine Arme schmiegte. Der Balken schlug mit lautem Krachen auf den Boden auf und grub ein Loch in das bröckelnde Pflaster.
Das Seil drehte sich leicht. Das Katzninchen schnurrte unbesorgt. Über der zerstörten Stadt rollte die Sonne dem Horizont zu und tauchte den Himmel in orangefarbenes Licht. Ich war am Leben. Das war doch schon mal was. Nun musste es nur noch so bleiben.
»Jetzt zieh mich hoch.«
Das Seil bewegte sich nicht.
»Ascanio?« Was war jetzt wieder los? Hatte er sich von einem Schmetterling ablenken lassen?
Plötzlich ging das Seil hoch, als würde es über eine Winde eingeholt. Ich schoss nach oben. Was zum …?
Ich wurde über die Kante gezogen und stand plötzlich vor Curran.
Au weia!
Er hielt das Seil in einer Hand, die Oberarmmuskeln wölbten sich unter seinem Sweatshirt. Seinem Gesicht war nicht die geringste Anstrengung anzusehen. Toll, wenn man der coolste Gestaltwandler der Stadt war! Hinter ihm stand Ascanio regungslos da und tat, als wäre er unsichtbar.
Currans graue Augen lachten mich an. Der Herr der Bestien streckte die Hand aus und berührte meine Nase. »Tüt!«
»Sehr witzig«, sagte ich zu ihm. »Könntest du mich runterlassen?«
»Was hast du nach Einbruch der Dunkelheit in der Unicorn Lane zu suchen?«
»Ein Katzninchen einfangen. Was hast du nach Einbruch der Dunkelheit in der Unicorn Lane zu suchen?«
»Ich habe dich gesucht. Ich habe mir Sorgen gemacht, als du nicht zum Abendessen da warst. Mir scheint, ich habe dich wieder mal gerade rechtzeitig gefunden.« Er stellte mich auf dem kaputten Dach ab.
»Ich hatte alles unter Kontrolle.«
»Hm-hm.« Er beugte sich über das Katzninchen und küsste mich. Er schmeckte so wie in meiner Erinnerung, und das Gefühl seines Mundes auf meinem war, als würde ich aus einer kalten dunklen Nacht in ein helles warmes Zuhause kommen.
Ich steckte das Katzninchen in die Transportbox, und wir hauten von dem Dach ab.
*
Ich hüpfte über einen mit rosa Schleim überzogenen Metallbalken, der trotz der eisigen Temperaturen dampfte. Ich spürte den kalten Wind trotz meiner Jacke auf dem Rücken.
Vor mir sprang Curran auf einen Betonblock. Für einen so großen Mann war er erstaunlich graziös. »Ich habe in der Fourteenth geparkt.«
Hm, ein Wagen. Ein netter warmer Wagen. Wir waren zu Fuß gekommen, und eine Autoheizung klang himmlisch.
Curran blieb stehen. Ich landete neben ihm. »Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich?«
Ich blickte über die Unicorn Lane. Vor mir war ein altes Wohngebäude auf die Straße gesackt, nachdem das Gewicht für die von der Magie geschwächten Stahlträger zu viel geworden war. Rechts davon hatte der Frost einen Haufen verbogener Betontrümmer und Kabel in ein Labyrinth aus weißen Gittern verwandelt. Es kam mir bekannt vor … Ach ja!
»Was ist das?«, fragte Ascanio.
Ich zeigte auf das halb zerfallene Wohngebäude, wo eine dunkle Spalte einen Weg nach innen freigab. »Hier sind wir uns zum ersten Mal begegnet.«
Ich hatte den Tod meines Vormunds untersucht und herausgefunden, dass das Rudel etwas damit zu tun hatte. Damals verhielt ich mich möglichst unauffällig, sodass ich eine Unbekannte war, und darum lud Curran mich zu einem persönlichen Treffen in dieses Wohngebäude ein. Er wollte sehen, ob ich der Unicorn Lane bei Nacht gewachsen war. Das war ich.
Es schien nun so lange her.
Curran legte seinen Arm um mich. »Komm her, Miez, Miez, Miez?«
»Ich musste etwas sagen, damit du aus der Dunkelheit kommst.«
»Dort?«, fragte Ascanio. »Ihr habt euch in diesem dunklen Loch getroffen?«
»Ja«, sagte ich.
»Wie kann man sich nur in der Unicorn Lane verabreden? Es hätte euch etwas zustoßen können. Warum nicht in einem netten Restaurant? Frauen mögen Restaurants.«
Ich musste lachen. Curran ließ ein Grinsen aufblitzen, und wir kletterten vom Beton auf die kleine Straße.
Curran hatte den Jeep des Rudels an der Ecke zur Fourteenth geparkt. Drei Schlägertypen, zwei Männer und eine Frau, versuchten gerade, die Tür aufzubrechen. He! Danke, Atlanta!
Die Möchtegern-Autodiebe sahen uns. Der Mann, der eine blaue Jacke trug, fuhr herum und richtete eine Pistole auf uns. Großer Lauf, kleines Gehirn. He, hier spazieren ein paar Typen nachts über die Unicorn Lane. Sie sind gut in Form und sehen aus, als könnten sie es mit mir aufnehmen. Ich versuche mal, mit vorgehaltener Waffe ihr Auto zu klauen. Brillante Idee! Ja, das klappt ganz bestimmt.
Curran ging, ohne aus dem Tritt zu kommen, schräg vor mir. Ohne Zweifel würde seine Pelzigkeit, falls der Schlägertyp schießen sollte, die Kugel abfangen, bevor sie mich treffen konnte. Er hatte diese Show schon ein paarmal abgezogen. Ich wusste immer noch nicht, wie ich dazu stehen sollte. Ich wollte nicht, dass er sich wegen mir erschießen lässt.
»Her mit dem Schlüssel!«, rief Blaujacke mit rauer Stimme.
Currans Augen wurden golden. Seine Stimme senkte sich zu einem rauen Brummen. »Wenn du schießen willst, dann leere lieber das ganze Magazin, denn wenn du fertig bist, werde ich dir die Pistole quer in den Arsch schieben.«
Blaujacke blinzelte.
»Geht das überhaupt?«, fragte ich.
»Das werden wir gleich sehen.« Curran starrte den Schlägertypen an. »Na? Schieß endlich, damit wir mit dem Experiment beginnen können.«
Blaujacke steckte die Waffe in die Tasche und flüchtete. Seine Kumpel rannten hinter ihm die Straße hinunter.
Curran schüttelte den Kopf, kramte die Schlüssel hervor und öffnete die Wagentür. Wir stellten die Kiste mit dem Katzninchen hinein, Curran setzte sich ans Steuer und warf den Motor an. Dann fuhren wir durch die Stadt in nordöstlicher Richtung, wo das Rudel der Gestaltwandler in der Festung sein Lager aufgeschlagen hatte.
Die Autoheizung sprang an. Meine Zähne hörten auf zu klappern.
»Ich habe einen Mordshunger«, sagte Ascanio. »Was gibt es in der Festung zum Abendessen?«
»Wir gehen in die Festung«, sagte Curran. »Du gehst nach Hause zu deiner Mutter.«
Ascanio reagierte gereizt. »Warum?«
»Weil du seit drei Tagen nicht mehr dort warst und sie dich gerne sehen würde. Und weil sie mit dir die letzten Zensuren besprechen möchte.«
Verdammt. Beide, er und Julie, mein fünfzehnjähriges Mündel, waren in Algebra kläglich durchgefallen. Erst versuchte sie mir weiszumachen, der Lehrer hätte ihre Hausarbeiten verloren, und zwar alle vier Aufgaben. Dann schimpfte sie eine Weile darüber, wie schwer die Schule wäre und dass wir viel zu hohe Erwartungen an sie stellen würden, und zum krönenden Abschluss teilte sie uns mit, dass sie lieber rausfliegen würde und obdachlos wäre. Curran und ich waren begeistert.
»Wo bist du diesmal durchgefallen?«
»Ich bin nirgendwo durchgefallen. Ich habe in allen Fächern bestanden.«
»Er hat eine Sechs in Algebra«, sagte Curran.
Wieder in Algebra.
Ich drehte mich auf meinem Sitz herum, damit ich Ascanio ansehen konnte. »Wie hast du das wieder angestellt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er macht keine Hausaufgaben. Die eine Hälfte seiner Zeit verbringt er mit Raphael und die andere mit dir bei Cutting Edge.«
»Die Schule wird überbewertet«, sagte Ascanio. »Da gefällt es mir nicht, und es interessiert mich nicht. Ich will nur für das Rudel arbeiten.«
»Dann will ich diese Seifenblase mal ganz schnell platzen lassen«, sagte Curran. »Das Rudel braucht gebildete Leute. Wenn du Karriere machen willst, musst du wissen, was du tust. Die meisten Alphas haben einen höheren Hochschulabschluss. Fast alle, die du kennst, haben einen Abschluss.«
»Wer zum Beispiel?«, fragte Ascanio.
»Raphael hat einen MBA. Barabas ist Doktor des Zivilrechts. Andrea hat die Ordensakademie abgeschlossen. Doolittle hat ein abgeschlossenes Medizinstudium. Mahon hat seinen Doktor in mittelalterlicher Geschichte gemacht.«
Das erklärte einiges. Mahon war der Chef des Schwer-Clans, und ich fand schon immer, dass seine Argumentationen eher mittelalterlich waren. Oh, das muss ich ihm mal sagen! Das würde ihm gefallen. Nur nicht dann, wenn er Bärengestalt angenommen hat. Ich konnte für einen Menschen sehr schnell laufen, aber wahrscheinlich wäre ein erzürnter Kodiakbär noch schneller.
»Tante B hatte keinen Abschluss«, warf Ascanio ein.
»Doch, den hatte sie«, sagte Curran. »Sie ging auf die Agnes Scott und hatte Psychologie als Hauptfach.«
Ascanio starrte aus dem Fenster.
»Was hast du so vor?«, fragte Curran. »Du bist sechzehn. Du musst einen Plan haben. Oder willst du für den Rest deines Lebens von deiner Mutter abhängig sein?«
»Nein«, sagte Ascanio kleinlaut.
»Dann solltest du dir das mit der Algebra noch einmal überlegen«, sagte Curran.
*
Wir setzten Ascanio ab, brachten das Katzninchen zurück, wurden bezahlt, und Curran fuhr in Richtung Festung. Ich schmiegte mich an meinen Sitz. Ende gut, alles gut. Ich war nicht gestorben. Ich hatte Geld verdient, mir war endlich warm, und nach einem langen Arbeitstag konnte ich endlich nach Hause und mich duschen.
»Du passt sehr auf ihn auf«, sagte Curran. »Als hättest du Angst, er könnte zerbrechen. Er ist ein robuster Junge. Er kann sich behaupten, und das weißt du auch, also warum tust du es dann?«
Das ließ sich nicht so einfach beantworten. »Ich hatte gestern Nacht einen Traum. Ich war in einem Schlossturm gefangen. Das Dach stand in Flammen. Um mich herum war Feuer, meine Füße brannten schon.« Im wahren Leben war die Burg von einer magischen Flamme zerstört worden, die aber nie zu dem betreffenden Turm vorgedrungen war. Er war zu hoch gewesen. »Auf dem Hof tötete Hibla Tante B.«
Dieser Teil des Traumes entstammte meinen Erinnerungen, die noch so präsent waren, dass es wehtat. Als wir über das Schwarze Meer gefahren waren, um uns das Wundermittel zu beschaffen, trafen wir auf Hugh d’Ambray, den Kriegsherrn meines Vaters und den Präzeptor des Ordens der Eisernen Hunde. Hibla war seine Stellvertreterin. Als die Burg Feuer fing, saß ich ganz oben auf dem Turm fest. Ich sah, wie unsere Leute von Hughs Eisernen Hunden aus der Burg gejagt wurden, während Tante B sich geopfert hatte. Sie wusste, dass die Eisernen Hunde sie erst töten würden, bevor sie weiterzogen. Sie hatten einen Magier dabei. Ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie sich die silbernen Ketten des Magiers um Tante B legten und sie fesselten, wie ein Pfeilhagel ihren Körper durchbohrte und wie Hibla schließlich mit dem Schwert in der Hand auf sie losging.
»Ich wollte ihr helfen«, sagte ich. »In meinem Traum. Ich wollte ihr helfen, aber ich hatte keine Füße.«
Curran beugte sich herüber. Seine warmen Finger umschlossen meine Hand. Er drückte sanft meine Finger.
»Ich erinnere mich, wie Tante B fauchte, bevor Hibla ihr den Kopf abschlug. Ich höre das Fauchen immer wieder. Ich war fünfzig Meter über ihnen. Ich konnte es nicht wirklich gehört haben.«
»Hattest du den Traum zum ersten Mal?«
»Nein. Ich hätte mehr … tun sollen.«
»Ich liebe dich«, sagte er. »Aber auch wenn es nicht so wäre, würde ich dir dasselbe sagen. Du hättest nichts dagegen tun können. Hilft dir das?«
»Nein.«
»Tut mir leid.«
»Danke.«
»Hast du es irgendwem außer mir erzählt?«
»Nein.«
»Du solltest mit jemandem darüber reden. Das Rudel hat zwölf Therapeuten auf der Gehaltsliste.«
Genau. »Es geht mir gut«, gab ich zurück. »Ich will nur nicht, dass einer von ihnen stirbt.«
»Einer von wem?«
»Vom Bouda-Clan.«
Er drückte wieder meine Finger. »Baby, du kannst sie nicht in Watte packen. Sie würden sie zerfetzen und dir an die Gurgel gehen. Sie sind ein eigenes Volk. Ascanio hat zwei Alphas, zwei Betas und eine Mutter, die übrigens eine vom Rudel approbierte Therapeutin ist. Rede mit Martina. Es hilft, darüber zu reden.«
»Ich werde es mir überlegen.«
Er küsste meine Finger. »Wenn Derek damit zu dir käme, was würdest du ihm sagen?«
»Ich würde ihm raten, mit jemandem darüber zu reden, und dass das Rudel zwölf approbierte Therapeuten auf der Gehaltsliste hat.«
Ich wusste genau, was mir helfen würde. Ich musste Hibla töten. Nach der Burg, als wir halb tot und mit letzter Kraft an Bord unseres Schiffes gingen, konnte ich vor Erschöpfung nichts mehr sehen. Aber Jim hatte den Pier bewacht und bemerkt, wie Hibla mit blankem Schwert herbeigerannt kam. Sie hatte überlebt und sah, wie wir wegfuhren. Sie zu töten würde Tante B nicht zurückholen, aber es musste getan werden. Es war als Botschaft gedacht. Tötest du jemanden, den ich mag, werde ich dich finden und dich dafür büßen lassen. Egal, wohin du geflohen bist, und egal, wie gut du dich versteckt hast, ich werde dich bestrafen, und zwar so brutal, dass keiner es noch einmal wagen würde, jemandem, der mir nahesteht, ein Haar zu krümmen. Ich hatte Jim beauftragt, Hibla zu suchen, aber wir hatten noch nichts herausgefunden. Soweit ich wusste, war sie in Europa geblieben, und ich würde sie nie wiedersehen.
»Du musst nicht allein gehen«, sagte er. »Wenn du dich dafür entscheidest und mich brauchst, begleite ich dich. Ich komme mit, oder ich warte an der Tür auf dich, bis du fertig bist.«
»Danke«, sagte ich und meinte es auch.
Wir verstummten.
»Ich muss frühmorgens los«, sagte Curran.
Er sagte »ich«, nicht »wir«. »Warum?«
»Erinnerst du dich an Gene Monroe?«
Ich nickte. Gene Monroes Familie gehörte die Silver Mountain Mine, ein Bergwerk in der Nähe der Nantahala-Schlucht. Es war eine der Hauptquellen für Silber im Südosten. Gene behauptete, dass die Familie ihre Herkunft bis zu den Melungeons, den spanischen Mauren, zurückverfolgen konnte, die sich vor Jahrhunderten auf der Flucht vor der Spanischen Inquisition in der Gegend niedergelassen hatten. Angesichts der Tatsache, dass einige Mitglieder seiner Familie zu Iberischen Wölfen wurden, war seine Behauptung glaubwürdig. Gene war von Natur aus ein Isolationist und eine schwierige Person. Er stand einer kleinen Gruppe von Gestaltwandlern vor, und obwohl seine Nachbarn vor langer Zeit dem Rudel beigetreten waren, hielt sich Gene zurück.
»Macht er uns Ärger?«
»Das nicht. Anscheinend gehen die Männer seines Rudels einmal im Jahr zusammen in den Bergen auf Wildschweinjagd. Nur die Familie und enge Freunde.«
»Bist du eingeladen worden?«, mutmaßte ich.
»Ja.«
»Wissen sie, dass du ungern auf die Jagd gehst?«
»Das hatte ich wohl vergessen zu erwähnen.« Curran drehte das Lenkrad nach rechts, um einem Schlagloch von der Größe eines Reifens voller leuchtendem Glibber unbekannter Herkunft auszuweichen. »Er will das Wundermittel.«
Ich hatte Currans raffiniert diplomatisches Vorgehen erst im vollen Ausmaß schätzen gelernt, als ich ihn mit dem Wundermittel arbeiten sah. Nach der Rückkehr von dieser Reise erließ er als Erstes ein Gesetz, wonach das Wundermittel auf dem Territorium des Rudels keinem durch Loupismus gefährdeten Gestaltwandler verweigert werden durfte. Das führte dazu, dass sich Gestaltwandlerfamilien aus dem ganzen Land an der Grenze zum Territorium des Rudels niederließen und einen Puffer zwischen uns und der übrigen Welt bildeten. Einige warteten darauf, offiziell ins Rudel aufgenommen zu werden. Andere machten einfach einen Ausflug über die Grenze, wenn ihre Kinder erste Anzeichen von Loupismus zeigten. Wenn es Ärger gab, kämpften sie für das Rudel, weil wir ihre einzige Hoffnung waren. Währenddessen setzte Curran das Wundermittel wie Zuckerbrot und Peitsche als Bestechungsmittel ein und handelte damit, um das Rudel zu stabilisieren und unsere Verteidigung zu stärken. Ein Krieg stand uns bevor, und wir taten alles, um uns darauf vorzubereiten.
Die Gedanken an das Wundermittel und den Krieg brachten mich auf meinen Vater. Ich verscheuchte die Erinnerung, bevor sie mir den Abend verdarb. »Gene will also das Wundermittel. Und was willst du?«
»Ich möchte, dass er etwas wählerischer mit den Käufern für sein Silber ist. Er hat an den Mittleren Westen verkauft.«
»Roland?« Der Name meines Vaters rollte mir von der Zunge. Dabei wollte ich nicht mal an den Mistkerl denken.
»An seine Agenten.«
Silber war für Gestaltwandler Gift. Falls mein Vater anfing, es in großen Mengen zu kaufen, kam er in großen Schritten auf uns zu, und er würde keine Geschenke bringen. Er betrachtete Gestaltwandler als Bedrohung. Er hasste mich. Er wollte mich schon im Mutterleib töten, aber meine Mutter floh und opferte sich, damit ich überlebte. Mein Stiefvater versteckte mich und schmiedete mich im Laufe der Jahre zu einer Waffe gegen meinen Vater. Ich wurde zu dem einen Zweck erzogen, Roland zu ermorden. Leider war mein Vater eine lebende Legende, und es würde schwierig sein, ihn umzubringen. Ich würde ein paar bewaffnete Heere und nukleare Unterstützung benötigen.
Curran verzog das Gesicht. »Gene wird sich nur ungern von mir reinreden lassen. Aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass er zwei Enkel hat, die bei der Geburt zu Loups wurden, also wird er verhandlungsbereit sein. Deshalb die Einladung.«
Er musste hingehen. Alles, was Roland schwächte, war gut für uns. Dennoch war mir nicht wohl dabei. Seit der Reise nach Übersee war mir bewusst geworden, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Wir wussten nicht, ob Hugh d’Ambray tot oder am Leben war. Tot wäre mir lieber gewesen, aber wie auch immer, die Tage, an denen ich mich in der Schusslinie verstecken musste, waren vorbei. Roland würde früher oder später herausfinden, wer seinen Kriegsherrn vernichtet hatte. Jeder Tag ohne ihn war ein Geschenk.
»Wie lange wirst du weg sein?«, fragte ich.
»Einen Tag hin, zwei Tage auf der Jagd und einen Tag zurück. Freitag bin ich wieder hier.«
Ich überlegte kurz. Abgesehen vom Rudel gab es in Atlanta mehrere übernatürliche Splittergruppen, von denen das Volk für uns am gefährlichsten war. Das Volk hörte auf Roland, weshalb ich ihm möglichst aus dem Weg ging. In der Vergangenheit hatten das Rudel und das Volk Atlanta wegen eines Missverständnisses fast in einen übernatürlichen Krieg verwickelt. Jetzt trafen wir uns einmal im Monat in einem Restaurant, um unsere Konflikte zu bereinigen, bevor sich irgendwas hochschaukelte und außer Kontrolle geriet. Das Treffen wurde sinnigerweise »das Konklave« genannt. Es einfach »ein monatliches Treffen« zu nennen hätte den Beteiligten nicht das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein.
»Wenn du morgen abreist und Freitag zurückkommst, verpasst du am Mittwoch das Konklave.« Das bedeutete, dass ich als Gemahlin des Herrn der Bestien die Verhandlungen für das Rudel leiten musste. Lieber hätte ich mich mit einer rostigen Gabel erstochen.
Er sah mich an. »Wirklich? Das Konklave ist diese Woche? Wahnsinn, so ein Zufall!«
Ich verdrehte die Augen.
Curran grinste. Er mochte das Konklave ebenso wenig wie ich.
»Es ist ruhig gewesen«, sagte er.
Damit hatte er recht. Heute war der dritte Dezember. In dieser Zeit hielten die einzelnen Clans ihre Sitzungen zum Jahresende ab. Die Jagdsaison war noch in vollem Gange, und die meisten jüngeren, reizbaren Gestaltwandler machten außerhalb der Stadt Jagd auf Rehe und Wildschweine und amüsierten sich lieber, als mit den Gesellen des Volkes Streit zu suchen.
»Jim zufolge ist über ein Drittel unserer Leute weg«, sagte ich. »Das macht ihn paranoid.«
Curran sah mich an. »War er das nicht schon immer?«
»Mehr als sonst.«
Ja, Jim war schon immer paranoid gewesen, aber seit Hugh d’Ambray auf unserer Reise zur Beschaffung des Wundermittels hatte durchblicken lassen, dass er im Rudelrat einen Maulwurf hatte, erreichte Jims Paranoia ungeahnte Höhen. Er durchsuchte die ganze Festung nach Wanzen. Seine Leute schnüffelten jeden Quadratzentimeter des Ratszimmers ab. Er verhörte alle immer wieder, bis ihm die Alphas Gewalt androhten, wenn das nicht aufhörte, und als er sie nicht mehr verhören konnte, versuchte er sie zu beschatten. Es wäre fast zu einem Aufstand gekommen. Jeder einzelne Clan hatte einen eigenen Treffpunkt, und Jim hätte am liebsten alle auf den Kopf gestellt, aber er wurde nicht reingelassen. Bald war Weihnachten, und wir hatten immer noch keine Ahnung, wer Hugh d’Ambray mit Informationen versorgte. Jim nahm es persönlich, und es machte ihn wahnsinnig.
»Wenn alle auf die Jagd gehen, beschwert sich Jim über die geschwächte Einsatzkraft«, sagte Curran. »Wenn zum Weihnachtsessen alle wieder da sind, wird er sich beschweren, dass zu viele Leute da sind und er zusätzliche Arbeitskräfte braucht, um sie alle im Auge zu behalten.«
»Stimmt.«
Curran zuckte mit den Schultern. »Die Feiertage stehen an. Niemand streitet sich gern vor Weihnachten. Erst wird das Volk über Lappalien lamentieren, dann werden wir über Lappalien lamentieren, dann werden alle essen, trinken und nach Hause gehen. Sofern niemand schlafende Hunde weckt, ist alles gut.«
»Keine Sorge, Eure Pelzigkeit. Ich kann die Festung bis Freitag halten.«
Er hielt inne. Seine Stimme wurde plötzlich ernster. »Pass auf dich auf.«
»Was könnte mir schon passieren? Wenn du fort bist, wird Jim auf Overdrive schalten, das heißt, er wird mich wie den Hope-Diamanten von schießwütigen Killern bewachen lassen. Du bist es, der mit Leuten, die wir kaum kennen, in den Wald geht. Nimmst du jemanden mit?«
»Mahon, Raphael und Colin Mather«, sagte Curran.
Alphas des Schwer-Clans, des Bouda-Clans und des Schakalclans. Nett.
»Ich werde im Nu wieder da sein.«
Mit so viel Unterstützung könnte er eine kleine Armee auslöschen. »Grüß mir Gene. Und richte ihm aus, falls du nicht wohlbehalten zurückkehrst, habe ich kein Problem, mit unserer Gestaltwandlerhorde in North Carolina einzufallen.« Und falls Gene ihm etwas antun sollte, würde er gerade noch lang genug leben, um es zutiefst zu bereuen.
Der Herr der Bestien grinste mich an. »Ich bezweifle, dass es so weit kommen wird.«
Wir fuhren schweigend weiter. Ich saß gern neben ihm. Draußen war die Nacht unermesslich und kalt, und er saß warm neben mir. Sollte sich uns etwas Übles in den Weg stellen, würde er aussteigen und es auseinandernehmen. Sicher könnte ich es auch selbst tun, aber zu wissen, dass er bei mir war, machte einen großen Unterschied. Vor drei Jahren wäre ich in einer solchen Nacht mit meinem alten Wagen allein nach Hause gefahren und hätte gebetet, dass er nicht in einer Schneeverwehung den Geist aufgab. Wenn ich vor meinem Haus ankam, war es immer noch dunkel. Meine Heizung war abgedreht, um zu sparen, mein Bett war kalt, und wenn ich jemandem von meinem Tag erzählen wollte, hätte ich mit meinem Schwert reden und mir vorstellen müssen, dass es zuhört. Slayer war eine ausgezeichnete Waffe, aber ich konnte sie nie zum Lachen bringen.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, was du dir zu Weihnachten wünschst«, sagte Curran.
»Zeit«, antwortete ich. »Für dich und mich.« Ich war es so leid, im gläsernen Käfig der Festung zu leben.
»Schaust du mal im Handschuhfach nach?«, fragte er.
Ich öffnete es und zog einen Zettel hervor. Herzliche Einladung … vielen Dank für Ihre Reservierung … »Ist das …?«
»… die Black Bear Lodge«, sagte er.
Vor zwei Wochen mussten wir nach Jackson County in North Carolina fahren, um einen verrückt gewordenen Troll vom dortigen Campus zu entfernen. In den Appalachen gab es eine große Gestaltwandler-Bevölkerung, und viele ihrer Kinder gingen auf die Western Carolina University. Wir übernachteten in der Black Bear Lodge, einer neu erbauten Holzhütte mit gutem Essen und gemütlichen Zimmern mit riesigen Kaminen. Dort verbrachten wir zwei wunderbare Tage, spürten den Troll auf, tranken abends Wein und liebten uns in einem riesigen weichen Bett. Ich wäre so gern geblieben, dass es fast wehtat.
Er hatte es für mich reserviert. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte meine Brust.
»Wie lange?«, fragte ich.
»Zwei Wochen. Sobald ich zurück bin, könnten wir fahren und bis Weihnachten bleiben. Wir müssten für die Feiertage zurückkommen, sonst wird das Rudel Zeter und Mordio schreien, aber über die Ley-Linie ist es nur eine zweitägige Fahrt.«
Zwei Wochen. Unfassbar! »Was wird aus der Anhörung der Petition?«
»Schon erledigt«, sagte er. »Erinnerst du dich an die Dringlichkeitssitzung, die den ganzen Donnerstag dauerte? Da habe ich alles geklärt.«
»Der Gardner-Prozess?«
»Habe ich auch erledigt.« Curran beugte sich zu mir herüber und sah mich an. In seinen grauen Augen glühten winzige goldene Funken. Er runzelte bedächtig die Stirn, hob und senkte die blonden Augenbrauen.
»Ist das dein schwelender Blick?«
»Ja. Ich versuche, die Verheißung von Nächten voller Ekstase zu vermitteln.«
Ich lachte. »Hast du das Piratenbuch gelesen, das Andrea mir gegeben hat?«
»Ich habe es überflogen. Also, was sagst du? Erweist du mir die Ehre, mich zur Black Lodge zu begleiten, damit wir den ganzen Tag im Bett liegen, uns betrinken und dick werden können, ohne andauernd an Atlanta denken zu müssen?«
»Werde ich Nächte voller Ekstase erleben?«
»Und Tage. Dauerekstase.«
Zwei Wochen, nur Curran und ich. Das klang himmlisch. Um das zu erleben, hätte ich morden können, und das meinte ich ehrlich.
»Abgemacht, Eure Majestät.«
Kapitel 2
Ich stand in einem winzigen Raum aus Beton und blickte auf das untote Blut, das in einer stillen Pfütze zu meinen Füßen lag. Die Magie darin rief mich begierig und ermutigend, hauchte ein verführerisches Lied.
Manchmal lächelte das Universum. Meistens schlug es mir ins Gesicht, und wenn ich stürzte, trampelte es auf meinen Rippen herum und lachte mich wegen meiner Schmerzen aus, aber hin und wieder lächelte es mir auch zu. Es war Mittwoch. Ich war für das Konklave den ganzen Stapel an Tätigkeitsberichten durchgegangen, in denen alle Vorfälle und Konflikte zwischen uns und dem Volk aufgeführt waren, die uns Ärger bereiten könnten. Keine Morde, keine Überfälle, keine erhitzten Wortgefechte. Niemand hatte fremdes Eigentum entwendet. Niemand hatte betrunken den Freund einer anderen angebaggert. Halleluja!