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»Zusammen wohnen, zusammen leben, zusammen feiern. Jetzt sind wir sogar zusammen alt geworden!« In den Achtzigern flohen Susanne und ihre Freundinnen nach Berlin Kreuzberg, um dem spießigen Westdeutschland mit seinen Kleinfamilien und Kiesauffahrten zu entkommen. Vierzig Jahre später sitzen sie in der Abendsonne bei einem Glas Wein zusammen und erkennen ihr Viertel kaum wieder. Ihr buntes Leben wird von Reichtum, Müll und Touristenströmen erdrückt. Entschlossen starten die Heldinnen von damals eine neue Revolution. Ganz wörtlich "von unten". Ein aufrüttelnder Roman über Mut, Zuversicht und Zusammenhalt in einer sich verändernden Welt. "Susanne Matthiessen ist die geborene Erzählerin. Man könnte ihr einfach ewig zuhören." WDR5
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Lass uns noch mal los
SUSANNE MATTHIESSEN, Jahrgang 1963, lebt schon lange in Berlin. Sie verarbeitet gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. Ihre Romane »Ozelot und Friesennerz« und »Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehn« sind Bestseller. Als gebürtige Sylterin hat sich Susanne Matthiessen in Berlin-Kreuzberg auf Anhieb wohlgefühlt – verhaltensauffällige Charaktere auf umgrenztem Platz kannte sie schließlich schon von zu Hause.
Kreuzberg war schon immer anders: wilder, anarchischer, frauenbewegter. Und in vielem früher dran. In den Achtzigern kämpften Susanne und ihre Freundinnen zwischen brennenden Barrikaden. Sie wollten anders leben als das spießige Westdeutschland mit seinen Kleinfamilien und Kiesauffahrten. Mehr als dreißig Jahre später ist Kreuzberg immer noch ein Ort für Träume aller Art, doch die große Freiheit trägt jetzt ein Preisschild in Euro. Für die alten Vorreiterinnen wird es langsam eng. Nun kämpfen sie gegen den Abstieg. Bis Susanne und ihre Freundinnen eine Revolution von unten starten. Ganz wörtlich.
Susanne Matthiessen
Roman
Ullstein
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© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagmotiv: © Elfie Semotan / Nicole Nagl, Wien, 1987 / Courtesy Studio SemotanAutorinnenfoto: © Gerald von ForisE-Book powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3169-0
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Das Buch
Titelseite
Impressum
prolog
1
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8
9
10
Epilog
danksagung
impulsgeberinnen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
prolog
bildet banden
zufall
Die Fahrt auf der Transitstrecke durch die DDR war öde. Alles grau in grau. Der Himmel voller Asche. Die Straßendecke sah aus wie alter Senf. Die paar Häuser und Gehöfte in weiter Ferne machten den Eindruck, als hätte man sie einfach nur mit Schlamm verputzt. Auf den Feldern lag Staub. Ganz so eintönig hatte ich mir die DDR nicht vorgestellt. Aber man hatte wohl kaum extra für meine Durchfahrt die Szenerie eingerußt. Die einzigen Farbtupfer hingen an den Brücken, die wir in regelmäßigen Abständen in unserem Auto passierten. Es waren Werbeschilder wie aus einer Filmkulisse. »Freiheit und Sozialismus« stand da. Und »Je stärker der Sozialismus, desto stärker der Frieden«. »Textilkombinat« irgendwas. Der Rest war nicht mehr lesbar. Der Rest war ein Festival aus Grautönen.
Guido und ich waren relativ spät losgekommen in Kiel. Erst gegen fünf am Abend hielt sein Golf GTI mit Krawall vor der Haustür. Er war der Sohn meiner Nachbarin, wohnte immer noch in seinem Kinderzimmer und arbeitete in einer Autowerkstatt. Seine Mutter hatte ihn dazu überredet, mich durch die Zone zu eskortieren und nach West-Berlin mitzunehmen. Ich wollte erst nicht, weil mir dieser Mann in seinem ölverschmierten Blaumann, den er niemals auszuziehen schien, schon immer unheimlich war. Er war viel älter als ich, bestimmt schon dreißig. Guido war eine massige Erscheinung mit eng stehenden Augen und enorm großen Zähnen wie weiße Legosteine. Er bekam deshalb seinen Mund nicht zu und sah immer so aus, als wollte er etwas sagen. Doch da war nie ein Wort.
»Nimm doch die liebe Susanne bitte mit«, setzte sich seine Mutter für mich ein. »Hörst du? Nimm sie bitte in deinem Wagen mit.« Ich zweifelte kurz daran, ob ich mich in ein Auto setzen sollte, das jemand fuhr, der von seiner Mutter wie ein Kleinkind behandelt wurde. Aber für mich bot sich eine kostenlose Mitfahrgelegenheit.
»Guido«, sagte seine Mutter mit warnender Stimme, »muss ich erst …« Guido sah uns beide an, die Augen voller Schrecken. Er hob seine schmutzigen Hände, als würde er beten, und trat zwei Schritte zurück. Seine Mutter und ich werteten das als Zustimmung. Guido wollte nach West-Berlin, um sich Ersatzteile für seinen alten Käfer Baujahr 65 zu besorgen, und ich hatte dort einen Job zu erledigen, einen Spezialauftrag, ich hatte einen Test zu bestehen. Man konnte es auch meine letzte Chance nennen.
Ich hatte vor ein paar Wochen vor der Auswahlkommission des Norddeutschen Rundfunks versagt. Die letzte Möglichkeit, noch einen Ausbildungsplatz als Volontärin beim NDR zu ergattern, um Radiojournalistin zu werden, war diese Berlinreise. Ich sollte zeigen, dass ich als Reporterin etwas besonders Eindrucksvolles zuwege brachte. Ich sollte Talent beweisen und so den schlechten Eindruck, den die Kommission von mir gewonnen hatte, korrigieren.
Das lange Wochenende zum 1. Mai stand bevor. Außerdem fanden dieses Jahr anlässlich des glanzvollen Stadtjubiläums »750 Jahre Berlin« viele verschiedene Festivitäten und unterschiedliche Veranstaltungen statt, und der NDR schickte mich in die Frontstadt, genauer in die Messehallen am Funkturm, um von einem ganz besonderen Ereignis zu berichten: der Internationalen Rassehundeschau, der größten ihrer Art. Da auch viele norddeutsche Züchter dabei waren, galt es für mich jetzt, sie – und ihre Hunde – zu porträtieren.
Der Auftrag war, wie gesagt, meine letzte Chance. Mein Bewerbungsgespräch für den Ausbildungsplatz war schiefgegangen. Hunderte hatten sich beworben, ich gehörte zu den wenigen Prozent, die es bis in die letzte Runde geschafft hatten. Aber dann … Jedes Mal, wenn ich an dieses Tribunal dachte, kamen mir die Tränen. Tränen der Scham.
»Junge Dame, setzen Sie sich doch«, hatte der Ausschussvorsitzende gesagt. Mit blonder Föhnwelle frisch vom Friseur grüßte ich höflich und nahm den einzigen leeren Stuhl. Vor mir ein Resopaltisch. Mir gegenüber in einiger Entfernung drei Männer in dunklen Anzügen an einer langen Tafel. Sie blätterten in Unterlagen. Der Raum war rundum mit schwarzem Holz vertäfelt. Wäre keine Klinke an der Tür gewesen, man hätte nie wieder herausgefunden.
»Soso. Sie wollen also eine Redakteursausbildung durchlaufen beim Norddeutschen Rundfunk.«
»Ja, sehr gerne«, sagte ich. »Das ist auf jeden Fall, was ich will.« Seitdem ich mich als Zwölfjährige für Wolf-Dieter Stubels »NDR 2 Plattenkiste« beworben hatte und dann auch eingeladen worden war und ganz Norddeutschland eine Stunde lang meine Musik vorspielen durfte, wollte ich zum Radio, unbedingt. Einfach alles hatte mir gefallen. Die Technik, die Leute, die Büros, die Kantine, die lockere Atmosphäre, das Studio …
Doch das Gespräch mit den Männern in der Kommission fühlte sich alles andere als locker an. Nach den üblichen Fragen zu Schulausbildung, Studienabschluss, praktischen Erfahrungen, Elternhaus und Lebenszielen folgten »ein paar Fragen zur Persönlichkeitsstruktur«, wie der Vorsitzende ankündigte.
»Sie sind jetzt vierundzwanzig. Wollen Sie Kinder?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Leben Sie in einer festen Beziehung?«
»Nein.«
»Wo müssen wir Sie politisch einordnen?«
»Ich bin in keiner Partei, wenn Sie das meinen.«
Der Mann ganz links mit der dicken Brille schaltete sich ein. »Sie treten hier sehr burschikos auf, junge Dame. Als Hobby geben Sie Motorradfahren an. Tragen Sie eigentlich auch mal Kleider und Röcke? Sie haben doch eine ganz passable Figur. Nagellack? Lippenstift?«
Und der Vorsitzende ergänzte: »Als NDR-Mitarbeiterin sind Sie immerhin ein Aushängeschild des Senders.«
Ich fühlte mich unwohl und starrte auf meine Hände, die vor mir auf dem Tisch lagen. Wie könnte ich jetzt noch den Eindruck verwischen, ich sei keine richtige Frau? Mein grauer Hosenanzug war wohl nicht die beste Wahl.
»Manchmal trage ich ein Kleid«, sagte ich nicht wahrheitsgemäß.
»Keine Sorge, wir sind pluralistisch«, sagte dann der Vorsitzende, lachte laut auf und nickte links und rechts den anderen Herren zu, »wir haben hier auch ein paar Paradiesvögel im Haus, nicht wahr?« Die Männer schnarrten amüsiert, und einer kicherte sogar.
»Aber zurück zu Ihnen, junge Dame. Wir machen hier natürlich auch Frauenförderung. Wir sind fortschrittlich.« Die anderen nickten beflissen.
Der mit der dicken Brille hielt eine Arbeitsprobe hoch, die ich vorher eingereicht hatte, einen Artikel in einem Stadtmagazin über Bodybuilderinnen. »Sie suchen sich ja merkwürdige Themen aus. Haben Sie den Artikel selbst geschrieben?«
»Ja, natürlich. Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich verunsichert. Ich fühlte mich zunehmend unwohl. »Machen Sie sich über mich lustig?«
»Oh nein, natürlich nicht«, sagte der Ausschussvorsitzende. »Sind Sie etwa empfindlich? Sie wirken so selbstbewusst.«
Dann wurde mir ein Leserbrief der linksalternativen Zeitung taz aus dem November 1986 vorgelesen. Das war drei, vier Monate her. Darin schrieb jemand, dass der Mord an Gerold von Braunmühl konsequent gewesen sei. Im Sinne des Systemwiderstands. Der Schlusssatz lautete: »Die Jagdsaison ist noch nicht vorbei.«
Der Vorsitzende räusperte sich und wurde ernst: »Was sagen Sie dazu? Darf man so etwas veröffentlichen?«
Darauf wusste ich erst mal keine Antwort. Gerold von Braunmühl, ein enger Berater von Außenminister Genscher, war beim Aussteigen aus seinem Auto erschossen worden. Dazu bekannt hatte sich das »Kommando Ingrid Schubert«, offenbar aus dem Umfeld der RAF. Die Zeitungen waren immer noch voll davon.
Ich kniff die Augen zusammen, und mir wurde heiß. Vollkommen klar, dass hier meine Staatstreue abgefragt werden sollte. Aber so simpel konnte es ja nicht sein. Ich dachte an meine Politikkurse in der Uni, erinnerte mich an mein Seminar in Medientheorie.
»Das berührt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit«, sagte ich dann leicht stotternd, »und die Informationsfreiheit, also dass man sich von überallher informieren darf«, hängte ich noch schnell dran. Dann versuchte ich, alles in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. »Und andererseits gilt bei uns die Pressefreiheit wegen des Pluralismus. Sie erwähnten es bereits«, bemühte ich mich um eine einigermaßen stabile Einordnung. »Also kurz gesagt: Auch extremere Ansichten sind von Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gedeckt. Und die taz ist ja nun extra dafür gegründet worden, auch extremere Meinungen zu veröffentlichen, die nicht so auf Linie liegen.«
Es war auf einmal sehr still im Raum. Die Männer wirkten, als hätte das »Kommando Ingrid Schubert« soeben höchstpersönlich den Raum gestürmt, sie saßen schockiert auf ihren Sesseln, und ich wusste sofort, dass das mit meiner Bewerbung schiefgegangen war. Mir wurde schlecht. In beiden Ohren setzte ein Pfeifton ein, den ich vom Fernsehen her kannte: Sendeschluss. Ich bildete mir sogar ein, das dadaistische Testbild zu sehen. Es war vorbei für mich, das musste mir niemand mehr sagen. Ich war nicht mal bis zur Ziellinie gekommen. Ich wurde schon vorher disqualifiziert. In meiner Argumentationskette musste irgendwas nicht gestimmt haben, aber ich wusste nicht, was.
Die Verabschiedung erfolgte schnell und fiel frostig aus, wenige Tage später hatte ich die Absage im Briefkasten. Ohne Begründung. Meine Familie war entsetzt. Abgelehnt! »Was hast du bloß wieder falsch gemacht?«, fragte mein Vater, der Geschäftsmann, der Entscheider, der Mann der kurzen Prozesse. »Das darf doch wohl nicht wahr sein. Warst du zu blöd? Oder zu unverschämt? Kannst du dich nicht einfach mal ganz normal verhalten? Einfach mal ganz normal. Du bist doch eigentlich begabt. Was für eine Enttäuschung!« Ein Gefühl von brennender Scham legte mein Nervensystem lahm. Eine katastrophale Ungeheuerlichkeit war geschehen. Bloß welche? Da streikte mein Gehirn. Wie nach einem schweren Autounfall lief ich im Schock orientierungslos auf der Fahrbahn herum, wusste, dass etwas Schlimmes passiert war, konnte aber nicht sagen, was. Mich drückte eine Schuld. Aber ich wusste nicht, worin die bestand. Am ehesten fühlte ich mich schuldig, einfach nur versagt zu haben und weil mein Status innerhalb der Familie von »Hoffnung« auf »Enttäuschung« abgesackt war.
Es war dann mein Onkel aus Hamburg, der jemanden kannte, der jemanden kannte, der Dagmar Berghoff fragen konnte. Und die hatte sich tatsächlich darum gekümmert und nachgeforscht. Eigentlich wollte ich inzwischen gar nicht mehr wissen, welche Fehler genau ich gemacht hatte. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst der Fehler war. Fünf Jahre Studium, unter anderem auch Politikwissenschaft und Psychologie, Praktika, freie Mitarbeit beim Stadtmagazin, und dann war meine Karriere schon zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Warum? Zuerst wurde mein Onkel ins Bild gesetzt und dann ich.
»Wie konntest du nur so bescheuert antworten?«, regte sich mein Onkel am Telefon auf. »Das ist extremistisch! Das war doch klar, dass das nicht geht. Hallo! Das ist der NDR. Du kannst doch bei einem RAF-Leserbrief nicht mit der Pressefreiheit kommen. Wo lebst du denn? Dein theoretischer Uni-Scheiß hat da nichts zu suchen. Meinungsfreiheit. Wenn ich das schon höre. Doch nicht bei der RAF! Doch nicht beim NDR!« Er geriet richtig in Rage. »Und dann warst du noch nicht mal richtig angezogen. Viel zu provokativ. In einem Anzug. Was kostet es dich denn, mal ein bisschen nett und freundlich zu sein? Ich fasse es nicht. So eine Riesenchance!« Er tobte weiter, und ich legte einfach auf. Ich wusste es ja schon. Das Auftreten, die Antworten, die Enttäuschung aller Erwartungen, dieses »Schwierigsein«, das mich überallhin begleitete. Immer war irgendetwas zu viel. Ich war zu laut, zu selbstbewusst, zu anstrengend, zu fordernd, zu emotional, zu frech, zu anspruchsvoll. Immer war irgendetwas falsch. Beurteilt haben das aber immer andere, und mir kam dann die kaum lösbare Aufgabe zu, mich entsprechend zu verformen, um ins Schema zu passen. Ich konnte noch so zuvorkommend, fürsorglich und zugewandt sein, das war ja »nur gespielt«, und die Handarbeitslehrerin schob mich in den Werkunterricht ab, weil ich dafür angeblich besser geeignet war.
Nach der Pleite beim NDR zog ich mich erst mal in mich selbst zurück und dachte ernsthaft darüber nach, Sozialhilfeempfängerin zu werden.
Ob es nun meinem Onkel zu verdanken war oder seinen Verbindungen oder der Morgendämmerung der Frauenquote – keine Ahnung, ich habe es nie erfahren. Auf jeden Fall rief vier Wochen später dann doch noch mal jemand vom NDR an. Es war ein Radioredakteur aus dem Landesfunkhaus Kiel, der sich mit Herr Voss vorstellte. »Probieren wir doch mal was«, sagte er am Telefon. »Verstehen Sie etwas von Hunden?« Ich war perplex und verneinte. »Wunderbar. Das ist gut«, sagte er. »Dann sind Sie ja wie ein weißes Blatt Papier.«
Er ließ keinen Zweifel daran, dass das meine letzte Chance war zu beweisen, dass ich für den Reporterberuf geeignet war, und er von mir erwartete, mich »wie ein Terrier« in dieses Projekt zu verbeißen. »Ihre Radiostimme und Ihre Arbeitsproben sind doch sehr gut. Machen Sie uns was Schönes, Buntes. Legen Sie sich ins Zeug, dann sehen wir weiter.« Ich würde also zum ersten Mal Berlin sehen. Und ich würde zum ersten Mal zweitausend Hunde auf einem Haufen sehen. Und ich würde dem NDR mal zeigen, was man aus einer Hundeschau für das norddeutsche Radiopublikum machen kann.
»Berlin wedelt« wäre vielleicht ein ganz schöner Einstieg. Ich dachte schon mal über den ersten Satz meiner Reportage nach. Oder vielleicht eher: »Wau! Ich melde mich hier aus der Hundehaufen-Metropole Europas.« Ich war ganz sicher, mir würde schon etwas Tolles einfallen. Draußen wurde es allmählich dunkel.
Ich saß auf dem Beifahrersitz neben Guido und versuchte, mich wach zu halten, indem ich diesem Einheitsgrau, von dem wir in der Dämmerung langsam aufgefressen wurden, konkrete Farben zuordnete. Delfingrau für das kleine Ostauto, das wir gerade überholt hatten. Gewittergrau für die Uniformen der DDR-Polizisten am Grenzübergang, Schimmelgrau für die Flecken auf meiner Hose, die von dem Kräuterquark-Unfall von vor einer halben Stunde stammten. Ich war müde und wurde vom monotonen Dadong-Dadong-Dadong auf der Transitstrecke in den Schlaf hypnotisiert.
Wir rumpelten über die Schweißnähte der supergleichmäßig verlegten Betonplatten auf der Fahrbahn. Strikt Tempo 100. Da traute sich nicht einmal mein Begleiter Guido Thomsen, stadtweit bekannter Geschwindigkeitsübertreter, aufs Gaspedal zu treten. Aber es ging durch die DDR. Die hätten uns aus dem Verkehr gezogen und eingesperrt beim Schnellerfahren. Jedenfalls hatte ich das immer wieder mal gelesen. Gefühlte zehn Stunden später kamen wir endlich – buchstäblich gerädert – in West-Berlin an. Es war einigermaßen dunkel, wir fuhren über die Stadtautobahn Richtung Schöneberg.
»Warum blinkst du eigentlich nie?«, fragte ich den schweigsamen Guido. »Das ist mir in Kiel schon aufgefallen. Was ist mit deinem Blinker?«
»Es geht niemanden etwas an, wo ich hinfahre«, sagte Guido. Er war schon sehr sonderbar.
Aber er kannte sich gut aus in Berlin. Er wusste, wo er – ohne jemals den Blinker zu setzen – langfahren musste, um mich nach Kreuzberg zu bringen, wo ich mich bei einer Bekannten zur Übernachtung angemeldet hatte. Er würde mich übermorgen, nach meinem Einsatz bei der Rassehundeschau, wieder abholen. An derselben Stelle. Pünktlich um sechs. Dann fuhr er davon.
Ich hatte mich bei Sara einquartiert, die zwei schön vergammelte Zimmer in einem Berliner Altbau in der Zossener Straße bewohnte. Wir waren im Westen, aber auch hier: Die Straße war grau, das Haus war grau, der Hof war grau. Sie nahm zehn Mark pro Nacht. Es gab kein Badezimmer. Es gab nur ein Waschbecken. Und das war in der Küche. Und es war nicht schön. Ich war begeistert. Das war eindeutig das echte Leben. Ehrlich und rau. Und das war noch nicht alles. Die Toilette stand hinter einer zersplitterten Holztür draußen im Treppenhaus. Dafür musste man einige Stufen nach unten gehen. So was hatte ich noch nie gesehen. Auch nicht solche doppelten Fenster, die etwas schief in den verrosteten Angeln hingen.
Es gab kaum Möbel in der Wohnung. Außer einem rollbaren Ständer mit ein paar Klamotten dran war da noch ein altes rotes Sofa und eine Art Couchtisch, der aus Europaletten zusammengesetzt war. Ich sah keine Bücher oder Bilder. Es war erstaunlich leer und doch auf eigentümliche Art wohnlich. In einem Regal lag immerhin eine Stange Gitanes-Zigaretten. Und daneben – kaum zu sehen – ein altes Poesiealbum. Der Klassiker. Glanzbilder, Buntstiftzeichnungen und belanglose Sinnsprüche, lauter leere Phrasen, was man so vor sich hin geplappert hat. Damals. »Durch Zufall lernten wir uns kennen. Durch Zufall mussten wir uns trennen. Durch Zufall werden wir uns wiedersehen.« Stimmte. Jetzt.
Sara kannte ich eigentlich gar nicht. Ich hatte sie vor ein paar Monaten zufällig auf einer Studentenparty getroffen, in Kiel. Sara war mir auf diesem Fest aufgefallen, weil ich sie nirgends einordnen konnte. Sie passte da einfach nicht hin. Sie sprach nicht, lächelte nicht, sie ignorierte alle Rituale, die uns beigebracht worden waren. Sie verzichtete auf das In-kleinen-Gruppen-miteinander-Rumstehen. Sie erzählte nichts und hörte nirgends zu. Sie schien sich selbst genug zu sein und hielt dadurch alle auf Abstand. Sie verzichtete einfach auf alles, was normalerweise üblich war, selbst aufs Fußwippen zur Musik, und das irritierte mich. Im Vergleich zu ihr fühlte ich mich dermaßen provinziell, dass es mir schon peinlich war.
Ich versuchte, mich in sie hineinzuversetzen und meine Welt mit ihren Augen zu sehen. Ich sah: Kiel. Diese nette, überschaubare und aufgeräumte Stadt, wo ich über einer gepflegten Pizzeria eine nette Wohnung hatte und sehr nette Freundinnen und Freunde, mit denen ich am Wochenende an den Strand fuhr. Unser Leben war »Wham!«: poppig, harmlos, fluffig. Kiel, wo man »Elefantenbier« trank, scandinavian extra strong, samstags shoppen ging und sich immer dasselbe kaufte: gebleichte Jeans und Fruit-of-the-Loom-T-Shirts in Bonbonfarben. Dieses Kiel eben. Wo man sich noch die Haare föhnte.
Sara trug Leopardenstiefel und eine Batterie von silbernen Ringen im linken Ohr. Sie trank kein Bier, sondern etwas Buntes aus einem echten Glas und rauchte Kette. Aufgefallen war mir auch ihre Stimme. Rau und laut. Es stellte sich heraus, dass sie als Fotoassistentin arbeitete. Ihr Chef und Kollege hatte einen Auftrag in der Stadt, für den sie das Licht aufbauen und in den Kameras die Filmpatronen wechseln musste. Sie langweilte sich in Kiel. Das erzählte sie mir widerwillig, als ich mich neben sie stellte und ein Gespräch anfing. »Ist aber nichts Neues. Ich langweile mich überall außer in Berlin«, röhrte sie aus tiefer Brust und schnippte ihre Asche auf den Wohnzimmerteppich. Bevor sie den Rest der Zigarette hinterherwarf, holte ich schnell einen Aschenbecher und hielt ihn in Stellung. Ich kam mir ungemein progressiv vor, als ich fragte: »Wie machst du dir eigentlich deine Haare?«
Ich wollte einfach nur was Pfiffiges sagen. So von Cool zu Cool. Aber Sara schloss sichtlich genervt die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als langweilte sie sich jetzt erst richtig.
Dann sagte sie: »Penatencreme, machen alle in Berlin«, drehte sich um und verschwand mit ihren orangefarbenen Stachelhaaren Richtung Küche.
Berlin. Die große Stadt. Ich lief ihr nach, fasste mir ein Herz und sprach Sara noch einmal an. Sie lud mich schließlich ein. Gegen Geld. »Falls du mal was erleben willst.« Es klang ein bisschen gefährlich. Ich nahm mir vor, diese Einladung anzunehmen, und kurz darauf kam tatsächlich auch schon die Gelegenheit mit der großen Rassehundeschau, die mich doch noch ins Ziel tragen sollte, nach Berlin und in das Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk.
Als ich dann endlich vor ihrer Wohnungstür stand, war Sara nicht da. Sie hatte einen Job im Irgendwo. Sie würde nicht zurückkommen, bis ich wieder fuhr. Mir rutschte das Herz in die Hose. Was jetzt? Ich hatte versucht, mich darauf einzustellen, auf alles eingestellt zu sein. Aber ausgerechnet darauf war ich nicht eingestellt. Ich fing an zu schwitzen. Tagelang hatte ich mir Gedanken gemacht, welches Mitbringsel Sara gefallen könnte, und mich dann für die neueste Single von The Cure entschieden. »Why Can’t I Be You?«, ganz frisch auf dem Markt.
Nach dem Kauf hatten mich Zweifel überfallen, ob sie dieses Mitbringsel möglicherweise als eine Botschaft verstehen könnte und das Ganze in einer einzigen Peinlichkeit enden würde. Für diesen Fall hatte ich mir vorgenommen, schnell ganz viel Alkohol zu trinken. Im Grunde hatte ich ihr sogar noch lieber die neueste The-Cure-LP kaufen wollen. Aber »Kiss Me Kiss Me Kiss Me« war noch nicht erschienen. Ein Glück, dachte ich dann aber, das wäre ja noch viel missverständlicher gewesen. Anschließend machte ich mir Gedanken, ob es denn ein anderes Wort für den ausgelutschten Begriff »Mitbringsel« gibt. Mir fiel keins ein.
Und jetzt hing da dieser Zettel an ihrer Tür. Ich sollte den Schlüssel bei der Nachbarin von gegenüber abholen. Ich brauchte einen Moment, um entsprechend Mut zu fassen. Als ich da am späten Donnerstagabend klingelte, öffnete mir ein alter Mann im Bademantel, der aussah wie eine alte Frau mit einer verrutschten Perücke. Er sagte: »Hier, Schätzchen«, drückte mir den Schlüssel in die Hand und schlug die Tür wieder zu. Ich packte meinen Pyjama aus und ging ins Bett.
Am nächsten Tag, dem 1. Mai 1987, zündete morgens um fünf irgendein Idiot im Treppenhaus eine Silvesterrakete und jagte sie alle sechs Stockwerke empor. Ich hatte fest geschlafen und das Zischen nur im Unterbewusstsein wahrgenommen. Aber dann flog durch die bombastische Explosion die Wohnungstür auf, und ich stand senkrecht im Bett. Ein ganzer Jahrmarkt von Blitzen und grellbunten Leuchtkugeln schoss bis in die hintersten Ecken durch die Räume. Dann sah ich nur noch Rauch, atmete Rauch, schluckte Rauch. Es war so weit, ich musste sterben. So dachte ich. Früher Tod mit vierundzwanzig. Für den Bruchteil einer Sekunde kam mir meine Mutter in den Sinn. Ich sah sie vor mir: kopfschüttelnd, die Augen geschlossen, die Hände in die Hüften gestemmt, mit der typischen »Du wolltest ja nicht hören«-Attitüde. Ausgerechnet Berlin, das musste ja schiefgehen. Nun würde sicher gleich mein ganzes kurzes Leben an meinem inneren Auge vorbeiziehen. Ich machte mich bereit für den Weltuntergang. Doch da kam nichts. Kein einziges Bild.
Es wurde still. Mein Herzschlag setzte wieder ein. Ich zählte meine Finger nach. Ich stieg von der Matratze, setzte mich auf den einzigen Stuhl im Raum und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte ein paar Minuten. Dann begriff ich: Das hier war gar nicht mein Ende. Im Gegenteil. Es fing gerade erst an. Der Morgen dämmerte. Der Rauch verzog sich. Das Türschloss war kaputt. Ich war in Kreuzberg. Und es war sogar noch spektakulärer, als ich es mir erhofft hatte.
Wer seine Eltern in Westdeutschland also mal so richtig durchschocken wollte, zog nach Berlin. Ich hatte als Jugendliche natürlich »Christiane F.« gelesen – wenn auch heimlich – und empfand ihre Erlebnisse als Junkie im Teenageralter, die sich mit Prostitution ihre Drogensucht finanzierte, als einen einzigen großen Grusel, der gleichzeitig abschreckend und anziehend war. Als das Buch auf den Markt kam, hatten mich meine Eltern gerade in der Tanzschule angemeldet, und ich mühte mich ab mit Cha-Cha-Cha, Wiener Walzer und Frank Kruse, auf den ich ein Auge geworfen hatte. Aber er hatte null Rhythmus und null Charme. Er wollte einfach immer nur Handball spielen. An Frank Kruse verlor ich schnell das Interesse, denn er war im Vergleich zu den »Kindern vom Bahnhof Zoo« viel zu uncool.
Ich las das Buch auf einem Gartenstuhl in der Garage, den ich mir genau in die Ecke geschoben hatte, wo das Sonnenlicht durch die Glasbausteine fiel. Ich hatte es am Bahnhof gekauft und darauf geachtet, dass mich niemand dabei beobachtete, der mich kannte. Es war die unglaubliche Geschichte von Außerirdischen auf einem fremden Planeten, die genauso alt waren wie ich und ein Abenteuer nach dem anderen erlebten. Im Gegensatz zu den Figuren aus meinem anderen Lieblingsbuch »Per Anhalter durch die Galaxis« waren diese Außerirdischen allerdings echte Menschen, und die Geschichte war wahr, und David Bowie spielte auch mit.
Beim Lesen dachte ich immer: Da ist ein Mädchen genau wie ich, die geht mit ihren dreizehn Jahren ständig ins »Sound«, in die modernste Disco in ganz Europa, die erlebt da die irrsten Sachen, und ich sitze hier in der Provinz fest. Klar, sie nimmt Drogen. Na gut. Okay. Soll man ja nicht. Aber solche coolen Jugendlichen, die eigentlich Erwachsene waren, da muss man schon nach Berlin fahren. Dieses Bild hatte sich in mir festgesetzt. Im Fernsehen sah es immer so aus, als wäre Berlin der einzige Ort in Deutschland, an dem man sich frei bewegen konnte. Also wirklich frei. Im Sinne von frei.
Ein provisorisches Deutschland, von einer Mauer umgeben, in dem zwar die Stadt sehr wohl Grenzen kannte, das Leben dort aber nicht. Was man anderswo gemeinhin unter »Recht und Ordnung« verstand, wurde dort irritierend anders ausgelegt. Die Musik bis drei Uhr morgens volle Pulle aufzudrehen war schließlich vom Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gedeckt. Dieses Selbstbestimmungsrecht schloss auch mit ein, auf einer Matratze mitten auf der Straße zu schlafen, wenn man das gerne wollte. Woanders würde die Polizei einschreiten und die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Faszinierend. Und nun war ich tatsächlich selbst an Ort und Stelle. Ich prägte mir den Weg zur Oranienstraße ein, lernte die Straßennamen auswendig und merkte mir genau, wo ich rechts oder links abbiegen musste. Den Falk-Plan würde ich nur im absoluten Notfall aus der Hosentasche nehmen. Peinlicher konnte man sich nicht als Berlinanfängerin outen. Aber die Mühe war umsonst. Ich hätte mir auch einen alten Autoreifen umhängen können, niemand nahm von mir auch nur die geringste Notiz.
Das war mir sehr recht, denn die Penatencreme in meinen Haaren war schlecht verteilt. Der Pony hing mir schwer ins Gesicht wie ein zusammengebrochenes Vorzelt auf dem Campingplatz, über den Ohren standen die Haare in Büscheln ab. Ich hatte wahrscheinlich einfach zu viel Creme genommen. Hinten sah es aus, als hätte ich etwas vergessen, obendrauf ging es zwar als einigermaßen punkig durch, aber ich »fühlte« diese Frisur natürlich nicht. Ich wollte so gern, aber ich fühlte sie einfach nicht. Ich hatte keinen Pepp. Die schlampige Zufälligkeit, die die Leute auf der Straße auszeichnete, sah bei mir einfach nur gewollt aus. Ich hätte natürlich auch als gewollt gewollt durchgehen können. Aber dafür fehlte mir die Kreuzberger Lässigkeit.
Am nächsten Tag würde ich mich sowieso in jemanden zurückverwandeln müssen, die als NDR-Mitarbeiterin durchging, in ein Aushängeschild mit fluffiger Mädchenfrisur, da konnte ich an diesem Tag einfach mal etwas wagen. Ich passierte Schuttberge aus alten Hausmauern und Brachen voller Unkraut, kam an einer Art Minibauernhof vorbei mit Hühnern, Schafen und Ziegen, lief durch Straßen mit Häusern, die wie Ruinen aussahen, in denen aber Menschen wohnten. Ich steckte meine Finger in die Einschusslöcher, die noch von den Straßenkämpfen der letzten Kriegstage stammten. An manchen Häusern hingen Bettlaken, »Instandbesetzt«, oder farbige Transparente: »Das ist UNSER Haus«. Einige waren großflächig bunt bemalt mit Seifenblasen, Heißluftballons, fliegenden Hexen. Ich sah zwei Skelette, die sich küssten. Darüber eine Fahne: »Döner macht schöner«. Darunter ein angeklebtes Plakat: »Geht noch schneller mit Dönerteller«.
Auf der Oranienstraße spielten Kinder Fußball. Zwei Punks umkurvten sie auf ihren Skateboards. Sie hatten Strumpfhosen an und darüber Schottenröcke. Es gab einige wenige, kneipenartige Lokale, eine Drogerie, mehrere Änderungsschneidereien, einen türkischen Friseur, ein Tapetengeschäft. Ich sah viele türkische Familien. Die Alten saßen auf Stühlen mitten auf der Straße. Die Männer trugen alle ordentlich Jackett und waren sauber frisiert. Sie tranken Tee aus klitzekleinen Gläsern und aßen klebrige Pralinen dazu. Die Frauen unterhielten sich entspannt. Was für einen fühlbaren Kontrast dieses Bild doch abgab, so viel Biederkeit in dieser abgewrackten Umgebung. Eine in sich geschlossene, intakte Welt existierte inmitten einer schrillen, haltlosen.
Nichts passte hier zusammen. Da waren die letzten alten, echten Berliner und Berlinerinnen, die noch vereinzelt in ihren ansonsten entmieteten Häusern ausharrten, dann die türkischen Großfamilien, die fleißig Zuzug erhielten aus der alten Heimat, und dann waren da die unzähligen Hausbesetzer, Spontis, Aussteiger und Alternativen, die aus Kreuzberg diesen wilden Abenteuerspielplatz machten, der Leute wie mich aus allen Teilen Westdeutschlands anzog. Zusammengehalten wurde dieses schräge Konstrukt durch billige Mieten in abbruchreifen Häusern. Ein Kosmos für sich.
In einem Hinterhof saß ein Mann auf einem Schemel und spielte Schifferklavier, so viel konnte ich von der Straße aus sehen. Da tanzten die unterschiedlichsten Menschen durchs Bild, ein kleines Mädchen in einem Prinzessinnenkleid drehte Pirouetten, und jemand rief pausenlos: »Avanti!« Aber ich traute mich nicht näher heran. Ich hätte durch diese dunkle, tunnelartige Toreinfahrt gehen müssen und nahm an, dass mich feindselige Blicke treffen würden. Es wirkte so privat. Doch auf einmal hakte mich jemand unter und zog mich mit Schwung in die Einfahrt. »Komm, wir schwofen«, sagte der Mann, ich sah nur seinen riesigen Schnurrbart und war viel zu perplex, um mich loszureißen.
Er griff nach meiner Hand, umschlang meine Taille, und dann ging es im Galopp durch den kleinen Tunnel mitten rein ins Getümmel. Wir tanzten Polka oder so was Ähnliches, und in der ausgelassenen Stimmung verlor ich all meine Zurückhaltung. Es war herrlich ungezwungen. Alle meine Befürchtungen waren falsch. Die Umstehenden lachten und klatschten im Takt, ich tanzte mich in einen Rausch. Hätte mich Frank Kruse aus der Tanzschule so gesehen, ihm wären die Augen aus dem Kopf geflogen. Doch in der Sekunde, als der Mann von einem gut gelaunten Bekannten angesprochen wurde und mich kurz losließ, verlor ich meinen Halt und lief einfach davon. Es war ein Reflex, immer schon. Ich floh aus dem Rudel, bevor es mich verschlang. Ich hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren. Und gleichzeitig sehnte ich mich danach.
Wieder draußen auf der Straße, fühlte ich mich leicht und sicher. Es war so wunderbar warm, die Sonne schien, ich kaufte mir eine Cola, es war Freitag und Maifeiertag – sogar mit einem großen Straßenfest. Von Weitem schon hörte man dumpfe Bässe, die Leute strömten Richtung Osten. Auf einem Platz vor einer großen Kirche stand eine Bühne, da schlugen Punks auf ihre Gitarren ein. Familien flanierten in bester Stimmung an den riesigen Lautsprechern vorbei und störten sich nicht im Geringsten an den aggressiven, schiefen Tönen. Die Leute waren entspannt und heiter, was auch mit den vielen kleinen Marktständen zu tun hatte, an denen viel Selbstgemachtes angeboten wurde, das absolut kurios war.
Es gab Strickstrümpfe aus Lametta, Kerzenhalter aus Heizungsrohren, Gürtel aus Mercedessternen und jede Menge Ledertaschen. Ich sah mir an den Ständen auch Hefte an, die aus alten Bravo-Ausgaben zusammengeklebt waren. Es gab Kerzen, Schmuck und Holzspielzeug. Politische Initiativen verteilten Infomaterial. Kaffee und selbst gebackenen Kuchen konnte man beim »Besetzerkollektiv« kaufen. Der erste Vollkornkuchen meines Lebens schmeckte nach Staub und trockenem Gras. »Garantiert ohne Zucker« war leider total ohne Zucker. Die Frau, die ihn mir verkaufte, trug eine Frisur auf dem Kopf, die wie eine große Nusstorte aussah. Die Haare zu einem dunkelbraunen Wagenrad zusammengeflochten, gespickt mit Muscheln, Holzsplittern oder vielleicht doch tatsächlich Nüssen? Die Frau scherzte mit mir, sie habe Flugblätter geschreddert und in ihren Kuchen eingebacken. Ich lachte über diesen Witz, es schmeckte aber, als ob es stimmen könnte. Ich probierte auch Köfte, unheimlich scharf gewürzte und ziemlich verkohlte längliche Frikadellen. Danach brannte mein Mund wie Feuer, und ich suchte nach einem Stand mit Getränken.
Doch in dieser Sekunde kippte die Stimmung. Kinder rannten kreuz und quer, alles geriet in Bewegung. Ich hörte Geschrei und Gebrüll und dazu ein dumpfes Rauschen, das immer lauter wurde. In Panik flohen die Menschen vom Platz. Tapeziertische kippten um und gingen zu Bruch, alles flog auf die Straße, alte Leute kamen zu Fall, die Punks stürmten von der Bühne, Mütter schrien nach ihren Kindern. Und dann sah ich eine Kette von Polizisten mit weißen Helmen auf mich zurennen. Bestimmt zwanzig in einer Reihe. Wer sich ihnen in den Weg stellte, zu langsam war oder hinfiel, wurde verprügelt.
Ich spurtete in Richtung der großen Kirche, sprang über ein Gebüsch und warf mich auf einem Spielplatz in den Sand. Die Polizei feuerte Tränengasgranaten ab. In Sekunden war alles voller Rauch. Meine Augen brannten wie verrückt. Ich heulte und hustete, ich war vollkommen orientierungslos, wie durch Watte hörte ich Menschen schreien, immer begleitet vom durchgängigen Tatütata der Polizeisirenen.
Dann wurde ich auf einmal hochgerissen. Links und rechts griffen mir zwei kräftige Hände unter die Arme und zogen mich nach vorne. Ich wurde angeschrien und angetrieben: »Los! Lauf!« Und ich lief. Über Bordsteine, kaputte Gehwegplatten, über Straßenpflaster, über Teer. Ich rannte. Ich rannte blind. Ich stolperte, kam aus dem Tritt, konnte aber nicht fallen. Ich wurde festgehalten von zwei kräftigen Frauen, die Taucherbrillen trugen und dicke Tücher über Mund und Nase. Die wilde Hatz endete in der Lausitzer Straße, in einem Abbruchhaus, wo jemand »Die future is female« neben den Eingang gemalt hatte. So viel konnte ich noch erkennen, bevor sie meinen Kopf in einem provisorischen Badezimmer in einen Wassereimer tauchten.
So lernte ich Gabriele und Dorothea kennen.
»Geht’s wieder?«, fragte die Größere der beiden, die sich als Gabriele vorstellte. Sie reichte mir ein Handtuch. Ich nahm sie nur verschwommen wahr. Sie sah aus wie Gabriela Sabatini, die Tennisspielerin, die ich sehr verehrte, die vielen Haare gebändigt von einer roten Wollmütze.
Dorothea, die Kleinere, kam mit einem Becher Kaffee ins Bad und wartete geduldig, bis ich in der Lage war, ohne zu zittern, eine Tasse zu halten. »Supertag«, sagte sie, »das kann ja noch was werden.«
Dorothea fehlten an der linken Hand Zeigefinger und Mittelfinger. In ihrem schwarzen Overall sah sie aus wie eine Kampfpilotin. Mehr konnte ich noch nicht erkennen. Meine Augen waren immer noch zugeschwollen.
Von weiter weg hörten wir ohne Pause Sirenen.
»Das geht jetzt stundenlang so weiter.«
»Wo bin ich?«, fragte ich.
»Im Frauenkollektiv«, sagte Gabriele, »im Lilalatzhosenwunderland.« Sie lachte und klopfte mir auf die Schulter. »Komm erst mal mit in die Küche.«
Wir gingen einen dunklen Flur entlang, der am Ende in einen großen Raum mündete. Er war Wohnzimmer, Küche und Gästezimmer in einem. Alles wirkte provisorisch, die abgenutzte Couch musste noch aus Vorkriegszeiten stammen. Ein Doppelstockbett stand neben dem Fenster an der Wand. Vier alte Sessel, die Armlehnen abgebrochen, standen wie zufällig im Raum verstreut. Das Spülbecken hing in einem zurechtgesägten Bettgestell. Der Herd bestand aus einem Blech mit vier Kochflammen, das über einen Schlauch an einen Gasbehälter aus Stahl angeschlossen war. An den Wänden hingen Poster von Patti Smith und Joan Jett und das Plakat einer »Bauarbeiterinnenparty«, auf dem für »Klasse Mucke, Toffe Görls« geworben wurde. Darüber war die vergilbte Tapete mit einem Schriftzug besprüht. »Auf die Dauer Frauenpower«.
Eine einzelne Hängelampe gab ein schummriges Licht ab, das einzig und allein den wuchtigen Esstisch beleuchtete, der mitten im Zimmer stand. Drei Frauen saßen da und unterhielten sich leise. Niemand sagte Hallo.
»Darf ich vorstellen«, sagte Gabriele etwas lauter und schob mich nach vorn an den Tisch, »das sind Veronika, genannt Ronnie, und die gute Linda, und das ist Frau Pahlke aus dem Hinterhaus.« Frau Pahlke streckte müde die Hand nach mir aus. Ihr Gesicht war voller Trauer, wie ich es noch nie im Gesicht eines Menschen gesehen hatte. Sie nahm meine Hand, drückte sie einmal kurz und ließ den Arm wieder auf den Tisch klatschen, wo sie dann ein Tischtuch glatt strich, das es gar nicht gab. Die anderen rührten sich nicht. »Und das ist?« Gabriele gab mir einen kleinen Stoß in den Rücken, sodass ich noch einen Schritt nach vorne machte und gegen den Tisch stieß. »Ich bin Susanne.« Ich war viel zu eingeschüchtert, um nur ein einziges Wort mehr zu sagen.
Ich versuchte, mir die Namen einzuprägen. Veronika-Ronnie war die, die ganz links saß. Sie war die im Schlafanzug. Das konnte ich mir gut merken, denn mein Vater hatte genau den gleichen Pyjama. Schiesser, dunkelblau, mit weißer Paspel und kleiner Brusttasche. Veronika trug als scharfen Kontrast zum stylischen Nachtgewand eine feuerrote Punkfrisur. Sie sagte zu Gabriele: »Wo habt ihr die denn aufgegabelt? Was will die hier?«
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