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Ihr Wegweiser zu wahrem Selbstbewusstsein, individueller Freiheit und persönlicher Erfüllung Wir alle wünschen uns seelische Unabhängigkeit, Gelöstheit und Gesundheit in unserem Leben. Doch diese innere Balance ist nicht immer einfach zu erreichen. Sie verlangt von uns, Lebenslügen, belastende Verhaltensmuster und Denkfehler zu erkennen und abzulegen – und Mut zu fassen, sich bewusster in Beruf und Alltag zu mehr seelischer Freiheit, Individualität und Selbstentfaltung aufzumachen. Wie das gelingen kann, zeigt der renommierte Psychologe und Menschenkenner Peter Lauster in diesem Ratgeber. Er entfaltet tiefenpsychologische Zusammenhänge, lenkt den Blick auf die »acht Lebenslügen«, die oft zu Manipulation in Erziehung, Partnerschaft und Berufsleben führen und bietet praktische Anleitungen, um solcher Beeinflussung mutig zu trotzen. Das Abenteuer »Selbstverwirklichung« wartet auf Sie! Der Sachbuch-Klassiker für Fans von Karin Kuschink (»50 Sätze, die das Leben leichter machen«) und Bas Kast (»Kompass für die Seele«). Begeisterte LeserInnen: »Dieses Buch hat mich aus meinem alten Leben gerettet und mich in mein neues geführt.« Amazon-Rezensent »Eine sehr gute Einführung in tiefenpsychologische Zusammenhänge, geschrieben von dem großen Menschenkenner und Kenner unserer Gesellschaft Peter Lauster.« Amazon-Rezensent
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Seitenzahl: 300
Über dieses Buch:
Wir alle wünschen uns seelische Unabhängigkeit, Gelöstheit und Gesundheit in unserem Leben. Doch diese innere Balance ist nicht immer einfach zu erreichen. Sie verlangt von uns, Lebenslügen, belastende Verhaltensmuster und Denkfehler zu erkennen und abzulegen – und Mut zu fassen, sich bewusster in Beruf und Alltag zu mehr seelischer Freiheit, Individualität und Selbstentfaltung aufzumachen.
Wie das gelingen kann, zeigt der renommierte Psychologe und Menschenkenner Peter Lauster in diesem Ratgeber. Er entfaltet tiefenpsychologische Zusammenhänge, lenkt den Blick auf die »acht Lebenslügen«, die oft zu Manipulation in Erziehung, Partnerschaft und Berufsleben führen und bietet praktische Anleitungen, um solcher Beeinflussung mutig zu trotzen.
Über den Autor:
Peter Lauster wurde in Stuttgart geboren und studierte nach dem Abitur Psychologie, Philosophie, Kunst und Anthropologie an der Universität Tübingen. Im Januar 1971 begann er die freiberufliche Tätigkeit in eigener Praxis als beratender Psychologe und Buchautor. Seine psychologischen Sachbücher wurden in zwanzig Sprachen übersetzt. Die deutsche Gesamtauflage seiner Bücher beträgt über 5 Millionen.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor »Liebe – Psychologie eines Phänomens«, »Lassen Sie sich nichts gefallen«, »Selbstbewusstsein: Sensibel bleiben – selbstsicher werden«, »Wege zur Gelassenheit« und »Ausbruch zur inneren Freiheit« (dieser Titel ist auch als Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich).
Die Website des Autors: peterlauster.de/
Der Autor bei Facebook: facebook.com/peter.lauster
Das Diskussionsforum des Autors: peterlaustercommunity.de
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eBook-Neuausgabe Oktober 2024
Dieses Buch erschien bereits 1976 im Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und Wien
Copyright © der Originalausgabe 1976 Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und Wien
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von eines Bildmotivs von shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-417-0
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Peter Lauster
Lassen Sie sich nichts gefallen
Die Kunst, sich durchzusetzen
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»Unsere Gedanken und Einsichten sind im besten Fall Halbwahrheiten, mit sehr viel Irrtum untermischt, zu schweigen von den unnötigen falschen Informationen über das Leben und die Gesellschaft, denen wir beinahe von Geburt an preisgegeben sind.«
Erich Fromm
Dieses Buch ist erstmals im Herbst 1976 als Econ-Sachbuch erschienen. Für die neue Taschenbuchausgabe habe ich es nochmals durchgesehen und kann sagen, es hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt; es ist das »Basisbuch«, auf dem meine später erschienenen Bücher aufbauen.
Weil der Titel vieldeutig ist, möchte ich gleich zu Anfang klären, dass keinem autoritären »Ellenbogenegoismus« das Wort geredet wird. Die Absicht des Buches besteht in der Aufdeckung der Schädlichkeit von als selbstverständlich angenommenen »Lebensregeln«. Der Anfang des Buches ist deshalb den von Anna Freud erstmals beschriebenen »Abwehrmechanismen« der Seele gewidmet, die einer oberflächlichen Angstbewältigung dienen und Lebenslügen fördern. Dieses falsche »Durchsetzungsverhalten« führt nur immer tiefer in die Selbstunterdrückung und in seelische Konflikte. Ich möchte meinen Lesern Mut machen, sich bewusster in Beruf und Alltag zu mehr seelischer Freiheit, Individualität und Selbstentfaltung aufzumachen.
Köln, August 1985
»Denn die Gefährdung der heutigen Menschheit entspringt nicht so sehr ihrer Macht, physikalische Vorgänge zu beherrschen, als ihrer Ohnmacht, das soziale Geschehen vernünftig zu lenken.«
Konrad Lorenz
Die Wissensexplosion ist für den Normalbürger nicht mehr zu bewältigen. Selbst der Fachmann kann sämtliche Neuerscheinungen auf seinem Fachgebiet nicht mit normaler Lesegeschwindigkeit aufarbeiten.
Das Wissen verdoppelte sich von 1800 bis 1900 in nur 100 Jahren, von 1900 bis 1950 in fünfzig Jahren und von 1950 bis 1960 in nur zehn Jahren, schließlich verdoppelte es sich erneut von 1960 bis 1966 in nur sechs Jahren. Ein Student, der 1960 sein Studium aufnahm, stand nach Abschluss seines Examens 1966 vor der doppelten Wissensmenge als bei Studienbeginn. Kein Wunder, dass die meisten Akademiker vor interdisziplinärer Betrachtungsweise zurückschrecken und sich resignierend in die Laufbahn des Fachidioten schicken.
Das Wissen ist natürlich nicht in allen Fachgebieten mit gleicher Geschwindigkeit explodiert. So gut wie stagniert hat zum Beispiel die Wissenschaft der experimentellen Ästhetik, die von Gustav Theodor Fechner 1871 in Leipzig begründet wurde.1 Die experimentelle Psychologie, die etwa zur gleichen Zeit ihre Forschungsarbeit aufnahm, hat sich dagegen wesentlich dynamischer entfaltet. Im Vergleich zur Psychologie entwickelten sich jedoch wiederum die Naturwissenschaften, Physik und Chemie in unvergleichlich rasanterem Tempo.
Der Grund für die verschiedenen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Wissenschaften liegt nicht darin, dass die Forscher an Ästhetik weniger Interesse hätten als an physikalischen Problemen der Thermodynamik, sondern am subjektiven Karrierefeeling. Für Untersuchungen zur ästhetischen Wirkung des »goldenen Schnitts« gibt es keine Forschungsmittel, weder der Staat noch die Industrie schenken anerkennende Aufmerksamkeit und Beachtung. Anders verhält es sich beispielsweise bei dem zufällig herausgegriffenen Gebiet der Strömungslehre; hier fließen eher Forschungsmittel für den Forscher, zeichnen sich Aufstiegschancen ab, letztendlich winkt ihm der Nobelpreis.
Aus meiner Tübinger Studentenzeit (1961 bis 1968) ist mir noch gut eine Bemerkung von Professor Wilhelm Witte in Erinnerung aus seiner Vorlesung über psychologische Optik: »Ein Psychologe soll alles können, nur eines kann er nicht, den Nobelpreis gewinnen.« In dieser Vorlesung saßen 1962 etwa 30 bis 40 Studenten. Ein Numerus clausus war nicht nötig. »Was studierst du? Psychologie? Was willst du denn damit später einmal machen?«, fragten mich Studenten anderer Fakultäten mit mitleidigem Unterton. Die Frage wurde meist mit dem Rat ergänzt: »Wenn du noch Volkswirtschaft studierst oder Medizin, ist das eine gute Kombination, aber sonst ...«
1: Die Explosion des Wissens von 1800 bis 1966
Psychologie war noch 1962 im Bewusstsein der Studenten und der Bevölkerung eine brotlose Kunst. Mittlerweile hat sich die Wissenschaft von der Seele jedoch verstärkt durchgesetzt, mehr Forschungsmittel stehen zur Verfügung, die Stellenanzeigen nahmen zu, auf vier ausgeschriebene Positionen kommt heute etwa ein Bewerber. Mit diesen Veränderungen stieg natürlich die Zahl der Psychologiestudenten an, und heute bestehen Zulassungsbeschränkungen an jeder Universität.
Die Ästhetik stagniert noch immer. Für diese Wissenschaft gibt es auch 100 Jahre später kaum mehr Subventionen als 1870 zur Zeit von Gustav Theodor Fechner.
Die Ausgaben des deutschen Forschungsministeriums 19732:
Mio. DM
1014,980: Energieforschung und Technologie
588,698: Einrichtungen und Vorhaben der Weltraum-Luftfahrtforschung und -Technik
542,600: Naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung
445,546: Datenverarbeitung, Nachrichten, Technologie und Dokumentation
311,965: Allgemeine Forschungsförderung
247,570: Trägerorganisationen der allgemeinen Forschungsförderung MPG/FHG
136,990: Einrichtungen und Vorhaben im Bereich von Biologie, Ökologie und Medizin
84,570: Neue Technologien im Bereich des Verkehrs und der kommunalen Ver- und Entsorgung
64,745: Technologien in Schlüsselbereichen, Roh-, Grund- und Werkstoffe, chemische Forschung
40,250: Meeresforschung und Meerestechnik (ohne Meeresbiologische Anstalt Helgoland)
9,875: Sozialwissenschaftliche Einrichtungen
6,900: ESO
0,846: IMT
Sozialwissenschaftliche Einrichtungen stehen an drittletzter Stelle. An den ersten Stellen liegen, wie nicht anders zu erwarten: Energieforschung und Technologie, Einrichtungen und Vorhaben der Weltraum-, Luftfahrtforschung und -Technik, naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung.
Diese Forschungsgewichtung muss sich in den nächsten Jahren ändern. Die sozialwissenschaftliche, sozialpsychologische und psychotherapeutische Forschung muss intensiviert werden. Was nützt uns eine weitere Explosion des naturwissenschaftlichtechnischen Wissens, wenn die Städte unwirtlicher werden, die Umwelt weiter verschmutzt, die Ökologie durcheinander gerät, die Neurosen und psychosomatischen Symptome anwachsen und das Leben an Qualität verliert. Die Technologieförderung muss neu überdacht werden und in Richtung »soft technology« gehen. Wir brauchen zusätzlich eine »Technologie des Verhaltens«, wie auch der amerikanische Psychologe B. F. Skinner vorschlägt, allerdings nicht in seinem behavioristischen Sinne.
Die Länder dieser Erde geben pro Jahr etwa 200 Milliarden Dollar für die Rüstung aus. Nur zehn Prozent dieser Summe (20 Milliarden) würden ausreichen, um die Forschung für die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu realisieren. Damit könnte die atomare Kriegsgefahr vermindert und schließlich sogar unmöglich gemacht werden. Was hindert uns daran?
Es wurde bisher nur an der Erweiterung des physikalischen Weltbildes gearbeitet. Das psychische und soziale Weltbild galt im Vergleich dazu als unwichtig. Diese antiquierte Vorstellung muss revidiert werden, denn nur über die Erweiterung des psychosozialen Weltbildes ist die Selbstvernichtung des Menschen aufzuhalten.
Wohin wird die Psychologie nach Meinung von fünfzig britischen Psychologen nach einer futurologischen Prognose gehen? Sie sind der Ansicht, dass die Sozial- und Personalpsychologie am stärksten wachsen wird, und sie erwarten gegen Ende dieses Jahrhunderts einen großen Erkenntnisdurchbruch in der Neurophysiologie und der damit verbundenen Herstellung von Psychodrogen.
Bis 1987 sagen die englischen Psychologen wichtige Erkenntnisse auf dem Gebiet der Verhaltenskontrolle und neue Techniken der Selbstmanipulation voraus. Die Psychologie wird nach ihrer Vorausschau insgesamt praxisorientierter und vor allem wird sie stärkeren Einfluss auf die Erziehung nehmen.
Besonders interessant ist der Hinweis der Futurologen auf das Wachstum der Sozialpsychologie und der Personalpsychologie. Das heutige Weltsystem ist ohne mehr Wissen über soziale Prozesse und Konfliktverhalten nicht mehr zukunftssicher zu steuern. Die Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft muss in eine Kooperations- und Teamgesellschaft übergeführt werden. Die Sehnsucht der Menschen nach Solidarität, Statusangleichung und mehr Gleichwertigkeit lässt sich nicht mehr lange unterdrücken.
Am Beginn ihrer Entwicklung hatte es die europäische Naturwissenschaft schwer, ihre Erkenntnisse und »Wahrheiten« offen auszusprechen und zu verbreiten. Der italienische Renaissance-Denker Giordano Bruno wurde in Rom im Februar des Jahres 1600 als Ketzer verbrannt, weil er behauptete, dass die Erde im Kosmos nur ein Stäubchen unter anderen Stäubchenwolken ist. Zu dieser Zeit war der Begründer der experimentellen Physik, Galileo Galilei, 36 Jahre alt. Er konstruierte sechs Jahre später ein Fernrohr und entdeckte Mondberge, Jupitermonde und Sonnenflecken. Wegen seiner Bekenntnisse zum heliozentrischen Weltbild (die Erde kreist um die Sonne, nicht umgekehrt) wurde er 1616 von der Kirche zum Schweigen verurteilt. Dem eitlen Selbstbild des Menschen fügte er die Kränkung zu, nicht im Mittelpunkt des Kosmos zu leben; diese Wahrheit wollte man verbieten und unterdrücken.
Galilei wurde wegen dieser Kränkung der damaligen Mächtigen der Ketzerei beschuldigt und schwor in Rom 1633 vor einem Inquisitionsgericht von seiner Erkenntnis ab, obwohl er überzeugt war, dass seine Auffassung richtig war: Und sie bewegt sich doch.
Die zweite große Kränkung wurde der Menschheit durch den englischen Naturforscher Charles Darwin 1859 zugefügt mit der Entdeckung, dass der Mensch auf dieser Erde kein Sonderwesen darstellt, sondern stammesgeschichtlich mit den Tieren in einem Verwandtschaftsverhältnis steht, das zu den Menschenaffen besonders nahe ist. Auch hier vermischte sich wieder die Kollision mit religiösen Anschauungen und einer eitlen Selbstüberschätzung des Menschen: Ich bin ein Sonderwesen, das weit über tierischen Arten steht und mit ihnen in keiner Weise vergleichbar ist.
Für die dritte große Kränkung der Menschheit sorgte der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud, als er in seinen Büchern Anfang dieses Jahrhunderts dem Menschen sagte, dass er »nicht Herr im eigenen Haus« ist, sondern sein Verhalten von unbewussten Motiven und Trieben aus der Tiefe seiner Seele beeinflusst wird. Freud wurde von seinen Zeitgenossen heftig attackiert, des wertblinden Materialismus und pornographischer Tendenzen bezichtigt. Seine Bücher wurden von den Nationalsozialisten verboten und im Mai 1933 in Berlin (Freud ist 77 Jahre alt) verbrannt. Der Aggressionsforscher Konrad Lorenz äußerte sich zu diesen versuchten Unterdrückungen der Wahrheit recht aggressiv: »Die Menschheit verteidigt ihre Selbsteinschätzung mit allen Mitteln, und es ist wahrlich am Platze, Humilitas zu predigen und ernstlich zu versuchen, die hochmütigen Hemmnisse der Selbsterkenntnis in die Luft zu sprengen.«3
Die Unterdrückung der Wahrheit sollte die glorifizierte Selbsteinschätzung des Menschen und seiner einzigartigen Welt nicht ins Wanken bringen. Die Unterdrückung der Wahrheit geschieht in der Psyche jedes Menschen in der Form von Abwehrmechanismen, damit seine persönliche Selbsteinschätzung nicht in Frage gestellt wird. Über diese Angst vor der Wahrheit berichtet ausführlich das nächste Kapitel.
Die Naturwissenschaften, besonders die physikalische und technische Richtung, haben eine explosionsartige Wissensentwicklung hinter sich gebracht. Heute bestehen für die Physiker alle Freiheiten, neue physikalische Weltbilder nach Belieben zu entwerfen. Das Kapital setzt allerdings die Prioritäten.
Allein die Wachstumsrate der Energie zeigt, welches Energiepotenzial die Physik der Menschheit zur Verfügung stellte. Die frühen Windmühlen entwickelten etwa 10 PS, Watts erste Dampfmaschine (1765) entwickelte bereits 100 PS, die spätere Dampfmaschine (1850) schon 10 000 PS und die Rakete (1955) etwa 1 000 000 PS. Heute bauen wir Atomkraftwerke mit 1200 Megawatt elektrischer Leistung (umgerechnet 1 600 000 PS), genug, um zum Beispiel eine Stadt wie Hamburg mit Strom zu versorgen – und die Atombomben, um die Weltbevölkerung auszurotten und den Erdball einzuebnen. Interessanterweise wurde zuerst die Bombe entwickelt und erst später das Atomkraftwerk. Seit einigen Jahren ist das zweite Atomzeitalter angebrochen: die Verbreitung atomarer Technologie über die bisherigen Atommächte hinaus. Bis 1985 werden bis zu zwanzig Staaten über eigene Atombomben verfügen. In etwa vierzig Ländern werden Atomkraftwerke stehen. Der nukleare Flaschengeist hat den Korken gesprengt und kommt heraus.
Die Physik hat diesen phantastischen Aufschwung erlebt, weil mit der Anwendung physikalischer Erkenntnisse Geld zu verdienen war. Die Vermarktung ermöglichte die industrielle Revolution, und damit brach das Industriezeitalter mit seinen materiellen Vorteilen für die breite Bevölkerung und vor allem für die Unternehmer an. Der allgemeine Wohlstand stieg, die Arbeitszeit wurde verringert (in den vergangenen zwanzig Jahren um zehn Wochenstunden), den Armen ging es besser, und die Reichen wurden noch viel reicher (Einkommensschere).
Das Nettosozialprodukt betrug pro Kopf und Jahr in Mark (umgerechnet in Preise von 1962)4:
Bei diesen Erfolgen des physikalisch-technischen Fortschritts ist es kein Wunder, dass Naturwissenschaftlern alle Forschungsmittel, die sie wollten, gegeben wurden und ihrer Arbeit absolute Priorität eingeräumt wurde. Kein Wunder auch, dass sich nun ihr Denken frei entfalten durfte und mehr Offenheit herrschte. Keine Beschränkungen, weder finanzieller noch ethischer Art, begrenzten die physikalische Wissensexplosion der letzten siebzig Jahre.
Seit kurzer Zeit mehren sich jedoch die kritischen Stimmen, und es werden Fragen laut: Ersticken wir am Fortschritt? Muss die wissenschaftliche Hybris gezähmt werden? Soll der Fortschritt in Bahnen gelenkt oder gar in seinem Tempo reduziert werden? Sind die Zauberlehrlinge in den Laboratorien ratlos? Haben wir ein »Selbstmord-Programm« entfesselt?
Der »Club of Rome«, ein Verein von Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern, beauftragte ein Team des Massachusetts Institute of Technology (MIT), eine Hochrechnung über unsere Zukunft nach dem heutigen Stand der Entwicklung mit dem Computer zu erstellen. Das Ergebnis war der Aufsehen erregende und umstrittene Bestseller »Grenzen des Wachstums« mit dem Ergebnis: Falls das Wachstum nicht bis 1985 gestoppt wird, gerät die Welt in eine Katastrophe, die unsere Zivilisation tödlich gefährdet. Einige Jahre später (1974) erschien die zweite »Club of Rome«-Studie mit dem mahnenden Titel: »Menschheit am Wendepunkt«.
Die janusgesichtige Situation, einerseits mehr Wohlstand und Bequemlichkeit für die Menschheit, andererseits die atomare und ökologische Gefahr, führt zu der Frage, ob die destruktive Seite der Technik tatsächlich zu ihrem Wesen gehört oder ob es nicht viel mehr die ökonomischen und politischen Egoismen sind, die zu der Situation geführt haben. Die Technik ist so human oder inhuman wie der Mensch, der sie anwendet. Die Entscheidung über die Anwendung treffen jedoch nicht die Naturwissenschaftler, sondern eine winzige Machtelite von Unternehmern, Wirtschaftlern, Militärstrategen und Politikern. Tausende von Wissenschaftlern stehen der Anwendung ihrer Erfindungen ziemlich hilf- und machtlos gegenüber, weil sie sich von Staatsbudgets und Firmengeldern verlocken ließen. Sie haben sich verkauft, ihre Entdeckungen gehören nicht ihnen, sondern dem Kapitalgeber – sie können also nur Ratschläge erteilen, aber keine Entscheidung treffen.
Wir erlebten ein uneingeschränktes Wachstum der Technologien, der Wirtschaft und des allgemeinen Wohlstandes. Dies ist die positive Seite der bisherigen Zivilisationsentfaltung. Das Wissen über individual- und sozialpsychologische Zusammenhänge ist jedoch nicht mit gleicher Geschwindigkeit mitgewachsen. Das Wissen über die Psyche hinkt weit hinterher, weil ihrer Erforschung in der technischen Expansionsphase leider wenig oder gar keine Beachtung geschenkt wurde.
Trotz der Zunahme des Wohlstandes und mehr sozialer Sicherheit (manche Kritiker glauben, wir hätten bereits zu viel Sozialstaat) sind die psychischen Störungen und Krankheiten nicht zurückgegangen, sie stagnierten nicht einmal, sondern nahmen erheblich zu.
2: Das zurückgebliebene Wissen über psychische Zusammenhänge
Der Nervenarzt Prof. Dr. Kurt Heinrich (von der Neuropsychiatrischen Klinik Mainz) schätzt, dass jeder dritte Patient, der die Praxis eines Allgemeinmediziners aufsucht, auch in psychiatrische Behandlung gehört.5 Ein Anästhesist erzählte mir aus seiner täglichen Praxis im Operationssaal, dass 50 Prozent aller operierten Patienten keinen organischen Befund aufweisen und als »psychische Fälle« gelten können.
Das niedersächsische Sozialministerium gab Anfang 1973 eine Statistik heraus, nach der rund zehn Millionen Einwohner der Bundesrepublik an seelischen Störungen leiden, die behandelt werden müssen.6 (In der Bundesrepublik leben etwa zweiundsechzig Millionen Menschen, Kleinkinder und Pensionäre eingeschlossen.)
Darüber hinaus leiden etwa zwei Millionen der Bevölkerung an einer Geistes- und Gemütskrankheit und sind aus diesem Grund berufs- und arbeitsunfähig.7 Etwa 100 000 dieser Patienten werden stationär in Nervenheilanstalten behandelt. Die psychiatrische Betreuung ist meist völlig unzureichend, und die Anstalten sind total überbelegt. Oft sind bis zu sechzig Patienten in einem Schlafsaal untergebracht. Die Missstände in der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung würden ein Buch füllen, sie können jedoch hier nur kurz angedeutet werden, um vom Thema nicht abzukommen.
Die Zahl der Aufnahmen in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern steigt ständig. Sie hat sich in dem Erfassungszeitraum von 1956 bis 1970 verdoppelt.8
Vor allem die Aufnahme mit der Diagnose »Alkoholismus« nahm stark zu – von 1956 bis 1971 um etwa 480 Prozent9. Die meisten Patienten der Anstalten leiden unter Schizophrenie (50,4 Prozent), Schwachsinn (11 Prozent), Alkoholismus (9,4 Prozent) und manisch-depressiver Gemütskrankheit (3,9 Prozent).
3: Die Saat ist aufgegangen
4: Jährliche Aufnahmen in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern
Die Patienten in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern sind jedoch nur die winzige Spitze eines Eisbergs des psychischen Elends, sie sind die ganz schweren Fälle psychischer Erkrankung (Psychosen, Geistes- und Gemütskrankheiten). Eine umfassende ambulante psychiatrische Betreuung der Bevölkerung ist nicht möglich, da in der Bundesrepublik nur etwa 1200 Psychiater (Nervenärzte) mit eigener Praxis niedergelassen sind. In anderen Ländern ist die Zahl der Psychiater pro Einwohner nicht viel höher, teilweise wesentlich geringer.
Aber noch viel schlechter steht es mit der Versorgung von zehn Millionen psychisch gestörten Patienten, die zwar an keiner Geistes- und Gemütskrankheit leiden, aber an psychosomatischen
Symptomen (zum Beispiel Magen- oder Zwölffingerdarm-Geschwür, Herzneurose, Migräne) oder an einer Neurose. Für ihre Versorgung stehen in der Bundesrepublik (wie auch in anderen europäischen Ländern) etwa 600 bis 1000 Psychotherapeuten und Psychologen mit freier Praxis zur Verfügung. Auf einen Psychotherapeuten kommen also etwa 10 000 potenzielle Patienten. Im Vergleich dazu schneidet die medizinische Versorgung gut ab; ein Kassenarzt betreut etwa 1350 Bürger. Ein Psychotherapeut kann jedoch pro Tag nur maximal sechs Patienten jeweils eine Stunde Behandlungszeit widmen, das sind nur dreißig verschiedene Patienten pro Woche.
Eine orthodoxe Psychoanalyse dauert durchschnittlich drei bis fünf Jahre. Also kann ein Psychoanalytiker nur an dreißig Patienten alle drei bis fünf Jahre eine abgeschlossene psychoanalytische Behandlung vollbringen. In seinem Arbeitsleben kann er, wenn er dreißig Jahre praktiziert, an etwa 100 Patienten die Psychoanalyse durchführen. Es fehlen also grob gerechnet mindestens 50 000 bis 100 000 Psychoanalytiker. Häufig ist jedoch eine so langwierige Behandlung wie die Psychoanalyse nicht nötig, um einem psychisch erkrankten Patienten zu helfen. Es gibt heute zeitökonomischere Methoden wie die Gesprächstherapie, die Verhaltenstherapie, die Gruppentherapie, die Gestalttherapie und die aufklärende psychologische Beratung. Aber auch für diese kürzeren Therapieformen fehlen etwa 50 000 Psychotherapeuten, um die nötige Versorgung der Bevölkerung zu leisten.
Trotz dieser krassen Unterversorgung wird für die Ausbildung weiterer Psychotherapeuten nicht mehr als im bisher üblichen Rahmen getan. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die praktischen Ärzte haben kein Interesse daran, die Zusatzausbildung zum Psychoanalytiker oder Psychotherapeuten zu absolvieren, weil das für sie erstens drei bis vier Jahre aufgeschobener Verdienst bedeutet und weil mit einer psychotherapeutischen Praxis niemals ein Jahresumsatz von 150 000 bis 250 000 DM zu erzielen ist.
Bei der derzeitigen geringen Psychotherapeutenzahl sind die Therapeuten mit Patienten gut ausgelastet; manche haben sogar Wartezeiten bis zu mehreren Monaten. Die meisten sind Privatpatienten aus der Mittel- und Oberschicht, die ein Stundenhonorar von 60 bis 150 DM aus eigener Tasche bezahlen und diese Kosten steuerlich absetzen können. Die Krankenkassen machen große Schwierigkeiten bei der Erstattung der Kosten der psychotherapeutischen Behandlung. Sie wissen genau, dass sie die Beiträge ins Unermessliche erhöhen müssten, wenn die breite Bevölkerung die Psychotherapie entdecken würde. Es ist für die Kassen und letztlich auch für den Beitragszahler ökonomischer, wenn er sich mit Psychopharmaka zufrieden stellen lässt, obwohl das natürlich für seine psychische Gesundheit nicht besser ist. Auf diese Problematik wird noch näher eingegangen.
Das psychische Massenelend (zehn Millionen sind psychisch gestört) ist nur sehr grob geschätzt, es ist in Wirklichkeit noch viel größer, wenn das diffuse Problemfeld der Minderwertigkeitsgefühle, Nervosität und Verstimmbarkeit mit einbezogen wird. Amerikanische Psychologen haben in Testuntersuchungen festgestellt, dass in den USA jeder Zweite sich schüchtern und gehemmt fühlt.10
Nach meiner eigenen Erfahrung leiden weit über fünfzig Prozent der Bevölkerung der westlichen Industrienationen an Störungen ihres Selbstwertgefühls und würden gerne psychisch freier und selbstbewusster ihre individuelle Persönlichkeitsstruktur entfalten. Aus diesem Grund fühlte ich mich motiviert, dieses Buch zu schreiben. Es soll dem Leser helfen, seine psychische Blindheit langsam und schrittweise abzubauen und den Selbstfindungsprozess anzuregen.
Der Psychologie sollten im Moment keine Vorwürfe gemacht werden, denn sie ist erstens noch eine junge Wissenschaft, die sich zweitens mit der Beschaffung des Forschungskapitals, wie bereits angedeutet, schwer tut. Die Prioritäten sind (noch) anders gesetzt, weil mit Technologie direkt Gewinne zu erzielen sind. Mit psychologischen Forschungsergebnissen lässt sich nicht unmittelbar ein Geschäft machen. Deshalb haben bisher weder die Unternehmer noch die Politiker in individual- und sozialpsychologische Therapieforschung Kapital investiert. Der Staub des Mondes erscheint eben wichtiger als der Angstschweiß eines Erstklässlers in der Rechenstunde.
Der renommierte Verhaltensforscher und ehemalige Lorenz-Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt klagte 1973 zu Recht in einem Spiegel-Essay11: »Wir schießen Sonden zum Mars und lassen Bilder zur Erde funken, aber wie man mit dem Nachbarn zusammenlebt, das lösen wir offenbar nicht so leicht.« Die Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, wären jedoch gegeben, wenn die Verhaltensforschung und die Psychologie ein gleich hohes Forschungsbudget hätten wie die Weltraumforschung.
Recht bescheidene Forschungsmittel (im Vergleich zur Physik und Chemie) pumpte die Industrie in den letzten Jahren in die angewandte Betriebspsychologie (optimalere Ausnützung der menschlichen Arbeitskraft), Werbepsychologie (Manipulation des Konsumenten), Verkaufspsychologie (Schulung des Verkaufspersonals, um den Absatz zu steigern) und Testpsychologie (Auslese der optimalen Bewerber). Letztendlich geht es hierbei um den Faktor Mensch nur im ökonomischen Sinn als Arbeitskraft und Konsument, es geht um Leistungssteigerung und auch hier wieder um Gewinnmaximierung.
Für die individualpsychologische, therapeutische Forschung und die sozialpsychologische Überwindung der bestehenden Blindheit steht kein Kapital zur Verfügung, weil es der Industrie (nach der konventionellen Meinung) nicht direkt eine konkrete ökonomische Effizienz bringt. Als nützlich gilt die Kreativitätsförderung und Persönlichkeitsschulung (imponierend selbstsicheres Auftreten im beruflichen Bereich) und die sozialpsychologische Forschung über anpassungsbereite Teamfähigkeit. Gezielte Forschungsergebnisse dieser Art werden finanziert und begierig in das System integriert.
Der psychologischen Forschung stehen die Industrie und der Staat (Universitätsbetrieb) jedoch sofort abwehrend gegenüber, wenn sozialpsychologische Untersuchungen das bestehende Konkurrenz- und Leistungssystem ankratzen, wenn Unterdrückungsmechanismen aufgezeigt werden und das individuelle psychische Leiden auf die bestehenden sozialen Systemverhältnisse zurückgeführt wird. Aufdeckung und Aufklärung dieser Art wird nicht gewünscht und deshalb auch finanziell nicht unterstützt, denn psychische Blindheit soll gerade hier weiter erhalten bleiben.
Wir haben heute in der Psychologie unter den Psychologen und Psychotherapeuten deshalb zwei verschiedene Einstellungen. Der größeren und mächtigeren Psychologen- und Psychotherapeutengruppe geht es primär nicht um die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern um die »wertneutrale« Betrachtung der Motive des Handelns und des Verhaltens. So warnt »Info-Psychologie-aktuell«, ein Informationsdienst für Psychologiestudenten, über das Wintersemester 1975/76 vor dem Studienmotiv »Psychologie als Gesellschafts- oder Systemtherapie«. Und ironisch heißt es, Psychologen erwecken »manchmal den Verdacht (die Hoffnung), mittels Psychologie spät-kapitalistische Gesellschaftsstrukturen aufzuweichen und früh-paradiesische Strukturen inszenieren zu können«.
Warum wird davor gewarnt, die Psychologie auch unter dem Aspekt der Hilfe für eine Gesellschaftstherapie zu verstehen? Weil der Student sehr rasch erkennen muss, dass die Psychologie, die an der Hochschule gelehrt und praktiziert wird, dieses Ziel nicht ansteuert. Die Psychologie hat sich voll in den Dienst seines Kapitalgebers zu stellen und zu erforschen, was ihm nützt – für andere Forschungen steht kein Geld zur Verfügung, weil hier die Blindheit weiter bestehen soll.
Die Lage der Psychologie kennzeichnet ein Aphorismus von George Bernard Shaw: »Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an, der unvernünftige versucht, die Welt sich ihm anzupassen. Daher hängt aller Fortschritt von den Unvernünftigen ab.« Es ist zu hoffen, dass in Zukunft möglichst viele Psychologen »unvernünftig« sind und die Warnung vor dem Studienmotiv »Psychologie als Gesellschafts- oder Systemtherapie« missachten.
»Seine (des Menschen) nächste Aufgabe ist dann, das von der Abwehr Geleistete wieder rückgängig zu machen, das heißt, das durch Verdrängung Ausgelassene zu erraten und wieder einzufügen, das Verschobene zurechtzurücken, das Isolierte wieder zu verbinden.«
Anna Freud
Um die menschliche Psyche besser zu verstehen, ist das Studium des dynamischen Strukturmodells der Persönlichkeit von Sigmund Freud unerlässlich. Die Kenntnis des innerseelischen Kräftespiels führt zu Freuds provozierender und noch heute gültiger Schlussfolgerung, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist.
Anna Freud, die Tochter des Begründers der Psychoanalyse, setzte das Werk ihres Vaters auf dem Gebiet der Ich-Psychologie und der Dynamik der Abwehrmechanismen konsequent fort. Sie veröffentlichte einundvierzigjährig 1936 (ihr Vater war bereits 80 Jahre alt, drei Jahre zuvor wurden seine Werke verbrannt) das bis heute grundlegende Buch über »das Ich und die Abwehrmechanismen«12, das 1973 als Taschenbuch die achte Auflage erreichte und heute zur Standardliteratur der Psychoanalyse zählt.
Sigmund Freuds Instanzen-Modell der Psyche (Es, Ich, Über-Ich) gehört mittlerweile zur Allgemeinbildung der bildungsbürgerlichen Mittelschicht und Oberschicht und soll hier nochmals kurz skizziert werden, um die für unser Thema daraus ableitbaren Schlussfolgerungen leichter verständlich zu machen.
Freud unterscheidet innerhalb der Psyche drei Instanzen, die auf das Verhalten des Menschen Einfluss nehmen, das Es (mit unbewusstem Triebbereich des Sexual- und Aggressionstriebs), das Ich (Basis für überlegtes Handeln) und das Über-Ich (mit übernommenen Moralvorstellungen und der Gewissensfunktion).
Das Ich übernimmt die zentrale Vermittlerposition im Kräftespiel der Forderungen von Umwelt, Über-Ich und Es. Das Ich wird also von drei Seiten beeinflusst, wie die Grafik schematisch verdeutlicht:
5: Drei Kräfte wirken auf das Ich
Das Ich wird vom Es getrieben (die Sexualität fordert Befriedigung), vom Über-Ich eingeschränkt (die Moral verbietet zum Beispiel eine sofortige Befriedigung) und von der Realität gelockt, aber auch blockiert. In diesem dreiseitigen Kräftespiel ringt das Ich um Harmonie und seelische Balance.
Schwer durchschaubar ist dieser innerseelische Prozess für den Einzelnen deshalb, weil nach der großen Entdeckung von Freud die Impulse aus dem Es und Über-Ich teilweise unbewusst sind, der Mensch also oft keine Klarheit darüber hat, warum er so und nicht anders handelt. Das bedeutet nicht, dass er wie ein ungesteuertes Schiff durch das Meer des Lebens segelt, da er ja von den Forderungen der Realität und den schwer durchschaubaren Normrichtlinien des Über-Ich sehr wohl gesteuert wird.
Wenn das Ich in dem innerseelischen Kräftespiel schwach ist und einem der beiden anderen Instanzen (dem Es oder Über-Ich) unterliegt, können seelische Störungen, Neurosen und Psychosen entstehen. Siegt zum Beispiel das Es über das Ich und kann sich auch das moralische Über-Ich nicht behaupten, dann wird der Mensch haltlos und unbeherrscht, da er sowohl seinen sexuellen Impulsen wie auch seinen aggressiven Wünschen (die nach Freud triebhaft sind, diese These ist jedoch zu Recht umstritten) freien Lauf lässt und auf diese Weise in Kollisionen mit seiner Umwelt gerät.
Siegt jedoch das Über-Ich über das Ich, wird der Mensch von den Normen und Moralvorstellungen seiner Erziehung (Autoritätspersonen) dermaßen beherrscht, dass er zwanghaft angepasst lebt und ihm von dieser Norm abweichende Impulse aus seiner Psyche Angst machen. Aus Angst vor seinen aggressiven und sexuellen Impulsen entwickelt er die verschiedenen Abwehrmechanismen, um damit besser seine Triebimpulse und Wünsche zu unterdrücken und zu hemmen.
Abwehrmechanismen sind zwar in unserem Kulturkreis bei jedem Menschen zu beobachten, sie sind jedoch bereits erste Symptome einer seelischen Erkrankung. Der so häufige Versuch, Impulse aus dem Es völlig zu unterdrücken, muss zwangsläufig in die Neurose führen. Diesem Prozess möchte dieses Buch auf die Spur kommen, und es soll die Frage geklärt werden, ob wir die Abwehrmechanismen wirklich brauchen oder ob dieser Selbstbetrug gestoppt werden kann.
Zunächst muss die Struktur des unbewussten Abwehrprozesses in der Psyche aufgeklärt und bewusst gemacht werden. Durch diesen Lernprozess des Bewusstseins wird der erste Schritt erreicht, um aus dem Abhängigkeitsverhältnis von den seelischen Instanzen (Es, Über-Ich) herauszufinden und mehr Offenheit und Ehrlichkeit wirken zu lassen.
Die meisten Menschen glauben zu wissen, was sie tun, und sie verteidigen ihre Handlungen mit Redewendungen wie: »Das ist eben so. So ist der Mensch, keiner kann aus seiner Haut. Das steckt eben im Menschen drin, da kann man nichts machen.«
Durch die Aufklärungsarbeit der Psychoanalyse, Psychologie, Anthropologie, Soziologie und vergleichenden Verhaltensforschung wurde das menschliche Verhalten transparenter gemacht. Zum Vorteil des Individuums und der Gesellschaft hat sich leider bisher trotzdem noch nicht viel verändert.
Es wurde sehr viel neues Wissen über die Sexualität, Aggression und Erziehung erarbeitet. Zum Beispiel ist längst geklärt und auch popularisiert, dass die autoritäre Erziehung einen autoritären, autoritätsgläubigen Menschentyp heranbildet, mit den viel zitierten allgemeinen negativen Folgen. Es ist bekannt, dass Lob ein besseres Erziehungsmittel als Strafe ist, weil zum Beispiel Frustrationen unter anderem Aggressionen erzeugen. Trotzdem erziehen die meisten Eltern ihre Kinder nach wie vor strafend und autoritär. Sie tun nicht, was sie wissen! Dem Wissen fehlt das praktische Verstehen, das nicht stattfindet, solange dieses Wissen nicht täglich auch praktisch erlebt wird. Und täglich wird eben der autoritäre Stil durchlebt, von den Eltern in gesellschaftlichen Alltagssituationen, im Beruf und in den Verwaltungsinstitutionen. Sie wagen nicht zu tun, was sie wissen, aus Angst vor der Triebstärke und den Sanktionen der Realität. Und vor allem: Das Über-Ich erzwingt seine Forderungen mit großer Härte.
Anna Freud hat zehn Abwehrmechanismen analysiert, die teilweise in den folgenden Abschnitten ausführlicher erklärt und diskutiert werden. Diese Abwehrmechanismen sind die Introjektion, die Projektion, die Wendung gegen die eigene Person, die Verdrängung, die Regression, die Reaktionsbildung, die Isolierung, das Ungeschehenmachen und die Sublimierung, die jedoch nicht nur als Abwehrmechanismus interpretiert wird, sondern auch als eine Leistung der gereiften Persönlichkeit gilt.
Diese durch Anna Freud schon klassisch gewordenen Abwehrmechanismen können erweitert werden durch die Betäubung, die Abschirmung, die Verleugnung, das Rollenspiel, die Gefühlspanzerung, die Blockierung und die Ohnmachtserklärung. Auch die Erweiterung führt noch zu keiner vollständigen Liste der Abwehrtechniken des Ich. Es werden in Zukunft neue Abwehrtechniken entdeckt werden, wenn sich die Gesellschaft verändert und dadurch neue Techniken provoziert werden, denn die Abwehrmechanismen sind gesellschafts- und kulturabhängig.
Um die Identifizierung als einen Abwehrvorgang zu verstehen, muss die Bildung der Instanz Über-Ich erklärt werden. Das neugeborene Kind ist zunächst nur ein amorphes Es und besitzt noch kein Über-Ich. Im Erziehungsprozess werden dem Kind Gebote und Verbote von den Eltern erteilt, die es aufgrund der Autorität der Eltern und aus Angst vor Strafe aufnimmt. Die Eltern übermitteln moralische Normen (bezogen auf Sexualität, Sauberkeit, Höflichkeit gegenüber Autoritätspersonen, Beherrschung aggressiver Wünsche), die das Kind in seine Psyche introjiziert. Durch Identifizierung und Introjektion entsteht also das Über-Ich, eine Instanz, die sich in jedem normalen Erziehungsprozess bildet und kulturabhängig ist. Das Über-Ich eines chinesischen Dorfjungen enthält andere Normen als die Normen des Über-Ichs eines Jungen aus der Mittelschicht einer westlichen Großstadt. Unabhängig vom Inhalt der Normen spielt eine große Rolle, wie fest oder locker die Normen vertreten werden.
An der Bildung des Über-Ich sind neben den Eltern auch Verwandte, Lehrer, Chefs und Vorbilder beteiligt. Das Über-Ich wird auf diese Weise zum innerpsychischen Repräsentanten der Normen, Wert- und Moralvorstellungen einer Gesellschaft. Durch die Über-Ich-Bildung gehen diese Normen mehr oder weniger stark in »Fleisch und Blut« über.
Der amerikanische Gestaltpsychologe Frederick S. Perls wies darauf hin, dass Freuds Über-Ich-Modell einseitig ist, denn neben einem Über-Ich muss es auch ein »Unter-Ich«13 geben. Das Über-Ich gebärdet sich als Tyrann mit Forderungen: Du sollst. Du sollst nicht. Wenn du das tust, wirst du bestraft. Wenn du das nicht tust, wirst du nicht geliebt.
Das Unter-Ich entschuldigt und rechtfertigt sich: Ich habe alles versucht, aber ich kann’s nicht. Ich habe mir die größte Mühe gegeben. Ich bin schwach und ängstlich, aber ich werde es versuchen, euch gerecht zu werden.
Perls vergleicht das Über-Ich und das Unter-Ich mit zwei Clowns, die »auf der Bühne unserer Phantasie das Selbstquälerei-Spielchen aufführen«14. Er ist der Ansicht, dass beide Instanzen den Menschen in einen Kontrolleur (Über-Ich) und den armen, sich entschuldigenden Kontrollierten (Unter-Ich) aufteilen und er auf diese Weise seine Mitte verliert. Wenn das Über-Ich die Oberhand in der Psyche gewinnt, befindet sich der Mensch auf dem direkten Weg in die Neurose, denn der Weg zur Hölle ist mit »guten« Über-Ich-Forderungen gepflastert. Das Über-Ich will perfektionistische Normen erfüllen, die ständig einschüchtern. Die Folge ist die permanente Kritik des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer Personen.
Das strenge Über-Ich stellt Forderungen auf und verlangt Einschränkungen (Sexualentsagung, Aggressionseinschränkung, Leistungspensum, Trainingspensum) oft in so extremem Ausmaß, dass der Mensch triebfeindlich, genussunfähig und psychisch gestört wird. In der Psychotherapie des Einzelnen geht es deshalb primär darum, das Über-Ich abzubauen und das Ich zu entlasten.
Die Schlussfolgerung für Präventivmaßnahmen der Gesellschaft wurden schon 1936 von Anna Freud zaghaft angedeutet: »Wenn die Neurose vom strengen Über-Ich gemacht wird, dann braucht die Erziehung nur alles zu vermeiden, was einer extremen Über-Ich-Bildung dient.«15 Diesen Weg hat der englische Pädagoge A. S. Neill mit seinem Schulexperiment Summerhill eingeschlagen; mit seiner antiautoritären Erziehungsmethode strebte er das angstfreie, glückliche und unneurotische Kind an. Seine praktische Tätigkeit und sein Buch »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung« (1960 in New York erschienen) sind ein Meilenstein der humanen Pädagogik. In Deutschland wurde die Taschenbuchausgabe bis 1974 etwa 970 000-mal verkauft. Und trotzdem hat sich an der autoritären Erziehungsweise und strengen Über-Ich-Bildung bisher so gut wie nichts geändert. Die Erklärung dafür habe ich in meinem Buch »Statussymbole«16 in dem Kapitel »Das Autoritätsproblem« zu geben versucht.
Die geschilderte Introjektion der Normen wird durch die Identifizierung mit der übermächtigen Autorität möglich. Die erlebte Ohnmacht gegenüber den Forderungen der Autorität und die entstehende Angst vor der Macht führen zu dem Abwehrmechanismus der Identifizierung mit der Autorität. Anstatt gegen die Forderungen zu kämpfen, sie zu verneinen, werden sie aus Angst vor Strafe (Schläge, Liebesentzug, soziale Isolierung) bejaht und dann natürlich zu erfüllen versucht.
Um die Strafe und die Strafangst abzuwehren, wird auf diese Weise der Abwehrmechanismus der Identifizierung mit der Autorität, dem auf der sozialen Rangleiter Höherstehenden, dem Lehrer, dem Chef gebildet. Das Kind und der spätere Erwachsene lernen das Bedrohliche zu verarbeiten, indem sie sich selbst in einen Bedroher verwandeln. Kinder, die Angst vor Gespenstern haben, erschrecken andere Kinder gerne, indem sie sich als Gespenst verkleiden.
Schmerzhafte Erlebnisse, zum Beispiel strafende Eltern und Lehrer, Erlebnisse beim Zahnarzt, werden durch Identifizierung mit dem Angreifer weitergegeben. Anna Freud: »Indem das Kind aus der Passivität des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses Stellvertreters.«17