Land meiner Sehnsucht - Lynne Wilding - E-Book

Land meiner Sehnsucht E-Book

Lynne Wilding

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Beschreibung

Die junge Australierin Laura McRae hat sich nach schweren Schicksalsschlägen geschworen, nie wieder arm zu sein. Mit Tatkraft, Mut, eisernem Willen und ihrer herausragenden Begabung für Mode, schafft sie es ihre einfache Herkunft hinter sich zu lassen. Ihr Leben scheint perfekt, als der charmante Eddie Ashworth ihren Weg kreuzt. Sie verliebt sich Hals über Kopf und heiratet ihn voller Hoffnung. Doch während sie mit ihrer Mode immer größere Erfolge feiert, legen sich dunkle Schatten über ihr Eheglück. Ist Eddie wirklich der, für den er sich ausgibt?

Eine dramatische Liebesgeschichte in den 30er Jahren vor der faszinierenden Kulisse Australiens.

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Über Lynne Wilding

Lynne Wilding ist in Australien längst als die Königin der großen Australien-Sagas bekannt und erhielt viele Preise für ihre Romane. Lynne Wilding lebt mit ihrer Familie in Arncliff bei Sydney.

Informationen zum Buch

Die junge Australierin Laura McRae hat sich nach schweren Schicksalsschlägen geschworen, nie wieder arm zu sein. Mit Tatkraft, Mut, eisernem Willen und ihrer herausragenden Begabung für Mode, schafft sie es ihre einfache Herkunft hinter sich zu lassen. Ihr Leben scheint perfekt, als der charmante Eddie Ashworth ihren Weg kreuzt. Sie verliebt sich Hals über Kopf und heiratet ihn voller Hoffnung. Doch während sie mit ihrer Mode immer größere Erfolge feiert, legen sich dunkle Schatten über ihr Eheglück. Ist Eddie wirklich der, für den er sich ausgibt?

Eine dramatische Liebesgeschichte in den 30er Jahren vor der faszinierenden Kulisse Australiens.

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Lynne Wilding

Land meiner Sehnsucht

Roman

Deutsch von Barbara Schnell

Inhaltsübersicht

Über Lynne Wilding

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Danksagung

Impressum

Für meinen Mann John.

Hätte er mich nicht unterstützt

und mich jahrelang ermutigt,

an meinem Ziel einer Veröffentlichung

festzuhalten, hätte dieses Buch

nicht geschrieben werden können.

1

1934

Sie waren arm.

Nicht einfach nur arm, sondern so gut wie bettelarm. So hatte es ihre beste Freundin Mary Ellen Peters, die nicht unbedingt für ihr Taktgefühl bekannt war, gestern auf dem Heimweg von der Schule ausgedrückt.

Laura McRae blickte auf den blank geschrubbten, nackten Küchentisch mit seiner bunten Ansammlung von Geschirr. Kein Stück passte zum anderen, alles war voller Macken und Risse und mehrfach geklebt. Ihr gutes englisches Porzellan und das Tafelsilber hatten sie längst zum Pfandleiher gebracht, um irgendwie über die Runden zu kommen. Das Silberbesteck hatten sie durch ein Sammelsurium gebrauchter Stücke ersetzt, das sie der Armee von fahrenden Händlern abgekauft hatten, die mit ihren Waren von Tür zu Tür zogen und sich so ihr Brot verdienten.

Die Umstände hatten die McRaes in den letzten vier Monaten dreimal zum Umzug gezwungen, und jedes Mal waren die Mietunterkünfte schäbiger geworden. Eine uralte Ruß- und Fettschicht aus dem mit Holz befeuerten Ofen markierte die Umrisse der Kochnische. Statt teurer, mit Strom oder Gas betriebener Lampen ließen sie abends Kerzen brennen, die sie strategisch auf dem Kaminsims, der Küchenfensterbank und dem Tisch platziert hatten. In allen Zimmern blätterte die Farbe von den Decken und Wänden. Laura bezweifelte, dass ihr Vermieter sie nach dem ursprünglichen Anstrich je wieder gestrichen hatte; die Farbe war so undefinierbar, dass sie sich nicht sicher war, ob es einmal Blau oder Grau gewesen war. Der Fußboden war mit billigem Linoleum belegt, und an Stellen, die oft benutzt wurden, war nichts mehr von dem einstmals modischen geometrischen Muster zu erkennen.

Der Rest des spartanisch möblierten Hauses war auch nicht besser als die Küche. Nur die Bemühungen ihrer Mutter, die Zimmer mit selbst gehäkelten, bunten Überwürfen freundlicher zu gestalten, mit Patchworkkissen, die Laura genäht hatte, oder mit Blumen aus ihrem mit Hingabe gepflegten Garten, hinderten Laura daran, es als das zu bezeichnen, was es war. Eine Absteige.

Arm. Nie zuvor hatte sie einen solchen Gedanken auch nur zugelassen. Bis jetzt hatten ihre angeborene Sturheit und ihr Stolz verhindert, dass sie sich die Wahrheit eingestand; heute sah sie alles mit neuen Augen, denn die Beweise waren allgegenwärtig.

Die McRaes waren nie reich oder auch nur gut situiert gewesen, aber die Werkstatt ihres Vaters – er hatte die meistbeschäftigte Schmiede südlich der Hafenbrücke von Sydney betrieben – und das bisschen, was ihre Mutter mit Klavierstunden verdiente, hatten in der Vergangenheit für ein angenehmes Leben gereicht. Sie hatten ein eigenes Pferd besessen, Sonny, und einen Wagen, mit dem die ganze Familie Ausflüge oder Sonntagsbesuche unternehmen konnte. Sie hatten in Coogee in einem hübschen Backsteinhäuschen mit Strandblick gewohnt. Das Haus hatte einen richtigen Salon mit dunklen, massiven Möbeln gehabt, außerdem hatten ein Billardtisch und Mamas Klavier darin gestanden. Laura hatte in ihrem eigenen Zimmer himmlische Zurückgezogenheit vor ihren beiden lärmigen, vorwitzigen Brüdern genossen, und sie hatte einen Schrank voller hübscher Kleider gehabt und ein Herzamulett – ein Geschenk zu ihrem letzten Geburtstag, an dem sie dreizehn geworden war.

Jetzt waren sämtliche Besitztümer der Familie dahin, einschließlich des Amuletts. Aber wenigstens hatte ihr Vater für ein paar Tage Arbeit im Hafen gefunden, sodass die Familie nicht von der Stütze leben musste.

Der nächste Schritt bergab, sie durfte gar nicht daran denken, war das Happy Valley in La Perouse. Laura erschauerte. Mary Ellen war einmal mit ihren Eltern dort gewesen und mit einer Schrecken erregenden Beschreibung zurückgekehrt. Familien, die per Räumungsbefehl aus ihren Häusern vertrieben worden waren, hatten dort eine Hüttensiedlung errichtet, die so schnell wuchs, dass die Behörden völlig überfordert waren. Über hundert Hütten standen dort inzwischen, hatte sie gesagt.

Holzkonstruktionen, meistens mit Termiten verseucht, trugen Dächer aus Schrottblechen. Die Wände bestanden aus Jutesäcken, die Fußböden aus festgestampftem Sand, der ebenfalls mit Jute belegt war. Es gab kein fließendes Wasser. Keine Kanalisation. Nur Millionen von Flöhen und anderen abscheulichen Insekten.

Mary Ellen konnte gut beschreiben, sie hatte ihnen ein Bild von einer dicht gedrängten, verzweifelten Menschenmasse gezeichnet. Von Männern, die im Müll wühlten und sich darum prügelten, von Betrunkenen, die sich in den schmalen Gässchen schlugen, und von Lumpenkindern, die keine Schulen besuchen konnten und stattdessen im Schmutz spielten; Himmel und Hölle, Karten, Kricket. Hauptsache, es vertrieb die Zeit.

Nein. Laura murmelte ihr ganz persönliches Gebet. Heilige Mutter Gottes, bewahre uns vor einem solchen Schicksal, Amen. Sie durfte gar nicht daran denken. Es musste einfach wieder aufwärtsgehen. Die Wirtschaftskrise musste doch bald enden, sie dauerte jetzt schon Jahre. Ihr kleines spitzes Kinn nahm eine entschlossene Haltung an. Wenn sie erwachsen war, wäre sie nicht arm. Sie wäre so reich, dass all dies – ihr Blick schweifte durch die Küche – nichts weiter wäre als eine amüsante Erinnerung.

»Nicht schon wieder Porridge!«

Franks jammernder Ton unterbrach Laura in ihren Gedanken. Genau wie ihr elf Monate jüngerer Bruder senkte sie den Blick auf das Schüsselchen, das ihre Mutter vor sie hingestellt hatte. Es war immerhin fast bis zum Rand gefüllt, doch die graue, klumpige Masse hatte nichts Verlockendes an sich. Die Tatsache, dass das Schüsselchen so voll war, war ein verräterisches Zeichen dafür, dass die drei McRae-Kinder – sie, Frank und der siebenjährige Mikey – wieder ohne Mittagsbrot zur Schule gehen würden. Also musste sie nicht lange überlegen, ob sie es essen würde; es gab nur die Wahl zwischen dem Porridge oder gar nichts.

Die Lebensmittelknappheit gehörte zu ihrem Leben, seit ihr Vater wegen der ausbleibenden Kundschaft seine Schmiede mit Brettern vernagelt und sich gezwungen gesehen hatte, in Sydney und Umgebung nach Arbeit zu suchen. Ganz gleich, was für eine Arbeit; Hauptsache, sie versetzte ihn in die Lage, seine Familie mit dem Nötigsten zu versorgen.

Laura wusste nicht mehr, wie oft es nichts zum Frühstück, zum Mittagessen oder zum Tee gegeben hatte. Sie übten schon einmal für die Fastenzeit, sagte ihre Mutter dann immer und versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie füllte die Kinder dann mit gezuckertem schwarzem Tee ab und, wenn der Vorrat zur Neige ging, mit ihrer Hausmischung aus getrockneten Rosenblättern und Pfefferminze. Das schmeckte seltsam, war aber trinkbar.

Hatte Frank das Schuldgefühl und die Frustration in den Augen ihres Vaters denn nicht erkannt, die Verzweiflung im lieben Gesicht ihrer Mutter nicht gesehen? Wo blieb nur sein Mitgefühl, fragte sie sich. Dann seufzte sie. So war Frank nun einmal.

»Hör auf zu schimpfen. Sei froh, dass überhaupt etwas in der Schüssel ist.«

Angie McRae, die jetzt sparsam braunen Zucker und verdünnte Milch über die drei Schüsselchen gab, lächelte über die mahnenden Worte ihrer Tochter. Das sah Laura ähnlich, ihn in seine Schranken zu verweisen. Zwischen den beiden herrschte ein ungewöhnlich starker Geschwisterzwist, der schon in der Wiege zu spüren gewesen war. Was ihre Familie betraf, so entging Angies wachsamem Auge kaum etwas. Frank war dagegen ein typischer Junge. Ständig hatte er aufgeschürfte Knie und Ellbogen, hier ein blauer Fleck und da eine Kruste. Den Kopf voller Unfug, frech, unordentlich, faul und dazu unglücklicherweise auch noch gerissen. Selbst an seinen guten Tagen stellte er sie und Tom auf eine harte Probe.

Laura war vollkommen anders. Sie machte ihnen keine Sorgen. Nicht, dass sie das perfekte Kind gewesen wäre, ganz und gar nicht. Aber für Angie hatte Laura Evangeline McRae etwas Besonderes an sich, und sie war nicht die Einzige, der das auffiel. Die Leute sprachen sie oft auf das bemerkenswert hübsche Aussehen des Mädchens an, ihren lebhaften, manchmal etwas widerspenstigen Charakter und ihre erstaunliche Sturheit, an der auch ernsthafte Disziplinarmaßnahmen im Lauf ihres dreizehnjährigen Lebens nichts hatten ändern können.

»Warum kann ich nicht das Gleiche haben wie Papa?«, ging das Quengeln weiter, während Frank neidisch auf den mit heißem Eintopf gefüllten Teller seines Vaters starrte.

Laura folgte seinem Blick. Kleine Dampfwölkchen stiegen von den aufgewärmten Resten des Abendessens von gestern auf. Fleischstücke waren in dem Gemisch zwar dünn gesät, aber runde Möhren, Pastinaken- und Selleriestreifen, Petersilie und Kartoffelwürfel schwammen bunt in einem Meer aus angedickter brauner Soße. Darum herum lagen dicke Toaststreifen, die mit Bratenfett bestrichen waren.

Laura lief das Wasser im Mund zusammen, und sie musste schlucken. Der Teller ihres Vaters sah viel verlockender aus als ihr Porridgeschüsselchen. Mit leisem Schuldgefühl unterdrückte sie den Neid, der sie überkam, und fragte: »Frank, musst du den ganzen Tag Schwerarbeit im Hafen leisten?«

Ihr Bruder hörte auf, mit dem Löffel auf dem Tisch herum zu klopfen, und schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dumme Kuh. Er sah sie mit einer bösen Grimasse an und antwortete: »Natürlich nicht. Ich bin doch ein Kind.« Sein Blick wurde noch boshafter. »Heute ist Donnerstag, und ich muss zur Schule.«

»Genau«, pflichtete Angie ihrer Tochter bei, »dein Vater braucht alle Kraft, die ihm dieses Essen geben kann. Deshalb bekommt er es, nicht du.«

Das Thema wurde plötzlich fallen gelassen, denn Tom McRae kam ins Zimmer. Die Küche, die sowieso schon klein war, schien in seiner Gegenwart noch zu schrumpfen. Er war ein kräftiger, muskulöser Mann mit einem rauen Gesicht. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz, und ihr Blick war manchmal so durchdringend, dass es die Leute beunruhigend fanden. In seinem dichten, kurz geschnittenen schwarzen Haar gab es keine einzige graue Strähne – nicht schlecht, wenn man bedachte, dass er schon Mitte vierzig war. Für Laura war er der bestaussehendste Vater, den ein Mädchen haben konnte.

Er trug seinen besten – seinen einzigen – grauen Dreiteiler, dazu ein weißes Hemd, den unverzichtbaren, gestärkten Kragen und eine grün-gelb gestreifte Krawatte. Laura betrachtete die Nähte seines Anzugs. Hatte sie ihn nicht erst letzte Woche enger gemacht? Die Seitennähte so ordentlich von Hand geändert, dass es kaum zu sehen war? Und die Ärmelaufschläge geflickt, sodass die ausgefransten Kanten nicht mehr auffielen?

Doch vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater immer in den Kleidern, die er an der Esse seiner Schmiede trug. Eine grobe Wollhose, die von breiten, gestreiften Hosenträgern und einem breiten Ledergürtel gehalten wurde. Ein schlichtes Twillhemd, meistens blau, mit hochgekrempelten Ärmeln, sommers wie winters, und robuste, geschnürte Arbeitsschuhe. An kalten Tagen trug er eine karierte Mütze, um sich den Kopf warm zu halten, und eine abgenutzte braune Lederschürze schützte ihn vor den Funken der Esse und dem einen oder anderen schlecht gelaunten Pferd. So stellte sie ihn sich immer vor. Nicht so wie jetzt, so anders, so förmlich.

Tom setzte sich an den Tisch. »Guten Morgen zusammen.«

Mit der linken Hand fuhr er Frank durch die strähnigen schwarzen Haare, die den seinen so ähnlich waren. Mit der rechten strich er Laura sanft über die Wange, dann beugte er sich über den Tisch und fasste Mikey liebevoll ans Kinn.

Als er dann Anstalten machte, mit dem Frühstück zu beginnen, gebot ihm Angie Einhalt.

»Tom, erst das Tischgebet. Sprich du es, Frank.«

»Mikey ist dran.«

Angie wusste zwar, wer das Gebet am nötigsten hatte, aber sie nahm es mit der Einhaltung der Familienregeln, die sie schließlich zum Großteil selbst aufgestellt hatte, sehr ernst.

»Nun gut. Mikey.«

Der jüngste McRae-Sprössling begann stotternd. »K-komm, Herr Jesus, s-sei unser G-gast und s-segne, w-was du uns b-bescheret hast. Amen.«

»Amen«, erwiderten alle.

Dann machte sich Tom mit Appetit über seine Mahlzeit her. Dabei forderte er seinen jüngsten Sohn heraus: »Wetten, dass ich zuerst fertig bin, Mikey, mein Junge.«

»Nicht, Tom. Ich möchte nicht, dass er das Essen in sich hineinstopft. Nach eurem letzten Wettessen ist ihm beinahe schlecht geworden«, tadelte Angie ihn sanft und milderte ihre Worte mit einem Lächeln, während sie ihrem Mann einen dampfenden Becher mit schwarzem Tee reichte.

Laura sah das verstohlene Lächeln, das ihre Eltern austauschten, und die kurze Berührung ihrer Finger, als ihr Vater den Becher entgegennahm. In den dunklen Augen ihres Vaters glühte ein Licht, das er allein für seine Frau aufsparte. Angie und Tom waren seit siebzehn Jahren verheiratet, und doch sahen sie einander oft wie frisch Verliebte an, wenn sie sich unbeobachtet wähnten.

Dabei, das wusste Laura, wäre ihre Romanze beinahe nicht zustande gekommen.

Angela Marchand war die Zweitälteste Tochter einer Familie, die in der Nähe von Broken Hill eine gut gehende Schafzucht unterhielt. 1915 war die damals einundzwanzigjährige Angela nach Sydney gefahren, um sich in Randwick bei Freunden auf eine wichtige Entscheidung vorzubereiten – entweder als Novizin bei den Schwestern der Nächstenliebe einzutreten oder sich am Konservatorium einzuschreiben und sich zur Musiklehrerin ausbilden zu lassen. Nach einigen Monaten hatte sie sich für Letzteres entschieden und sich eine Wohnung in der Nähe ihrer Freunde gesucht, direkt neben der Kirche Our Lady of the Sacred Heart.

Bei einer Tanzveranstaltung, die die Gemeinde zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen abhielt, war Angie 1917 Thomas McRae begegnet. Wie schnittig er in seiner Korporalsuniform ausgesehen hatte, trotz der Beinverletzung, die er sich in Reims zugezogen hatte und die der Grund dafür war, dass er jetzt wieder zu Hause war. Es war für beide Liebe auf den ersten Blick gewesen, und als sie sechs Monate zusammen gewesen waren, war Angela mit Tom nach Hause gefahren, um ihn ihrer Familie vorzustellen. Sie hatte die offensichtliche Missbilligung ihrer Eltern bei dem Gedanken, dass sie einen mittellosen Schmied heiratete, ignoriert, und jede Drohung, sie zu enterben, hatte sich als fruchtlos erwiesen. Tom war ihr wichtiger gewesen als jede Erpressung.

Nach Kriegsende hatten Angie und Tom geheiratet, und erst als die McRaes mit ihrem ersten Kind zu Besuch nach Broken Hill kamen, hatten sich die Wogen zwischen Angie und ihren Eltern geglättet, und sie hatten Tom akzeptiert. Nach dem Tod der Marchands war ihr Vermögen an Angies Brüder George und William übergegangen, nicht an sie, doch davon war sie sowieso immer ausgegangen.

Laura wurde es niemals müde, ihrer Mutter zuzuhören, wenn sie Geschichten aus der Vergangenheit erzählte. Wie sich ihre Eltern begegnet waren und sich ineinander verliebt hatten. Sie hoffte, dass auch ihr das Glück einer langen, liebevollen Beziehung zuteil werden würde, wenn sie groß war.

Sie sah zu, wie ihre Mutter vom Herd zur Küchenspüle ging, und wusste, dass Angie wieder einmal die Person in diesem Zimmer wäre, die das Frühstücken vergaß. Sie hatte in den letzten Monaten viel zu viel abgenommen, obwohl man es unter all den Kleidern, die sie zum Schutz vor der Winterkälte trug, kaum sehen konnte.

Angie McRae war keine Schönheit, aber sie strahlte eine heitere Gelassenheit aus, die kaum jemanden unberührt ließ. Sanfte Gesichtszüge, eine leise Stimme, selbst wenn sie wütend war, Augen so blau wie der Himmel. Und ihr Haar… ihr Vater sagte, dass es ihn an Honig erinnerte; ein sattes Hellbraun, das hier und da langsam grau wurde. Sie war schmächtig – Laura war jetzt schon fünf Zentimeter größer als sie. Sie war gütig, besaß aber einen außergewöhnlichen Sinn für Humor. Zum Glück, dachte Laura, denn es bewahrte ihre Mutter davor, das zu sein, was Mary Ellen verächtlich als alte Puritanerin bezeichnete.

Laura aß ihren Porridge, ohne ihn wirklich zu schmecken, und seufzte. Wenn sie doch nur mehr wie ihre Mutter sein könnte, ihre Geduld besäße, ihren liebenswerten Charakter. Vielleicht wäre Mutter Gonzaga im Konvent der Brigittinnen dann zufrieden mit ihr, denn Laura wusste, dass diese die Hoffnung aufgegeben hatte, dass aus Laura Evangeline McRae je ein guter Christenmensch werden würde.

»Wer ist denn der Kerl, mit dem du dich gestern draußen vor der Schule unterhalten hast, Laura?«, fragte Frank beiläufig. Er war wütend über Lauras scharfe Kritik und wusste genau, dass einer solchen Bemerkung die Aufmerksamkeit des ganzen Haushalts gewiss war. Die uralte Eifersucht stieg wieder in ihm auf. Laura war so perfekt, die Beste, die Erstgeborene. Um dieses Zufalls willen hasste er sie mehr als aus jedem anderen Grund.

»Das weißt du ganz genau. Alex Monroe«, erwiderte sie zischend und warf einen nervösen Blick auf ihren Vater.

»Ich möchte nicht, dass du dich mit Stallknechten unterhältst, Laura. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Tom runzelte die Stirn und betrachtete seine Tochter genau. »Was wollte er denn von dir?«

Laura beschoss Frank mit bitterbösen Blicken und sagte stockend: »Oh, nichts Wichtiges. Du weißt schon… eigentlich nur Rennbahngerede.«

»Sicher. Jeder weiß doch, dass Alex Monroe es auf dich abgesehen hat«, setzte Frank gezielt hinterher. »Dauernd sucht er nach Gründen, mit ihr zu sprechen oder sie anzugaffen, Papa.« Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht, während er sein Schüsselchen leer schabte und sich dann mit gierigem Blick nach mehr umsah. Er stahl Mikey einen Löffel Porridge, denn sein jüngerer Bruder sah gerade neugierig zu, wie sein Vater seine Tasche für die Arbeit packte.

»Ach ja?« Tom McRaes Tonfall war nachdenklich.

Laura zuckte mit den Achseln und versuchte, einen ungerührten Eindruck zu machen, aber unter dem bohrenden Blick ihres Vaters wurden ihre Wangen dennoch rot, schließlich stimmte es ja. Manchmal hätte sie Frank erwürgen können. Warum bereitete es ihm nur solche Freude, sie und Mikey in Schwierigkeiten zu bringen? Das tat er schon, seit er stehen konnte und gelernt hatte, aus voller Kehle nach der Aufmerksamkeit zu schreien, von der er glaubte, dass sie ihm zustand.

»Du weißt doch, was ich von Stallknechten und ähnlichen Gesellen halte. Das sind alles nur Lügner und Diebe.«

»Alex ist aber kein Stallknecht, Papa, er macht eine Lehre als Jockey. Und er hat Talent, habe ich gehört.«

»Ach ja? Wer hat dir das erzählt? Bestimmt nur er selbst.«

»Nein, Mary Ellens Vater. Mr Peters hat ihn schon ein paar Mal im Rennen gesehen. Und mit Erfolg auf ihn gesetzt.«

»Nun ja.« Ihr Vater räusperte sich, denn diese Tatsache konnte er nicht leugnen. Auch er wusste von den reiterlichen Fähigkeiten des Jungen. »Das spielt keine Rolle. Was ich gesagt habe, gilt, junge Dame. Du bist zu jung, um den Burschen schöne Augen zu machen, und Monroe ist zu alt für dich. Halt dich von solchen Leuten fern.«

»Aber –«

»Kein aber«, kam die strenge Antwort ihres Vaters, die er abschließend unterstrich, indem er seine Tasche zuklicken ließ.

Sie bezweifelte zwar, dass Alex, der gerade sechzehn geworden war, zu alt für sie war, doch sie wusste, dass der Ton ihres Vaters keine Erwiderung duldete, ganz gleich, wie ungerecht es war. Ihr Vater hatte schon immer eine schlechte Meinung von Stallknechten, Pferdepflegern und Jockeys gehabt, wahrscheinlich, weil er in der Schmiede oft persönlich mit ihnen zu tun hatte, wenn er Rennpferde beschlug. Manche von ihnen waren Lügner und Diebe, genau wie er gesagt hatte, aber nicht alle. Alex – sie war sich eines angenehmen Gefühls der Wärme in ihrem Inneren bewusst, während sie lautlos seinen Namen sagte – war mit Sicherheit keiner.

Tom McRae sah zu, wie das Kinn seiner Tochter einen sturen Ausdruck annahm. Er wusste genau, was für Gedanken ihr durch den Kopf gingen. Es waren mit großer Sicherheit rebellische Gedanken. Aber er konnte es nicht ändern. Er traute diesen kleinen Schuften nicht. Er hatte im Wirtshaus und auf der Rennbahn Geschichten von ihren sexuellen Erfolgen bei jungen Mädchen gehört, oft genug aus dem Mund der Bengel selbst. Er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass der Name seiner Tochter nicht auf ihrer Liste leichter Eroberungen landete. Nicht, wenn es nach ihm ging.

Angie, die mit ihren Gedanken bei ganz anderen Dingen war, streckte die Hand über die Kochnische hinweg nach dem hölzernen Kaminsims aus. Sie ließ den Finger sacht über das ganze Holzbord fahren und tastete nach dem Shilling, den sie gestern Abend dort hingelegt hatte. Er war fort.

»Hat jemand den Shilling gesehen? Ich habe ihn hier auf den Kamin gelegt.«

Frank spürte, wie ihm ein kalter Angstschauer über den Rücken lief. Sein Herz hämmerte plötzlich laut in seiner Brust. Am liebsten wäre er davongelaufen, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben. Warum musste sie jetzt nach dem verdammten Geld suchen? Warum hatte sie nicht warten können, bis er auf dem Weg zur Schule war? Zum Teufel mit ihr, und zum Teufel mit allen Frauen.

»Bist du sicher, dass du ihn dort hingelegt hast, Liebes?«

»Ganz sicher. Es ist das letzte Geld im Haus, bis du deinen Lohn bekommst, wenn wir heute Abend und morgen etwas essen wollen, brauche ich ihn.«

Bargeld war ein seltener Luxus im Haushalt der McRaes, und Angie brauchte gar nicht nachzusehen, um zu wissen, dass der Inhalt der Küchenschränke nicht einmal ausreichte, um einen Hund satt zu bekommen, von einer fünfköpfigen Familie ganz zu schweigen. Sie hätte aus dem Shilling sowieso schon mehr herausholen müssen als je zuvor, indem sie ein paar Rinderknochen, Gerste, Gemüse für eine kräftige Suppe, ein Pfund Mehl und einen Viertelliter Milch kaufte.

»Hat irgendjemand das Geld gesehen oder angerührt…?«, fragte sie. »Frank, Laura, Mikey, ihr?«

Die Kinder schüttelten die Köpfe.

»Ich muss zur Schule. Wir haben vor dem Unterricht Fußball«, murmelte Frank und schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Autsch. Teufel noch mal, das tat weh! Er versuchte, sein Humpeln zu verbergen, als er sich Richtung Tür in Bewegung setzte.

Tom McRae runzelte die Stirn, während er den unregelmäßigen Gang seines Sohnes beobachtete.

»Was ist los, Frank? Hast du dich verletzt?«

»Es geht schon.« Frank fuhr herum und sah seinen Vater an. »Jemand hat mich gestern in der Schule beim Laufen umgeschubst.«

»Wir hatten aber gestern keinen Sport in der Schule«, meldete sich Mikey unschuldig zu Wort und handelte sich prompt eine Kopfnuss von seinem Bruder ein.

»Du Idiot. Nicht beim Sport, sondern beim Spielen auf dem Schulhof.«

»Tom…« Wegen Angies Aufregung über das vermisste Geld blieb Franks kleiner, brutaler Ausbruch ungestraft.

»Hast du noch irgendwelches Geld?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.

»Kleingeld. Genug für die Straßenbahn zum Hafen und zurück.« Er sah die Kinder nacheinander an, dann ordnete er an: »Nun gut, passt alle genau auf. Lasst uns diesen Shilling suchen. Es ist wichtig. Eure Mutter irrt sich nie, wenn es um Geld geht.« Er sah seine Frau an und lächelte, um sie zu beruhigen. »Es muss doch hier im Zimmer sein, oder?«

Einige Minuten lang durchsuchten die McRaes die beengte Küche. Die Kinder krochen unter den Tisch und lugten unter die alte Kommode und in den leeren Brotkasten. Sie schoben das Segeltuchfeldbett, auf dem Frank schlief, zur Seite und sahen alle Schränke durch – ohne Erfolg. Das Geldstück schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Angie begann verzweifelt, ihre Schürzen- und Rocktaschen zu durchsuchen, obwohl sie wusste, dass auch diese Suche nichts fruchten würde. Sie hatte das Geldstück auf den Kaminsims gelegt, darauf hätte sie gewettet.

»Nun gut«, sagte Tom und zeigte auf die Kinder, »leert eure Taschen und eure Schulranzen. Wir wollen doch sichergehen, dass der Shilling nicht zufällig an einen Ort geraten ist, wo er nicht hingehört, oder?«

Frank richtete sich zu voller Größe auf und zog ein finsteres Gesicht.

»Willst du damit etwa sagen, dass einer von uns sich den Shilling genommen hat?« Er war über seine eigene Dreistigkeit überrascht – mit etwas Glück kam er ja vielleicht damit durch. Kein Vater und keine Mutter lebte gern mit der Vorstellung, dass eins der eigenen Kinder ein Dieb war. Sie hungerten lieber, als so etwas zu denken.

Toms Tonfall wurde strenger. »Tu, was ich gesagt habe, Frank. Und zwar sofort.«

Einige Zweige, eine Murmel, ein alter Lutscher und ein schmutziges Taschentuch waren alles, was aus den Taschen ihrer Schuluniformen zum Vorschein kam.

Frank trat von einem Bein auf das andere, und sein Gesicht wurde immer finsterer.

»Wir kommen zu spät zur Schule, Papa.«

»Seit wann stört dich das denn, Frank?« Diesen Seitenhieb konnte sich Laura nicht verkneifen.

»Nun gut, ab mit euch«, sagte Tom langsam. »Aber denkt daran, es gibt heute kein Abendessen«, er starrte seinen ältesten Sohn an, »für keinen von euch, wenn dieser Shilling nicht auftaucht.«

Laura und Mikey griffen als Erste nach ihren Schultaschen, nur Frank, der es gerade noch so ungewöhnlich eilig gehabt hatte, zur Schule zu kommen, schlenderte erstaunlicherweise in aller Seelenruhe von einem Ende des Zimmers zum anderen, um ganz gemütlich nach seiner Tasche zu greifen.

Er hatte es geschafft. Hatte sie alle an der Nase herumgeführt. Er war schon fast zur Hintertür hinaus, als sein Vater ihn zurückrief.

»Frank, komm her.«

Frank war nicht schnell genug, um sich das triumphierende Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Was ist denn, Papa?«

»Zieh die Schuhe aus, Junge, damit ich einen Blick auf deinen verletzten Fuß werfen kann.«

»Warum denn? Es ist wirklich nicht schlimm.« Sein Blick huschte flüchtig von seiner Mutter zu seinem Vater. Ein Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn und seiner Oberlippe. »Was ist denn mit der Schule. Ich… ich komme… zu spät.«

»Zum Henker mit der Schule, Junge. Tu, was ich gesagt habe.« Er ignorierte seine Frau, die missbilligend die Luft anhielt. Angie hasste es, wenn jemand fluchte, aber Tom war jetzt so wütend, dass sie noch dankbar sein konnte, dass er keins der Schimpfwörter benutzt hatte, die er im Hafen aufgeschnappt hatte.

Draußen im Flur, der in das handtuchgroße Wohnzimmer und das einzige Schlafzimmer führte, legte Laura den Finger auf ihren Mund, um Mikey zur Stille zu mahnen, obwohl ihr selbst ein leises Glucksen entwischte. Frank war geliefert, das wusste sie. Vater war ihm irgendwie auf die Schliche gekommen und würde ihm das Geld wieder abnehmen. Gut. Sie würde sich kein Wort davon entgehen lassen, auch wenn sie nicht sehen konnte, was passierte.

Frank zog sich die Schuhe aus und reichte sie seinem Vater.

Mit einem Ausdruck gespielter Entrüstung sah er zu, wie sein Vater die Schuhe hin und her schüttelte, weil er hoffte, dass das Geldstück herausfallen würde. Doch das Einzige, was sich löste, war das dicke Pappstück, das er in den rechten Schuh geklebt hatte, um ein großes Loch in der Sohle zu flicken.

Mit versteinerter Miene reichte Tom seinem Sohn die Schuhe zurück und starrte ihn so durchdringend an, dass Frank zu zappeln begann. Er zog nervös an seinem linken Ohrläppchen und zupfte an seiner gestreiften Schulkrawatte herum.

»K-kann ich jetzt gehen?«

»Ja.«

Dann: »Nein. Zieh deine Socken aus.«

Frank wurde noch nervöser. »Aber warum denn?«

»Weil ich es sage.«

Er setzte sich auf einen Küchenstuhl und rollte langsam seine linke Socke herunter, als hätte er alle Zeit der Welt. Die Socke fiel zu Boden, doch als es dann daran ging, das Ganze mit dem anderen Fuß zu wiederholen, zögerte er sichtlich, die verbleibende Socke auszuziehen.

»Ich… ich bekomme wirklich Ärger in der Schule, wenn ich mich verspäte.«

Tom verlor die Geduld. Er griff nach Franks Fuß und zog ihm mit einem Ruck die Socke aus.

Eine Silbermünze fiel zu Boden.

Drei Augenpaare sahen zu, wie der Shilling in einer Kurve über das Linoleum rollte. Etwa zehn Sekunden lang sagte niemand im Zimmer etwas. Die Stille war ohrenbetäubend.

»Du mieser kleiner Lügner. Du Dieb!«

Die Rage im Tonfall seines Vaters und die roten Flecken auf seinen Wangen ließen Frank erzittern.

»Ich… ich wollte… ihn zurücklegen. Ehrlich. Ich… wollte ihn mir nur ansehen.«

»Mach die Lüge nicht noch schlimmer, Junge. Was wolltest du wirklich damit?«

»Lügen helfen dir jetzt nicht mehr. Besser, wenn du uns die Wahrheit sagst«, warf Angie leise ein. Die Enttäuschung war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, und mehr als das. Eine furchtbare, fast unerträgliche Traurigkeit durchfuhr sie. Was hatten sie bei Frank nur falsch gemacht? Sie suchte verzweifelt nach Antworten. Hatten sie ihn nach seiner Scharlacherkrankung zu sehr verwöhnt und ihn so auf den Gedanken gebracht, dass ein derartiges Verhalten akzeptabel war? Oder war er einfach als schlechter Mensch geboren und konnte nicht anders?

Sie warf einen Blick auf Tom und sah, dass die Adern an seinem Hals hervortraten, ein Warnsignal, dass seine Wut kurz vor dem Überkochen stand. Ihre Augen trafen seinen Blick und baten ihn schweigend, sich zu beherrschen. Im ersten Moment weigerte er sich, der Bitte nachzukommen, dann nickte er kurz, und seine Wut entlud sich in einem geräuschvollen, halb erstickten Seufzer.

Bei diesem Geräusch beeilte sich Frank, sein Handeln zu rechtfertigen.

»Ich… wollte Blinky Taylor ein Fahrrad abkaufen. Für einen Shilling! Es war ein gutes Angebot. Dann wollte ich versuchen, Arbeit als Botenjunge zu finden. Vielleicht zur Thompson’s Bay fahren und angeln. Dann könnten wir… Fisch zu Abend essen.«

Tom schüttelte ungläubig den Kopf. Er glaubte nicht eine Minute lang, dass sein Sohn vorhatte, der Familie zu helfen, indem er sich Arbeit suchte oder etwas zu essen auf den Tisch brachte. Er richtete sich auf und griff mit der Rechten nach seiner Gürtelschnalle. Nachdem er den Gürtel ausgezogen und ihn um seine andere Hand geschlungen hatte, sagte er: »Du weißt, wohin es geht.«

Laura und Mikey sahen sich hinter der Tür vielsagend an. Sie hörten die Scharniere der Hintertür quietschen, als sich diese jetzt öffnete.

»Der Holzschuppen«, flüsterte Mikey Laura zu. Er stand wie erstarrt da und hörte zu, wie sich Franks Tonfall in ein flehendes Jammern verwandelte.

»Neiiin… bitte nicht, Papa…«

»Jetzt kriegt er es aber richtig.«

»Ja«, pflichtete ihm Laura bei. Ein kleines Lächeln der Genugtuung erschien für einen Moment auf ihren Lippen. Wie üblich fiel es ihr schwer, etwas anderes als flüchtiges Mitgefühl für ihren Bruder zu empfinden. Warum benahm er sich nur so, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Er war das sprichwörtliche schwarze Schaf. Ständig machte er Ärger und log, dass sich die Balken bogen. Fast jedes Mal kam ihm jemand auf die Schliche. Warum lernte er nicht daraus?

Sie zupfte Mikey am Ärmel und zog ihn durch den halbdunklen Flur.

»Los, komm. Wenn uns Papa hier erwischt, leisten wir Frank am Ende noch Gesellschaft.«

Das brauchte sie Mikey nicht zweimal zu sagen. Er nahm seine Schultasche und rannte zur Haustür, so schnell ihn seine Beine trugen.

2

Sonnenlicht drang durch die verblichenen bedruckten Vorhänge und erleuchtete das Zimmer, in das Tom McRae die kleine Veranda an der Rückseite des Hauses für Laura verwandelt hatte. Es war ein spartanisches Zimmer. Wände und Decken waren nicht tapeziert oder gestrichen, der Fußboden ebenso wenig, und das einzige Möbelstück neben dem Bett war eine alte, mitgenommene Schubladenkommode, auf der drei Gegenstände standen: ein abgenutzter Kerzenhalter, ein Holzkruzifix mit einem Messingchristus und eine Stoffpuppe mit einem eleganten Spitzenkleid aus rosafarbenem Taft. An der Wand über dem Bett hingen ein halbes Dutzend Zeichnungen von modisch gekleideten Frauen, und unter jeder standen in eleganter Druckschrift die Worte Ein Entwurf von Laura.

Laura wälzte sich unter der Bettdecke hin und her. Ein Stöhnen entfuhr ihren Lippen, als ein herbstlicher Luftzug durch den Sprung in der Fensterscheibe fuhr – den sie Franks und Mikeys letzter Kricketpartie verdankte. Noch halb schlafend kroch sie tiefer unter die abgenutzte, verwaschene Decke, um noch für ein paar Minuten die Wärme zu genießen und die Notwendigkeit, den Tag zu begrüßen, hinauszuschieben.

Die Tür öffnete sich, und leise Schritte auf den blanken Dielen holten Laura dem Wachsein näher.

Angie stand am Fußende des Betts. Sie beugte sich vor und kniff Laura durch die Decke in den Zeh. »Komm schon, Laura, aufstehen, zur Messe.«

Eine leise Bewegung, nicht mehr als ein Flattern der Augenlider, war das einzige Anzeichen dafür, dass die Aufforderung gehört worden war.

»Hör auf, dich zu verstellen. Ich weiß, dass du wach bist.«

Die Augenlider zuckten erneut, dann öffneten sie sich. Laura räkelte sich, sodass die Drahtfedern des antiken Eisenbetts ihren üblichen Morgengruß quietschten.

»Muss ich, Mama?« Beim nächsten Atemzug spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Bauch, gefolgt von einer Welle der Übelkeit, und fast hätte sie sich in die Unterlippe gebissen.

»Mir geht es nicht gut.«

Angie runzelte die Stirn und betrachtete ihr ältestes Kind mit wissendem Blick. Laura hatte diesen Trick schon öfter versucht.

»Aufstehen, Faulpelz. Sofort. Du siehst ganz gesund aus. Deine Wangen haben ja sogar Farbe.«

»Aber –«

»Keine Ausreden. Es ist Ostersonntag, und Papa kommt mit uns zur Messe, und…«

Während ihre Mutter redete, lauschte Laura den wispernden Bewegungen ihres schweren Baumwollkleids und ihrer Unterröcke. Sie liebte dieses Geräusch, weil es ihr so vertraut war und ihr das raschelnde Hin und Her das Gefühl gab, geborgen und geliebt zu sein. Der Hall der Schritte sagte ihr, dass sich ihre Mutter vom Bett auf die improvisierte Wäscheleine zubewegte, die sie aufgespannt hatten, um Lauras Kleider aufzubewahren, bis sie sich einen kleinen Schrank leisten konnten – oder Tom einen bauen konnte. Das unangenehme Ziehen in ihrem Bauch wurde stärker, und sie presste erst die Hand auf die Stelle, dann rieb sie sie.

Sie beschwor den Schmerz zu verschwinden. Sie wollte nicht krank sein. Nicht heute.

Ostern war ein besonderes Fest für die McRaes. Und dieses Jahr fiel auch noch der Geburtstag ihres Vaters auf den Ostersonntag. Ihre Mutter hatte es geschafft, im Lauf der letzten Wochen hier und da einen Penny zu sparen, um die Zutaten für einen richtigen Geburtstagskuchen mit echten Trockenfrüchten, kandierten Kirschen und Glasur zu kaufen. Laura holte Luft, und der Duft des frisch gebackenen Früchtekuchens wehte aus der Küche herein, als wollte er sie verlocken aufzustehen und sich fertigzumachen. Normalerweise ließen ihr die Essensdüfte ihrer Mutter das Wasser im Mund zusammenlaufen, heute geschah das seltsamerweise nicht.

Angie griff nach dem Kleid, an dem ihre Tochter in der letzten Woche still und fleißig gearbeitet hatte. Laura hatte es für den heutigen Tag umgeschneidert und dem drei Jahre alten blauen Viyellakleid und dem Hut, den sie dazu passend geändert hatte, neues Leben eingehaucht. Das Geschick, das das Mädchen mit der Nadel bewies, war umso einzigartiger, als Angie ihr nicht mehr beigebracht hatte, als mit der alten Nähmaschine, die sie einmal besessen hatten, eine gerade Naht anzulegen, Knöpfe anzunähen und Kleider zu flicken. Den Rest hatte sich Laura selbst beigebracht, und es war, als nähte sie schon seit Jahren.

Sie hielt das Kleid vor sich hin, um es einen Moment zu bewundern, dann blickte sie zu der Gestalt unter der Bettwäsche hinüber.

»Du hast das Kleid so wunderbar hinbekommen, Schätzchen. Es wäre doch schade, wenn deine Freundinnen dich nicht darin zu sehen bekämen.« Was für eine durchtriebene Verführung, dachte sie schuldbewusst, etwas, das sie als gottesfürchtige Katholikin doch verabscheuen sollte. Es war zwar nicht besonders anständig, an den Stolz ihrer Tochter auf ihre Leistung zu appellieren, aber Laura sprach nun einmal meistens darauf an.

Laura verdrehte den Kopf, sodass sie das Kleid sehen konnte. Es war tatsächlich ihre gelungenste Arbeit, und sie hatte alles von Hand gemacht. Es sah brandneu aus, und Mary Ellen würde grün vor Neid werden, wenn sie es sah, genau wie diverse andere Mädchen aus ihrer Klasse. Doch ihr war natürlich auch bewusst, dass ihre Mutter sich alle Mühe gab, sie ohne Widerworte aus dem Bett zu locken. Sie wollte bestimmt keine Szene, vor allem nicht an Toms Geburtstag.

»Mir geht’s schon besser«, verkündete Laura, obwohl das nicht ganz stimmte. Ihre Übelkeit hatte zwar nachgelassen, aber sie war einem dauernden, stechenden Schmerz gewichen. Laura biss die Zähne zusammen, beschwor das Ziehen aufzuhören und drückte fest mit der geballten Faust gegen ihre Seite. Sie stieß einen erstaunten Seufzer aus, als es funktionierte. Der Schmerz verschwand.

Gerade, als sie ihre Beine aus dem Bett auf den Flickenteppich schwang, der auf dem kalten Fußboden vor dem Bett lag, platzte ihr Vater ins Zimmer.

»Was, noch im Bett?«, erklang sein gespielter Tadel. »Deine Brüder warten schon vor der Tür. Jetzt aber hinein in die Kleider, Laura.«

Und als wollte er ihr genau dabei helfen, war er mit einem Satz bei ihr, hob sie auf und rannte wie in wilder Eile mit ihr durch das kleine Zimmer. Zuerst lachte Laura, doch dann meldeten sich die Schmerzen wieder, und sie musste die Zähne zusammenbeißen.

»Tom.« Angie unterdrückte ihr Lachen. »So hilfst du ihr nicht, sich fertig zu machen. Und sie wird langsam viel zu groß, um sie so zu tragen. Sie ist doch schon fast eine junge Dame.«

»Junge Dame, dieses Persönchen? Niemals!«, sagte Tom in ungläubigem Tonfall, und sein Blick wurde sanft, als er seine Tochter betrachtete.

Ganz gleich, wie erwachsen sie auch wurde, sie bliebe immer sein kleines Mädchen. Sein Engelchen, das beim Kuchenbacken im Sandkasten so niedlich ausgesehen hatte. Als Achtjährige nicht mit der Wimper gezuckt hatte, als Dr. Hume ihr nach dem Sturz von Phar Lap, den er gerade beschlagen hatte, den Arm gerichtet hatte. Das freche, dünne Geschöpf, das genauso gut austeilen konnte wie Frank. Das weiche Bündel, das sich an langen Winterabenden mit dem Kopf in seinem Schoß zusammenkuschelte wie ein verschlafenes Kätzchen, während sie zuhörten, wie Angie aus einem Buch vorlas. Er schüttelte den Kopf. Es gab so viele Dinge, die der Vergangenheit angehörten. Heute wurde bei den McRaes nicht mehr Klavier oder Billard gespielt, sondern vorgelesen, und auch das kostbare Radio gab es nicht mehr. Sie hatten diese Luxusgegenstände verkauft, um etwas zu essen auf den Tisch zu bringen.

»Setz sie ab, Tom. Wir kommen zu spät zur Messe, wenn sie sich nicht wäscht und fertigmacht.«

Laura bekam eine Gänsehaut, als ihr Vater sie mit den Füßen auf die kalten Dielen stellte. Gleichzeitig begann ihr Verstand, Worte zu bilden, um zu sagen, wie schlecht es ihr wirklich ging, und daran konnten auch die Vorstellung, sich in der Kirche mit ihren Freundinnen zu treffen, und die Tatsache, dass ihr Vater Geburtstag hatte, nichts ändern.

Sie blickte zu ihrer Mutter hinüber. Angie hielt ihr Kleid vor sich hin und wartete darauf, dass sie sich endlich beeilte. Dann sah sie ihren Vater an und sah die Zuneigung in seinem Gesicht. Wie hätte sie die beiden enttäuschen können, vor allem Papa? Ihr Vater war kein großer Kirchgänger, doch an Feiertagen ging er zur Messe, um Angie eine Freude zu machen.

Angie McRae war streng katholisch, und für sie war es eine Todsünde, an Sonn- oder Feiertagen die Messe zu versäumen. So sagte es die Kirche, und ihre Mutter nahm das alles sehr ernst.

Laura seufzte und beschloss, ihre Bauchschmerzen zu ertragen. Außerdem wollte sie zu gern Mary Ellens Miene sehen, wenn diese sah, wie Laura das Kleid und den Hut geändert hatte. Ihre Freundin verabscheute jede Art von Handarbeit, und ihr eins auszuwischen, war die Qual wert.

Ruth Strachan, ihre andere beste Freundin, wäre ebenfalls beeindruckt, aber anders. Ruth, deren Familie noch ärmer war als die McRaes, kannte keinen Neid.

Die katholische Kirche von Coogee stand neben der Grundschule, in die Laura gegangen war, bevor sie zu den Brigittinnen nach Randwick gewechselt war. Sie war nur zwei Straßen von der Wohnung der McRaes entfernt. Normalerweise war der Weg zur Kirche ein netter Spaziergang, sogar an kühlen Herbsttagen wie diesem, aber heute kam er Laura endlos vor.

Tom und Angie hielten sich ein paar Schritte hinter ihrem ausgelassenen Nachwuchs. Sie gingen lieber langsamer, denn so konnten sie sich unter vier Augen unterhalten, eine Seltenheit im Alltag ihres geschäftigen, oft lauten Haushalts.

Lauras Brüder hüpften um ihre Schwester herum wie junge Hunde, und an jedem anderen Tag hätten sie sich damit einen gereizten Ausbruch eingehandelt. Heute jedoch schien sie den jugendlichen Übermut der beiden gar nicht zu bemerken.

Sie blieb unterwegs immer wieder stehen, scheinbar, um die spät blühenden Rosen in einigen Gärten zu bewundern. In Wirklichkeit brauchte sie die Pausen, um wieder zu Atem zu kommen, denn die Krämpfe wurden immer stärker, dann ließen sie nach und gingen in einen unheilvoll dröhnenden Schmerz unterhalb ihrer Taille über. Jedem Krampf folgte eine Hitzewelle, dann wurde ihr kalt. Sie hasste es, krank zu sein. Normalerweise hatte sie eine Konstitution wie ein Pferd, wie ihr Vater das ausdrückte, und ihr war noch nie im Leben so unangenehm zumute gewesen. Allmählich breitete sich Panik in ihr aus. Was war nur los?

Sie sah sich nach ihren Eltern um, fast hätte sie ihnen gesagt, dass sie krank war, doch dann kam die Kirche mit ihrem hohen, von einem Kreuz gekrönten Turm in Sicht und die Gemeinde, die auf dem Kirchhof wartete, dass die Neun-Uhr-Messe zu Ende ging, und Laura wurde abgelenkt.

Wo war sie nur? Er hielt schon die ganze Zeit nach ihr Ausschau, hatte aber noch nicht das geringste Anzeichen von ihr erspäht. Er zog seine goldene Taschenuhr hervor und sah nach, wie spät es war: noch fünf Minuten bis zum Ende der Neun-Uhr-Messe. Wenn er nur einen Blick auf sie werfen könnte, bevor sich alle in die Kirche drängten… Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Dann wäre sein Tag gerettet.

Sein Blick wanderte über die Gemeinde hinweg und suchte nach dem ungewöhnlichsten, meistens auch dem hübschesten Hut. Lauras Hüte fielen gegenüber denen der anderen immer auf. Es kam ihm so vor, als beobachtete er diese Hüte und ihre Besitzerin schon seit Jahren, nicht erst, seit er vor sechs Monaten begonnen hatte, zur Kirche zu gehen. Eigentlich machte er sich nichts aus der Messe; er kam nur, um Laura zu sehen. Am liebsten saß er etwas seitlich ein paar Reihen hinter ihr, sodass er sie beobachten konnte, ohne dass es jemand merkte – vor allem nicht der alte McRae. Manchmal setzte er sich so dicht in ihre Nähe, dass er hören konnte, wie sie die Kirchenlieder sang, und es erstaunte ihn, dass sie sie auswendig konnte, sogar die lateinischen, ohne auch nur einen Blick in ihr Gebetbuch zu werfen.

Er beobachtete sie besonders genau, wenn sie nach der Kommunion vom Altar zurückkam. Zwar hielt sie den Blick meistens andächtig gesenkt, aber dann und wann richtete sie ihn auch auf die Gemeinde, so als suchte sie nach ihm. Und wenn sich ihre Blicke dann trafen, lächelte er und blinzelte ihr ungeniert zu. Dann wurde sie rot, und er fühlte sich, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Sosehr Laura McRae auch versuchen mochte, es zu verheimlichen oder zu ignorieren, sie mochte ihn. Ihn, einen Pferdepfleger aus Wellington.

Er erspähte ihre Freundinnen Mary Ellen und Ruth in der Menge. Er brauchte sie nur weiter zu beobachten; Laura würde mit Sicherheit zu ihnen stoßen. Und plötzlich war sie da.

Vorsichtig näherte sich Alex den McRaes, die jetzt zu den anderen Kirchgängern stießen. Mit halb geschlossenen Lidern betrachtete er das einzige Mädchen, zu dem er sich in seinen sechzehn Lebensjahren je ernsthaft hingezogen gefühlt hatte.

Laura trug ein hübsches blaues Kleid und einen passenden Hut. Doch was ihm am besten gefiel, war nicht ihr honigblondes Haar, ihre Haltung oder die Tatsache, dass sie immer schneller zur Frau aufblühte – ihre Brust und ihre zuvor knabenhaften Hüften hatten sich auf eine Art gerundet, von der vor sechs Monaten noch nichts zu sehen gewesen war.

Sondern es waren ihre Augen, die ihn immer wieder in ihren Bann zogen.

Eigentlich waren sie braun, und braun war keine bemerkenswerte Farbe, aber Laura McRaes Augen waren nicht nur bemerkenswert, sie waren unvergesslich. Jetzt stand er so dicht bei Laura, dass er sie gut sehen konnte. Heute war es ein Braun wie Schlamm. Er wusste, dass ihre Augen diesen Farbton annahmen, wenn Laura erschöpft oder nervös war, doch er hatte sie auch schon anders gesehen. Zum Beispiel, wenn sie wütend auf Frank oder auf die Nonnen in der Schule war. Dann glänzten sie wie golden gefleckte Topase, und wenn sie glücklich war, nahmen sie einen weichen Bernsteinton mit hellgrünen Reflexen an. Und die dichten, dunklen Wimpern machten sie noch einzigartiger.

Mary Ellen Peters beobachtete, wie die McRaes durch das schmiedeeiserne Kirchentor schlenderten, das offen stand und die Gemeinde willkommen hieß. Frank und Mikey nahm sie nur ganz am Rande wahr und vergaß sie sofort wieder. Sie packte Ruth am Arm und zog sie auf ihre gemeinsame Freundin zu, während sie im Geiste eine Bestandsaufnahme von Lauras Garderobe durchführte.

Wie in aller Welt hatte sie es geschafft, ein derartiges Wunder an diesem… ja… an diesem alten blauen Kleid zu vollbringen? Die Ärmel waren gekürzt; Laura hatte den Ausschnitt geändert, ein paar Abnäher gemacht und ein oder zwei Säume ausgelassen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ihre Brüste wuchsen. Die Krönung waren von Hand angenähte Samtbordüren am Peter-Pan-Kragen und an den Ärmelaufschlägen. Das Kleid sah brandneu aus!

Mary Ellen presste verärgert die Lippen zusammen, während sie über ihr eigenes, von der Stange gekauftes Kleid nachdachte. Mutter hatte über zwei Pfund dafür bezahlt, aber im Vergleich zu Lauras Kleid war es fade und uninteressant.

Sie warf einen Blick in Ruths Richtung und lächelte selbstzufrieden. Sosehr sich Ruth auch bemühte, sie sah immer aus, als stammten ihre Kleider aus einem Sack der Kleidersammlung, und so war es wahrscheinlich auch. Die arme Ruth. Es war doch nicht ihre Schuld, dass ihr Vater alles verloren hatte. Sein Juweliergeschäft, das Haus und das Auto. Das Komische daran war, dass es den Strachans keinen besonderen Kummer zu bereiten schien.

»Schicksal«, hatte Ruths Mutter gesagt. Schicksal. Pah! Mary Ellens mandelförmige Augen verengten sich zu Schlitzen. Wohl eher schlechter Geschäftssinn, hatte ihr Vater gesagt.

»Laura. Frohe Ostern.«

»Frohe Ostern, Mary Ellen, und dir auch, Ruth.«

»Dein Kleid und dein Hut sehen fantastisch aus«, lobte Ruth aufrichtig. »Hast du das alles selbst gemacht?«

Laura verdrehte übertrieben die Augen. »Jeden einzelnen Nadelstich.«

Ruth legte der Freundin nachdenklich die Hand auf den Arm. »Ist dir nicht gut, Laura? Du bist… ganz rot im Gesicht.«

Laura zog ein zusammengefaltetes Taschentuch aus der Tasche, schüttelte es aus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

»Mir ist ziemlich warm. Wahrscheinlich vom Gehen… obwohl ich das Gefühl habe, dass ich eine Erkältung bekomme oder so.«

Mary Ellen zog einen Flunsch.

»Oh, puh, das will ich doch nicht hoffen. Wir wollten doch morgen zum Osterjahrmarkt gehen, weißt du noch?«

»Ähm.« Ruths Ton war leise, aber bestimmt. »Ich gehe nicht mit. Ich kann es mir nicht leisten. Mama sagt, vielleicht können wir es uns ja nächstes Jahr erlauben.«

»Oh, Unsinn! Natürlich kommst du mit«, sagte Mary Ellen in ihrem gebieterischsten Tonfall. »Papa hat mir zu Ostern eine Guinee geschenkt. Damit können wir den Eintritt, die Fahrgeschäfte und ein paar Mitbringsel bezahlen.«

Ruths roter Lockenschopf hob sich stolz.

»Danke, Mary Ellen, aber es geht nicht. Mein Vater hätte etwas dagegen.«

Ihre dunkelhaarige Freundin blinzelte ihr verschwörerisch zu.

»Dann erzähl’s ihm eben nicht. Sag einfach, dass du mich besuchst und wir ein Picknick machen. Das sollte deinen Vater doch zufriedenstellen.« Was für ein steifer Charakter. Er schien etwas dagegen zu haben, dass sich Ruth oder ihre drei Schwestern jemals amüsierten.

»Das kann sie nicht sagen, es wäre gelogen«, schlug sich Laura auf Ruths Seite. Sie kannte Mary Ellen zu gut. Die Peters hatten mehr Geld als irgendjemand sonst in ihrem Bekanntenkreis, und sie hatten noch mehr Kapital aus der Weltwirtschaftskrise geschlagen. Mary Ellen war ein Einzelkind, und demzufolge war sie ziemlich verwöhnt. Wenn sie sich etwas wünschte, setzte sie Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu bekommen. Eine Lüge war für sie nichts Schlimmes, solange es niemand herausfand. Mary Ellen ließ sich ihren Weg nicht von Prinzipien verbauen.

»Na und?«, sagte Mary Ellen unbeeindruckt. »Dann kann sie es doch nächsten Samstag beichten. So mache ich das auch immer.«

»Das macht es aber nicht weniger schlimm«, sagte Laura standhaft zu ihr. Oje! Sie fuhr sich mit der rechten Hand an die Taille und drückte fest zu, um die Woge des Schmerzes einzudämmen, der sie überspülte. Doch der Schmerz ließ nicht nach, er wurde schlimmer.

»Laura, dreh dich nicht um, Alex Monroe sieht dich die ganze Zeit an«, flüsterte Ruth. Sie hielt es für das Klügste, Mary Ellens Aufforderung zur Lüge zu ignorieren, und tat so, als konzentrierte sie sich ganz auf Alex, der hinter Laura stand. »Ist dir noch nicht aufgefallen, wie er dich bei jeder Gelegenheit anstarrt?«

»Das ist ja lachhaft!«, leugnete Laura, just als ein Hauch von Glück ihr Herz trotz ihres Unwohlseins schneller schlagen ließ. »Ich interessiere mich doch nicht für Alex Monroe«, fügte sie mit einer verächtlichen Kopfbewegung hinzu, die sie jedoch gleich wieder Lügen strafte, indem sie sich halb umdrehte, um einen Blick auf den jungen Mann zu werfen. Tatsächlich, er sah sie ganz unverfroren an. Was er für Nerven hatte. Sie hob fröhlich das Kinn und sah ihn von oben herab an.

Wer hatte schon Zeit, über Jungen wie Alex Monroe nachzudenken, und wenn er auf seine knabenhaft hagere Weise noch so gut aussah?

Der Schmerz in ihrer Seite wurde schlimmer, und ihre Gedanken stoben auseinander. Sie hatte das furchtbare Gefühl, dass sie in Ohnmacht fallen würde, wenn sie sich nicht bald hinsetzte. Der Gedanke, dass ihr etwas so Peinliches in der Öffentlichkeit passieren könnte, trieb ihr die Schamröte in die Wangen.

»Das ist auch besser so«, mischte sich Mary Ellen ein. »Dein Vater würde dir wahrscheinlich den Hintern versohlen und Alex die Prügel seines Lebens verpassen, wenn er dich auch nur von der Seite ansieht.«

Die Besucher der ersten Messe begannen, die Kirche zu verlassen, und die drei Mädchen verabredeten sich für später am Chorgestühl, um endgültig über den Jahrmarkt zu entscheiden. Laura begab sich wieder zu ihren Eltern und wartete, bis sich die Kirche geleert hatte, bevor sie hineinging und auf der Hälfte des Mittelgangs auf einer Bank Platz nahm.

Frank und Mikey fingen sofort an zu zappeln – längere Zeit stillzusitzen, war eine echte Herausforderung für sie, und das galt auch in der Kirche. Sie stießen sich mit den Ellbogen an und versuchten, sich gegenseitig das Gebetbuch abzuluchsen, das sie gemeinsam benutzten. Frank, der Familienquälgeist, zog Mikey das Hemd aus der Hose, und Mikey trat ihn dafür vor das Schienbein.

»Laura«, flüsterte ihre Mutter, »setz dich zwischen sie, sonst stören sie die ganze Gemeinde.«

Als Laura ihrer Bitte Folge leistete, warf sie ihrer Tochter einen langen, scharfen Blick zu, denn ihr waren die leuchtenden Flecken auf den Wangen ihrer Tochter aufgefallen. Hatte ihre Freundin Mary Ellen sie ihr Rouge benutzen lassen? Das traute sie der kleinen Peters zu. Dieses Kind hatte viel zu viele Freiheiten. Die rote Farbe malte sich deutlich auf Lauras blasser Haut ab – aber sahen ihre braunen Augen nicht glasig aus?

Angie erkannte, wenn ein Kind krank wurde. Sie beugte sich vor und zupfte Laura am Ärmel.

»Fehlt dir etwas, Schätzchen?«

Laura antwortete mit einem schwachen Lächeln und einem Kopfnicken und biss die Zähne gegen die Krämpfe zusammen, die ihren Körper quälten. Wie lange konnte sie das wohl noch aushalten? Warum hörte es nicht auf? Sie richtete ein verzweifeltes Gebet an die heilige Brigitta in ihrer Nische in der Kirche und war sogar dankbar, dass die Kniebank so hart war, als sie um Erleichterung flehte. Dankbar für jede Ablenkung, die sie vergessen ließ, wie schlecht es ihr ging.

Der Chor beantwortete ihr Gebet mit dem Eröffnungsgesang. Vater O’Grady schritt mit vier in Rot und Weiß gekleideten Messdienern an dem mit Gladiolen und Dahlien festlich geschmückten Altar vorbei.

Als die erste Lesung begann, zupfte Mikeys Fingerchen sie am Ärmel. Er blickte zu ihr auf und sagte leise: »Laune, du siehst irgendwie komisch aus.«

»Wie meinst du das, komisch?«, flüsterte sie – sie wusste, dass sie Gefahr lief, den Zorn ihrer Eltern heraufzubeschwören, wenn sie während der Messe redete. Es war gar keine Frage, dass sie sich seltsam fühlte. Sehr seltsam sogar. Heftige Übelkeit, lähmendes Schwindelgefühl und die heftigen Stiche an ihrer rechten Seite sagten ihr, dass sie sich gleich übergeben würde. Die Frage war, ob sie es bis hinaus auf den Kirchhof schaffte, ohne sich und ihre Familie zu blamieren?

»Du bist ganz weiß und verschwitzt und… irgendwie schlapp.«

Während er das sagte, kam ihr die Galle hoch und blieb ihr im Hals stecken. Ihre Hand fuhr an ihren Mund; sie presste die Lippen zusammen und fuhr von der Bank auf. Ohne darauf zu achten, dass die Augen der halben Gemeinde, Alex Monroe eingeschlossen, auf sie gerichtet waren, rannte sie durch den Mittelgang.

Angie kam bei Laura an, als diese zu würgen begann. Angst schnürte ihr die Kehle beim Anblick ihrer Tochter zu, die vor Schmerzen gekrümmt auf dem gepflasterten Hof kniete. Das hier war keine Kinderkrankheit, keine beginnende Grippe. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Lassen Sie mich einen Blick auf sie werfen, Mrs McRae.«

Als sie sich umdrehte, sah sie Doktor Hume hinter sich.

»Danke, Herr Doktor. Ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Heute Morgen schien sie noch nichts zu haben.« Sie hielt einen Moment inne, und dann fiel es ihr wieder ein. »Nein… wenn ich darüber nachdenke, hat sie sich beklagt, dass es ihr nicht gut ging, aber dann schien es besser zu werden.«

Doktor Hume lächelte ihr zuversichtlich zu.

»Keine Sorge, wir bekommen das schon hin.«

Er kniete sich hin und untersuchte Laura hastig. Laura ergab sich in ihr Schicksal und presste ihren Körper auf das kalte Pflaster, weil sie hoffte, dass ihr die Kälte wie durch ein Wunder Linderung verschaffen würde. Ihr war so heiß, ihr ganzer Körper brannte, und dann wurde ihr von einem Moment zum anderen eiskalt.

Als sich Doktor Hume aufrichtete, konnte Angie ihm ansehen, dass er keine guten Neuigkeiten hatte. Sie hielt den Atem an und richtete ein stummes Gebet an die heilige Theresa, an die sie sich immer wandte, wenn es darum ging, ihre Familie zu beschützen.

»Es ist der Blinddarm, Mrs McRae. Entweder ist er gerade geplatzt, oder er steht kurz davor. Sie braucht dringend medizinische Versorgung und muss operiert werden.«

»Operiert! Sind Sie sicher?«

Er nickte. »Ich sehe diese Symptome nicht zum ersten Mal. Sie sind unverwechselbar.«

Tom kam die Treppe der Kirche herunter, gefolgt von den beiden Jungen. Sein sonnengebräuntes Gesicht wurde blass, als er Laura am Boden liegen sah.

»Was in aller Welt geht hier vor?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er seine Jacke aus und kniete sich hin, um sie über sein Kind zu breiten. Seine große, von der langen Arbeit in der Schmiede schwielige Hand berührte die Wange seiner Tochter.

»Guter Gott, sie glüht ja.«

Er hob Laura auf, als sei sie federleicht, und drückte sie an seine Brust.

»Ich nehme an, sie muss ins Krankenhaus?«, sagte er sachlich, obwohl Sorgenfalten seine dunklen Augen umringten. Er hatte sein Leben lang mit Tieren zu tun gehabt, und bei Menschen sahen die Symptome kaum anders aus.

»Es ist ihr Blinddarm, Tom«, bestätigte Doktor Hume. »Kommen Sie mit, mein Wagen steht an der Straße. Wir müssen sie so schnell wie möglich ins Prince of Wales-Hospital bringen.«

Tom setzte sich in Bewegung, um dem Arzt zu folgen, doch nach drei Schritten wandte er sich um und rief seiner Frau zu: »Bring die Jungen nach Hause. Dann komm ins Krankenhaus.«

»Mami…« Mikey zupfte am Rock seiner Mutter, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Was ist los? Muss Laurie sterben?«

Frank versetzte ihm eine spielerische Kopfnuss.

»Du Angsthase, natürlich muss sie nicht sterben.« Dennoch suchte er den Blick und die Bestätigung seiner Mutter. »Oder, Mama?«

»Natürlich nicht. Aber sie ist sehr krank, das steht fest.«

Angie zog sie beide an sich und umarmte sie. Normalerweise war sie keine Frau, die ihre Zuneigung öffentlich zur Schau stellte, aber jetzt brauchte sie die tröstende Wärme der Jungen. Nach einem Moment fand sie die Kraft, die sie brauchte, und sie schob die beiden vor sich her, während sie sich selbst zwang, in normalem Tempo nach Hause zu gehen. Dennoch bedurfte es all ihrer Selbstbeherrschung und einer ganzen Flut stummer Gebete, um ihre Nervosität zu unterdrücken, damit ihre beiden erschrockenen Söhne die Angst nicht sahen, die an ihr nagte.

3

Sie musste den Verstand verloren haben. Das war die einzig sinnvolle Erklärung.

Wie sollte es sonst möglich sein, dass sie allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz knapp unter der Decke schwebte? Um sie herum war alles so weiß, dass ihre Augen schmerzten. Sie blinzelte ins Licht, und der Nebel verflog, sodass sie etwas sehen konnte… Es war ein sehr merkwürdiges Zimmer. Die Decke und die Wände waren weiß, und es war bis zur halben Höhe weiß gekachelt. Auch der Boden war weiß gekachelt, und von ihrem Aussichtspunkt aus konnte sie eine Gruppe uniformierter Menschen in weißen Kitteln und Hauben sehen, die aufmerksam über einen Gegenstand in einem Bett gebeugt waren. Eigentlich war es gar kein Bett, sondern eher eine erhöhte Plattform mit Metallauswüchsen.

Sie hatte gar nicht das Gefühl, den Verstand verloren zu haben. Aber wenn man verrückt war, war man sich dessen ja vielleicht nicht bewusst. Und wenn es so war, wie war es dann dazu gekommen? Laura konzentrierte sich mit aller Kraft und versuchte, sich zu erinnern.

Es war Ostersonntag, so viel wusste sie noch. Ihre Familie war in der Kirche gewesen. Irgendetwas war dort geschehen. Oh, ja! Ihr war schlecht geworden. Furchtbar schlecht. Danach waren die Erinnerungen nur noch verschwommen. Sie wusste, dass Doktor Hume sie und ihren Vater zum Krankenhaus gefahren hatte, wo plötzlich große Hektik aufgekommen war. Eine weiß gekleidete Frau, ja, eine Krankenschwester mit einer gestärkten, blau gestreiften Schürze und einer Haube, hatte Laura aus ihren Kleidern in das hässlichste Nachthemd geholfen, das sie je gesehen hatte, aber sie war zu krank gewesen, um sich zu beschweren. Mehrere Männer in Anzügen hatten sich um sie gesammelt und mit ernsten Gesichtern auf ihrem Bauch herumgedrückt.

Frauen mit weißen Uniformen und weißen, gestärkten Hauben hatten sie auf eine Liege mit Rädern gelegt und sie in dieses… Zimmer gebracht. Dann hatte ein Mann sie angelächelt und sie gebeten, von hundert an rückwärts zu zählen. Das war eine ziemlich alberne Bitte gewesen, und sie hätte ihm das auch gesagt, wenn ihr nicht so schlecht gewesen wäre. Sie war bis siebenundachtzig gekommen, dann hatte er ihr eine schwarze Maske über das Gesicht gestülpt, die komisch roch. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte.

Aha. Wenn sie den Verstand verloren hätte, wäre sie doch mit Sicherheit nicht in der Lage gewesen, sich so genau an all das zu erinnern.

Ihr Körper fühlte sich wunderbar gewichtslos an, leichter als eine Feder. Sie versuchte einfach nur zum Spaß, sich zu bewegen, und stellte fest, dass sie es konnte; sie driftete an der Decke entlang. Außerdem fühlte sie sich seltsam losgelöst, als gehöre sie nirgendwo richtig hin und sei nur als Beobachterin hier.

Plötzlich hörte sie eine Männerstimme sagen: »Wir verlieren sie. Ihr Blutdruck fällt. Siebzig zu achtunddreißig.«

»Ihr Herzschlag wird schwächer, Doktor«, sagte eine der Schwestern.

»Verdammt! Also gut. Schließen wir die Wunde«, sagte der hochgewachsene Mann zu dem kleineren Mann mit dem schütteren Haar. »Ich weiß aber nicht, ob ich alles habe. Paul, nähen Sie, Sie sind schneller mit der Nadel als ich.«

Laura konzentrierte sich angestrengt und bemühte sich mit zusammengekniffenen Augen, die Person auf dem Tisch zu erkennen. Eine blonde Haarsträhne lugte unter einer weißen Haube hervor. Merkwürdig. Ihre eigenen Haare hatten fast dieselbe Farbe…

Dann breitete sich eine seltsame, betäubende Kälte in ihr aus. Das hier war ein Operationssaal, und die Person, die von den Männern operiert wurde, war sie selbst. Aber, aber… sie war doch hier oben an der Decke und beobachtete alles. Wie in Gottes Namen war das möglich? Es sei denn…