Last Line of Defense, Band 2: Die Bedrohung. Die Action-Thriller-Reihe von Nr. 1 SPIEGEL-Bestsellerautor Andreas Gruber! - Andreas Gruber - E-Book

Last Line of Defense, Band 2: Die Bedrohung. Die Action-Thriller-Reihe von Nr. 1 SPIEGEL-Bestsellerautor Andreas Gruber! E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

Wir sind die gefährlichste Waffe der Welt. Wir sind die letzte Hoffnung, wenn alle anderen versagen. Wir sind die Last Line of Defense. Jayden, Lenny und Erik sind die jüngsten Agenten der Last Line of Defense. Nach ihrer ersten erfolgreichen Mission erwartet sie nun ein besonders gefährlicher Einsatz: Sie sollen herausfinden, was die skrupellose Verbrecherorganisation MOEBIUS als Nächstes plant. Dafür müssen sie das Geheimlager von MOEBIUS infiltrieren. Doch das befindet sich auf einer einsamen Insel mit unheilvollem Namen: Hell Island. Fortsetzung der rasanten Action-Thriller-Reihe von Bestseller-Autor Andreas Gruber Nur eine Handvoll Eingeweihter weiß über das geheime Ausbildungsprogramm Last Line of Defense Bescheid. Dort werden Jugendliche zu Geheimagenten ausgebildet – sie werden eingesetzt, wenn MI5, MI6 oder andere Spezialeinheiten nicht mehr weiterkommen. Die neusten Rekruten: Jayden D. Knoxville, Leonarda "Lenny" Zarakis und Erik Tuomi. Sie sind Team Omega, das letzte und jüngste Team der Organisation – und landen früher als gedacht mitten in ihrem ersten Einsatz! Erlebe alle Missionen der "Last Line of Defense"! Band 1: Der Angriff Band 2: Die Bedrohung (Herbst 2024) Band 3: Der Crash (Frühjahr 2025)

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Seitenzahl: 438

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2024 Ravensburger Verlag

 

Text: Andreas Gruber

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

 

Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH

Verwendete Bilder von FinePic®, München

 

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durchRavensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

 

ISBN 978-3-473-51232-4

 

ravensburger.com

 

Für Steffi,

meine Last Line of Defense

 

»Deswegen gibt es uns.«

Motto der Last Line of Defense

PROLOG

»Wir erreichen die Zielkoordinaten in zwei Minuten«, hallte es durch die Lautsprecher aus dem Cockpit.

Ken Garrison blickte auf seine Armbanduhr und stellte den Countdown auf 120 Sekunden. Dann erhob er sich von der Metallpritsche, die im hinteren Bereich des Frachtraums an der Wand montiert war. Rucksack, Survivalkit, Waffe und Atemgerät wogen schwer auf seinem Rücken. Aber das würde sich bald ändern, wenn er sich in die Tiefe stürzen und knapp sieben Kilometer im freien Fall zurücklegen würde, ehe er die Leine des Fallschirms zog.

»T minus 100«, drang es aus dem Cockpit. Das Licht im Frachtraum schaltete von weiß auf rot um.

Major Conklin trat an seine Seite. Im tiefroten Licht sah Conklins kantiges Gesicht mit den langen Narben auf der Wange gespenstisch aus – als wäre ihm jemand vor vielen Jahren mit einer Harke übers Gesicht gefahren. »Nervös?«, fragte er.

»Ehrlich gesagt … ja, Sir«, antwortete Garrison. »Das ist erst mein fünfter HALO-Sprung.«

Conklin lächelte. »Die ersten vier haben Sie überlebt – bei dem wird es nicht anders sein. Reine Routine. Sie werden sehen.«

»Ja, Sir.« Reine Routine. Das war auch der Grund, warum Garrison diesen Auftrag allein erledigte – ohne seine Kollegin vom Team Alpha.

Sie waren seit vier Stunden in der Defense One unterwegs. Die für militärische Spezialeinsätze umgebaute Boeing C-17 Globemaster III hatte mit ihren vier Strahltriebwerken eine Überführungsreichweite von knapp zwölftausend Kilometern. Im Moment flogen sie 300 Kilometer vor der marokkanischen Küste über dem Atlantik. Bei diesem Auftrag ging es lediglich darum, unauffällig die Insel Hell Island zu erreichen, um herauszufinden, ob von dort eine Bedrohung ausging – und falls ja, welche. Wenn alles klappte, hatte Garrison seinen Job in einer Stunde erledigt und konnte vor Sonnenaufgang den Helikopter für seinen Abtransport rufen. Kurz darauf würde ihn die Defense One wieder zurück nach England bringen, während sie sein Datenmaterial auswerteten.

»T minus 70.«

Ein Ruck ging durch die Maschine, die Mechanik quietschte und die Frachtluke begann sich zu öffnen. Augenblicklich wehte eiskalte Luft herein.

Conklin hielt sich an einer Metallstrebe fest und biss die Zähne zusammen. Seine Muskeln spannten sich unter dem dicken dunkelgrünen Pullover an. Im Gegensatz zu Conklin spürte Garrison die Kälte dank seines Thermoanzugs nur im Gesicht.

Langsam wanderte die Plattform der Frachtluke nach unten. Dunkelheit lag vor ihnen. Es war drei Uhr nachts, aber im Osten zeichnete sich bereits ein silbergrauer Streifen am Horizont ab, der im Moment nur aus dieser Höhe zu erkennen war.

»T minus 50.«

Die Atemluft wich langsam aus der Frachtkabine. Conklin legte Garrison rasch die Hand auf die Schulter. »Hals und Beinbruch, Team-Leader Alpha. Viel Erfolg.«

»Deswegen gibt es uns, Sir«, sagte Garrison.

»So ist es.« Conklin nahm die Hand von seiner Schulter und verschwand durch eine Tür nach oben in Richtung Cockpit.

Rasch legte sich Garrison die Atemmaske übers Gesicht, setzte den Helm auf und überprüfte die Anzeigen. Der Sauerstoffgehalt war gut, das Gerät funktionierte.

»T minus 30«, drang der Countdown gedämpft durch den Helm.

Die Plattform rastete ein. Garrison ging nach vorn und stoppte drei Meter vor der Kante. Ein HALO-Sprung war nicht ohne Risiken. High Altitude, Low Opening bedeutete, dass man aus enormer Höhe absprang und den Fallschirm erst kurz vor dem Ziel öffnete, um so von Radar und Sichtkontakt unentdeckt zu bleiben. Möglicherweise war dieses Vorgehen gar nicht nötig – vielleicht rettete ihm aber genau das das Leben. Je nachdem, was ihn auf Hell Island erwartete.

»Sprechprobe … Könnt ihr mich verstehen, Defense One?«, sprach Garrison in das Mikro seiner Atemmaske.

»Klar und deutlich«, kam die Stimme eines anderen Last Line of Defense-Agenten aus dem Funkraum der Defense One, der während dieser Mission den Kontakt zu ihm halten würde. »Viel Glück.«

»Danke.« Garrison kannte den Jungen. Er war vom jüngsten Team der Organisation: Team Omega. Der Bursche hieß Jayden D. Knoxville und hatte vor vier Monaten in Südamerika brisante Informationen abgefangen. Genau deswegen war Garrison jetzt auf diesem Einsatz.

»T minus 10.«

Garrison atmete tief durch, leerte seine Lunge, trat einige Schritte zurück, nahm kräftig Anlauf, stieß sich von der Kante der Plattform ab und sprang ins Freie. Kurz hatte er das Gefühl, sich nicht bewegen zu können, dann fiel er und es hob ihm den Magen hoch. Er spürte den Druck der Atmosphäre und den kalten Wind, der an seiner Kleidung zerrte.

Mit den Armen stabilisierte er seine Position, dann neigte er den Kopf, legte die Arme flach an den Körper und sauste wie eine Rakete nach unten. Ein wenig drehte er den Kopf und sah schräg über sich die Defense One, die ohne Positionslichter wie ein schwarzer Fleck mit glühenden Triebwerken in der Dunkelheit verschwand. Um ihn herum herrschte mittlerweile finstere Nacht, durchbrochen vom Leuchten weniger Sterne. Danach konzentrierte sich Garrison wieder auf seinen Military Freefall, wie Major Conklin diese Art von Einsätzen nannte.

Als das Display in seinem Helm eine Flugzeit von achtzig Sekunden anzeigte, sah Garrison zum ersten Mal die weiße Wolkendecke. Rasch flog er auf sie zu und drang im nächsten Moment auch schon in sie ein. Die nächsten Sekunden absolvierte er im Blindflug wie durch eine dichte Nebelwand. Kurz darauf durchbrach er die Wolkenschicht und sah das weite Meer unter sich.

Erst jetzt schaltete er den Helm auf Nachtsicht um und bemerkte im aufgehellten Restlicht die Umrisse der Insel. Er war viel zu weit südlich. Der Wind hatte ihn abgetrieben. Ihm blieben aber noch vierzig Sekunden, in denen er mit den Armen seine Flugrichtung korrigieren konnte.

Rasch wurde die Insel größer und Garrison steuerte die südlichste Spitze der Insel an, wo ein schmaler felsiger Küstenstreifen lag, hinter dem sogleich der dichte Urwald begann. Aufgrund der Bilder der Satellitenaufklärung hatten die Analysten der Last Line of Defense berechnet, dass dieser Punkt für eine Landung am besten geeignet war.

Wenige Sekunden vor dem Aufprall auf der Felsküste zog Garrison die Reißleine seines Fallschirms. Der entfaltete sich sogleich und der abbremsende Ruck fuhr Garrison durch den Körper. Mit den Steuerleinen veränderte er die Schlitzöffnungen des Fallschirms und lenkte ihn so nah wie möglich an den Wald heran.

Hart landete er neben spitzen Felsen auf einem dichten Wurzelgeflecht. Der Schmerz fuhr ihm ins Fußgelenk, er rollte sogleich ab, schrammte mit der Schulter über einen Ast und schlug mit dem Helm gegen einen Baumstamm.

»Fuck!«, zischte er, dann lag er auf dem Rücken. Eine Landung im seichten Wasser wäre deutlich angenehmer gewesen. Aber hier war die Strömung zu stark, außerdem hatten die Analysten aufgrund der Satellitenbilder herausgefunden, dass der Küstenstreifen um die Insel großflächig mit Wasserminen gesichert war.

Hell Island war inmitten internationaler Gewässer im Privatbesitz einer ihnen unbekannten Person und dieser Kerl hatte alles dafür getan, dass niemand so leicht einen Fuß auf die Insel setzen konnte.

»Alles in Ordnung?«, drang Jaydens Stimme nervös aus seinem Helm.

»Ja, war eine harte Landung, bin aber unverletzt – ab jetzt Funkstille. Over and out.«

Garrison rappelte sich auf, raffte den Fallschirm zusammen und flüchtete ein paar Meter tief in den Wald. Dort riss er sich Helm und Atemmaske vom Kopf und nahm das Atemgerät von den Schultern. Mit einem aufklappbaren Spaten aus seinem Rucksack hob er ein Loch im Waldboden aus, in das er den Fallschirm und sämtliche Teile der Ausrüstung vergrub, die er im Moment nicht brauchte.

Nachdem er die Stelle mit einem GPS-Tracker markiert und sicherheitshalber zwei gekreuzte Äste in die Erde gesteckt hatte, richtete er sich schweißgebadet auf und sah sich um. Seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Trotzdem setzte er sich die Brille mit dem Restlichtverstärker auf. Die Umrisse einiger Baumriesen zeichneten sich in der langsam heller werdenden Dämmerung ab.

Garrison hielt für einen Moment die Luft an, lauschte, hörte aber nichts außer vereinzeltem Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Brandung. Dann drückte er sich den Ohrstöpsel für die Funkverbindung ins Ohr. »Gehe jetzt rein.« Tief sog er den Geruch des Salzwassers in die Lunge, schulterte sein Gewehr und kämpfte sich durch den Wald ins Landesinnere vor.

Der Weg dorthin dauerte länger, als er veranschlagt hatte, aber er musste genau darauf achten, auf keine Tretmine zu steigen oder über einen am Waldboden gespannten Draht zu stolpern und so eine Sprengfalle auszulösen.

Fünfzehn Minuten später orientierte er sich mit dem Kompass an seinem Handgelenk, korrigierte seine Richtung ins Landesinnere und setzte die Wanderung fort. Plötzlich sah er durch den Restlichtverstärker eine Bewegung vor sich.

»Feindkontakt«, flüsterte er ins Mikrofon.

»Verstanden«, kam die Antwort aus der Defense One.

Soviel Garrison erkennen konnte, trug der Mann, der mitten im Dschungel vor ihm stand, eine grüne Tarnuniform … Nein, es waren zwei Personen. Eine Frau stand nur fünf Meter von dem Kerl entfernt und trug ebenfalls Tarnkleidung. Beide waren bewaffnet und hatten ein Funkgerät am Gürtel.

Leise nahm Garrison das Gewehr von der Schulter, zielte, schoss dem Mann lautlos in den Hals und der Frau in die Schulter. Beide stöhnten kurz auf, dann ließen die Narkosepfeile sie bewusstlos zu Boden sinken.

»Zwei Ziele neutralisiert – setze Kurs fort«, flüsterte Garrison und ging weiter. Er hatte maximal fünfzig Minuten Zeit, danach würden die beiden wieder zu Bewusstsein kommen.

Aber so lange brauchte Garrison nicht. Nur wenige Meter weiter stand er bereits an einem Abhang, der in einen gewaltigen Talkessel hinunterführte. Unter ihm lag mitten im Wald eine riesengroße ausgeholzte Lichtung, die von den Bergen dahinter kreisförmig umrahmt wurde.

»Das ist … unglaublich!«, entfuhr es ihm. »Mitten auf der Insel …«

»Was siehst du?«, rief Jayden, der auf seinem Drehstuhl in der Funkkabine der Defense One herumfuhr. Mit einer Hand presste er sich die Kopfhörer ans Ohr, mit der anderen schnippte er mit den Fingern und holte Major Conklin zu sich.

Der rannte sofort zu ihm und schnappte sich das zweite Paar Kopfhörer.

»Das … ist … unmöglich«, drang Garrisons aufgeregtes Keuchen durch die Lautsprecher.

Jayden hörte das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laub. Er wusste, dass Ken Garrison mit seinen vierundzwanzig Jahren der erste Agent war, den Major Conklin in der Last Line of Defense ausgebildet hatte. Daher auch die Bezeichnung Team Alpha. Garrison war der Beste von ihnen und hatte schon die meisten Einsätze erfolgreich absolviert.

»Was sehen Sie, Garrison?«, drängte der Major.

»Wer hätte das gedacht?«, flüsterte Garrison. »Ich mache ein paar Fotos …«

Im nächsten Moment fuhr Jayden zusammen, als ein Schuss durch die Kopfhörer drang.

»Verdammt, Garrison! Was ist los bei Ihnen?«, rief der Major.

Jayden sah auf die Anzeigen der Armaturen, drückte einige Knöpfe, dann nahm er die Kopfhörer ab. »Sir, wir haben den Kontakt zu Garrison verloren.«

1. TEIL

BRIGHTON ROCK

Drei Tage später

1. KAPITEL

FREITAG, 15. MÄRZ, 9:30 UHR FRÜH

Wieder einmal war Direktorin Taylor zu Besuch in Londons Downing Street Nr. 10. Diesmal begleitete Major Conklin sie, der eine große Tasche unter dem Arm hielt. Es war einer jener seltenen Momente, in denen Conklin zivile Kleidung trug, doch auch die schwarzen Jeans und der graue Pullover konnten seine militärische Körperhaltung und seine trainierte Figur nicht verbergen. Zudem brauchte man nur einen Blick in sein kantiges Gesicht mit den messerscharfen Augen werfen, auf die tiefen Narben an der Wange und den Bürstenhaarschnitt, um zu wissen, dass er keine Würstchen in einer Pommesbude verkaufte.

»Der Premierminister erwartet Sie jetzt«, sagte eine junge Frau im eleganten Businessanzug und führte sie und den Major zum Besprechungszimmer. Neben der offenen Tür stand Max Logan, der persönliche Bodyguard des Premierministers. Breit gebaut im dunkelblauen Anzug, glatzköpfig, reglos wie eine Statue, mit blauer Spiegelsonnenbrille, verschränkten Händen vor dem trainierten flachen Bauch und einem Funkmikro im Ohr. Direktorin Taylor hatte während ihrer gesamten Karriere als Leiterin der Last Line of Defense bisher höchstens fünf Sätze mit diesem wortkargen Mann gewechselt.

»Direktorin Taylor und Major Conklin sind da, Herr Premier«, sagte die Dame, ließ die beiden eintreten und schloss die Tür hinter ihnen.

»Herr Premier.« Taylor reichte ihm zur Begrüßung die Hand.

James Metcalfs Händedruck war fest. Er war der jüngste Premierminister, den Großbritannien jemals im Amt gehabt hatte – und er war es, der die Last Line of Defense vor knapp acht Jahren zu Beginn seines Amtsantritts ins Leben gerufen hatte. Direktorin Taylor war ihm direkt unterstellt und nur ihm weisungsgebunden. Alles andere wäre auch nicht möglich gewesen, da bis auf wenige Ausnahmen niemand von der Existenz der Organisation wusste – nicht einmal der britische Auslandsgeheimdienst MI6.

Major Conklin warf dem Premier zur Begrüßung nur einen Blick zu und nickte knapp. Anschließend stellte er sich in die Nähe des Fensters und spähte hinaus, wo eine Spezialeinheit der Metropolitan Police, die unter anderem den Personenschutz des Premiers übernahm, auf der Straße patrouillierte und das Gebäude bewachte.

Taylor betrachtete unterdessen die aktuelle Ausgabe des US-amerikanischen Time-Magazins auf dem Schreibtisch des Premiers. Metcalfs Foto zierte die Titelseite. Der mächtigste Mann Großbritanniens – Ein Sympathieträger in der Downing Street, lautete der Leitartikel.

Taylor hatte die sechzehnseitige bebilderte Homestory über Premier Metcalf und das anschließende Interview bereits zu Hause gelesen. Er wirkte nicht nur sehr sympathisch, sondern auch ziemlich bodenständig. Ein Mann wie du und ich, hatte ihn die Reporterin genannt. »Ich gratuliere zu diesem Artikel«, sagte sie lächelnd.

»Ach, die haben wie immer maßlos übertrieben«, wehrte Metcalf bescheiden ab, aber in Taylors Augen lag gerade in dieser Bescheidenheit sein Erfolgsrezept begründet.

Bevor Metcalf noch etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich die mit Leder gepolsterte Seitentür und Catleen, die hübsche, etwas pummelige fünfzehnjährige Tochter des Premiers, stürmte euphorisch ins Büro, bremste jedoch sofort ab, als sie die Gäste ihres Vaters sah. »Oh, sorry, wusste nicht, dass du Besuch hast.« Wie zur Erklärung wedelte sie mit einer Ausgabe des Time-Magazins. »Starker Artikel – tolles Interview, Papa.«

Metcalf lächelte bescheiden. »Danke, Cat, das ist nett von dir, aber reden wir später darüber. Wir haben im Moment zu tun.«

»Ja, sicher, Papa.« Sie nickte Taylor und Major Conklin artig zu. »Auf Wiedersehen.«

»Eine Tasse Tee?«, fragte Metcalf, nachdem seine Tochter die Tür wieder geschlossen hatte.

Taylor wehrte ab. »Nein, danke, wir bleiben nicht lange.« Damit war der Smalltalk aus ihrer Sicht beendet und sie gingen zum geschäftlichen Teil über.

Major Conklin öffnete die Tasche und zog eine Landkarte heraus, die er auf dem großen runden Besprechungstisch aus Mahagoni ausbreitete. Ein Tablet mit einer Grafikdatei hätte sicherlich auch gereicht, aber als Chefin einer Spionageorganisation misstraute Taylor digitalen Möglichkeiten und verließ sich stattdessen auf alte analoge Mittel.

»Bei ihrer ersten Warm-up-Mission vor vier Monaten«, begann der Major mit seiner Erklärung, »konnten drei unserer jüngsten Agenten, das sogenannte Team Omega, in Südamerika brisante Informationen auf dem Prototyp eines USB-Datenkabels sicherstellen.«

»Das war im November letzten Jahres … Ich erinnere mich«, sagte Metcalf und trat näher an die Karte heran. »Informationen, die uns beweisen, dass es die Verbrecherorganisation namens MOEBIUS tatsächlich gibt. Ich nehme an, Sie haben das Datenmaterial inzwischen ausgewertet.«

»Deswegen sind wir hier«, sagte Taylor. »Die Informationen sind spärlich, aber sie verraten uns, dass in naher Zukunft mehrere Terroranschläge auf Großbritannien geplant sind. Worum es genau geht, wissen wir noch nicht, nur so viel … Die Vorbereitungen zu diesen Anschlägen haben anscheinend etwas mit bestimmten Koordinaten zu tun, die wir entschlüsseln konnten.«

»Was befindet sich an diesen Koordinaten?«

»Eine Insel im Atlantik, vor der Küste Marokkos.«

Metcalf betrachtete die Karte. Sie zeigte die Westküste Afrikas und Teile des Atlantiks.

»Hier im Norden liegt Madeira«, übernahm Conklin die weitere Erklärung und tippte mit dem Finger auf eine Insel, »und südlich davon liegen die Kanarischen Inseln.« Dann legte er den Finger auf einen kleinen unscheinbaren grünen Fleck mitten im Meer. »Und genau dazwischen liegt die Insel Hell Island.«

»Hell Island?«, wiederholte Metcalf und beugte sich über die Karte. »Spanisches, portugiesisches oder marokkanisches Hoheitsgebiet?«

»Weder noch, Sir.« Conklin räusperte sich. »Im sechzehnten Jahrhundert war Hell Island eine portugiesische Strafkolonie – vor fünf Jahren wurde sie allerdings verkauft und ist heute im Privatbesitz einer Firma. Doch diese Firma existiert in Wirklichkeit nicht. Alle Spuren zu ihrem Eigentümer verlaufen im Sand.«

»Was macht diese Insel so interessant, dass man ihren Kauf verschleiern muss?«

»Das wüssten wir selbst gern. Unseren Informationen zufolge gibt es dort lediglich einige massive, aber bereits verfallene Steinbunker aus der Kolonialzeit, die mittlerweile vom Dschungel verschluckt wurden.«

»Sonst nichts?«

»Das Innere der Insel ist von Gebirgsketten umgeben und sonst gibt es dort nur Wald. Es gibt keine wertvollen Rohstoffe und für Touristen ist die Insel völlig uninteressant. Dennoch gibt es Holzstege am Ufer und schmale Pfade durch den Dschungel, wie wir mit unseren Satellitenbildern herausgefunden haben. Außerdem hat der Besitzer die Insel vermint.«

»Wer vermint eine Insel, auf der es nur verwitterte Bunker und ein paar Holzstege gibt?«, fragte Metcalf. »Haben wir Satellitenbilder vom Inneren der Insel?«

»Leider keine aktuellen, da zurzeit eine Wolkenfront und eine dichte Nebeldecke über der Insel liegen, aber wir haben zwei Wochen alte Aufnahmen.«

»Und?«

»Nichts darauf zu erkennen außer dichter Wald und zerklüftete Felsformationen.«

Metcalf richtete sich auf. »Was könnte es dort geben, von dem wir nichts wissen?«

»Genau das wollten wir herausfinden«, sagte Direktorin Taylor. »Dabei haben wir unseren besten Agenten verloren, der die Insel ausspionieren sollte.«

»Verdammt!« Metcalf sah betroffen zu Boden. »Mein Beileid.«

Major Conklin holte sein Handy aus der Hosentasche und spielte dem Premier den letzten Funkspruch von Agent Garrison vor, woraufhin Metcalf nur »Shit« knurrte und die Lippen zusammenpresste. »Ken Garrison war der Sohn eines ehemaligen Schulfreundes.«

»Ich weiß, Sir, tut uns leid«, sagte Direktorin Taylor.

»Danke. Ist aber nun mal nicht zu ändern. Machen wir weiter.«

»Der strategische Aufklärungsdienst der Last Line of Defense hat herausgefunden, dass zurzeit relativ viele junge Männer und Frauen im Alter von achtzehn und neunzehn Jahren Flugverbindungen nach Agadir gebucht haben.« Direktorin Taylor schnappte sich einen Kugelschreiber und kreiste eine Stadt an der marokkanischen Küste ein, die auf Höhe der Insel lag.

»Eine Art Summer-Splash-Festival für Abiturienten?«, vermutete Metcalf.

»Dachten wir zunächst auch, aber unsere Recherchen haben ergeben, dass sämtliche junge Erwachsene, die zurzeit dorthin reisen, vorbestraft sind und einen kriminellen Hintergrund haben. Insgesamt handelt es sich um dreiundzwanzig Personen. Wir wissen nicht, was sie dort vorhaben – nur, dass sie anscheinend ein und dasselbe Ziel haben: Hell Island.«

»Warum Teenager?«, fragte Metcalf.

»Wissen wir nicht.«

Metcalf kaute an der Unterlippe. »Von welcher Nationalität?«

»Da sind alle möglichen darunter«, erklärte der Major. »Russen, Polen, Tschechen, Rumänen, Franzosen, Italiener, Portugiesen, Spanier und Türken.«

»Keine Briten?«

»Nein, Sir. Hier sind die Dossiers der Personen mit allen Informationen, die der britische Nachrichtendienst für uns herausfinden konnte.« Major Conklin holte aus seiner Tasche einen Stapel Mappen, auf denen das Logo der Defence Intelligence mit der britischen Krone zu sehen war.

»Inwieweit ist der Nachrichtendienst darüber informiert, woran wir gerade arbeiten?«, fragte Metcalf.

»Gar nicht, Sir. Wir haben die Informationen erhalten und ab jetzt übernehmen wieder wir.« Major Conklin schob die Dossiers auseinander, fischte drei davon heraus und öffnete sie, sodass drei Stammdatenblätter mit je einem Foto zum Vorschein kamen. »Von allen Teenagern haben wir diese drei aus dem Verkehr gezogen.«

»Ich nehme an, dass Sie dabei nicht nach dem Zufallsprinzip vorgegangen sind«, stellte Metcalf fest.

»Richtig, Sir, wir haben uns für jene Personen entschieden, die die größte optische Ähnlichkeit mit drei unserer eigenen Agenten haben.«

Metcalf schaute kurz auf, als ahnte er bereits, worauf die Sache hinauslaufen würde. »Und was haben Sie mit den dreien vor?«

»Zurzeit verhören wir sie in unserem Hauptquartier in Brighton.«

Metcalf zog die Augenbrauen zusammen. »Und danach?«

Major Conklin holte drei weitere Dossiers aus der Tasche, diesmal von Agenten der Last Line of Defense, und legte sie vor Metcalf auf den Tisch.

Metcalf betrachtete die Stammdatenblätter. »Erik Tuomi, Leonarda Zarakis und Jayden D. Knoxville«, las er vor. »Unsere jüngsten Agenten, Team Omega, wenn ich mich richtig entsinne«, murmelte er, dann atmete er tief durch. »Ich ahne, was Sie vorhaben. Wir tauschen sie aus, richtig?«

»Richtig, Sir, das tun wir.«

»Wann beginnen Sie damit?«

»Leider haben wir nicht mehr viel Zeit«, seufzte Major Conklin. »Wir beginnen noch heute mit den Vorbereitungen.«

Metcalf betrachtete die Fotos der drei Teenager. »Gott stehe ihnen bei.«

Möglicherweise dachte er dabei gerade an Ken Garrisons Schicksal.

2. KAPITEL

Obwohl Jayden D. Knoxville aus der Hafengegend von Liverpool stammte, hatte er sich rasch an die noble Umgebung im Süden Englands an der Küste von Brighton gewöhnt. Dort lagen das Hauptquartier und zugleich auch die Academy, das Ausbildungscenter der Last Line of Defense.

Wegen des massiven bunkerartigen Baustils wurde dieses Gebäude auch Brighton Rock genannt. Schiefergrau und backsteinrot gesprenkelt thronte es wie ein Fels in der Brandung. Da das Bauwerk eine ehemalige Werftanlange war, in der man früher Schiffe gewartet hatte, gab es im Untergeschoss ein großes Trockendock mit einem direkten Zugang zum Meer. Das war jedoch der einzige Teil, der von der Werft erhalten geblieben war, als man den Rest vor knapp acht Jahren zur Academy umgebaut hatte. Zur Tarnung hieß das Unternehmen, das hier geführt wurde, aber immer noch Brighton Beach Shipyard.

Es war Freitagabend. Die Sonne ging gerade im Meer unter und tauchte die Umgebung in einen dunklen Orangeton. Aber dieser idyllische Anblick täuschte. Draußen war es saukalt – typisches Märzwetter. Jayden lief durch die Gänge des Gebäudes zum Verhörraum. Auf direkte Anweisung von Direktorin Taylor sollte er sofort erscheinen, wusste jedoch nur, dass dort gerade ein junger Mann einem Lügendetektortest unterzogen wurde.

Jayden öffnete die Tür zum Vorraum. Das Zimmer war dunkel und vor der großen Glaswand mit dem Einwegspiegel sah er die Umrisse von Mr Wakefield, ihrem Ausbilder in Tarnen, Täuschen und Tricks. Er stand mit dem Rücken zu Jayden, mit den Händen in den Hosentaschen, und blickte durch die Scheibe in den mit grellem Neonlicht beleuchteten Verhörraum, der ähnlich wie die Zelle einer Psychiatrie mit weißem Leder ausgepolstert war. Darin befanden sich nur zwei Stühle und ein Tisch mit einem Mikrofon, einer Kamera und jeder Menge elektronischer Apparaturen darauf.

Dr. Elly D. Shepard verhörte gerade einen jungen Mann mit hellbrauner Haut. Die Psychologin der Last Line of Defense war die einzige Ausbilderin, zu der die Rekruten Elly sagen durften, denn alle anderen waren für sie Sir, Mister, Mrs oder Miss.

»Jayden?«, fragte Mr Wakefield, ohne sich umzudrehen.

»Ja, Sir.« Jayden schloss die Tür und stellte sich an Mr Wakefields Seite. »Wer ist das?«

»Diego Álvaro, achtzehn Jahre alt, stammt aus Madrid.«

»Ein Portugiese also?«, fragte Jayden überrascht.

Mr Wakefield drehte langsam den Kopf zu Jayden und kniff die Augenbrauen zusammen, als wollte er sagen: Willst du mich schon wieder verarschen, Junge?

»War nur ein Scherz«, sagte Jayden rasch.

»Du verbringst zu viel Zeit mit Erik«, stellte Mr Wakefield fest.

Mag sein. Jayden betrachtete den Spanier auf dem Stuhl genauer, an dem jede Menge Saugnäpfe mit Kabeln hingen. Im gleichen Moment ahnte Jayden, warum ausgerechnet er zu diesem Verhör geholt worden war. Diego Álvaro sah ihm verdammt ähnlich. Hellbraune Haut, schwarzes Haar und sogar Größe und muskulöse Statur stimmten mit ihm überein.

Diego Álvaro hatte einen harten Gesichtsausdruck, als wäre er auf den Straßen eines ghettoartigen Vororts von Madrid groß geworden. Jayden kannte diesen Blick nur zu gut, hatte er doch selbst einen Großteil seines Lebens bei den Docks von Liverpool verbracht und seit seinem fünfzehnten Lebensjahr mit illegalen Bare Knuckle Fights Geld verdient, anstatt die Schulbank zu drücken. So gesehen hätte Diego Álvaro locker Jaydens um ein Jahr älterer und bedeutend gefährlicherer Bruder sein können. Aus letzterem Grund stand vermutlich ein breitschultriger und hochgewachsener bewaffneter Security-Mann der Last Line of Defense seitlich hinter Diego und beobachtete jede seiner Reaktionen wie ein Falke.

»Nettes Kerlchen …«, bemerkte Jayden. »… ich meine den Jungen.«

»Er lügt«, stellte Mr Wakefield humorlos fest, »aber ich bin noch nicht dahintergekommen, wie der kleine raffinierte Bastard es anstellt, dass der Lügendetektor bei ihm nicht anschlägt.«

Nun steckte auch Jayden die Hände in die Hosentaschen und verfolgte das weitere Verhör. Über Lautsprecher war Ellys angenehme ruhige Stimme zu hören.

»Also noch mal von vorne, Diego«, sagte sie und strich sich geduldig das kurze schwarze Haar ihrer Pagenfrisur hinters Ohr. Wie immer trug sie eine elegante makellose Bluse, die keine einzige Falte oder Druckstelle aufwies. »Wurden Sie schon einmal einem Lügendetektortest unterzogen?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Haben Sie jetzt gerade Angst?«

»Nein.«

»Ist Ihr Name Diego Álvaro?«

Genervt wippte er mit dem Fuß. »Ja.«

»Sind Sie ein Elefant, der im Kongo lebt?«

»Nein.«

»Wiederholen Sie meine Aussage: Ich bin ein Tiger, der in Indien lebt.«

»Ich bin ein Tiger, der in Indien lebt. Was soll der ganze Scheiß?«

»Beantworten Sie nur meine Fragen.« Sie machte eine Pause. »Sind Sie ein Kleinkrimineller, der nach Agadir reisen wollte?«

Er hörte kurz auf, mit dem Bein zu wippen. »Nein.«

»Danke.« Elly lehnte sich zurück und schaute leicht frustriert zu den Anzeigen auf den Wanddisplays.

Jayden betrachtete ebenfalls die Werte von Diegos Atemfrequenz, Puls, Blutdruck und Hautwiderstand. Er wusste, dass bei einem Lügendetektortest zunächst einmal die Werte ermittelt wurden, die für den Befragten normal waren. Wie war seine Reaktion, wenn er die Wahrheit sagte? Wie, wenn er log? Aber bis auf die Sache mit dem Tiger hatte er anscheinend die ganze Zeit die Wahrheit gesagt.

»Ich glaube ihm nicht«, knurrte Mr Wakefield. »Wir wissen, dass er ein Krimineller ist, der nach Agadir reisen wollte. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er weicht unserem Test geschickt aus.«

»Warum sollte er das tun? Und vor allem: Woher sollte er diese Fähigkeit besitzen?«, fragte Jayden.

»Ganz einfach …« Mr Wakefield drehte sich zu ihm. »Weil er bestimmt auf genau solche Situationen trainiert wurde, denn warum sonst sollte eine Organisation wie MOEBIUS jemanden wie ihn anheuern für etwas, über das wir leider noch nichts wissen?«

»Manchmal hört Diego auf, mit dem Bein zu wippen«, murmelte Jayden gedankenversunken.

»Und?«, fragte Mr Wakefield irritiert.

»Nun ja, mir ist aufgefallen, dass er immer dann, wenn er wirklich die Wahrheit sagt, die Ferse auf den Boden presst.«

»Und wenn er vermeintlich lügt, tut er das nicht?«

»Nein«, sagte Jayden.

»Verdammt! Das ist es. Du bist genial.« Mr Wakefield klatschte in die Hände.

»Was bin ich?«, fragte Jayden überrascht.

Ohne eine Antwort zu geben, lief Mr Wakefield raus.

»Keine Ursache«, murmelte Jayden und beobachtete, wie Mr Wakefield den Verhörraum betrat, sich dem Jungen näherte und sich vor ihm hinunterbeugte. Sicherheitshalber trat der Gorilla ebenfalls einen Schritt näher. Mit einer raschen Bewegung zog Wakefield dem Jungen den linken Schuh aus.

»Verdammt, was machen Sie da?« Diego wollte aufspringen, doch der Wachbeamte drückte ihn mit seiner mächtigen Pranke wieder zurück auf den Stuhl.

Mr Wakefield fuhr mit den Fingern im Schuh herum und stieß ein kurzes »Aha!« aus. Er drehte sich zu Elly. »Was für ein cleveres Bürschchen er doch ist. Als er vorhin auf die Toilette gegangen ist, muss er irgendwie an eine Büroklammer rangekommen sein.« Er zeigte ihr den Schuh. »Innen aus der Schuhsohle ragt ein kleiner spitzer Stahlstift und jedes Mal, wenn Diego die Wahrheit sagt, drückt er mit der Ferse drauf, damit Puls und Schweißproduktion in die Höhe schnellen.«

Ellys Gesicht erhellte sich. »Damit hebt er seine Reaktionen auf dasselbe Niveau wie dann, wenn er lügt – und wir erkennen keinen Unterschied.«

Nun zog Mr Wakefield Diego auch noch den zweiten Schuh aus und warf beide in die Ecke. »So, Junge – und jetzt das Ganze noch mal von vorne.« Auffordernd blickte er zu Elly.

Sichtlich nervös beantwortete Diego nun der Reihe nach Ellys völlig harmlose und normale Fragen, und kurz darauf ging es auch schon ans Eingemachte.

»Haben Sie schon einmal einen Lügendetektortest gemacht?«

»Nein.«

Jayden betrachtete die Anzeigen. Eine Lüge!

»Haben Sie Angst?«

»Nein.«

Wieder eine Lüge. Er hatte also Angst. Sehr gut, dachte Jayden und grinste innerlich.

»Haben Sie vor, bei diesem Test zu lügen?«

»Nein.«

Wieder eine Lüge!

»Werden Sie bei allen Antworten die Wahrheit sagen?«

»Ja.«

Wieder eine Lüge!

Nun spielten Mr Wakefield und Elly ihre Version von »Guter Cop – Böser Cop«. Die Psychologin blieb völlig ruhig und verständnisvoll, während Mr Wakefield regelmäßig aufbrauste, um Diego aus dem Konzept zu bringen.

»Der Polygraf zeigt aber an, dass Sie lügen!«, brüllte er Diego nach einer völlig banalen Frage an, obwohl das gar nicht stimmte, da die Anzeigen gar nicht angeschlagen hatten. Bloß ein einfacher Trick, wie Jayden vermutete, um Diego zu verunsichern, der die Anzeigen hinter sich gar nicht sehen konnte. So spielten Mr Wakefield und Elly eine Weile Katz und Maus mit Diego, bis er sich schweißgebadet in seinen eigenen Aussagen verhedderte und schließlich unter dem Stress und dem Druck emotional zusammenbrach. Jayden hatte sich inzwischen einen Stuhl geholt und das ganze Verhör aufmerksam durch die Glasscheibe verfolgt.

Eine Stunde später wussten sie, dass Diego von einer ihm unbekannten Organisation rekrutiert worden war, um für einen dreiwöchigen Aufenthalt zur Insel Hell Island zu reisen. Die Route war bereits für ihn zusammengestellt worden und er hatte auch schon die Flugtickets samt Sitzplatzreservierung erhalten. Allerdings wusste er nicht, wer das für ihn gebucht hatte. Jedenfalls hatte er für diese drei Wochen im Voraus vier Kilogramm Goldbarren im Wert von zweihunderttausend amerikanischen Dollar erhalten – neben Bitcoins eine in der Unterwelt gebräuchliche Zahlungsweise, die kaum zurückverfolgt werden konnte. Nach diesen drei Wochen sollte er weiters eine Million Dollar erhalten. Wofür – das wusste er noch nicht.

»Kennst du einen dieser Teenager?«, fragte Mr Wakefield und zeigte Diego die Fotos von zweiundzwanzig jungen Frauen und Männern von achtzehn und neunzehn Jahren.

»Nein.«

Mr Wakefield las die Namen einzeln vor, doch Diego verneinte jedes Mal. Er sagte stets die Wahrheit.

»Unter welcher Voraussetzung wurdest du engagiert?«, fragte Elly.

»Es wurde nur verlangt, dass ich keine Skrupel habe und fließend Englisch spreche.«

»Sonst nichts?«

»Nein.«

Wieder sagte er die Wahrheit.

»Und warum solltest du nach Hell Island reisen?«

»Ich sollte dort ausgebildet werden.«

»Aber auf der Insel gibt es nichts außer Dschungel, Gebirge und ein paar alte verfallene Bunker.«

»Ich weiß auch nicht mehr – nur dass ich dort meine Instruktionen erhalten sollte.«

»Wofür?«

»Für einen Anschlag.«

»Gegen wen oder was?«

»Ich weiß nicht einmal, in welchem Land, sondern nur, dass ich mir dabei nicht die Hände schmutzig machen muss, es aber trotzdem weitreichende Folgen haben würde.«

»Was weißt du sonst noch darüber?«

»Nichts – ich schwöre, das ist die Wahrheit.«

Jayden blickte auf die Anzeigen. Er sagte wirklich die Wahrheit.

3. KAPITEL

Später am Abend wurde Jayden in das Einsatzbesprechungszimmer im Kellergeschoss gerufen. Auf dem Weg begegnete er Erik Tuomi, der ebenfalls dorthin unterwegs war. Der Finne mit den kurzen strubbligen silbergrauen Haaren war genauso wie Jayden im Team Omega und wurde seit mittlerweile eineinhalb Jahren ausgebildet.

»Bin neugierig, was die von uns wollen«, murmelte Erik mit leicht skandinavischem Akzent. »Es ist Freitagabend und ich habe Pläne fürs Wochenende.«

»Ich glaube, die kannst du dir abschminken.«

Erik sah Jayden an, als befürchtete er dasselbe, dann drehte er sein Handgelenk und biss dabei die Zähne zusammen.

Beim letzten Kampfsporttraining hatte ihn Mrs Harding so hart auf die Matte geworfen, dass er sich die Hand verstaucht hatte. Großkotzig wie immer hatte Erik aber nur gemeint, dass er bei einem früheren Einsatz mit dem deutschen GSG 9 Anti-Terror-Kommando schlimmere Verletzungen erlitten habe, als sie auf einer Brücke aus einem fahrenden Schnellzug abspringen mussten – doch jeder wusste, dass Erik gern flunkerte, was seine Einsätze vor der Last Line of Defense betraf. In Wirklichkeit kannte er niemanden bei der GSG 9 und sein Handgelenk tat ihm höllisch weh, aber das hätte er nie zugegeben.

Allerdings musste man ihm zugutehalten, dass er tatsächlich extrem sportlich und fit war. Bevor er von Mr Finley für die Last Line of Defense angeworben worden war, hatte Erik halsbrecherische Stunts für seinen eigenen Videoblog gemacht.

»Was denkst du, worum es geht?«, fragte Erik jetzt.

»Ich war gerade bei einem Verhör«, sagte Jayden.

Eriks eisgraue Augen blitzten kurz auf, dann sahen sie jedes Mal wie die eines Huskys aus. »Echt, Alter? Was hast du angestellt?«

»Gar nichts, du Vollpfosten! Ich habe nur zugesehen.«

»Oh, ich auch«, murmelte Erik. »Mr Elliot hat einen Dänen verhört.«

Gedankenversunken kniff Jayden die Augenbrauen zusammen. »Hat er dir ein wenig ähnlich gesehen?«

»Mr Elliot?«

Jayden verzog genervt das Gesicht.

»Ach so, okay …« Erik runzelte die Stirn, als dachte er nach. »Ja, eigentlich … wenn ich es mir recht überlege, ein bisschen schon, warum?«

»Ach, nur so.« Jayden ahnte bereits etwas, sagte aber nichts. Sie erreichten das Einsatzbesprechungszimmer und Jayden zog die Tür auf. »Ladies first!«

»Danke, Ma’am.« Erik reckte das Kinn nach vorn und ging als Erster hinein.

Der ovale Raum war abgedunkelt. Um den großen länglichen Tisch saßen nur Major Conklin, wie immer in Uniform, und Lenny Zarakis.

Lenny war auf der griechischen Insel Kreta aufgewachsen, bis Mr Finley auch sie für die Last Line of Defense angeworben hatte. Sie trug schwarze Sportleggins und ein schwarzes Top, war mit dem Stuhl nach hinten gekippt und wippte auf den Hinterbeinen vor und zurück, während sie die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Deutlich waren ihre breiten Schultern und die starken Oberarmmuskeln zu sehen, die vom Klettern stammten. An ihrem Unterarm haftete noch ein wenig Magnesium. Lenny war bereits als Kind griechische Staatsmeisterin im Solo-Freeclimbing gewesen. Demensprechend groß und breit waren ihre Finger – und entsprechend hart ihr Händedruck. Jayden hatte es einmal genossen, eine Minute lang mit dem Hals in ihrem Würgegriff zu stecken, bis er sich mit einem Handballenschlag gegen ihre Schläfe freikämpfen konnte.

Eigentlich war er gar nicht überrascht, dass Lenny auch hier war. Anscheinend ging es um die Team-Besprechung zu einem neuen Einsatz.

Auf die große Videowand war eine Karte der afrikanischen Westküste projiziert. Jayden nahm an, dass es sich bei der rot eingekreisten Insel um Hell Island handelte.

»Platz nehmen, Gentlemen«, knurrte der Major. »Wir starten gleich.«

Bevor Jayden sich hinsetzte, beugte er sich über den Tisch und raunte Lenny zu: »Wie war dein Verhör?«

Sie sah ihn überrascht an. »Woher weißt du, dass …?«

»Ruhe!«, rief der Major.

Jayden grinste innerlich. Er hatte es nicht gewusst, sondern einfach nur geraten. Ihm war längst klar, worum es hier ging.

»Ersparen wir uns den Smalltalk«, begann der Major. »Ihr seid zwar noch …«

Erik beugte sich räuspernd über den Tisch zu einer Schüssel. »Darf ich die Cashews …?«

»Herrgott, Mr Tuomi!«, fuhr Major Conklin ihn an. »Meines Wissens nach wurden diese Cashews schon ein Jahr lang nicht mehr angerührt. Niemand isst sie. Dienen bloß der Dekoration.«

»Dann wird es höchste Zeit«, seufzte Erik und zog die Schüssel zu sich. Mit der ganzen Hand fuhr er hinein und schob sich die Nüsse in den Mund. Generös bot er Lenny den Rest in der Schüssel an, woraufhin diese nur angewidert das Gesicht verzog.

»Dürfte ich jetzt weitermachen, Mr Tuomi?«, fragte der Major gereizt.

Großzügig wedelte Erik mit der Hand. »Nur zu«, murmelte er mit vollem Mund.

Der Major ging vor der Videowand auf und ab. »Ihr seid zwar erst im zweiten Jahr eurer Ausbildung, aber da ihr euch bei eurem letzten Einsatz in Südamerika bewährt habt, möchten Direktorin Taylor und ich euch undercover einsetzen. Und zwar auf dieser Insel.« Er zeigte mit dem Laserpointer auf die rot eingekreiste Insel.

»Sieht wie ein todlangweiliges Fleckchen Erde aus«, bemerkte Erik.

»Ist das die Insel, auf der Ken Garrison ums Leben gekommen ist?«, fragte Lenny, woraufhin Erik eine Augenbraue hochzog.

»Ja, ist es«, kam Jayden dem Major mit trockener Kehle zuvor.

Conklin presste die Lippen zusammen. »Ja, das ist Hell Island«, knurrte er und betätigte die Fernbedienung. »Diese drei Kleinkriminellen haben eine Reise nach Marokko gebucht, weil sie vermutlich von dort aus nach Hell Island wollten.« Er zeigte ihnen Fotos von Diego Álvaro, einem blonden Dänen und einer dunkelhaarigen Südländerin. Die junge Frau schien zwar etwas älter zu sein als Lenny, hatte aber eine ähnliche Statur. Allerdings hatte Lenny keine gelockte schwarze Mähne, sondern die Haare auf beiden Seiten bis über die Ohren zu einem Undercut rasiert und lange brünette Zöpfe.

»Die Mission wird kein Kindergeburtstag«, fuhr der Major fort, »aber um ehrlich zu sein, bleibt uns keine andere Wahl, als euch drei dort hinzuschicken, da ihr fast so ähnlich ausseht wie der junge Spanier, der Däne und die Italienerin, bei deren Verhören ihr heute anwesend wart.« Der Major blickte zu Erik und Lenny. »Sofern man optisch kräftig nachhilft.«

»Der Däne ist aber nicht so hübsch wie ich«, entfuhr es Erik prompt mit vollem Mund.

»Ja, das ist uns allen klar, dass du dich ziemlich verstellen musst, damit du genauso unsympathisch und hässlich wie der Däne wirkst«, sagte Lenny sarkastisch.

Erik atmete tief durch. »Aber ich denke, das krieg ich hin.«

»Davon gehe ich aus«, sagte der Major etwas genervt. »Euer Auftrag lautet: Ihr reist anstelle der drei Kriminellen zur Insel. Sobald ihr erfahren habt, was auf der Insel vor sich geht und welchen Anschlag MOEBIUS vorbereitet, kehrt ihr über eine sichere Route nach Europa zurück. Sobald die Gefahr droht, dass ihr auffliegt, kehrt ihr ebenfalls sofort zurück. Wenn ihr verletzt werdet …«

»Kehren wir sofort zurück«, sagte Erik.

»Richtig. Ihr bleibt nur im äußersten Notfall die ganzen drei Wochen auf der Insel. Ihr dürft kein Risiko eingehen! Ist das klar?«

Jayden bemerkte, wie Lenny aufhörte, mit dem Stuhl zu wippen, angestrengt nachdachte und sich offenbar alles durch den Kopf gehen ließ. Mittlerweile hatte er herausgefunden, dass Lenny nicht nur ein Sprachtalent, sondern auch ein Schachgenie war und immer zwei bis drei Züge mehr als alle anderen vorausplante. Im Gegensatz zu ihr schlugen Erik und er immer gleich zu – Erik, weil er ein Hitzkopf war und nicht über die Konsequenzen seines Tuns nachdachte, und Jayden, weil ihm die Konsequenzen egal waren, da er manchmal eine unbändige Wut im Bauch spürte.

»Aber wir beherrschen doch gar nicht die Muttersprache dieser drei Leute – zumindest nicht fließend«, gab Lenny zu bedenken.

»Guter Einwand – aber das ist möglicherweise gar nicht nötig«, verriet Conklin. »Alle drei wurden unter anderem auch deshalb engagiert, weil sie …«

»… fließend Englisch sprechen«, vollendete Jayden den Satz.

Der Major nickte. »Richtig, zwar nicht völlig akzentfrei, aber nahezu. Scheint so, als würde auf der Insel nur Englisch gesprochen werden.«

»Und die drei werden solange hier gefangen gehalten?«, fragte Erik.

»Nicht gefangen gehalten – untergebracht«, korrigierte der Major ihn. »Verpflegung und Unterkunft auf Kosten der britischen Regierung.«

»Ich nehme an, es geht bald los«, sagte Lenny, »bevor unseren Gegnern klar wird, dass diese drei Personen verschwunden sind.«

»Absolut korrekt, Miss Zarakis.« Der Major nickte. »Normalerweise braucht es mindestens zwei bis drei Wochen, um eine solche Operation mit entsprechenden Doubles vorzubereiten. Wir haben jedoch nur ein kleines Zeitfenster, denn die geplante Reise nach Marokko findet bereits nächsten Montag statt. Das ist in drei Tagen.« Er blickte zu Erik. »Mr Tuomi!«, sagte er streng. »Hör jetzt endlich auf, diese Nüsse zu essen! Halb tot bist du für die Last Line of Defense wertlos. Training und Vorbereitungen beginnen morgen früh um acht Uhr.«

4. KAPITEL

Um halb sechs Uhr früh des nächsten Tages stand Jayden in der Liverpooler Innenstadt vor dem Reihenhaus seiner Tante. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und blies sich in die Fäuste. Es war saukalt und die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen. Feuchtigkeit lag in der Luft und zarter Nebel waberte über den kleinen Vorgarten und die Pflastersteine der Gasse. Irgendwo bellte ein Hund und ein Lastwagen, der Glasflaschen geladen hatte, holperte klirrend über die Straße.

Jayden hatte sich um ein Uhr früh heimlich aus Brighton Rock geschlichen und war mit dem Nachtzug von Brighton über London nach Liverpool gefahren – knapp vier Stunden lang.

Jetzt standen Tante Maggie und seine Zwillingschwester Grace vor ihm. Maggie hatte bereits ihre blaue Schwesterntracht und einen Mantel darüber an; sie arbeitete als Hebamme im Krankenhaus und würde sich vermutlich gleich auf den Weg in den Frühdienst machen. Grace hingegen hatte noch den Morgenmantel an und blickte Jayden durch die Gläser ihrer viel zu kleinen Brille aus verschlafenen Augen an. Es war Samstagfrüh, bestimmt hätte sie bis zehn Uhr gepennt.

»Dass ich dich mal wieder zu Gesicht bekomme und dann noch mitten in der Nacht …« Gähnend rieb sie sich die Augen.

»Möchtest du nicht hereinkommen und eine Tasse Tee mit uns trinken?«, fragte Maggie und blickte auf die Uhr.

Jayden wehrte ab. »Nein, danke, ich bin nur hergekommen, um euch kurz zu sehen – muss gleich wieder weg.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Maggie. »Haben sie dich in der Werft rausgeworfen?«

Grace grinste müde. »Hat bestimmt irrtümlich ein Schiff versenkt.«

»Im Job ist alles in Ordnung«, versicherte Jayden ihnen. Die beiden hatten keine Ahnung von der Existenz der Last Line of Defense. Sie gingen davon aus, dass er in Brighton einen gut bezahlten Job in einer Werft angenommen hatte.

»Warum kommst du ausgerechnet jetzt?«, fragte seine Tante.

»Ich muss am Montag für längere Zeit beruflich verreisen und wollte euch vorher noch einmal kurz sehen«, sagte Jayden – und das entsprach sogar der Wahrheit.

Major Conklin hatte ihnen gestern Abend noch gnadenlos eingebläut, dass sie ab jetzt jeglichen Kontakt zu ihren Eltern, Freunden und Verwandten einstellen und ihre Vergangenheit und Herkunft vergessen mussten, um sich voll und ganz auf ihre neue Identität zu konzentrieren.

Ihre Vergangenheit und Herkunft vergessen!

Wie konnte er etwas vergessen, das er gar nicht wusste? Er hatte keine Ahnung über seine Herkunft. Daher hatte er spontan das Bedürfnis gehabt, seine Tante und Grace noch einmal zu sehen. Der Job dauerte womöglich drei Wochen und er wusste nicht, wann und ob er überhaupt jemals wieder zurückkommen würde. Was, wenn ihn dasselbe Schicksal ereilte wie Ken Garrison? Dann würde er im Zinksarg nach Liverpool überstellt werden und hätte keine Chance gehabt, mehr über sich und seine Wurzeln herauszufinden.

»Noch einmal kurz sehen?«, wiederholte Grace ungläubig. »Musst du etwa in den Knast?«

Jayden warf ihr einen bissigen Blick zu.

Auch Tante Maggie betrachtete ihn skeptisch. Eigentlich war sie gar nicht ihre richtige Tante, sondern hatte Grace und ihn nur adoptiert, nachdem ihre Mutter nach ihrer Geburt im Children’s University Hospital in London mit starken Unterleibsblutung gestorben war, da sie die Bluttransfusion zu spät bekommen hatte.

»Wie war das damals mit unserer Mutter?«, fragte Jayden.

»Ernsthaft?« Grace schlang sich den Morgenmantel um den Körper und vergrub die Hände in den Seitentaschen.

»Das interessiert dich jetzt?«, fragt Maggie.

Während der Zugfahrt hatte er die ganze Zeit auf das Foto seiner Mutter gestarrt, jenes kleine, mittlerweile vergilbte Bild, das sie damals bei sich gehabt hatte und das er stets in seiner Brieftasche bei sich trug. »Ich muss immer öfter an sie denken«, gab er zu. »Und wer weiß schon, wann wir uns wiedersehen?«

»Willst du nicht doch hereinkommen?«

Jayden wehrte ab.

»Also schön.« Maggie atmete tief durch. »Eure Mutter war erst achtzehn. Sie war hochschwanger und kam ohne Reisepass und ohne Visum nur mit ein wenig Bargeld und einem kleinen Koffer mit Wäsche, Seife und Zahnputzzeug von Sri Lanka nach London.«

»Und einem Buch«, ergänzte Jayden. Er wusste, dass ihre Mutter ein nagelneues Exemplar von 999 Dinge, die Sie wissen müssen, bevor das Leben zu Ende ist von der damals noch jungen Psychologin Elly D. Shepard in ihrer Tasche gehabt hatte.

»Richtig.«

»Obwohl sie nicht Englisch konnte?«, hakte Jayden nach.

»Ja, darüber haben wir uns damals im Krankenhaus auch gewundert«, erklärte Maggie. »Ich habe zu jener Zeit noch im Children’s University Hospital in London gearbeitet und bin in jener Nacht im Dienst gewesen, als die Sanitäter Shyla eingeliefert haben. Sie war in der Londoner Innenstadt mit ihrem Koffer auf dem Weg zu einem Nobelrestaurant gewesen, wo sie sich mit jemandem treffen wollte, als plötzlich die Wehen einsetzten. Die Fruchtblase war schon geplatzt und eure Herztöne waren ganz schwach. Danach habe ich euch beide auf die Welt gebracht. Ihr habt drei Tage auf der Intensivstation gelegen.« Sie drehte sich zu Grace und strich ihr übers lange pechschwarze Haar.

Jayden wusste, dass Shyla ihre beiden Babys nie zu Gesicht bekommen hatte – und dass Maggie ihnen, nach Absprache mit den Behörden, die Namen Jayden und Grace gegeben hatte. Grace, weil seine um drei Minuten ältere Schwester im Schlaf so gewirkt hatte, als würde sie entzückend und anmutig lächeln – und Jayden, dessen Name dankbar bedeutete, weil alle so dankbar waren, dass er am Leben bleiben durfte, während seine Mutter gestorben war.

»Und die Polizei hat nie herausgefunden, woher unsere Mutter stammte, warum sie nach London gekommen war und mit wem sie sich in diesem Restaurant treffen wollte?«, fragte Jayden.

Maggie schüttelte den Kopf.

»Gibt es eine Polizeiakte darüber?«

»Bestimmt, irgendwo ausgedruckt in einer staubigen Kiste im Kellerarchiv irgendeines Kommissariats«, sagte Maggie. »Die Polizei hat ein halbes Jahr nach Verwandten eurer Mutter gesucht, dann jedoch aufgegeben.«

»Gibt es Unterlagen aus dem Krankenhaus?«

»Das Children’s University Hospital ist drei Jahre nach eurer Geburt abgebrannt. Dabei wurden die alten Papierakten vernichtet. Das Einzige, das ich noch habe, sind eure Geburtsurkunden.«

Jayden nickte. Er erinnerte sich wieder daran, dass Tante Maggie unmittelbar nach dem Brand von London nach Liverpool gezogen war, weil sie dort eine neue Stelle als Hebamme angenommen hatte, und so waren Grace und er in Liverpool im Kindergarten aufgewachsen.

»Jetzt ist mir auch klar, warum du hergekommen bist und wir das alles nicht telefonisch klären konnten«, stellte Maggie fest.

»Danke.« Jayden umarmte seine Tante und drückte sie fest an sich. »Mach’s gut, ich muss wieder zurück.«

»Bleib brav, Junge.« Maggie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

»Sicher.« Jayden löste sich von ihr und wollte Grace zum Abschied die Hand geben, doch sie verschränkte nur die Arme vor der Brust.

»Knastausgang beendet?«, fragte sie spitz, lächelte dann jedoch. »Komm schon her, mein Großer.« Sie öffnete die Arme und drückte Jayden an sich.

Während er Grace’ duftendes Shampoo roch, hörte er, wie ein Auto hinter ihm langsamer wurde und vor dem Haus hielt. Die Scheinwerfer beleuchteten Straße und Vorgarten.

Grace reckte den Hals. »Oh, die Bullen sind schon da, um dich zu holen.«

»Was?« Jayden fuhr herum. Aber vor dem Haus hatte kein Streifenwagen gehalten, sondern eine lange schwarze Limousine. Die hinteren Fensterscheiben waren verspiegelt. »Idiotin!«, zischte er Grace zu.

Die Hintertür öffnete sich und ein älterer Mann im grauen Anzug stieg aus dem Wagen. Er sah sich um, als wollte er sich nach dem Weg erkundigen, kramte dann jedoch eine Papiertüte aus der Hosentasche und schob sich Nüsse in den Mund.

Jayden wusste, dass es Walnüsse und Pistazienkerne waren, denn er kannte den Mann. Es war Mr Finley, der ehemalige Berater des britischen Premierministers, der seit knapp acht Jahren für die Last Line of Defense arbeitete, in dieser Zeit die jungen Agenten rekrutiert hatte und so etwas wie ein Mentor und Ersatzvater für sie geworden war.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, rief Mr Finley über den laufenden Motor der Limousine hinweg.

»Wer ist das?«, zischte Grace neugierig. »Der Gefängnisdirektor?«

Mr Finley kam mit gemächlichen Schritten auf sie zu und hielt mit einem breiten Lächeln vor Jayden.

»Äh … ein Arbeitskollege?«, antwortete Jayden verunsichert. Ihm war klar, dass die Direktorin der Last Line of Defense Mr Finley darauf angesetzt hatte, ihn zu finden und sofort zurückzubringen. Nur dass es so rasch gehen würde, damit hatte er nicht gerechnet.

»Es wird Zeit, Mr Knoxville«, sagte Mr Finley mit einem charmanten Lächeln und deutete zur Limousine. »Meine Damen.« Er deutete ein leichtes Kopfnicken an.

»Wohin wirst du noch mal geschickt?«, fragte Tante Maggie mit gerunzelter Stirn, obwohl sie genau wusste, dass Jayden bisher mit keinem Wort das Ziel seiner Reise erwähnt hatte.

»Zu einer dreiwöchigen Schulung nach Spanien«, antwortete Mr Finley rasch, bevor Jayden den Mund aufmachen konnte.

»Gute Reise«, rief Grace ihnen nach, dann beugte sie sich zu ihrer Tante und flüsterte ihr zu. »Der Herr ist richtig nett, oder?«

»Ja, stimmt, und ich kenne ihn von irgendwoher.«

Jayden und Mr Finley erreichten die Limousine.

»Sie haben Fans«, flüsterte Jayden ihm zu.

»Liegt wohl an meiner liebenswürdigen Art«, antwortete Mr Finley.

»Ja, sehr liebenswürdig«, raunte Jayden. »Mann, konnten Sie nicht noch ein paar Stunden warten, dann wäre ich sowieso wieder zurück gewesen.«

»So viel Zeit haben wir leider nicht.« Mr Finley öffnete Jayden die Hintertür. »Du wirst übermorgen nach Hell Island reisen und deine Vorbereitung dafür beginnt jetzt. In der Limousine.« Er legte Jayden die Hand auf den Hinterkopf und drückte ihn in den Wagen.

»Während der nächsten vier Stunden Autofahrt?«

»Vermutlich wären es eher fünf Stunden Autofahrt«, korrigierte Mr Finley ihn. »Aber – wie gesagt – so viel Zeit haben wir nicht. Wir fahren zu einem privaten Flugplatz und fliegen mit dem Helikopter nach Brighton – so wie wir hergekommen sind.«

»Wir?«, fragte Jayden und dann sah er im Dämmerlicht, dass sowohl Mr Elliot, ihr Analyst und Stratege, als auch Miss Ishida, ihre IT-Expertin, ihm gegenüber in der Limousine saßen.

Mr Finley stieg ein und zog die Tür mit einem Ruck zu. »Anschnallen!«

Jayden griff zum Sicherheitsgurt. Durch die Scheibe sah er, wie Tante Maggie und Grace ihm nachwinkten. Er winkte zurück.

»Die können dich nicht sehen«, sagte Miss Ishida trocken und rollte mit den Augen. »Das sind verspiegelte Scheiben.« Sie wandte sich an Mr Finley. »Ganz sicher, dass wir Jayden nach Hell Island schicken wollen?«

»Uns bleibt keine andere Wahl«, seufzte Mr Finley.

Haha, sehr witzig! Der Wagen fuhr los und Jayden ließ den Gurt einrasten.

Mr Elliot schaltete das Licht in der Kabine ein und öffnete eine Mappe auf seinem Schoß. »Also, Señor Diego Álvaro …«

»Einen Moment noch«, unterbrach Jayden ihn und beugte sich zu Mr Finley. »Warum haben Sie vorhin ausgerechnet Spanien als Reiseziel genannt und nicht Irland, Dänemark oder Finnland?«

Mr Finley wollte schon antworten, aber Miss Ishida kam ihm zuvor. »Weil du nach Hell Island fliegst, wo die Sonne gnadenlos herunterbrennt, und du – egal ob du den Einsatz überlebst oder nicht – dunkelbraun gebrannt zurückkommen wirst.« Sie nickte Mr Elliot zu, woraufhin die Vorbereitungen begannen.

5. KAPITEL

Der nächste Tag war hart für Jayden, Erik und Lenny. Zunächst verbrachte jeder von ihnen einige Stunden mit ihren Originalen in bewachten Verhörräumen. Auf Englisch führten sie Smalltalk über belanglose Themen, aßen gemeinsam Mittagessen, während Erik den Dänen namens Mads studierte, Lenny die Italienerin namens Francesca besser kennenlernte und Jayden seine Zeit mit Diego verbrachte. Die drei ahnten natürlich, dass man sie für längere Zeit hier gefangen halten würde, und waren dementsprechend aggressiv und widerspenstig, was jedoch nur die Beobachtung erleichterte, weil sie sich nicht verstellten und ihr wahres Ich zeigten, während sie tobten oder versuchten, einen Handel für sich herauszuschlagen.

Jayden, Erik und Lenny studierten ihre Mimik, ihre Gesten, ihr Lachen, ihren Gang, ihre Art zu sprechen, den speziellen Akzent, ihre Wutanfälle und ihre kleinen Ticks und Neurosen.

Elly D. Shepard, die auch eine ausgebildete Expertin für Körpersprache war, erklärte ihnen während einer kurzen Pause mehr darüber. »Jeder Mensch hat bestimmte Nervenzellen im Gehirn, sogenannte Spiegelneuronen.«

»Erik auch?«, fragte Lenny mit gespielt überraschter Miene.

»Ja, sogar Erik«, antwortete Elly augenzwinkernd.

»Nein, ich habe so was nicht«, behauptete Erik, ohne genau zu wissen, wovon gerade die Rede war.

»Doch!«, widersprach Elly. »Diese Spiegelneuronen sind dafür verantwortlich, dass man unbewusst das Verhalten seines Gesprächspartners übernimmt.«

Genau das machten sie sich zunutze, um ihre Originale besser doubeln zu können. Zwischendurch lernten sie alle Informationen auswendig, die der Geheimdienst über die drei herausgefunden hatte, bis sie alles im Schlaf wussten.

Im nächsten Schritt machten sie sich mit dem Gepäck ihrer Originale vertraut, das diese zu Hause bereits für die bevorstehende Reise gepackt hatten, ehe sie von den Agenten der Last Line of Defense in ihren Wohnungen überrascht, betäubt und im Helikopter nach England verfrachtet worden waren.

Diego las anscheinend gerade den Gedichtband eines spanischen Autors und hatte dabei jede Menge Kommentare und Gedanken an die Seitenränder gekritzelt.

»Ein krimineller Poet«, murmelte Jayden wenig begeistert und kannte jetzt wenigstens Diegos Handschrift, die er üben konnte. Major Conklin hatte ihm eine englische Übersetzung des Buches organisiert, damit er wusste, wovon es handelte.

Abgesehen von seiner Leidenschaft für Lyrik war Diego ein harter Brocken; dreimal wegen Ladendiebstahls, Körperverletzung und Erpressung vorbestraft und für mehrere kurze Haftstrafen im Jugendknast gewesen. Darüber hinaus trainierte er seit sieben Jahren Capoeira, eine brasilianische Kampfsportart, die geschmeidigen Tanz mit brutalen Techniken kombinierte. Das war der Grund, warum Mrs Harding am späten Nachmittag intensiv mit Jayden Capoeira trainierte. Dazu musste er alles vergessen, was er seit vielen Jahren über Muay Thai, das thailändische Kickboxen, wusste und was ihm Mrs Harding in den letzten eineinhalb Jahren zusätzlich über Karate und Taekwondo beigebracht hatte.

»So ein Dreck!«, fluchte er mehrmals laut, als er erneut mit dem Rücken auf der Matte lag, nachdem er unbewusst eine seiner Techniken aus den Bare Knuckle Fights am Hafen von Liverpool angewandt und Mrs Harding ihn daraufhin zur Strafe knallhart zu Boden geworfen hatte.

»Nur Capoeira!«, bläute sie ihm ein. »Betrachte es als ergänzende Zusatzausbildung.« Dann half sie ihm hoch und das Training ging weiter.