Langeoog Sturm - Kim Lorenz - E-Book

Langeoog Sturm E-Book

Kim Lorenz

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Beschreibung

Ein spektakulärer Mord auf Langeoog hätte es locker auf die Titelseite einer Boulevardzeitung bringen können. Ein Fall, der so gar nicht auf die Insel passte. Bei den Ermittlungen nach Täter und Hintergründe werden Kathrin Hansen und ihr Team mit Kunstfälschung auf höchstem Niveau konfrontiert. Urplötzlich tummeln sich Kriminelle auf der Insel. Profis, die es drauf haben, ihre Opfer schnell und lautlos aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Tote auf einer Yacht, die im Hafen vor Anker liegt, bringt neue Verdachtsmomente ins Spiel. Ein Netz aus Verstrickungen veranlasst Kathrin Hansen, großzügig, die nicht immer so ganz gesetzestreuen Recherchen ihrer Kriminalassistentin zu übersehen.

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Zum Buch

Ein spektakulärer Mord auf Langeoog hätte es locker auf die Titelseite einer Boulevardzeitung bringen können. Ein Fall, der so gar nicht auf die Insel passte. Bei den Ermittlungen nach Täter und Hintergründe werden Kathrin Hansen und ihr Team mit Kunstfälschung auf höchstem Niveau konfrontiert. Urplötzlich tummeln sich Kriminelle auf der Insel. Profis, die es drauf haben, ihre Opfer schnell und lautlos aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Tote auf einer Yacht, die im Hafen vor Anker liegt, bringt neue Verdachtsmomente ins Spiel.

Ein Netz aus Verstrickungen veranlasst Kathrin Hansen, großzügig, die nicht immer so ganz gesetzestreuen Recherchen ihrer Kriminalassistentin zu übersehen.

Inhaltsverzeichnis

1 . KAPITEL

2 . KAPITEL

3 . KAPITEL

4 . KAPITEL

5 . KAPITEL

6 . KAPITEL

7 . KAPITEL

8 . KAPITEL

9 . KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

34. KAPITEL

35. KAPITEL

36. KAPITEL

37. KAPITEL

38. KAPITEL

39. KAPITEL

40. KAPITEL

41. KAPITEL

42. KAPITEL

43. KAPITEL

44. KAPITEL

45. KAPITEL

46. KAPITEL

47. KAPITEL

48. KAPITEL

49. KAPITEL

50. KAPITEL

51. KAPITEL

1 . KAPITEL

Samstagmorgen. Irritiert betrachtete Kathrin Hansen den Aushang, der akkurat auf die Glasscheibe der Eingangstür zur Bäckerei geklebt war.

„Ab Montag können wir leider keine Brötchen mehr liefern, da wir personell dazu nicht mehr in der Lage sind“, stand handschriftlich geschrieben. Und darunter die Zusicherung, dass alles dafür getan werde, um bald wieder Brötchen backen und liefern zu können.

Doch so richtig überrascht war Kathrin Hansen nicht, schon eine ganze Weile herrschte auf der Insel im Einzelhandel ein personelles Manko. Kleinere Nebenstellen wurden bereits geschlossen.

»Na toll«, brummelte sie vor sich hin, »da werden sich die Feriengäste aber freuen.«

Mit gemischten Gefühlen ging sie in die Bäckerei, grüßte mit einem aufgekratzten »Moin«, und da sie alleine in dem Verkaufsraum war, zeigte sie auf den Aushang.

»Elke, wieso ist in der Bäckerei plötzlich dieser Engpass entstanden?«, fragte sie die Verkäuferin.

»Moin Kathrin, also plötzlich, das kann man nicht gerade sagen«, erwiderte Elke Sander, eine langjährige Mitarbeiterin, die Kathrin Hansen vom Yoga-Kurs her kannte.

»Dass unser Bäcker Klaas jetzt in Rente geht, ist schon lange klar, doch es gibt keinen Ersatz für ihn.«

Mit gefurchter Stirn blickte sie Kathrin Hansen an.

»Wir kriegen auf der Insel einfach kein Personal. Fachkräfte, die Interesse haben, ziehen sofort den Schwanz ein, wenn sie hören, dass es keine bezahlbare anständige Wohnung für sie gibt. Täglich vom Festland auf die Insel zu kommen, da hat doch keiner mehr Bock drauf.«

Bevor Kathrin Hansen sich dazu äußern konnte, kam ein Urlauberpaar in den Laden. Elke Sander warf Kathrin Hansen einen bedauernden Blick zu, reichte ihr das gewünschte Roggenmischbrot, packte noch vier Brötchen in eine Tüte und meinte, sie würde sich schon auf den Dienstagabend freuen, wenn wieder Yoga angesagt ist.

In Gedanken über die angespannte Lage, die im Hinblick Fachpersonal auf Langeoog herrschte, stieg Kathrin Hansen auf ihr Bike und spürte bereits den aufkommenden, schneidenden Wind. Ein Vorbote des vorhergesagten ersten Herbststurmes. Fest trat sie in die Pedale, ließ jedoch die elektronische Unterstützung ausgeschaltet. Sie liebte es, die Kraft ihrer Beine zu spüren, liebte es, körperlich gefordert zu werden.

Blitzartig ging sie nochmals durch, ob sie zu Hause auf der Terrasse alles festgezurrt und die losen Kleinteile ins Haus geschafft hatte. Durch seine Höhenlage bot ihr Haus dem Sturm eine besonders große Angriffsfläche.

Höhenlage, ging es ihr durch den Kopf, ein Traum für jeden Immobilienbesitzer auf der Insel, jedoch so gut wie nicht mehr realisierbar. Selbst neu gebaute, immens große teure Hotels mussten sich mit einer Lage in der zweiten Reihe begnügen. Überhaupt war das Angebot an freien Grundstücken quasi ausverkauft und für Wohnungen, egal ob zu kaufen oder zu mieten, gleich null. Nach ihrer Meinung war die Bebauung der Insel schon längst überschritten, womit sie immerhin leben konnte, was ihr jedoch zu schaffen machte, war das Nullangebot an Wohnungen für Menschen, die gerne auf der Insel arbeiten und leben möchten. Das Beispiel in der Bäckerei zeigte deutlich, wohin das führte.

Kurz vor dem Höhenweg nahm der Wind so richtig Fahrt auf und sie war froh, als sie ihr Haus erreichte, das Bike in den Kellerraum schob und sich bereits auf eine gute Tasse Kaffee freute. Hindrik weilte noch auf einer Stiftungstagung in Bremen und würde erst gegen Abend eintrudeln, was für sie ein langes Frühstück bis in den späten Vormittag hinein bedeutete. Für den Abend hatte sie ein leckeres Abendessen zu zweit vorgesehen.

2 . KAPITEL

Nach dem Frühstück verspürte Kathrin Hansen den Drang sich zu bewegen, sich mal wieder auszupowern. Sie schaltete das alte Radio, Marke Grundig, das sie mit dem Haus von ihren Großeltern geerbt hatte, ein, und hoffte auf ein Zeitfenster, in dem der Sturm etwas abschwächte. Vielleicht war ja ein langer Strandlauf drin, überlegte sie. Es war jedes Mal ein Erlebnis, mit allen Sinnen entspannt an der Wasserlinie zu laufen, begleitet vom permanenten Rauschen des Meeres und den feuchten Sand unter den Füßen zu spüren. Neben Yoga die Methode, mit der sie selbst beim größten Stress abschalten konnte.

»Gegen Mittag wird mit Sturmstärke elf gerechnet«, hörte sie aus dem Radio die Stimme der Wetterfee.

»Es wird befürchtet, das Behinderungen im öffentlichen Verkehr, so auch bei der Deutschen Bahn, eintreten könnten.«

Abrupt blieb sie stehen. Hindrik, schoss es ihr durch Kopf, er wollte am Mittag von Bremen mit dem Zug kommen, das könnte ins Wasser fallen. Zudem könnte der Fährbetrieb eingestellt werden. Schnell schrieb sie Hindrik eine WhatsApp, dass er sich den Stress nicht antun sollte. Am Sonntagmorgen wäre die Rückreise sicherlich entspannter und sie könnten dann mittags essen gehen.

Mit Blick zum Meer hin registrierte sie die bereits sehr hohen Wellen und bemerkte erste Sandverwehungen. Trotzdem, entschied sie, eine Runde laufen musste drin sein. Schnell zog sie Windfeste Klamotten an, zog eine Kappe auf, die sie tief ins Gesicht ziehen konnte und die ihren Nacken bedeckte. Anschließend prüfte sie alle Fenster und verließ das Haus.

Am Strand entschied sie gegen den Wind und die Sandverwehungen zu laufen, um so entspannter würde es auf dem Rückweg sein. In Richtung Flint Hörn laufend, spürte sie aber schon nach wenigen Minuten, dass es ein kurzes Vergnügen sein würde. Zu sehr peitschte der Sand ihr ins Gesicht. Sie blieb stehen, warf einen Blick auf ihr Handy, doch von Hindrik war keine Rückmeldung eingegangen. Okay, noch bis zum Hundestrand, dann drehe ich um, entschied sie. Sie freute sich bereits auf eine lange heiße Dusche, danach würde sie in dem neuen Buch über das Leben von Alexander von Humboldt lesen. Dazu einen richtig guten Tee würde sie sich auch gönnen.

Es war kurz vor vierzehn Uhr, als Hindrik sie anrief und ihr mitteilte, er würde tatsächlich bis Sonntagmorgen in Bremen bleiben. Zwar hatte sich das Zentrum des Sturms östlich verzogen, doch umgestürzte Bäume hatten ausgerechnet die Bahnlinie blockiert, die sein Zug hätte nehmen müssen. Doch am Morgen würde er so früh abreisen, dass er in Bensersiel eine der Fähren am Vormittag nehmen könnte.

»Sehr gut«, äußerte sich Kathrin Hansen, »dann gehen wir mittags im Fährmann essen. Hier auf der Insel hat sich die Wetterlage ebenfalls entspannt und seitens meiner Dienststelle ist alles ruhig geblieben. Also alles gut.« In dem Moment klopfte es in der Leitung. Mit Blick aufs Display sah Kathrin Hansen die Nummer ihrer Dienststelle.

»Oh, Hindrik, ich glaube, ich war etwas zu voreilig, gerade meldet sich Ava Sari, sie hat heute Dienst. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes, ich melde mich nachher noch mal.« Damit beendete sie das Gespräch und nahm ihre Kollegin an.

3 . KAPITEL

»Kathrin, tut mir leid, dass ich dich stören muss, aber wir haben ein Problem.«

Schlagartig breitete sich bei Kathrin Hansen ein mulmiges Gefühl aus. Ihr schossen Bilder durch den Kopf, was der Sturm hatte anrichten können, als Ava Sari bereits erklärte, worum es ging.

»In den Schrebergärten hat der Sturm ein Gartenhaus abgedeckt, das Dach landete auf dem Grundstück der Nachbarn.«

»Oje«, äußerte sich Kathrin Hansen, »sind Menschen verletzt worden?«

»Nein, zum Glück waren die Nachbarn in ihrem Haus und haben nichts abbekommen.«

Erleichtert atmete Kathrin Hansen auf.

»Das ist gut, ich befürchtete schon Schlimmeres«.

»Nur«, Ava Saris Stimme hörte sich belegt an, »in dem Haus befindet sich ein Toter.

Tim Schlüter, ein Mann der Feuerwehr, die zu dem Sturmschaden gerufen wurde, entdeckte die Leiche im Keller.«

Einen Moment blieb es still, Kathrin Hansen musste das erst einmal verarbeiten, eine Leiche in einem Keller bedeutete nie was Gutes.

»Ava, ein Toter, heißt das, es handelt sich um einen Mann, und weiß man, wer er ist?«

»Also, dass es ein Mann ist, vermutet der Feuerwehrmann anhand der Kleidung, das Gesicht konnte er nicht erkennen. Der Tote muss einen schrecklichen Eindruck machen.«

Kathrin Hansen sah ein, dass weiteres Nachfragen nichts bringen würde, wohl oder übel musste sie sich das ansehen. Hoffentlich kein Gewaltverbrechen, dachte sie.

»Okay, Ava, sag der Feuerwehr, dass ich schon auf dem Weg bin und dass sie nichts anrühren sollen, niemand darf in den Keller. Und rufe Olli an, er soll hinzukommen.«

Auf der Fahrt mit ihrem Bike zu der Kleingartensiedlung fuhr sie durch die Kirchstraße in Richtung Hafen, bog bei der Seniorenanlage bliev hier rechts in die Straße Am Wald und stellte erleichtert fest, dass es rundum keine größeren Sturmschäden gegeben hatte. Einige Äste von Bäumen waren abgebrochen, Kleinteile lagen zerstreut auf der Straße, aber ansonsten sah alles gut aus. Nun, die alten Häuser früherer Seeleute waren solide gebaut, die trotzten Wind und Wetter, genau wie ihre ehemaligen Besitzer. Nach einigen hundert Metern erreichte sie die alte Betonpiste und betrachtete kritisch die endlosen Bretterzäune, die nur wenige Einblicke in die dahinter liegenden Schrebergärten zuließen. Doch eines war klar erkennbar, es gab Besitzer, die ihr Anwesen pflegten, fast schon liebevoll, wie an manchen Dingen erkennbar war, und es gab andere, die aus ihrem Anwesen einen Schrottplatz machten. Ungepflegt, mit allerlei Gerümpel und alten Klamotten. Alles große Grundstücke, die es nur deshalb noch gab, weil sie kein Bauland waren, wusste Kathrin Hansen.

Bei dem Schrebergarten, vor dem das Fahrzeug der Feuerwehr stand, war offensichtlich nur der Grund und Boden von Bedeutung. Das etwa zwanzig Meter von der Straße zurückliegende Gebäude, ein Gartenhaus, dessen Außenwände zu Methusalems Zeiten den letzten Farbanstrich bekommen hatten, wäre auch mit Dach eine wertlose Immobilie gewesen. Daran änderten auch nichts die aus Holzblöcken heraus gehauenen mannshohen Skulpturen, die aussahen wie verkorkste Dämonen. Links und rechts neben der Haustür positioniert, schienen sie als Abschreckung für Besucher gedacht zu sein. Der Besitzer schien ja ein richtiger Menschenfreund zu sein, schoss es Kathrin Hansen durch den Kopf.

Feuerwehrmann Tim Schlüter war es dann, der sie vor der schief in den Angeln hängenden Haustür erwartete und über den Einsatz informierte. Kathrin Hansen bemerkte, dass der junge Mann auffallend blass war, fragte, ob es ihm gut ginge und verzichtete auf eine Beschreibung bezüglich der Situation im Keller. Jedenfalls musste es ein Schock für ihn gewesen sein.

»Tim, wer hat euch eigentlich über den Unwetterschaden informiert?«, wollte sie wissen.

»Rechts der Nachbar, ein Jens Strack, dem ist quasi das Dach der Hütte vor die Füße gefallen.«

»Weiß er von dem Toten im Keller?«

»Nein, er ist nicht auf das Grundstück gegangen, ihm war das zu riskant. Da sein Nachbar sich nicht blicken ließ, ist Strack davon ausgegangen, dass er nicht zu Hause ist und hat uns angerufen.«

»Gut, Tim, dann bleib du mit deinen beiden Kollegen hier draußen, ich gehe in den Keller. Ach«, Kathrin Hansen sah zum Gartentor hin, »da kommt mein Kollege, das passt.

Schon seltsam, Olli«, meinte sie, nachdem sie sich mit Friedrichs durch die desolate Tür ins Innere gequetscht hatten, »ein solch einfaches Holzhaus und darunter ein ausgebauter Keller. Seine Baukosten dürften um einiges höher gewesen sein, als das, was darauf steht.«

»Anders, Kathrin«, Friedrichs schüttelte den Kopf, »das verhält sich anders. Ursprünglich hat es das Holzhaus nicht gegeben. Auf dem gesamten Gelände der heutigen Siedlung standen solide gemauerte Bauten. Teils genutzt als Lagerräume für Flag-Munition, teils genutzt für allerlei Kram, was die Luftwaffe der Nazis, die hier stationiert war, so brauchte. Und es gab einige Wohnhäuser für die oberen Dienstgrade. Mein Opa, der hat das alles noch gesehen und mir davon erzählt.«

»Stimmt, du bist ja ein echter Wattwurm der Insel«, gab Kathrin Hansen grinsend von sich. »Über das, was dein Opa alles erlebt hat, reden wir später, jetzt sehen wir uns den Toten mal an.«

Ohne den verrosteten Handlauf zu berühren, stiegen sie vorsichtig die schmalen, glitschigen Stufen hinunter in den Keller. Die Wände der Steintreppe standen eng zueinander, Luft staute sich, Feuchtigkeit, gemischt mit einem süßlichen Geruch, schlug ihnen entgegen. Am Ende der Treppe ging es um eine Mauerecke und Kathrin Hansen fiel auf, dass der Kellerraum, in dem sie sich befanden, um einiges größer war, als der Grundriss der Hütte darüber.

Etwa in der Mitte hing von der Decke eine spärlich brennende Glühbirne an losen Drähten, zentriert darunter stand ein olivgrüner Metallstuhl, auf dem saß der Tote.

Zusammengesunken.

Eher ein Häuflein totes Elend.

Ohne die Kabelbinder, die beide Arme an die Stuhllehnen fixierten und den Strick, der um die Stirn gelegt seinen Kopf nach hinten spannte, wäre der Körper auf dem Boden gelandet. Automatisch hob Kathrin Hansen die Hand. Wie angegossen blieb sie stehen. Ihr Blick glitt über das mit geronnenem Blut bedeckte Gesicht, wanderte weiter zu der nackten Brust, auf der schwarze, kreisrunde Löcher zu erkennen waren.

»Brandflecken, Olli«, murmelte sie, »und sieh dir seine zerfetzten Hände an, dem Mann wurden die Fingernägel abgerissen.«

Während sie den Lichtstrahl ihrer Handylampe auf das Loch in der Stirn des Toten richtete, hörte sie Friedrichs bereits würgend die Treppe hochstürmen. Für solche Anblicke hatte ihr Stellvertreter keine Nerven.

Konzentriert betrachtete Kathrin Hansen das Einschussloch, ließ hinter dem Toten den Lichtstrahl an den Wänden entlang wandern, bemerkte einen weiteren Gang, der tiefer in den Keller hinein führte. Wer weiß, was für Überraschungen noch auf uns warten, dachte sie, doch eine Durchsuchung war nicht drin. Erst musste die Spurensicherung und Rechtsmedizin ihre Arbeit machen.

Von ihrem Standort aus machte sie Fotos mit dem Handy, warf einen Blick auf das Gemenge von Blut mit undefinierbaren Flüssigkeiten auf dem Boden und machte, dass sie aus dem Keller kam.

Draußen atmete sie mehrmals tief durch und plante das weitere Vorgehen. Mit Urlaubern war in dieser abgelegenen Ecke kaum zu rechnen, wobei der eine oder andere Radfahrer auf dem Weg zum Hafen diesen Weg nehmen könnte. Wir sollten die Piste sperren, überlegte sie, dann können auch die Untersuchungsteams ungestört arbeiten.

Sie wandte sich an die Feuerwehrleute und bat sie, die Absperrung aufzustellen.

»Wenn ihr könnt, kümmert euch danach noch um den Nachbarn, vielleicht braucht der eure Hilfe beim Beiseite schaffen der Dachtrümmer. Und Leute«, ernst sah sie die drei Mann an, »zu niemanden ein Wort, dass es einen Toten gibt. Wir müssen erst einmal herausfinden, wer er ist, und was sich abgespielt hat.«

Sie drehte sich um und ging zu Friedrichs, der aus einer Thermoskanne, die ihm ein Feuerwehrmann gereicht hatte, sich Kaffee einschenkte.

»Olli, alles wieder gut?«, fragte sie und blickte ihn prüfend an.

»Klar, ich brauchte nur etwas frische Luft.«

»Okay, dann weiter. Wir brauchen die Unterstützung von Maike, alleine kriegen wir das hier nicht geregelt.«

»Habe ich schon angerufen, sie ist auf dem Weg. Was ist mit dem Kriminalrat, soll der auch kommen?«

»Nein. Heidkamp informiere ich telefonisch. Er kann von zu Hause aus die Kollegen vom Festland auf Trab bringen. Vermutlich wird er sie mit dem Heli einfliegen lassen.«

4 . KAPITEL

Es war schon kurz vor zwanzig Uhr, als die zwei Kollegen der Kriminaltechnik und die Pathologin Sonja Klaes in den Helikopter stiegen. Praktischerweise hatte der auf der alten Betonpiste landen können. In einem Spezialcontainer, eine Neuerung an der Außenseite des Helikopters, wurde der Tote befördert. In der Rechtsmedizin Wittmund würde die Pathologin anschließend die Obduktion vornehmen.

Kathrin Hansen beobachtete den Abflug und hatte eigentlich keinen Bock mehr, sich in den nun freigegebenen Keller umzusehen. Und wenn sie die Mienen von Maike Jansen und Friedrichs richtig deutete, hätten auch sie gerne darauf verzichtet. Ihr Stellvertreter, der etwas steife Ostfriese und die quirlige Hamburgerin lebten zusammen und hatten sich den Samstagabend sicherlich anders vorgestellt.

Doch es musste sein. Sie gab sich einen Ruck und wandte sich den beiden zu.

»Also, ich hätte euch ja gerne einen schönen Abend gegönnt, aber hier müssen wir jetzt durch. Maike, nimm du dir die Wohnräume vor, Olli und ich gehen in den Keller.«

»Na toll«, grummelte Friedrichs, »ich habe jetzt noch den Gestank von vorhin in der Nase.«

Ohne darauf einzugehen, wandte Kathrin Hansen sich ab und quetschte sich durch die Haustür ins Innere. Vorsorglich hatte sie sich Gummistiefel, eine ältere Wetterjacke und eine Mütze angezogen.

Im Kellerraum, wo sie den Toten gefunden hatten, registrierte sie die Markierungen der Spurensicherung. Sie warf einen Blick auf den immer noch in der Mitte des Raumes stehenden Stuhl, fühlte, wie sie eine Gänsehaut bekam und ging in den Gang hinein, der ihr schon vorher aufgefallen war. Hinter sich hörte sie Friedrichs über den Boden schlurfen, er hatte ebenfalls ein paar alte Treter an.

Einige Meter weiter standen sie vor einer geschlossenen Tür. Überrascht betrachteten sie das weiße massive Türblatt. Klinke und Schloss waren aus hochwertigem Edelstahl und Kathrin Hansen würde darauf wetten, dass diese nicht leicht zu knacken waren.

»Wow, Olli, was ist das denn?«, entfuhr es ihr. »Verbirgt sich dahinter die Überraschung, wovon die Kollegen der Spurensicherung gesprochen haben?«

Sie öffnete die Tür, ging einige Schritte in den Raum und blieb verblüfft stehen.

Unterhalb der Profildecke sah sie rundum laufende Lichtbänder, die den großen Raum in weißes, farbneutrales Licht tauchten. Professionelles Licht, das die farbstarken Bilder, die an Galerieschienen auf den Wänden hingen, in ihrer ganzen Faszination präsentierten.

»Das glaube ich jetzt nicht«, murmelte Kathrin Hansen.

»Olli, hier hängen richtige Kunstwerke, kneif mich mal, damit ich weiß, dass ich nicht träume.«

»Klimaanlage, Kathrin, hier läuft eine Klimaanlage«, kam es von Friedrichs zurück. Jetzt bemerkte auch Kathrin Hansen das klare, temperierte Raumklima. Sie blickte nach oben und musterte die seltsam ausgestellte Decke.

»Genau, die Anlage ist in die Decke integriert. Olli, das ist der reine Wahnsinn.«

Behutsam ging sie weiter in den Raum hinein, der Boden war mit einem hellen Holzparkett belegt und sie wagte kaum aufzutreten. Rundum sah sie faszinierende Bilder, zweifellos Werke großer Maler. Schlagartig wusste sie, dass sie etwas Ungeheuerlichem auf die Spur gekommen waren. Ahnte, dass sie es mit einem Fall zu tun hatten, der Langeoog in die Schlagzeilen bringen könnte.

In riesige, negative Schlagzeilen.

»Kathrin, ich hole Maike, das hier muss sie sehen«, unterbrach Friedrichs ihre bedrückenden Gedanken.

»Mach das, und dann kämmen wir diesen Fuchsbau durch.«

Maike Jansen, deren Mutter Professorin für Kunstgeschichte war, hatte schon als Kind alle großen Meister der Malerei kennen gelernt. Unzählige Stunden hatte sie mit ihrer Mutter in Museen verbracht und je älter sie wurde, desto mehr faszinierten sie die Bilder. Tatsächlich hatte sie nach dem Abitur zwei Semester Kunstgeschichte studiert, bevor ein Gewaltverbrechen in ihrem Bekanntenkreis sie dermaßen schockte, dass sie sich spontan für die Arbeit bei der Polizei entschied.

Nun stand sie vor den Bildern, betrachtete eingehend eins nach dem anderen und rief ihr Wissen über die früheren Meister auf. Sie verglich die Maltechniken, die Intensität der Farben, tastete die Leinwände ab, die sehr alt zu sein schienen, und blieb bei den Signaturen hängen.

Hier ließ sie sich viel Zeit.

Von einem Bild zum nächsten gehend, verglich sie die Pinselstriche, die Linienstärken bei den Schriftzeichen, nahm ihre Handylupe zu Hilfe, um die Strukturen größer und klarer sehen zu können.

Schließlich war sie sich sicher.

Sie ließ die Bombe hochgehen.

»Leute, das hier ist irre«, sprudelte es aus ihr heraus.

»Ich glaube, das sind alles Fälschungen.«

»Wie, Fälschungen«, wollte Friedrichs irritiert wissen, der mehr mit einem Wattwurm als mit einem Bild von Picasso etwas anfangen konnte.

»Wie willst du das wissen?«

»In meinem Kunststudium habe ich ein Seminar über Maler belegt, die während des Dritten Reiches geächtet waren. Ihre Werke wurden als Entartete Kunst eingestuft. Einer der bekanntesten Maler war dieser hier«, Maike Jansen zeigte auf die Signatur eines Bildes.

»Max Pechstein.

Er hat ganz tolle Bilder gemalt, die nach dem Krieg teilweise wieder auftauchten und heute zu hohen Preisen gehandelt werden. Es gibt viele andere Maler wie Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, denen es allen genau so ergangen ist.«

»Kennst du dieses Bild von Pechstein?«, wollte Kathrin Hansen wissen.

»Nein, und hier kommen wir zum Punkt.«

Versonnen vor sich hin lächelnd zeigte Maike Jansen rundum auf die Gemälde.

»Alle Signaturen sind, soweit ich das beurteilen kann, von Malern, deren Werke zum Teil noch als verschollen gelten.«

Kathrin Hansen ahnte, was kam, aber sie wollte es genau wissen.

»Also, wenn ich das richtig verstehe, sprechen wir von Fälschungen. Und hier stehen Bilder bekannter Maler, die konfisziert wurden, danach aber nie wieder aufgetaucht sind.

Bilder, die eigentlich keiner kennt.«

»Wow, Kathrin, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Maike Jansen anerkennend.

»Natürlich stehen auf irgendeiner Liste, oft von den Künstlern selbst, oder später bei der Beschlagnahmung angelegt, die Titel der Bilder. Mit Namen, Datum und so, nur weiß heute keiner, wie sie im Original aussahen.«

»Das heißt«, warf Friedrichs ein, »dass du die Bilder hier nur durch die Signatur den einzelnen Künstlern zuordnen kannst.«

»Genau, Olli, und das gibt mir die Gewissheit, dass die Bilder alles Fälschungen sind. Egal, welcher Name in welcher Weise signiert wurde, man erkennt, dass es immer die Handschrift des gleichen Malers ist.

Nämlich die des Fälschers.«

In Erinnerung an ihre Studienzeit dachte Maike Jansen an einen Fall, bei dem es um Kunstfälschung im großen Stil ging. Ein Skandal, der die Kunstwelt in ihren Fundamenten erschütterte, Kunsthändler in die Pleite trieb und Sammler um ihr so gut angelegtes Kapital bangen ließ.

»Wetten, dass wir gleich eine Antwort darauf finden, was das hier zu bedeuten hat?«, meinte sie dann, und ging zur Tür.

Je mehr sich in Kathrin Hansen festsetzte, mit was sie es zu tun hatten, je mehr breitete sich bei ihr Unruhe aus. Käme zu dem so schon spektakulären Mord noch Kunstfälschung hinzu, würde sie das nicht mehr unter die Decke halten können. Vorstellungen, dass Urlauber ihre Koffer packten, Familien in Entsetzen die Insel verließen, setzten sich in ihr fest. Und dann erst die Medien, sie würden das gute Image der Insel in Stücke zerreißen.

Mit Spannung folgte sie ihrer Kriminalassistentin, die bereits im nächsten Raum verschwunden war.

Auf drei Staffeleien sahen sie Bilder stehen, doch keines von ihnen war fertig gemalt.

»Anscheinend arbeitete der Künstler an den Bildern gleichzeitig, um so den Trocknungsprozess der Farben überbrücken zu können«, erklärte Maike Jansen.

An den Wänden standen Holzregale, bestückt mit Farbtöpfen, Farbtuben, Gläser mit Pinsel in verschiedenen Größen, sowie allerlei Zubehör für die Malerei, von denen Kathrin Hansen keine Ahnung hatte.

Leinwandrollen, etliche Flaschen mit verschiedenfarbigen Lösungen und eine großformatige Spannvorrichtung standen auf einem Metalltisch. Alles ordentlich angeordnet.

»Hier werden die Leinwände auf alt getrimmt«, erklärte Maike Jansen, die interessiert die Beschriftungen auf den Flaschen betrachtet hatte.

»Leute, der Mann, der hier arbeitete, verstand sein Handwerk.«

»Wobei wir bei unserem Mordopfer sind«, brachte Kathrin Hansen die Ermittlungen wieder in die Spur.

»Maike, hast du in den Wohnräumen etwas gefunden, das uns was über das Opfer sagen kann?«

»Ja, einen Personalausweis, so einen alten Papierlappen. Natürlich abgelaufen und auf dem Foto ist die Person schlecht zu erkennen. Aber ich glaube, es ist unser Mordopfer.

Er heißt Julius Franken und war vierundsechzig Jahre alt. Ansonsten gab es keinen Hinweis, dass der Mann verheiratet war, oder mit jemanden zusammen lebte. Es gibt keine Fotos, keine Papiere, nichts.«

»Gut, sehen wir uns den Rest des Kellers an«, entschied Kathrin Hansen.

»Danach werde ich den Kriminalrat informieren, der sitzt bestimmt schon auf heißen Kohlen.«

5 . KAPITEL

Nachdem Kathrin Hansen Kriminalrat Heidkamp über den Ermittlungsstand informiert hatte, lud er sie mit Friedrichs und Maike Jansen spontan zu sich nach Hause ein.

»Es ist schon spät, ihr habt noch nichts gegessen, meine Frau macht Schnittchen, und ein Bierchen könnte auch drin sein«, setzte er scherzend hinzu.

»Beim Essen besprechen wir, wie es weiter geht.«

Vor Monaten hatte Heidkamp auf Langeoog ein Haus im Kavalierpad gekauft. Ein schönes großes Haus, das einem Oligarchen gehört hatte. Unter mysteriösen Umständen war der Russe, Oberhaupt eines russischen Clans, auf der Insel ums Leben gekommen. Nur soviel stand fest, dass er in Mordfälle verwickelt war, und das jede Menge Blut an seinen Händen klebte. Noch heute bekam Kathrin Hansen eine Gänsehaut, wenn sie an die damaligen Geschehnisse dachte. Jedenfalls wurden im Hause Heidkamp nun immer öfter Besprechungen abgehalten. Zwar hatte der Kriminalrat sein Büro in der Polizeiinspektion Wittmund, setzte dort auch einmal in der Woche eine Konferenz an, doch immer öfter steuerte er seine Aufgaben von der Nebenstelle Langeoog, wie er sie nannte, aus. Etwas, das seiner Frau Elseke sehr entgegenkam. Elseke nahm jede Gelegenheit war, um ihre Lieben, wie sie Kathrin Hansen und ihre Kollegen nannte, mit frisch gebackenem Kuchen, Schnittchen, oder es konnte auch schon mal etwas Gebratenes sein, verwöhnen zu können. Für die dienstlichen Besprechungen hatte Heidkamp im Souterrain einen Raum mit allen technischen Möglichkeiten eingerichtet, die Home Office zu bieten hatte.

Als Kathrin Hansen und ihre beiden Kollegen eintrafen, stand auf dem Tisch ein Teller mit Schnittchen, und Heidkamp hatte es sich nicht nehmen lassen, erst einmal eine Runde Klaren auszugeben.

»Nach dem Schock am Tatort braucht ihr den zum Runterkommen«, so hatte er argumentiert. Entsprechend schnell lockerte sich die Anspannung. Belustigt blieb der Blick von Kathrin Hansen an Maike Jansen hängen, die so nebenher meinte, auf einem Bein könne man ja schlecht stehen. Da die junge Kriminalassistentin selten nur Hochprozentiges trank, war ihr Bedarf nach mehr, ein Zeichen, dass sie an dem Anblick des Mordopfers noch zu knabbern hatte.

Ehe Heidkamp auf den Spruch von ihr reagieren konnte, kam Elseke in den Raum, stellte eine große Kanne Tee auf den Tisch, nahm wie nebenher die Schnapsflasche mit, und meinte, sie sollten nicht zu lange machen.

»Solltet ihr Appetit auf was Süßes haben, ein Stück Apfelkuchen wäre noch drin«, meinte sie beim Hinausgehen.

Kathrin Hansen musste sich ein Grinsen verkneifen. Elseke, Dozentin für Ernährungswissenschaften, körperlich gut gerundet, hatte keine Probleme, sich vor ihre Studenten zu stellen, um ihnen eine gesunde Ernährung einzubläuen, um dann anschließend zu Hause fette Torten zu kreieren. Mit dickem Schlag obendrauf, verstand sich.

»Gut, fangen wir an«, unterbrach Heidkamp ihre gedanklichen Kapriolen und blickte sie an.

»Was wissen wir bis jetzt?«

»Nun«, Kathrin Hansen beschloss, chronologisch vorzugehen.

»Was wir in etwa wissen, ist, das Julius Franken, das Mordopfer, bereits eine Weile tot ist. Laut Sonja Klaes zeigt die Autolyse einen fortgeschrittenen Verwesungsprozess der Haut sowie eine Verflüssigung der inneren Organe.

Natürlich wie immer, Genaueres nach der Obduktion.

Weiter.

Ein Kopfschuss, vorne aufgesetzt, mitten in die Stirn, hat Franken getötet. So etwas können nur hartgesottene Killer.