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Wir sind die gefährlichste Waffe der Welt. Wir sind die letzte Hoffnung, wenn alle anderen versagen. Wir sind die Last Line of Defense. So explosiv hat sich Jayden seinen ersten Einsatz als Agent der Last Line of Defense nicht vorgestellt: Als eine junge Journalistin in der britischen Botschaft in Buenos Aires Schutz sucht, wird das Gebäude von Raketenangriffen erschüttert. Sofia hat einem High-Tech-Konzern brisante Daten gestohlen – und wird nun gnadenlos gejagt. Eine atemlose Verfolgungsjagd quer durch Buenos Aires entbrennt. Schnell wird Jayden klar: Es geht um mehr als die Daten. Um viel mehr ... Auftakt zur rasanten Action-Thriller-Reihe von Andreas Gruber - jetzt ein Dein SPIEGEL Bestseller! Nur eine Handvoll Eingeweihter weiß über das geheime Ausbildungsprogramm Last Line of Defense Bescheid. Dort werden Jugendliche zu Geheimagenten ausgebildet – sie werden eingesetzt, wenn MI5, MI6 oder andere Spezialeinheiten nicht mehr weiterkommen. Die neusten Rekruten: Jayden D. Knoxville, Leonarda "Lenny" Zarakis und Erik Tuomi. Sie sind Team Omega, das letzte und jüngste Team der Organisation – und landen früher als gedacht mitten in ihrem ersten Einsatz! Band 1: Der Angriff Band 2: Die Bedrohung (Herbst 2024) Band 3: Der Crash (Frühjahr 2025)
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Seitenzahl: 408
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2024 Ravensburger Verlag
Text: Andreas Gruber
Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.
www.ava-international.de
Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH
Verwendete Bilder von FinePic®, München
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durchRavensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51221-8
ravensburger.com
FÜR DIE DREI COOLEN PIRATENBRÄUTE
ANNA, MARIA UND MAGDALENA
»ENTWEDER WIR FINDEN EINEN WEG ODER WIR MACHEN EINEN.«
Hannibal
Feldherr Karthagos (247–183 v. Chr.)
»Stehen bleiben!«, rief der Mann, doch Sofia rannte weiter über den Parkplatz. Weg von dem Firmengebäude. Sie würde nicht aufgeben. Was sollten ihre Verfolger schon tun? Auf sie schießen? Das würden die niemals wagen. Nicht mitten in der Innenstadt von Buenos Aires.
Sie hastete an einer Reihe geparkter Autos vorbei, erreichte keuchend die Abstellplätze der Motorräder und lief zielstrebig zu ihrem Moped, das zwischen zwei schweren Maschinen stand. Den Schlüssel für das Kettenschloss hatte sie bereits aus ihrer Umhängetasche geholt. Nun duckte sie sich hinter ihr Gefährt.
Warum war sie nur so blöd gewesen und hatte ihr Moped abgesperrt? Aber sie hätte ja nicht ahnen können, dass sie eine Stunde später auf der Flucht sein würde!
Hastig öffnete sie das Schloss, zog die Kette zwischen den Speichen des Hinterrads durch und warf sie achtlos auf den Asphalt.
»Komm hervor! Hände hoch!«, brüllte einer der Männer.
Hände hoch? Nein, das meinte der doch nicht ernst. Die Typen würden niemals auf sie schießen. Oder?
Sofia schwang sich auf das Moped, rammte den Zündschlüssel ins Schloss und startete das Gefährt. Ihr Helm hing auf dem Lenker, doch den ignorierte sie. Da krachte ein Schuss. Sie zuckte zusammen. Die Kugel hatte den Tank des Motorrads neben ihr durchschlagen. Benzin spritzte aus den Löchern. Diese Mistkerle schossen wirklich!
Im Bruchteil einer Sekunde wägte sie ab, ob es besser wäre, sich zu ergeben. Aber das, was sie in ihrer Umhängetasche bei sich trug, war viel zu wertvoll, als dass sie es kampflos hergeben würde. Nein, die konnten sie mal!
»Bleib stehen!«
Jetzt oder nie! Sie gab den ersten Gang rein, drehte am Gashebel, sodass der Motor aufheulte und das Hinterrad durchdrehte. Eine nach Gummi stinkende Rauchwolke hüllte sie ein, dann ließ sie die Kupplung los, raste über den Asphalt und einen Wiesenstreifen direkt auf die Straße zu.
Weitere Schüsse krachten. Neben ihr spritzte die Erde auf. Sofia duckte sich und machte sich so klein wie möglich. Die tief stehende Sonne, die gerade über die Hausdächer kletterte, blendete sie. Sekunden später erreichte sie die Straße, raste über den Bordstein und fädelte sich unter wütendem Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer in den morgendlichen Stadtverkehr ein. Im Rückspiegel sah sie, dass drei ihrer Verfolger auf metallic-schwarze Motorräder sprangen. Der Rest von ihnen quetschte sich in einen schwarzen Jeep. Ohne Rücksicht auf den Straßenverkehr drängten sich die Typen zwischen die hupenden Autos und nahmen die Verfolgung auf.
Fuck! Wohin sollte sie fahren? Die Motorräder würden sie binnen Sekunden eingeholt haben. Und wenn die weiter schossen, dann gute Nacht!
Verzweifelt beugte sie sich über den Lenker. Sie musste sich rasch entscheiden. Entweder fuhr sie zum Bahnhof, warf ihr Moped vor dem Eingang hin, tauchte in der Menschenmenge unter und sprang in den nächstbesten Zug, in der Hoffnung, dass die Typen sie aus den Augen verloren … Oder sie bretterte direkt in die nächste Polizeistation. Dann wäre sie aber selbst dran. Und zwar wegen Diebstahls. Keine gute Idee!
Sie schielte in den Rückspiegel. Die drei Motorräder holten auf, wurden aber vom dichten Verkehr behindert.
Oder du fährst mitten in die Fußgängerzone, wo sie dich nicht verfolgen können. Aber bestimmt würden sie das trotzdem tun, und wenn diese Verrückten dann immer noch schossen, würden dabei garantiert unschuldige Menschen verletzt werden.
Sofia wurde bei dem Gedanken übel. War es das wirklich wert gewesen? Jetzt kamen auch noch hämmernde Kopfschmerzen dazu. Und dann sah sie vor sich eine rote Ampel. Auch das noch! Sie wollte schon abbremsen, sah jedoch am rechten Straßenrand ein Hinweisschild mit Pfeil: Britische Botschaft, 500 Meter.
Natürlich!
Sie gab wieder Gas, raste auf die Ampel zu, lehnte sich nach rechts und nahm die Kurve in die Quergasse in einer solchen Schräglage, dass ihre Umhängetasche fast auf dem Boden schleifte. Ein Autofahrer, der sie beinahe gerammt hätte, bremste scharf ab und hupte heftig.
Vor ihr war ein Stau. Mist! Ohne lange zu überlegen, sprang sie mit dem Moped auf den Gehsteig und raste an den stehenden Autos vorbei. Nur noch vierhundert Meter.
»Aus dem Weg!«, rief sie den Passanten entgegen, hupte wie wild und bretterte mit Höchsttempo über den Bürgersteig. Der Fahrtwind wirbelte ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht. Schon bald sah sie das Schild der Botschaft. Zugleich bemerkte sie im Rückspiegel, dass die Motorräder ihr in die Querstraße gefolgt waren.
Das schaffst du nie!
Doch dann raste eines der Motorräder gegen eine Laterne und überschlug sich mit einem lauten Krachen. Die anderen beiden schlingerten, verfolgten sie aber weiterhin. Allerdings hatte Sofia dadurch einen kleinen Vorsprung rausholen können.
Sie blickte wieder nach vorn und machte vor Schreck einen kleinen Schlenker. Beinahe wäre sie gegen die Hütte einer Bushaltestelle gedonnert. Konzentrier dich! Nur noch ein paar Meter.
Sofia sah bereits das Areal der Botschaft. Die Mauer war etwa zwei Meter hoch, oben drauf wand sich Stacheldraht. Die Einfahrt lag genau vor ihr. Der Schlagbaum war unten, daneben stand ein Pförtnerhäuschen. An einem hohen Mast wehte die britische Fahne im Wind. Zwei uniformierte Soldaten mit umgehängter Maschinenpistole bewachten den Zugang.
Jetzt musste sie nur noch die Straße queren, dann war sie da. Ein Lkw donnerte von der Seite heran, doch Sofia drehte den Gashebel bis zum Anschlag und raste haarscharf vor dem Kühlergrill des Lasters vorbei. Die Autos um sie herum bremsten mit quietschenden Reifen und hupten wie verrückt. In hohem Tempo fuhr Sofia auf die Soldaten zu. Die hatten sie bereits bemerkt. Einer riss die MP von der Schulter. Der zweite sprach in ein Funkgerät.
Ein letzter Blick in den Rückspiegel. Der Lkw war vorbei und die metallic-schwarzen Motorräder waren direkt hinter ihr. Sofia zog die Bremse, sprang vom Moped und lief mit vollem Schwung auf die Männer zu. Neben ihr überschlug sich ihr Moped auf dem Rasen und krachte gegen den Fahnenmast.
»Stopp!« Der Soldat legte mit der MP auf sie an.
»Ich bin unbewaffnet … mein Name ist Sofia González«, rief sie auf Englisch und hob keuchend die Hände. »Ich bin argentinische Aktivistin und investigative Journalistin.«
»Bist du verrückt?« Er blickte kurz zu ihrem rauchenden Moped, das jetzt nur noch Schrott war. »Was sollte das? Ein missglückter Terroran…?«
»Ich werde verfolgt!«
Der Soldat schielte zu den Motorrädern. »Das sehe ich. Die …«
Da krachte ein Schuss. Hinter ihnen riss der Asphalt auf. Ein paar Meter weiter und das Projektil wäre auf britischem Hoheitsgebiet eingeschlagen.
Sofia wollte noch etwas sagen, aber der Soldat hörte ihr nicht mehr zu. Er hatte bereits den Finger am Abzug, ging leicht in die Knie und erwiderte das Feuer mit kurzen präzisen Salven.
»Stell dich hinter mich!«, befahl er Sofia, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen.
Sein Kollege beendete soeben das Funkgespräch, legte ebenfalls die MP an und stellte sich vor Sofia. Die beiden trugen kugelsichere Westen. Gemeinsam traten sie den Rückzug in Richtung Pförtnerhaus an.
Weitere Soldaten kamen aus dem Häuschen gelaufen und gaben ihren Kollegen Feuerschutz.
Sofia wankte mit weichen Knien rückwärts, stolperte, fiel auf den Asphalt und schürfte sich Ellenbogen und Hände auf.
»Komm weiter!«, rief ein großer Mann in Uniform, der sie von hinten am Kragen packte und zwischen Schlagbaum und Pförtnerhäuschen auf das Botschaftsareal zerrte. Gleichzeitig heulte eine Sirene los, rote Lampen blinkten auf der Mauer und ein eisernes Rolltor schob sich vor den Eingang.
Aus dem Augenwinkel sah Sofia, dass einer der Motorradfahrer auf dem Boden lag und ein zweiter ihn wegzerrte. Hinter ihnen kam der Jeep mit ihren Verfolgern quietschend zum Stehen.
Einer der Soldaten baute sich vor ihr auf und schob sein Barett auf dem Kopf zurecht. »Was zum Teufel hast du angestellt?«, brüllte er, wobei sein Schnauzbart bedenklich bebte.
»Ich bitte um Asyl«, keuchte Sofia.
Jayden sortierte in der Postabteilung der Botschaft gerade die eingegangenen Briefe und erfasste sie am PC, als er die Schüsse hörte. Sofort liefen im Büro alle zu den Fenstern. Auch Jayden sprang auf. Da er für seine siebzehn Jahre ziemlich groß war, konnte er über die Köpfe seiner Kolleginnen hinwegsehen. Viel war trotzdem nicht zu erkennen.
Anscheinend gab es vor der Botschaft eine Schießerei. Nicht unbedingt ungewöhnlich für Buenos Aires, wo es immer wieder Überfälle und Bandenkonflikte gab, doch diesmal wurde unmittelbar vor dem Gebäude geschossen. Und es waren keine einzelnen Schüsse. Als die Salve einer automatischen Maschinenpistole erklang, duckten sich alle unter das Fensterbrett. Nur Jayden blieb stehen. Er verschanzte sich hinter der Mauer, beugte sich aber gleich wieder nach vorn, um vorsichtig aus dem Fenster zu blicken. Das Securitypersonal der Botschaft erwiderte das Feuer. Die Sirene ging los und das Rolltor wurde geschlossen. Eine junge Frau wurde von General Petersen höchstpersönlich auf das Botschaftsgelände gezerrt.
»Alle wieder an die Arbeit!«, rief der Postchef und klatschte einmal laut in die Hände. Seine Stimme zitterte. Nervös blickte er zum Fenster. »War nur ein kleiner Zwischenfall. Unsere Leute haben die Situation unter Kontrolle.«
Das sieht aber nicht danach aus, dachte Jayden. Er reckte noch einmal den Kopf und sah einen schwarzen Jeep und zwei schwarze Motorräder, die fluchtartig den Platz vor der Botschaft verließen. Nummernschilder konnte er auf die Entfernung keine erkennen, aber die Überwachungskameras hatten das sicher gefilmt.
»Los, los! Alle wieder an eure Plätze – auch du, Jayden!«
»Ja.« Murrend setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und sortierte weiter Briefe, während sein Herz aufgeregt pochte und seine Hände leicht zitterten. Die junge Frau, die der General gerettet hatte, war achtzehn, höchstens neunzehn gewesen. Braun gebranntes Gesicht, lange schwarze Haare, Jeans, T-Shirt und eine Umhängetasche. Mehr hatte er nicht gesehen – und als Praktikant würde er bestimmt als Letzter etwas über den Vorfall erfahren.
Jayden arbeitete erst seit zwei Wochen in der Botschaft und hatte schon mitbekommen, dass aus vielen Dingen eine große Geheimniskrämerei gemacht wurde. Als Postjunge erfuhr er höchstens, wer wem schrieb.
Als Jayden eine halbe Stunde später einen Aktenordner aus dem Schrank holte und dabei aus dem Fenster blickte, sah er, wie das Rolltor für einen Moment geöffnet wurde und eine schwarze Limousine mit verspiegelten Scheiben auf das Gelände fuhr. Anhand der Autonummer erkannte er, dass es ein Wagen des MI6 war, des britischen Auslandsgeheimdienstes. So viel zum Thema: War nur ein kleiner Zwischenfall.
Fünf Minuten später stürmte Olivia, die Assistentin des Botschafters, mit wehender Mähne in die Postabteilung und sah sich um. »Jayden D. Knoxville?«, rief sie.
Jayden sprang von seinem Sitz auf. »Ja, Ma’am.«
Olivia schnippte mit den Fingen. »Ich brauche dich. Komm mit!«
Er ging zu ihr, woraufhin sie ihn skeptisch musterte. »Richte dein Hemd und deine Haare. Wo ist dein Namensschild?«
Jayden griff in die Hosentasche und steckte sich die Plakette an die Brust. Dann stopfte er sich das weiße kurzärmelige Hemd in die Anzughose und schloss den obersten Knopf. Da er muskulös gebaut war, spannte der Stoff ein wenig um Brustkorb und Oberarme. Rasch fuhr er sich mit den Fingern durch die schulterlangen schwarzen Haare und wischte sie sich hinter die Ohren. »Gut so?«
»Kaum wiederzuerkennen«, sagte Olivia zynisch. »Und lächle ein bisschen.«
Jayden verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Perfekt – mir nach!«
Er folgte ihr in die Küche, wo er das edle Porzellangeschirr für hohen Besuch sowie Löffel, Zucker und ein Kännchen Milch auf ein Tablett stellen, einige Thunfischsandwiches mit Tomaten, Kapern und je einem Salatblatt zubereiten und währenddessen fünf Tassen frischen Kaffee aus der Maschine laufen lassen sollte.
»Ist die Haushälterin nicht da?«, fragte er.
»Die ist krank. Wenn du fertig bist, bringst du das alles in den großen Besprechungsraum. Dann frag dort, ob du dich irgendwie nützlich machen kannst.«
»Und Sie?«, fragte Jayden.
»Ich muss dringend mit dem Botschafter telefonieren – ist gerade in Chile auf Staatsbesuch. Muss ihn darüber informieren, was gerade vorgefallen ist.«
»Was ist denn gerade vorgefallen?«, fragte Jayden beiläufig.
»Das wüssten wir alle selbst gern«, sagte sie aufgebracht. »Aber selbst wenn wir es wüssten, wäre es topsecret und nicht für deine Gehaltsklasse. Vergiss die Kapern und Tomaten nicht!« Olivia verschwand in ihr Büro und Jayden richtete alles wie verlangt auf einem großen Tablett her.
Minuten später schob er das Servierwägelchen in das große Besprechungszimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und er merkte gleich, dass die Stimmung gedämpft war.
Auf der Couch lag die junge Frau mit einem Eisbeutel auf der Stirn. Neben ihr saß die Hausärztin der Botschaft und maß ihren Blutdruck. Es roch nach Desinfektionsmittel. Handflächen und Ellenbogen der jungen Frau waren ziemlich übel aufgeschürft.
Daneben standen General Petersen, der sein Barett nervös in der Hand knetete, und zwei Männer in dunklen Anzügen. Vermutlich waren das die Besucher vom MI6. Einer war glatzköpfig, der andere trug eine dicke Hornbrille. Beide sahen wie die Unfreundlichkeit in Person aus.
Die Hornbrille durchwühlte gerade die Umhängetasche der jungen Frau. Auf dem Couchtisch lagen eine Laptophülle, ein schlankes Notebook, eine externe Festplatte sowie Handy, Brieftasche, eine Wasserflasche und ein Schlüsselbund. Die Hornbrille betrachtete den Ausweis der Frau. »Sofia González, neunzehn Jahre alt«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Ist das nicht ein bisschen jung für eine Journalistin?«
»Ich bin investigative Journalistin, ich decke Missstände auf! Dafür ist man nie zu jung.« Die junge Frau schob sich den Eisbeutel über die Schläfe.
Während Jayden das Servierwägelchen zu einer Kommode schob, schielte er zu Sofia. Sie hatte eine leicht abgehackte englische Aussprache mit südamerikanischem Akzent. Bestimmt war sie Argentinierin.
»Sie dürfen die junge Frau nicht so aufregen!«, fuhr die Ärztin die Hornbrille an, doch der Mann grinste nur abfällig. »Im Moment ist das eine Geheimdienstangelegenheit«, sagte er. »Alles Mögliche könnte hinter dem Vorfall stecken. Ein Anschlag auf die Botschaft, ein Spionagefall, eine Undercover-Aktion – wir wissen es nicht. Solange sind wir im Ausnahmezustand und da gelten unsere Regeln. Wir haben im Moment die Verantwortung für die Sicherheit dieses Gebäudes und seiner Mitarbeiter, haben Sie das verstanden?«
Die Ärztin verdrehte genervt die Augen.
»Aber nichts von alledem, was Sie gesagt haben, trifft zu«, widersprach Sofia. »Es ist reiner Zufall, dass ich hier bin.«
»Es gibt keine Zufälle«, widersprach die Hornbrille.
»Mierda!«, fluchte Sofia. »Wie oft denn noch? Ich habe mich vor drei Monaten als Mitarbeiterin in den High-Tech-Konzern Futurotec eingeschlichen, um Korruption, Betrug und Machtmissbrauch aufzudecken«, rief sie zornig, als hätte sie diese Geschichte schon zigmal erzählt und immer noch würde ihr keiner glauben.
»Ja, ja«, unterbrach sie der Glatzkopf. »Und dort hast du ein paar streng vertrauliche Daten über den Konzern auf diese externe Festplatte gespeichert.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Das soll der Grund sein, warum die dich durch halb Buenos Aires gejagt und auf dich geschossen haben?«
»Ich weiß ja selbst nicht, warum die so ausgerastet sind«, rief Sofia und richtete sich nun auf. »Wie oft soll ich es denn noch erklären? Das Material, das ich kopiert habe, ist zwar brisant, aber so sensationell und brandgefährlich nun auch wieder nicht, dass es gleich einen Mord rechtfertigt.«
»Du gibst also zu, dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmt?«
Seufzend ließ sich Sofia wieder in die Kissen sinken. Unterdessen reichte Jayden jedem von ihnen eine Tasse Kaffee und Sandwiches.
Sofia drehte sich weg. »Ich kann jetzt nichts essen.« Sie war blass im Gesicht, ihre Arme und Beine zitterten.
»Aber trink wenigstens einen Schluck Kaffee«, versuchte es die Ärztin. »Das Koffein wird deinem Kreislauf guttun.«
»Danke, ich bin schon aufgeputscht genug.«
»Ich stimme zu, diese Geschichte klingt ziemlich haarsträubend«, mischte sich nun General Petersen in das Gespräch.
Jayden stellte das Tablett mit den restlichen Sandwiches auf den Couchtisch. Für ihn war klar, dass die MI6-Agenten der jungen Frau nicht glauben würden. Es war ihr Job, jedem, sogar ihren eigenen Partnern, zu misstrauen. Aber ihn wunderte, dass auch General Petersen, den er bisher als fairen und klugen Mann eingeschätzt hatte, an Sofias Worten zweifelte.
»Selbst wenn deine Geschichte der Wahrheit entspricht und du aus berechtigten politischen und humanitären Gründen Asyl beantragst«, fuhr General Petersen fort, »können wir dich nicht so einfach außer Landes bringen. Die ganze Sache ist eine heikle diplomatische Angelegenheit, denn Futurotec macht unter anderem auch Geschäfte mit der britischen Regierung und du hast deren Eigentum gestohlen.« Er nickte zur Festplatte.
Jayden wollte sich bereits abwenden, um leise nach draußen zu gehen, doch der General gab ihm mit einer knappe Geste zu verstehen, dass er noch bleiben sollte.
»Aber ich habe diese Daten nicht gestohlen, sondern nur kopiert, um ein großes Unrecht aufzudecken.«
»Dann müssen wir uns diese Daten ansehen«, sagte der Glatzkopf.
»Nein!«, entfuhr es Sofia sofort. »Das sind vertrauliche Informationen, die unter das Redaktionsgeheimnis fallen und die meine Zeitung prüfen und danach veröffentlichen wird.«
»Du solltest uns jetzt mal deinen Presseausweis zeigen!«
»Wie ich schon sagte, habe ich das Unternehmen undercover ausspioniert, da werde ich mir nicht meinen Presseausweis an die Brust heften«, antwortete Sofia spitz.
»Dann verrate uns wenigstens, worum es bei deinen Recherchen ging.«
Sofia schüttelte den Kopf. »Der Inhalt ist streng vertraulich und fällt unter die journalistische Schweigepflicht. Ich habe drei Monate lang hart dafür gearbeitet und werde das jetzt nicht so einfach aus der Hand geben.«
»Du vertraust uns nicht?«, fragte der Glatzkopf lauernd.
Sofia kniff die Augen zusammen und betrachtete sie der Reihe nach. »Sie haben selbst gesagt, dass die britische Regierung Geschäfte mit Futurotec macht.« Sie setzte sich auf und griff nach der Festplatte. »Diese Daten müssen veröffentlicht werden. Sie dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden.«
General Petersen atmete tief durch. »Was möglicherweise zu diplomatischen Folgen ungeahnten Ausmaßes führen könnte.«
»Bringen Sie mich sicher außer Landes«, schlug Sofia vor. »Dann haben Sie mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun und ich kann die Daten an die Redaktion meiner Zeitung übermitteln.«
Der General warf den beiden MI6-Agenten einen Blick zu. Beide nickten. »Also gut«, seufzte Petersen, »wir werden unser Möglichstes versuchen. In der Zwischenzeit sollten wir diese Daten – ob brisant oder nicht – sicher im Tresor verwahren.« Er deutete zu dem riesigen Safe, der unter einem gerahmten Ölgemälde von König Charles III stand.
»Nein«, widersprach Sofia. »Die Daten bleiben bei mir.«
General Petersen lächelte nachsichtig. »Niemand will dir diese Daten stehlen.«
»Das glaube ich ja, aber sind die Daten dort sicher?«
»Die gesamten streng geheimen Dokumente der Botschaft lagern dort«, erklärte Petersen leicht amüsiert. »Dann wird es ja wohl auch …«
»Das beantwortet meine Frage nicht«, konterte Sofia.
Petersen stöhnte auf. »Dieser Tresor, der Thackeray 3000, wiegt 650 Kilogramm, hat einen eigenen Brandschutz, Spezialdichtungen in der Tür, erweiterte Schlosspanzerung, eine sichere dreiseitige Verriegelung durch massive Schließbolzen und einen Korpus, der Angriffen mit mechanischen und thermischen Einbruchwerkzeugen standhält. Außerdem hat er ein Doppelbart-Hochsicherheitsschloss und …« Sofia wollte etwas sagen, doch der General unterbrach sie mit einer knappen Geste. »… und diesen Schlüssel habe nur ich – ich trage ihn ständig um den Hals.« Wie zur Bestätigung klopfte er sich auf die Brust.
»Ist das kein Sicherheitsrisiko, wenn Sie mir das verraten?«, fragte Sofia irritiert.
General Petersen lächelte. »Wenn ich mich nicht sehr irre, wirst du sowieso gleich sehen, wie ich damit den Safe öffne … oder etwa nicht?«
Unsicher sah Sofia zu Petersen, zur Ärztin, zu den beiden MI6-Agenten und schließlich zu Jayden, an dem ihr Blick für mehrere Sekunden hängen blieb. Jayden versuchte, ebenfalls zu lächeln, dann nickte er knapp.
»Also gut.« Sie beugte sich nach vorn und gab dem General zögernd die Festplatte.
Der nickte zufrieden, öffnete den Tresor, verstaute die Festplatte im obersten der insgesamt fünf Fächer zwischen einigen Dokumentenmappen und verschloss das monströse Ding wieder. »Während meine Kollegen vom Geheimdienst und ich mit der Stellvertreterin des Botschafters besprechen, wie wir dich am schnellsten aus Argentinien rausschaffen, bist du hier erst einmal in Sicherheit. An deiner Stelle würde ich deine Wohnung in Buenos Aires nicht mehr betreten. Dort könnte Gefahr lauern. Deswegen möchte ich auch keinen meiner Mitarbeiter dort hinschicken. In der Zwischenzeit …« Er deutete zu Jayden. »… wird sich Mr Knoxville um dich kümmern und dir alles bringen, was du brauchst – und zwar so rasch wie möglich.« Er nickte Jayden zu.
»Danke«, murmelte Sofia.
Die Ärztin packte ihr Equipment zusammen und erhob sich.
»Meine Dame, meine Herren – ich denke, wir haben zu tun.« Petersen deutete zur Tür. Alle bis auf Jayden und Sofia folgten ihm.
Nachdem die Gruppe das Besprechungszimmer verlassen hatte, schnappte sich Jayden Notizblock und Kugelschreiber von der Ablage, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Sofia. »Hi. Ich bin Jayden.«
Sie lächelte. »Sofia.«
»Also, was brauchst du? Einen Koffer? Zahnpasta, Zahnbürste, Seife, Shampoo, Aspirin, Haarbürste, ein Deo, Socken, Unterwäsche, Wechselkleidung?«
»Ja, danke.« Sie nickte, griff nach einem Sandwich und biss hinein. »Ich bin nicht anspruchsvoll und nehme alles, was du mir besorgen kannst«, sagte sie mit vollem Mund. »Wichtig wäre vielleicht ein Internet-Stick, eine Powerbank für meinen Laptop und ein Ladekabel für mein Handy, falls du so etwas auftreiben könntest, Notizblock, Stifte und …« Sie senkte beschämt die Stimme. »… ein bisschen Bargeld? Ehrlich gesagt, traue ich mich nicht, mit der Kreditkarte zu bezahlen, nach dem, was vorhin passiert ist.«
Jayden verstand. Niemand sollte herausfinden können, wo sie sich aufhielt. »Sicher, das lässt sich beschaffen.« Er notierte alles.
Erleichtert ließ Sofia die Schultern sinken, legte das Sandwich weg und lehnte sich auf der Couch zurück. »Du bist Engländer?«, fragte sie.
Er nickte. »Ich bin in London geboren und in Liverpool aufgewachsen.«
»Liverpool!« Sie setzte sich auf und strahlte. »Leider war ich noch nie dort, und das, obwohl ich ein großer Fan der Beatles bin.« Wie zur Bestätigung straffte sie ihr ausgewaschenes T-Shirt, auf dem der Schriftzug der Beatles zu lesen war. »Du kennst doch die Beatles, oder nicht?«
»Sicher«, sagte er rasch. »Wenn man in Liverpool aufgewachsen ist, kennt man vor allem zwei Dinge, um die man nicht herumkommt. Den FC Liverpool und die Beatles – meine Tante ist ein Fan der Band, ich selbst höre aber andere Musik.«
»Was denn? Ed Sheeran?«
Er verzog das Gesicht, als würde er einen üblen Mief einatmen. »Nein, Punk.« Er machte eine Pause. »Pennywise, Offspring, Blink-182 …«
»So altes Zeug? Scheinst ein harter Typ zu sein.« Sie blickte ihm in die Augen. Sie hatte genauso dunkelbraune Augen und lange Wimpern wie er.
»Ich glaube dir deine Geschichte«, sagte er plötzlich.
»Wirklich? Das ist nett, danke.« Sie seufzte. »Aber du scheinst hier der Einzige zu sein.«
Möglich! Allerdings war Sofia ihm auch etwas vertrauter und näher als allen anderen in der Botschaft. Er hatte ihre Panik, ihre Aufregung und ihr Zittern hautnah gespürt, als er ihr Kaffee und Sandwiches gebracht hatte. Er kannte diese Angst aus den Docks von Liverpool, wo er aufgewachsen war – und ihm war klar, Sofias Gefühle waren echt. Am liebsten hätte er ihr mehr geholfen – aber er wusste nicht wie.
Die Sonne war gerade aufgegangen, doch die Docks von Liverpool lagen noch in bleiernem Nebel. Jayden ging an den Hafengebäuden aus rotem Backstein vorbei in Richtung der betonierten Molen. Dort schaukelten die ausrangierten Fischkutter im Wasser auf und ab. Über der grauen Wasseroberfläche waberte der Nebel und irgendwo tutete ein Schiff, das vermutlich gerade in den Hafen einfuhr.
Jayden erreichte den Pier Nr. 7, eine abgelegene Anlegestelle, an der es früher jeden Samstag einen Fischmarkt gegeben hatte. Jetzt war mit roten Straßenkegeln und einem gelben Absperrband eine kleine quadratische Fläche abgesteckt worden, um die sich eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt hatte.
Hier würde gleich ein illegaler Bare Knuckle Fight stattfinden – ein Faustkampf ohne Boxhandschuhe und ohne Regeln. Fast alle Zuschauer waren hergekommen, um Geld auf diesen Kampf zu setzen. Man konnte viel Geld gewinnen, aber auch viel Geld verlieren. Jayden hatte vor, viel Geld zu gewinnen.
In einer Ecke des Rings stand der alte Ilja, ein vor vielen Jahren eingewanderter Russe mit grüner Militärhose, Schnürstiefeln und einem grauen Rollkragenpullover, unter dem sich seine dicken Muskeln abzeichneten. An seinem roten Gesicht und der faltigen Stirn konnte Jayden erkennen, dass er zornig war.
»Mein Mann ist jeden Moment da!«, brüllte Ilja der Menge zu. Er reckte den Hals, sah sich um und entdeckte Jayden. »Da bist du ja endlich!«, rief er und winkte den Jungen herbei.
»Ich wurde aufgehalten.« Jayden schlüpfte aus seiner Jacke.
»Und ich dachte, du kneifst.« Ilja nahm ihm das Kleidungsstück ab. »Bist du aufgewärmt?«
»Einigermaßen – bin zu Fuß hergelaufen.« Jayden zog sein graues T-Shirt aus. Es war sein Lieblingsshirt, schon ziemlich ausgewaschen, aber das Emblem des FC Liverpool konnte man noch gut erkennen. You’ll never walk alone hieß der Schlachtruf, der darunter stand. »Pass gut drauf auf – ist mein Glücksbringer.« Er drückte Ilja das Shirt in die Hand.
»Sicher.« Ilja legte es auf Jaydens Jacke.
Hinter ihnen johlte die Menge. »Jetzt wirst du plattgemachen!« Andere riefen: »Das wird dein letzter Kampf, Jayden!«
Der Wind ließ Jayden frösteln und die Haare auf seiner hellbraunen Haut richteten sich auf. Ilja stellte sich hinter ihn und massierte seinen Nacken. »Hör nicht auf diese Idioten. Mann, sind deine Schultern verspannt.«
Jayden ließ den Kopf kreisen und versuchte, das Gebrüll der Zuschauer zu ignorieren. Dann schielte er zu seinem Gegner in der anderen Ecke: ein rothaariger Hüne mit Sommersprossen, der vermutlich schon achtzehn war und – wie man an den sich wölbenden Muskeln sah – viel Zeit mit Gewichtdrücken verbrachte. Außerdem sah seine Nase ziemlich verknorpelt aus und war schon mehrmals gebrochen.
Ilja deutete zu dem Kerl. »Der Typ kommt aus Dublin. Ist ziemlich groß.«
»Was?«, fragte Jayden. »Dublin?«
»Mann, das ist nicht witzig! Der Kerl ist riesig.«
»Hab ich gesehen.«
»Und stark.«
»Hab ich mir gedacht.«
»Und ein fieser Kotzbrocken. Ich habe ihn gestern kämpfen gesehen. Nimm dich vor seinem rechten Haken in Acht. Und seinen Kicks!«, warnte Ilja ihn.
»Tu ich doch immer.«
»Er kommt mit dem rechten Knie ziemlich hoch rauf. Die Quoten stehen fünf zu eins.«
»Ich weiß.« Jayden dachte kurz nach. »Für mich?«
»Witzbold!« Ilja seufzte. »Denk dran, was wir besprochen haben! Welche Runde?«, flüsterte er.
»Die fünfte.« Jayden zog den Gürtel seiner Hose enger und stieg in den Ring.
Nun erhob sich auch sein Gegner vom Hocker. O Mann! Der Kerl war wirklich riesig. Jayden war auch nicht gerade klein, aber der Typ überragte ihn um mindestens einen Kopf und er hatte Fäuste wie Vorschlaghämmer. Jayden wollte gar nicht wissen, wie der Typ hieß, und nannte ihn deshalb im Geiste nur den Iren. So konnte er besser Distanz zum Gegner wahren. Und die war notwendig, denn er wollte ihn gnadenlos vermöbeln. Andernfalls würde er die nächsten eineinhalb Minuten nicht überleben. Der Kampf würde dreckig werden, so wie jeder Bare Knuckle Fight bei den Docks. Ohne Handschuhe, ohne Zahnschutz, ohne Lendenschutz – und ohne Regeln.
Die röhrende Hupe zur ersten Runde ertönte und der Ire fackelte nicht lange. Er kam wie eine Dampfwalze auf Jayden zu, den Oberkörper angriffslustig nach vorn gebeugt, die Arme erhoben. Ohne Umschweife schlug er zu. Anscheinend wollte er den Kampf bereits in den ersten Sekunden entscheiden. Aber Jayden war enorm wendig – und er hatte Erfahrung. Das war sein Bonus. Schließlich verdiente er schon seit über einem Jahr sein Geld mit diesen Kämpfen. Er war zwar von Haus aus muskulös, doch um sich in Form zu halten und besser zu werden, trainierte Jayden zielstrebig und regelmäßig. Das war der Grund, weshalb er all diese Kämpfe in den Docks bis jetzt ohne große Verletzungen überstanden hatte.
Sein zweiter Bonus hieß Ilja. Bevor der alte Russe begonnen hatte, ihn zu trainieren, hatte Ilja als Matrose auf russischen Frachtschiffen in Cage Fights gekämpft. Ilja hatte ihm alle Tricks beigebracht, die er kannte – und das hatte der Ire bei seinen Recherchen über Jayden offenbar übersehen.
Jayden wich den ersten fünf Schlägen aus, die sein Gegner mit voller Wucht ins Nichts schwang. Als der Ire merkte, dass es nicht so leicht werden würde, überdachte er seine Strategie, konzentrierte sich besser und plante seine Angriffe präziser. Doch Jayden wich auch seinen nächsten Angriffen mit dem Ellenbogen und Kicks mit den Knien gekonnt aus, und wenn das nicht reichte, blockte er die Hiebe mit den Unterarmen.
Die erste Runde ging nach eineinhalb Minuten zu Ende. Der Oberkörper des Iren war schweißgebadet, allerdings keuchte er nur ein wenig, als hätte er sich gerade für einen Marathon warmgelaufen.
Die Pause dauerte nur wenige Sekunden. Lang genug, damit Jayden etwas trinken und sich Iljas Ratschläge anhören konnte. »Sei nicht so lässig, du verärgerst ihn nur.«
»Ach, ich darf ihn nicht ärgern?«, entgegnete Jayden ruppig.
»Wenn er dich mit seinem Dampfhammer erwischt, stehst du nicht mehr auf. Dann gute Nacht, und ich muss deiner Tante beibringen, dass deine Birne nur noch Matsch ist.«
»Danke, dass du mich an meine Tante erinnerst«, fauchte Jayden. »Ist nicht gerade hilfreich.«
Die Hupe zur zweiten Runde röhrte, und diesmal ging der Ire noch aggressiver in den Kampf als vorher. Mit erhobenen Armen kam er erneut wie ein Bulldozer auf Jayden zu und feuerte blitzschnell eine Gerade nach der anderen ab. Jayden konnte erneut viele Schläge mit den Unterarmen abwehren, kassierte aber trotzdem eine Schramme unter dem Auge und einen Tritt gegen die Hüfte, weshalb er jetzt nicht mehr so leichtfüßig wie zuvor ausweichen konnte. Komm schon, du musst deine Taktik überdenken!
Kurz vor dem Röhren der Hupe traf Jayden mehrmals hart die Rippen des Iren, immer an der gleichen Stelle – zweimal mit dem Knie und einmal mit der Faust –, sodass sich der Typ nicht mehr traute, den linken Arm zu heben, da Jayden sofort da war und die freie Stelle gnadenlos malträtierte.
Als die zweite Runde zu Ende ging, keuchte auch Jayden – und das Fatale war, dass der Ire trotz der Schläge, die er hatte einstecken müssen, wie eine Maschine wirkte und einfach nicht müde wurde.
Für sein Alter hatte Jayden eine enorme physische Stärke und reichlich Tricks in den verschiedenen Kampftechniken auf Lager, die ihn gegenüber anderen Jugendlichen herausstechen ließ. Aber sein Gegner war ein Monster auf zwei Beinen, das er so lange auf Distanz halten musste, bis einer von ihnen keine Kraft mehr hatte. Jayden hoffte, dass das nicht er war.
Die dritte Runde begann. Nun baute der Ire seine Deckung besser auf und versuchte, Jayden nebenbei mit Psychospielchen zu provozieren. »Hab gehört, deine Mutter war erst achtzehn, als sie im Krankenhaus bei deiner Geburt gestorben ist, richtig?«, keuchte er hinter den erhobenen Fäusten hervor.
Jayden ging nicht darauf ein, sondern versuchte, das Geschwafel auszublenden und sich weiter auf den Kampf zu konzentrieren. Er hielt nach einer ungeschützten Stelle Ausschau. Aber die bot ihm der Ire nicht. Stattdessen trieb er Jayden mit Schlägen und Tritten bis an den Rand der Absperrung zurück. Einmal draußen, wäre es vorbei.
»Keiner hat sich um die Schlampe gekümmert, ist im Krankenhaus einfach abgekratzt«, presste der Ire schnaufend hervor.
Das war es also, worauf er hinauswollte! Doch Jayden war immun gegen diese Gehässigkeiten. Noch! Er wusste, dass er sich nicht aus der Ruhe bringen lassen durfte und sich konzentrieren musste.
Jayden beobachtete die Reaktionen des Iren. Jedes Mal, wenn Jayden zu einem Schlag ansetzte, zog der Ire sofort die Hände zur Deckung vors Gesicht und schirmte gleichzeitig mit den Ellenbogen die Rippen ab.
»Wie ist es, schuld am Tod der eigenen Mutter zu sein?«
Jaydens Blut begann zu kochen.
»Du hast sie getötet!«, fauchte der Ire.
Hör auf damit!
»Warst schon als Baby ein Mörder!«
Da gingen mit Jayden die Emotionen durch. Zugleich wusste er, dass der Ire genau das bezweckte. Aber da war es schon zu spät.
Kurz vor dem Ende der dritten Runde täuschte Jayden einen Schlag an. Sein Gegner riss wie erwartet die Arme zur Deckung nach oben und für eine Sekunde war sein Kehlkopf ungeschützt.
Jayden schlug ihm die ausgestreckten Finger in den Adamsapfel, woraufhin der Ire mit weit aufgerissenen Augen röchelnd zurücktaumelte. Während er keine Luft mehr bekam, einen Moment lang rot im Gesicht wurde und ihm Tränen übers Gesicht liefen, trat ihm Jayden von der Seite in die Kniekehle, woraufhin der Ire zu Boden sackte. Noch bevor der Ire reagieren konnte, rammte ihm Jayden mit so einer Wucht das Knie gegen die vor den Kopf erhobenen Arme, dass der Kerl zu Boden fiel, rücklings aus dem Ring schlitterte und stöhnend zwischen den Kegeln und verheddert im Absperrband liegen blieb.
»Ich habe meine Mutter nicht getötet«, zischte Jayden. »Aber bei dir war ich knapp davor.« Er wartete noch eine Weile, aber der Mistkerl blieb nach Luft japsend liegen, dann drehte Jayden sich um und verließ den Ring.
Einige, die auf Jayden gewettet hatten, brüllten vor Freude auf und sprangen hoch, aber alle anderen tobten vor Wut und beschimpften den Iren, dass er aufstehen solle.
Jayden wusste, was jetzt gleich kommen würde, daher hielt er den Kopf gesenkt und starrte auf den rissigen Asphalt, als er sich den Schweiß vom Gesicht wischte und in sein T-Shirt schlüpfte.
Der alte Ilja baute sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt, und zischte wütend. »Ich habe beim Buchmacher ziemlich viel Geld auf dich gesetzt!« Vorwurfsvoll hielt er seine dicke Brieftasche hoch. »Fünfte Runde hatten wir ausgemacht! Aber nein, du Idiot musst ihn schon in der dritten plattmachen.«
»Er hat mich provoziert«, murmelte Jayden.
»Das tun doch alle! Das gehört zum Geschäft! Das darf dich nicht jucken«, brüllte Ilja.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass der nicht mehr aufsteht.«
»Weißt du, wie viel Geld wir gerade verschenkt haben, nur weil du Idiot dich mal wieder nicht beherrschen konntest?«
»Wir haben sicher trotzdem genug gewonnen«, knurrte Jayden.
»Ja, aber es hätte deutlich mehr sein können, wenn du dich nicht so dämlich benommen hättest.« Ilja drückte ihm seinen Anteil von dreihundert Pfund in die Hand, die er sogleich einsackte.
»Ich bin kein Idiot«, knurrte Jayden, schlüpfte in seine Jacke und verließ den Platz.
»Jayden!«, rief Ilja ihm nach. »Ich habe das nicht so gemeint!«
»Schon gut.« Er musste an seine Mutter denken und an seine Tante, die ihm vermutlich wieder Vorwürfe machen würde, weil er mit blauen Flecken und Schrammen im Gesicht heimkehrte, anstatt sich einen anständigen Job zu suchen.
Schnurstracks verließ er die Docks in Richtung Zuhause. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass sich ein Mann im feinen dunklen Anzug mit Sonnenbrille aus der Menge löste. Er passte so gar nicht zu den Hafendocks.
Und er folgte Jayden.
Jayden hatte mitbekommen, wie seit seinem Gespräch mit Sofia die Telefone in der Botschaft heiß gelaufen waren. Kurz nach zehn Uhr vormittags war bereits alles organisiert. Sofia bekam einen vierundzwanzig Stunden gültigen Reisepass mit Diplomatenstatus und sollte innerhalb der nächsten zehn Minuten in einem gesicherten Pkw-Konvoi des MI6 zum Flughafen gebracht werden. Anschließend würde man sie nach London ausfliegen, wo sie in Sicherheit wäre. Was immer die Firma Futurotec ihr vorwerfen würde, Großbritannien würde sie nicht ausliefern, und von England aus konnte sie ihre Recherchen veröffentlichen. Das hatte das Sekretariat des britischen Premierministers James Metcalf bestätigt.
Für Jayden bedeutete das, von Sofia Abschied zu nehmen. Sie standen allein im großen Besprechungszimmer und ihnen blieben noch knapp zehn Minuten.
Jayden gab ihr die Hand. »Ich werde nach deinem Artikel in der Zeitung Ausschau halten. Gute Reise.«
Sie drückte seine Hand. »Danke für deine Hilfe. Ich bin so froh, dass doch noch alles geklappt hat.«
Er nickte zum Servierwägelchen. »Noch ein Sandwich?« Sie verneinte und er merkte, wie aufgeregt sie war, da ihre Stimme zitterte. Außerdem war ihre Hand eiskalt. »Nervös?«
Sie nickte. »Ich müsste vorher noch dringend auf die Toilette.«
»Kein Problem, wir haben genug Zeit.« Er schnappte sich den Servierwagen und führte sie durch einen langen Gang in die Küche. Zwei Kolleginnen standen beim Kaffeeautomaten und tuschelten. Als sie sahen, dass Jayden und Sofia eintraten, verschwanden sie sofort, indem sie sich kichernd an den beiden vorbeidrückten. In der Botschaft wurde es nicht gern gesehen, dass man in der Kaffeeküche tratschte, und soweit Jayden mitbekommen hatte, hatte es deswegen schon mehrmals einen Anschiss gegeben.
»In der Nische neben dem Kühlschrank ist die Toilette«, erklärte er ihr.
Sofia verschwand und Jayden schob das Wägelchen zur Spüle. Kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass Sofia versuchen könnte, still und heimlich abzuhauen, doch diese absurde Idee verwarf er gleich wieder. Erstens hatte die Gästetoilette über dem Handwaschbecken nur ein kleines Fenster, durch das sich nicht einmal ein Kind hätte quetschen können, und zweitens befand sich Sofias Umhängetasche mit ihren privaten Sachen noch im Besprechungsraum. Zudem lag ihre Festplatte immer noch im Safe und ohne die würde sie wohl kaum abhauen.
Jayden aktivierte die Espressomaschine, um sich selbst eine Tasse starken Kaffee herauszulassen. Indessen schwemmte er Teller und Tassen in der Spüle ab und räumte alles in den Geschirrspüler. Neben ihm begann die Kaffeemaschine zu röcheln und zu husten. Wasserdampf stieg auf, dann erstarb das Gerät mit einem Gluckern. Kein Wasser!
Jayden wollte den Wasserzulauf überprüfen, als er merkte, wie auch das Wasser aus dem Hahn in der Spüle versiegte. Seltsam.
Er drehte den Hahn zu und wieder auf, aber aus der Leitung kam kein Tropfen mehr. Bloß ein hohles Klopfen aus den Rohren war zu hören. »Verdammter Mist!«, fluchte er.
»Was ist denn passiert?«, rief Sofia aus der Toilette.
»Das Wasser in der Küche ist aus.« Er hörte, wie Sofia die Spülung betätigte und danach den quietschenden Wasserhahn des Handwaschbeckens aufdrehte. »Hier ist das Wasser auch weg«, rief sie durch die geschlossene Tür. »Ich wollte mir gerade die Hände waschen, kommt aber nur noch ein Rinnsal heraus.«
»Ich bring dir eine Flasche Mineralwasser.« Jayden öffnete den Kühlschrank und wollte bereits zu dem Fach mit den Wasserflaschen greifen, als er bemerkte, dass im Kühlschrank kein Licht brannte.
Er schlug die Tür wieder zu und sah zur Kaffeemaschine. Das rote Licht hatte aufgehört zu blinken. Die Anzeige im Display der Mikrowelle daneben war ebenfalls weg. Das gibt es doch nicht! Er kippte den Lichtschalter an der Wand. Auch das Deckenlicht der Küche war ausgefallen.
Kein Wasser, kein Strom.
Nun blickte er aus dem Fenster. Im begrünten Innenhof der Botschaft waren soeben drei schwarze Limousinen vorgefahren. Sofias Konvoi zum Flughafen. Die Fahrer stiegen aus und zündeten sich Zigaretten an. Anscheinend hatte noch keiner von ihnen bemerkt, dass etwas auf dem Areal der Botschaft nicht stimmte.
»Komm raus«, sagte Jayden zu Sofia. Er verließ die Küche und warf einen Blick in den Gang. Auch hier war das Deckenlicht ausgefallen.
»Wir brauchen das Notstromaggregat!«, brüllte jemand.
»Ich kümmere mich darum!«, rief ein anderer.
»Die Funkverbindung ist weg«, drang eine weibliche Stimme aus einem der Büros. »Außerdem haben wir den Kontakt zum Satelliten verloren!«
Oh, oh, das klang gar nicht gut. Instinktiv griff Jayden zum roten Wandtelefon, das ihn automatisch zur Telefonzentrale der Botschaft verbinden sollte, und falls dort keiner abhob, weiter zum Pförtnerhäuschen. Aber die Leitung war tot. Nicht einmal ein Piepen drang aus dem Lautsprecher.
Verdammt! Er knallte den Hörer auf den Apparat.
Sofia kam aus der Toilette. »Was ist denn los?«
Jayden bedeutete ihr mit einer Geste, leise zu sein. Er stand immer noch halb im Gang und hörte den aufgebrachten Rufen seiner Kolleginnen und Kollegen zu.
»Ich habe kein Netz mehr!«, schrie jemand.
Jayden blickte auf sein Handy. Tatsächlich. Kein Netz. Etwas störte den Empfang. Damit war der Kontakt zur Außenwelt abgerissen. Er steckte sein Handy in die Brusttasche und lief zum Fenster. Die Fahrer und das Securitypersonal bei den Wagen hatten mittlerweile auch bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Während einige versuchten zu telefonieren, hatten die anderen die Waffen gezogen.
Und dann sah Jayden die drei riesigen Drohnen, die über den Innenhof flogen und über den Autos kreisten.
»Evakuieren Sie sofort alle Mitarbeiter!«, rief jemand im Gang. »Wir werden angegriffen!«
Sofia blickte ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. »Ist das wahr?«, flüsterte sie.
Jayden nickte. Sein Herz raste. Er starrte immer noch auf die Drohnen im Innenhof. Die Männer versuchten, die Dinger herunterzuschießen, aber niemand traf sie. Instinktiv griff Jayden nach dem Tablett vom Servierwagen. Sofia stellte sich an seine Seite. »Was ist dort draußen los?«
»Kopf runter«, krächzte er. Seine Kehle war trocken. Im gleichen Augenblick schossen die Drohnen Raketen auf die Autos. Auf die kurze Distanz sahen die rauchenden Leuchtspuren aus wie von einem Flammenwerfer. Sekunden später explodierten die Fahrzeuge mit einem gewaltigen Knall und wurden über einen Meter hochgehoben. Die Druckwelle war so gewaltig, dass alle Fensterscheiben der Gebäudefronten um den Innenhof gleichzeitig barsten.
Jayden hatte bereits das Tablett wie einen Schild hochgerissen, um sich und Sofia vor dem Splitterregen zu schützen. Um sie herum prasselten die Scherben zu Boden. Die Druckluft fegte Blätter und Servietten vom Küchentisch in den Gang. Von draußen drang der Gestank von Gummi, Öl, geschmolzenem Kunststoff und verbranntem Lack herein. Außerdem biss der Rauch der schwarzen Wolke, die gewaltig in den Himmel waberte, in Augen und Nase.
Im Innenhof brüllten die verletzten Männer. Die Autowracks brannten lichterloh.
»Was passiert hier?«, schrie Sofia.
Jayden warf das Tablett weg und packte Sofia am Handgelenk. »Du bist hier nicht mehr sicher. Wir holen deine Sachen aus dem Besprechungszimmer, dann bringe ich dich zum Hinterausgang.«
»Was ist dort?«
Jayden gab keine Antwort. Soweit er wusste, stand dort ein gepanzerter Kastenwagen. Der war ihre einzige Chance, sich in Sicherheit zu bringen.
Er zerrte sie hinter sich durch den Gang. Noch mehr Explosionen erschütterten das Gebäude. Weitere Fensterscheiben splitterten. Die Kollegen kamen ihnen entgegen und flohen schreiend und kreischend in Richtung Hinterausgang. Jayden und Sofia kämpften sich durch den Menschenstrom. Trümmer und Mauerteile flogen durch die offenen Türen aus den Büros in den Gang, gefolgt von Rauchwolken, die alles einnebelten.
Genauso muss es im Krieg zugehen, dachte Jayden erschüttert, hielt die Luft an und stieg über den Schutt.
Dort wo der Hinterausgang lag, detonierte eine weitere Rakete. Jayden hörte das dumpfe Wummern und das Knirschen von Metall. Verdammt! Das musste der Panzerwagen gewesen sein. Nun war auch der Geschichte.
Er blieb kurz stehen und dachte nach.
»Und jetzt?«, rief Sofia panisch.
»Weiter zum Besprechungszimmer!« In seinem Kopf formte sich ein Plan. Es war zwar kein besonders genialer Einfall, aber zumindest hatte er eine Idee, wie sie den Angriff überleben konnten.
Jayden war bereits durch das ganze Hafenviertel in Richtung Liverpooler Innenstadt gelaufen, als er zu einer Bushaltestelle kam, wo er im Spiegelbild der Verglasung sah, dass ihn der Mann mit der Sonnenbrille im dunklen Anzug immer noch verfolgte. Er war bereits bis auf wenige Schritte an ihn herangekommen, und gerade der Versuch, dabei so unauffällig wie möglich zu wirken, verriet, dass er etwas vorhatte.
Abrupt blieb Jayden stehen und drehte sich um. Jeder andere wäre in Jayden hineingerannt, doch der Mann stoppte rechtzeitig und betrachtete Jayden mit lächelndem Gesichtsausdruck – wohl ein kläglicher Versuch, sympathisch wirken zu wollen.
Was für ein feiner Pinkel. Der Mann war etwa so alt wie Jaydens Tante, um die fünfzig, trug ein vermutlich maßgeschneidertes Sakko, das wie angegossen passte, weißes Hemd, dunkelblaue Krawatte und funkelnde Manschettenknöpfe. Seine schwarzen Lackschuhe glänzten ebenfalls.
»Ja?«, fragte Jayden übel gelaunt.
»Können wir reden?«
»Tun wir doch schon.«
»Ich meine irgendwo, wo wir ungestört sind«, schlug der Fremde vor.
»Ehrlich gesagt habe ich kein Interesse an einer Plauderstunde. Wer sind Sie überhaupt?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte der Mann geheimnisvoll.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte Jayden.
Mr Geheimnisvoll lächelte. »Sehe ich so aus?« Er war frisch rasiert. Jayden konnte sein Aftershave riechen. »Hast du Angst vor der Polizei?«
»Warum sollte ich?«
»Wegen des illegalen Boxkampfes vorhin.«
»Welcher Boxkampf?«, fragte Jayden gespielt überrascht.
Mr Geheimnisvoll schob sich die Sonnenbrille in die kurz geschorenen grauen Haare. Seine Augen waren rauchgrau. »Nein, ich bin nicht von der Polizei. Ich wollte dich fragen, ob du dir etwas Geld dazuverdienen möchtest.«
Jayden trat einen Schritt näher und senkte gespielt interessiert die Stimme. »Was muss ich dafür tun?«
Der Kerl legte Jayden vertraut die Hand auf die Schulter. »Ich arbeite für eine Organisation, die junge Leute wie dich ausbildet.«
»Ach, wirklich?« Jayden zog die Augenbrauen hoch. »Militär?«
Mr Geheimnisvoll winkte lächelnd ab. »Nein, aber ich kann dir mehr darüber erzählen, wenn wir …«
»Nein danke, bin nicht länger interessiert«, wehrte Jayden ab und wich zurück.
Mr Geheimnisvoll sah ihn überrascht an. »Ich bin sicher, du könntest einiges von uns lernen.«
»Das glaube ich kaum. Schönen Tag noch.« Jayden wandte sich um und ging weiter. In der Spiegelung der Plexiglasscheibe sah er, dass der Mann ihm nachsah und dann zum Handy griff.
Seltsamer Typ! Tatsächlich hatte Jayden das Gespräch von Anfang an nicht die Bohne interessiert. Als er weit genug weg war, zog er grinsend die lederne Brieftasche heraus, die er Mr Geheimnisvoll geklaut hatte, während der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
535 Pfund in bar! Ein guter Schnitt. Er steckte die Scheine in seine Hosentasche und wollte die Geldbörse bereits in den nächsten Mülleimer werfen, als sein Handy läutete. Es war Tante Maggie. Sogleich ging er ran. »Ja?« Ein Bus fuhr an ihm vorbei.
»Wo treibst du dich gerade herum?«
Jayden hielt sich ein Ohr zu. »Hab mich mit Freunden bei den Docks getroffen.«
»Etwa schon wieder mit dem alten Ilja?«, fragte Maggie scharf. »Das sind nicht deine Freunde.«
»Weswegen rufst du an?«
»Nimm auf dem Heimweg Milch und Brot mit. Ich komme von der Nachtschicht etwas später heim. Dann frühstücken wir gemeinsam mit Grace.«
»Ist gut«, seufzte Jayden und steckte das Handy weg. Er sah sich um; der Fremde im Anzug war weg. Den sah er hoffentlich nie wieder.
Wenige Meter vor ihm war Sam’s Supermarkt. Jayden drängte sich zwischen den Passanten durch und betrat den Laden. Von dem gewonnenen Preisgeld der letzten Kämpfe hatte sich Jayden noch nie ein Computerspiel gekauft, ebenso wenig eine Playstation, ein Skateboard, ein iPhone, die neuesten Nike-Schuhe oder eine coole Jacke. Es war immer alles für Lebensmittel für seine Tante und seine Zwillingsschwester Grace draufgegangen. Und so füllte er auch diesmal eine große Papiertüte mit Milchflaschen und Gebäck und legte außerdem Maisdosen, Avocados, Orangen, Datteln, Mangos, Süßkartoffeln und eine Melone dazu.
Mit dem aktuellen Preisgeld kamen sie zwei Wochen lang aus, ohne Angst zu haben, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Grace arbeitete als Verkäuferin in einer kleinen Buchhandlung in der Innenstadt, und sie und Tante Maggie brauchten ihr gesamtes Geld, um Miete, Gas und Strom ihres kleinen Reihenhauses mit Vorgarten zu bezahlen, damit ihnen die Stadtverwaltung nicht die Energiezufuhr abdrehte. Solange Jayden noch keinen richtigen Job hatte, wollte er weiter für Ilja arbeiten, der ihn sowohl trainierte als auch managte.
Jayden lief zu Fuß den Weg zu ihrem Haus und stellte die Papiertüte auf der Treppe vor der Eingangstür ab. Es brannte kein Licht in der Küche. Offenbar war Tante Maggie noch nicht vom Dienst im Krankenhaus zurück und Grace föhnte sich im ersten Stock vermutlich noch die Haare, bevor sie mit dem Bus zur Buchhandlung fahren würde.
Er wollte schon den Haustürschlüssel aus der Jacke fischen, als er sich daran erinnerte, dass er immer noch die gestohlene Brieftasche besaß. Mist! Die wollte er ja wegwerfen. Rasch sah er sich um. Zum Glück beobachtete ihn niemand. Hastig kramte er sie hervor und warf noch mal einen Blick hinein, bevor er sie in einer der Mülltonnen entsorgen wollte. Vielleicht war ja noch etwas Brauchbares darin.
Kreditkarten jedenfalls nicht, wobei Jayden sich sowieso davor gescheut hätte, sie zu benutzen. Aber dafür sah er eine andere funkelnde Plastikkarte. Ein Ausweis! Sah sehr offiziell und wichtig aus. Offenbar hieß der Mann, den er bestohlen hatte, Colonel Frank Brettner – und wenn der Ausweis nicht gefälscht war, dann arbeitete der Kerl für den MI6, den britischen Geheimdienst. Was suchte so ein Typ in Liverpool? O Mann! Ein Grund mehr, die Brieftasche so rasch wie möglich loszuwerden. Aber in keiner der Mülltonnen vor ihrem Haus. Er würde die Geldbörse mitnehmen, zerschneiden und in der Toilette hinunterspülen.
Rasch kramte Jayden nach dem Hausschlüssel, doch der war nicht da. Mist! Hatte er ihn verloren, während er bei den Docks aus Jacke und T-Shirt geschlüpft war?
Er könnte Grace auf dem Handy anrufen oder einen Kieselstein gegen das Badezimmerfenster werfen.
Da hüstelte jemand. Jayden fuhr herum und bemerkte Mr Geheimnisvoll, der um die Häuserecke kam und gemächlich auf Jayden zuschlenderte. Schlagartig wurde ihm heiß, sein Puls begann zu rasen.
Colonel Frank Brettner kam mit einem überlegenen Grinsen näher, während er Jaydens Schlüssel lässig am Finger baumeln ließ. »Suchst du den hier?«
Jayden presste kurz die Lippen zusammen. »Sie haben mir meinen Schlüssel geklaut«, stellte er fest.
»Nachdem du mir meine Brieftasche gestohlen hast.« Colonel Brettner blieb vor ihm stehen und blickte auf die Supermarkttüte. »Das ging ja fix. Du hast mein Geld schon ausgegeben?«
»Das habe ich von meinem Preisgeld bezahlt.«
»Ach, dann hast du also doch geboxt?«
Jayden biss die Zähne zusammen, sagte aber nichts.
»Machen wir einen Gefangenenaustausch«, schlug Brettner vor. »Die Schlüssel gegen meine Brieftasche.«
Anscheinend konnte er von dem Kerl doch noch etwas lernen. Jayden reichte ihm die Geldbörse und nahm seinen Schlüsselbund.
Colonel Brettner warf einen Blick hinein und stellte fest, dass das Geld fehlte. »Man sieht, dass du nicht besonders clever bist, Kleiner, sonst hättest du die Brieftasche gleich vor Ort entsorgt.«
Der überhebliche Tonfall des Colonels gefiel Jayden nicht. »Ich bin eben kein professioneller Dieb.«
»Du hast sicher schon herausgefunden, dass ich für den MI6 arbeite«, sagte der Colonel. »Ich möchte dich für eine Ausbildung beim Geheimdienst anwerben.«
»Geheimdienst? Ich?«, entfuhr es Jayden.
»Ich habe dich bei den Docks kämpfen gesehen.«
»Ich bin erst sechzehn.«