Lauernde Mächte - Michael Maniura - E-Book

Lauernde Mächte E-Book

Michael Maniura

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Beschreibung

Der Universalgelehrte Athanasius Kircher (1601-1680) glaubte, dass die Erde als Ganzes ein Organismus sei. Damit stand er im Widerspruch zur katholischen Kirche, der er sonst treu egeben war. Was wäre jedoch, träfe diese Theorie zu? Würde das die allgegenwärtigen Umweltprobleme auf verblüffend einfache Weise erklären? Diese und einige andere Gedankenspiele über Mächte, die sich der menschlichen Kontrolle vollständig entziehen, sind Themen des vorliegenden Bandes.

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Mit dem vorliegenden Werk ist der Spielkartenzyklus, der in bunter Folge Novellen und Erzählungen der Genres Technik & Wissenschaft, Science Fiction & Fantastik und Reiseberichte sowie Lyrik bietet, vollendet. Er besteht aus folgenden Bänden:

Kreuz

Bitstaub

Pik

Geschichten von der Erde

Herz

Vergangene Zukunft

Karo

Lauernde Mächte

Inhaltsverzeichnis

Steingestalt

Ein Einfall mit weitreichenden Auswirkungen

Vorbereitungen

Einstieg und erster Tag

Seltsame Vorkommnisse

Labyrinth

…schlug mit ihrem Stab zwei Mal gegen den Felsen

Keander

Ermittlungen

Eine Sekunde der Ewigkeit

Die Verlobungsringe

Der Schrei

Wehrwald

Theobald

João Cariocas sonderbare Expedition

Die Türme von Morgatón

Der Plan

Der Dreh

Die Ehe

Der Geist

Die Brücke

Der Fund

Die Freundin

Das Schachspiel

Dreieinigkeit

Einundzwanzig oder sechsunddreißig

Das Haar der Medusa

Im Andenken an den Universalgelehrten Athanasius Kircher (1601-1680)

Steingestalt

Ein Einfall mit weitreichenden Auswirkungen

Steig in den Krater des Snæffels Jökull, den der Schatten des Scartaris vor den Kalenden des Juli bestreicht, kühner Wanderer, und du gelangst zum Mittelpunkt der Erde.

„Was auch immer Scartaris sein mag“, nörgelte ich. „So wie Jules Verne es darstellt, handelt es sich um eine Nadelspitze wie die einer Sonnenuhr im Süden der drei Einstiegskrater, dessen Schatten den Weg in den richtigen weist“, kommentierte Tobias Ton, unser Geologe. „…den es aber nicht gibt, genauso wenig wie die drei Einstiegskrater“, fügte unser Anthropologe Siberius Steine hinzu. „Erstaunlich übrigens, dass Otto Lidenbrock automatisch annahm, dass Saknussemm den mittäglichen Schattenwurf meinte, obwohl dieser das in seinem Dokument nicht erwähnt.“

„Ist auch nicht unser Thema“, schwenkte ich in versöhnlicheres Fahrwasser, „sondern was sich da unten…‘ ich wies mit dem Zeigefinger senkrecht zum Boden, „…an Leben tummelt.“

Außer den beiden Genannten gehört meine Wenigkeit, der Biologe Sigurd Scherben zum Triumvirat der Alternativen, wie wir in unserer Universität von den Kollegen genannt werden. Der Begriff ‚Spinner‘ fällt nur in unserer Abwesenheit. Uns schweißt die Hochachtung für den mittelalterlichen Alchemisten und das Universalgenie Athanasius Kircher und die Suche nach alternativem Leben zusammen – nach wirklich alternativem, meine ich, nicht nur die nach einer bisher unbekannten Ameisengattung. Daher unser kollektiver Spitzname.

Ich kehrte zu meiner Kritik an dem Autor des 19. Jahrhunderts zurück. „Jules Verne hatte keine Fantasie. Statt in die Sphäre des Neuen, bisher Unvorstellbaren einzutauchen, begnügte er sich mit der Beschreibung einer mesozoischen Tier- und Pflanzenwelt, die im und am Lidenbrock-Meer, dem unterirdischen Gegenstück des Mittelmeers, überlebt haben.“ „Das war für seine damaligen Leser wahrscheinlich spannend genug.“ „Sicher, Tobias, aber für den Intellekt wenig ergiebig.“ „Es ist ohnehin enttäuschend, wie wenig Fantasie auch seine Nachfolger aufbrachten. Immer sind überdimensionierte Spinnen und tentakelbewehrte Glibberwesen die entsetzlichen irdischen Mutationen oder Außerirdischen, die die Menschheit in Angst und Schrecken versetzen. Sowas von primitiv!“ „Für Angst und Schrecken reicht’s“, warf Siberius ein, „und das brachte die Kasse zum Klingeln.“ „Ich weiß eine Ausnahme.“ „Und welche, Tobias?“ „Ausgerechnet Jack Arnold, der für etliche der von dir angeprangerten Filmchen wie ‚Tarantula‘ Regie führte, ist mit ‚Das Geheimnis des steinernen Monsters‘, im Original ‚The Monolith Monsters‘ der Urheber eines durchdachteren Szenarios, in dem siliziumbasiertes Leben die Hauptrolle spielt. Es sieht aus wie ein Wald von Stalagmiten und entzieht den Menschen in ihrer näheren Umgebung alles Silizium, sodass sie sterben.“

Ich nickte anerkennend. „Wann wurde der Streifen gedreht?“ „1957.“ „Nicht schlecht. Ich weiß von einer ähnlichen, wesentlich älteren Idee, die in dieselbe Richtung geht.“ „Und welche?“ „Stanley G. Weinbaums ‚Mars-Odyssee‘ von 1934. Er handelt sich um eine Kurzgeschichte, in der Marspioniere auf in gerader Reihe angeordnete Pyramiden stoßen, die umso neuer aussehen, je weiter sie die Reihe entlangschreiten. In der letzten öffnet sich gerade die Spitze. Ein unförmiges Wesen plumpst heraus und beginnt unverzüglich mit dem Formen frischer Ziegel, um die nächste Pyramide in Angriff zu nehmen.“ „Hört sich ziemlich sinnlos an.“ „Reine Fortpflanzung. Denk‘ an die Kaulquappen in Namibia, die in irgendeiner Senke jahrelang auf Regen warten, um dann innerhalb weniger Tage fruchtbar zu werden und Nachwuchs zu erzeugen. Die nächste Generation gräbt sich dann wieder für viele Jahre in der trockenen Wüste ein, um bei Eintritt dieses Ereignisses für wenige Tage erneut zu leben. Hört sich das sinnvoller an?“

Die Diskussion verebbte und wir widmeten uns unseren Karten, um zu ermitteln, wer das neue Spiel an sich ziehen würde. Wir sind keine alten Säcke, aber auch nicht mehr blutjung, im Nebenberuf ordentliche Professoren unserer jeweiligen Fachrichtung und im Hauptberuf Skatprofis mit sozialem Engagement, denn das Bier, das wir im Lauf eines Abends dem Wirtschaftskreislauf entziehen, dient der Verhinderung von Suchtgefahr ungefestigterer Charaktere als der Unsrigen. Das ist problemlos möglich, denn wir wohnen in fußläufiger Entfernung voneinander.

Ein Triumvirat dreier Junggesellen mag dem einen oder anderen merkwürdig erscheinen, aber bei Eintritt in den Ehestand oder einer festen Beziehung hätten wir uns eines Privilegs beraubt, das beamtete Lehrkörper auszeichnet. Tobias hat es am schwersten, denn für Geologie interessieren sich nicht allzu viele Mädchen und als Lehrfach in der Schule glänzt das Wissensgebiet auch nicht, während sich für Siberius‘ Menschen- und meine Naturkunde deutlich mehr Büchsen hinter dem Ofen hervorlocken lassen. Biologie wird darüber hinaus ab dem Mittelstufenunterricht angeboten und der Lehrerberuf ist heute de facto ein -innenberuf. Ab und zu verirrt sich eine angehende Pädagogin in einen Hörsaal, den ich mit meinen Ausführungen zu füllen versuche, denn obwohl Frauen lieber weiche Fächer wie Deutsch, Soziologie oder Philosophie geben, gebietet der erbitterte Konkurrenzkampf unter den künftigen Halbtagsangestellten zum Ganztagsgehalt um die begehrten unbefristeten Verträge auch mit Fächern Vorlieb zu nehmen, um die sich nicht alle reißen.

Nun sind nicht alle Studentinnen Überflieger – bei denen haben wir keine Chance – und wir sind bereit, der einen oder anderen aus der schwächeren Fraktion gegen Bezahlung in Naturalien Nachhilfe zu gewähren. Wir sorgen in dem Fall dafür, dass sie ihre Examina mit brauchbaren Noten abschließen. Danach sehen wir sie zwar nie wieder, aber das ist kein Drama. Es sprießen ja jedes Semester neue langbeinige Gewächse nach.

Unsere Skatabende sind natürlich frauenfrei. Wir sind, wie bereits die erste Zeile dieses Berichts andeutet, keine fanatischen Spieler. Es geschieht sogar hin und wieder wie an jenem fraglichen Abend, von dem im Augenblick die Rede ist, dass ein packendes Gesprächsthema das Interesse an einen Grand mit Vieren überdeckt. Ich hatte ein Luschenblatt auf der Hand – Karobube, drei Damen, zwei Könige, zwei Achten, eine Sieben und eine blanke Zehn –, sagte „17,9“, Tobias hielt wenigstens bis 23 – der einfachen Null – mit und Siberius zog einen Oma-Grand Hand mit Dreien, einer Pikflöte von oben und geschenktem Schneider durch. Damit hatte er die 500 Punkte plus Datum voll und die Runde war zu seinen Gunsten beendet.

Nach den längst fälligen Toilettengängen griff ich den Faden wieder auf, den wir einige Spiele zuvor fallengelassen hatten. „War’s das eigentlich mit literarischem und filmischem Leben auf Siliziumbasis?“ „Neben seinem Sherlock Holmes verblasst Conan Doyles Professor Challenger natürlich“, sagte Tobias bedächtig. „Immerhin erlangte der umfangreichste Roman um den streitbaren Wissenschaftler, ‚Die vergessene Welt‘, einen Achtungserfolg.

Gerade den halte ich für unausgegoren. Dass – wie hast du dich ausgedrückt, Sigurd? – die mesozoische Tierwelt ausgerechnet auf einem Hochplateau überlebt haben soll, ist sicher unglaubwürdiger als in einem Talkessel mit senkrechten Felswänden. Als noch schlimmer empfinde ich, dass im letzten Drittel auch noch Urmenschen auftauchen, mit denen Doyle die Erdzeitbestimmung ins nicht Nachvollziehbare verwässert.

Viel besser ist ‚Als die Erde schrie‘ von 1928, eher eine Kurzgeschichte, die die Erde in ihrer Gesamtheit als lebenden Organismus darstellt, was sich bei Tiefenbohrungen herausstellt.“ „Da ist Doyle ja recht nah an Athanasius Kircher“, kommentierte ich, „ob ihm das wohl bewusst war?“ „Vermutlich nicht.“

Besagter, in Geisa in Thüringen geborener Athanasius Kircher lebte von 1601 bis 1680 und hatte eine Professur in Würzburg inne, bevor er 1635 als rechte Hand des Papstes nach Rom berufen wurde. Er vertrat und verteidigte einschränkungslos die Lehre der Kirche, obwohl in seinem epochalen Werk ‚Mundus subterraneus‘ Ansätze von Häresie erkennbar sind. Zu Deutsch heißt es ‚Die unterirdische Welt‘, behandelt erschöpfend die Vorgänge im Inneren der Erde und schreckt nicht vor dem Gedanken zurück, diese als lebenden Gesamtorganismus ins Spiel zu bringen. Die Häresie besteht darin, dass sich eine allmächtige Mutter Erde nicht mit dem allmächtigen Herrn der Bibel verträgt. Erstaunlicherweise bekam Kircher nie Ärger mit der Amtskirche – ob er zu hoch in deren Hierarchie angesiedelt war oder diese von seinem Buch keine Notiz nahm, wird sich nicht mehr feststellen lassen.

„Wenn das so wäre, hätte auch Kircher Silizium als Lebensgrundlage angenommen, denn das ist das häufigste auf der Erde vorkommende Element.“ „Davon kann man ausgehen, auch wenn er das nicht explizit schreibt, Siberius.“ „Was erwartest du, Sigurd? Wir reden von einem Werk, das 350 Jahre alt ist. Ich glaube, da hat man in völlig anderen Kategorien als heute gedacht. Zumal Kircher an seine Weltsicht eher philosophisch als naturwissenschaftlich herangegangen ist.“

„Dann gehen wir mal naturwissenschaftlich ’ran“, schlug Tobias vor. „Worin besteht Leben?“ „In Fortpflanzung und Stoffwechsel.“ „Richtig, Biologe Sigurd. Vorerst nicht mehr. Für Leben auf Kohlenstoffbasis bedeutet das ein Druck-/Temperaturverhältnis, das Wasser in flüssiger Form ermöglicht. Für alles andere besteht eine Riesentoleranzbandbreite. Meines Erachtens können gänzlich andere Sinne zum Zug kommen als sehen, riechen, hören und schmecken. Es bedarf folglich nicht unbedingt der Augen, der Nase, der Ohren und des Mundes. Energiezufuhr in irgendeiner Form und eine Atmosphäre, um Stoffwechsel in Gang zu setzen und zu halten, sind allerdings unverzichtbar. Und alles zwischen -50°C und +50°C…“ „…oder wesentlich höheren oder niedrigeren Drücken.“ „Keineswegs, Tobias. Was sind die Bausteine des irdischen Lebens?“ „Die DNA?!“ „Soll das eine Frage oder Antwort sein? Jedenfalls ist sie richtig. Die DNA, wie die deoxyribo nucleic acid oder zu Deutsch Desoxyribonukleinsäure abgekürzt heißt, besteht aus wasserlöslichem Zucker, ebenfalls wasserlöslichen Phosphaten und nicht-wasserlöslichen Basen. Diese werden von den beiden Kollegen in der bekannten Doppelhelix umschlungen und verbinden sich mit ihnen zu Nukleotid, das in seiner Gesamtheit wiederum wasserlöslich ist. Du siehst – ihr seht –, dass die Wasserlöslichkeit eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass uns hier zusammenzusitzen und über diese Dinge zu schwatzen vergönnt ist.

Eine Helix ist übrigens nichts anderes als eine schnöde Schraube. Im Zusammenhang mit DNA greift man immer zu diesem Begriff. Wahrscheinlich, weil er wissenschaftlicher klingt.“

„…oder man die Assoziation an ein Regal aus dem Billigmöbelmarkt zu vermeiden versucht. Schön und gut und auch bekannt, Sigurd. Wir reden aber von Kohlenstoffbasis. Den Kohlenstoff vermisse ich in deinen Ausführungen.“ „Und woraus besteht Zucker, Tobias?“ „Aus…; richtig, jetzt seh‘ ich’s.“ „Im Wort Kohlehydrate steckt bereits die Kernaussage. Und die sind sehr hitzeempfindlich. Ihr seht, dass die Bandbreite von Drücken und Temperaturen sehr eingeschränkt ist – die empfindlichen DNA-Ketten brechen bei ungünstigen Voraussetzungen wie nichts auseinander. Es ist mehr als erstaunlich, dass das ganze System überhaupt so zuverlässig funktioniert, wie es sich uns darbietet.“

„Genau das ist bei siliziumbasiertem Leben irrelevant“, warf Siberius ein. „Was Temperatur und Druck betrifft, hast du wahrscheinlich Recht. Atmosphäre muss aber sein, denn keine Verbrennung ist ohne Gas möglich.“ „Und wenn das Steinwesen das selber erzeugt, Sigurd?“ Ich schürzte die Lippen. „Das kommt mir sehr weit hergeholt vor.“

„Lassen wir beide Optionen mal stehen“, schlug Tobias vor, „und wenden uns dem Aussehen zu. Gibt es da irgendwelche zwingenden Vorgaben?“ „Irgendein Denkorgan sollte vorhanden sein und zwar geschützt gelagert.“ „Richtig, Sigurd. Es gibt Filme über Wesen, deren Intelligenz als dermaßen überragend dargestellt werden soll, dass ihr Gehirn offen liegt, um Platz zum hemmungslosen Ausdehnen zu haben. Völliger Schwachsinn, denn dieses Wesen würde am ersten Stolperstein scheitern und seine überragende Intelligenz würde auf dem Bürgersteig zerschellen.“ „Sofern es über ein Sehorgan oder einige davon verfügt, muss auch das beziehungsweise müssen auch die geschützt werden.“ „Richtig, Siberius. Stephen Kings Schöpfung in seinem Roman ‚Der Buick‘ zeugt davon, dass er sich über die Funktionsweise eines lebenden Organismus keinerlei Gedanken gemacht hat, sondern rein auf den Gruseleffekt aus war. Ein nach Kohl und Gurken stinkendes Geschöpft mag angehen, aber Augen, die in einem Bauchrüssel untergebracht sind, sind völlig unsinnig, denn verletzlicher geht’s nicht.“

Ich fasste zusammen: „Ein Siliziumwesen könnte folglich so ähnlich aufgebaut sein wie das Ziegeltier in Weinbaums Geschichte. Es wäre nur dadurch als lebendig zu erkennen, dass es sich bewegt.“ „Nicht einmal das, Sigurd. Eine Pflanze bewegt sich ja auch nicht.“ „Stimmt, Tobias. Dann stehen wir vor dem Problem, es überhaupt zu identifizieren.“

Wir stellten fest, dass wir uns nicht mehr aufs Kartenspiel zu konzentrieren vermochten, so sehr hatte uns die Diskussion auf eine andere geistige Bahn gelenkt. „Machen wir uns auf die Suche?“ fragte ich provokativ, nachdem ich ein sicheres Kreuzblatt vergeigt hatte, weil ich mit meinen Gedanken woanders gewesen war. „Auf was für eine Suche?“ „Na, nach den Steinwesen.“ „Ich glaube, langsam schnappst du über, Sigurd. Wo sollen wir anfangen? Auf dem Mars?“ „Leider ist das auf Grund menschlicher Schwerfälligkeit bisher nicht möglich. Warum sollte es hier auf der Erde keine Steinwesen geben? Du bist doch das beste Beispiel.“ „Ich heiße nur Steine, bin aber keine“, knurrte Siberius. „Das weiß ich doch.“ „Außerdem“, warf Tobias ein, „dürften die längst durch uns Kohlenstoffler verdrängt sein, sollte es sie je gegeben haben.“ „Ich glaub‘ ja auch nicht, dass du einfach einen Wacker aufheben und adoptieren kannst, der dich plötzlich mit ‚Papa‘ anspricht. Aber vielleicht haben tief unten in der Erde einige Exemplare überlebt. In völlig unwirtlichen – für uns unwirtlichen – Regionen wie die anæroben Bakterien.“

„Die erst kürzlich entdeckten Gommericher Grotten sollen in unglaubliche Tiefen hinabreichen. Man ist gerade erst am Anfang ihrer Kartografierung.“ „Soweit ich weiß, gibt’s dort bisher keine Absperrbänder, Sigurd. Wir sollten einfach einsteigen und losschnüffeln können.“ Siberius wirkte plötzlich geschockt. „Hört mal, ihr habt das doch nicht ernsthaft im Sinn?“ „Warum nicht? Geben wir uns acht Tage, 3½ für den Abstieg und 4½ für den Rückweg. Dann schauen wir, was wir an Wasser, Lebensmitteln und Instrumenten brauchen, und los geht’s.“ „Einiges zum Überleben sollten wir auch dabei haben“, brummte Siberius, „einige Medikamente, Verbandmaterial und power packs, denn im Gegensatz zum guten Professor Lidenbrock und seinen Begleitern werden wir kein lichtdurchflutetes Meer vorfinden, sondern Stockfinsternis.“ Mochte Siberius auch eine Weile weiter brummeln; mit dem Einbringen konstruktiver Vorschläge hatte er unwiderruflich signalisiert, dass er dabei sein würde.

„Also abgemacht“, versuchte ich mich erneut als Zusammenfasser, „in zwei Wochen beginnen die Semesterferien. Vermutlich sind wir in der ersten Woche mit Aufräumarbeiten beschäftigt, aber dann startet das tollkühnste Projekt seit Professor Challengers Anbohren der irdischen Haut.“ „Jetzt übertreib‘ nicht. Ich erinnere daran, dass vorerst die vorlesungsfreie Zeit anbricht und nicht die Ferien.“ „Hast du ein Praktikum zu leiten oder so?“ „Hm, nein. Das versuche ich immer zu vermeiden.“ „Siehst du, ich auch.“

„Was“, führte uns Siberius zum Projektkern zurück, „suchen wir eigentlich? Kirchers und Challengers lebenden Großorganismus oder Weinbaums pyramidenbauende Ziegelwesen?“ „Wir orientieren uns in beide Richtungen.“ „Bis ein Stein ‚Papa‘ zu uns sagt.“

Wir lachten überlaut, um zu verbergen, dass uns angesichts des wagemutigen Vorhabens doch ein bisschen mulmig zumute war. Unser turnusmäßiger Ton-Steine-Scherben–Treff, der diesmal gar nicht turnusmäßig abgelaufen war, fand damit sein Ende.

Vorbereitungen

Wir studierten Jules Vernes ‚Reise zum Mittelpunkt der Erde‘, um herauszufinden, was dessen Protagonisten in den Abgrund mitgenommen hatten. „Der gesamte Flüssigkeitsvorrat bestand aus Wacholderschnaps“, zitierte Siberius, „Wasser fehlte vollständig; aber wir führten Kürbisflaschen mit uns und mein Onkel verließ sich auf unterirdische Quellen, um sie zu füllen; all‘ meine Einwände in Bezug auf deren Qualität, Temperatur oder gar Ausbleiben waren unbeachtet geblieben. Sowas von blauäugig!“ „Wasser wird unseren größten Gewichtsanteil ausmachen. Wenn wir einen Liter pro Tag rechnen – und das ist bei der trockenen Luft da unten verdammt wenig! – brauchen wir unter Einrechnung von einem Liter Reserve sechs Petflaschen von 1½ Litern Fassungsvermögen, um zu überleben.“ „In Petflaschen bildet sich verdammt schnell in Riss, Sigurd.“ „Aber sie sind konkurrenzlos leicht. Neun Liter Wasser wiegen ohnehin schon neun Kilo. Müssen wir halt unsere Schlafsäcke drumwickeln.“ „Ich frage mich, ob Lidenbrock & Co. einfach auf dem nackten Fels geschlafen haben. Schlafsäcke in unserem Sinn gab es damals noch nicht und von Decken ist nirgends die Rede.“ „Ist auch nur ein Roman, Tobias. Wir werden jedenfalls Schlafsäcke mitnehmen.“ „Kurz und gut, unter 20 Kilo Gepäck kommen wir nicht weg, da können wir knausern so viel wir wollen.“ „Ich fürchte, du hast Recht, Siberius. Immerhin wird es täglich leichter, je mehr wir gegessen und getrunken haben werden.“ „Tolle Sache.“ „Was? Das tägliche essen und trinken?“ „Nein, dein Futur 2.“

Ich fühlte mich bemüßigt, dem Gespräch einen Schubs ins Technische zu geben. „Die kaliumbichromatbetriebenen elektrischen Lampen, die Heinrich-Daniel Ruhmkorff erfunden hat, sind nichts als Leuchtstoffröhren. Für das 19. Jahrhundert eine epochale Entwicklung.“ „Ob die mitgenommene Leuchtstoffmenge für die drei Monate gereicht hätte, die die Lidenbrock’sche Expedition unter Tage war?“ „Brauchte sie gar nicht, denn ab der Entdeckung des Meeres am 10. August 1863 sorgte dieses ja für immerwährendes Licht.“ „Das wussten die Teilnehmer vorher aber nicht.“ „Sie nicht, aber Jules Verne.“

Ganz im Gegensatz zum vielzitierten Otto Lidenbrock machten wir uns sehr wohl Gedanken, wie wir heil und gesund an die Erdoberfläche zurückkehren würden. „Ich hab‘ eine App verzapft“, verkündete unser Möchtegern-Hacker Tobias stolz, „die den beschrittenen Weg invertiert, das heißt auf dem Rückweg aus einer Links- eine Rechtskurve macht.“ „Das kann das billigste Navi.“ „Aber nicht Hunderte Meter oder gar ein oder zwei Kilometer unter undurchdringlichen Gesteinsschichten. Da gibt’s nämlich keinen Empfang.“ „Was soll das Ganze überhaupt?“ „Kannst du mir verraten, mein lieber Siberius, wie wir auf andere Weise zurückfinden sollen? Mehrere Kilometer Faden mitschleppen und abrollen wie einst Ariadne im Labyrinth?“

Siberius gab einen Grunzlaut von sich. Offensichtlich hatte er das Problem bisher beiseitegeschoben. „Ariadne hat den Faden nicht geschleppt, sondern nur Theseus gegeben, damit dieser wieder zurückfindet, nachdem er den schrecklichen Minotaurus besiegt hat.“ „…besiegt haben wird“, verbesserte Tobias, „vergiss nie das Futur 2.“ Siberius grunzte erneut. „Dabei entsprang der Faden nicht einmal ihrem Gehirn, sondern dem des Dädalus – Futur 2 hin oder her.“

Ich fühlte mich wieder einmal zum Vermittler berufen. „Da sieht man, zu welchen Komplikationen zu viel Bildung führt. Kommt, lasst uns Tobias‘ App ausprobieren.“

Zu diesem Zweck unternahmen wir am letzten Wochenende vor Vorlesungsschluss einen Ausflug in die Nähe des Zielgebiets. „Es ist keineswegs so, dass die Gommericher Grotten erst kürzlich entdeckt wurden“, dozierte Tobias, der Ortskundigste von uns. „Abenteuerlustige Jungs spielten bereits vor 200 Jahren darin Verstecken. Die enorme Tiefe wurde allerdings tatsächlich vor einigen Jahren zunächst vermutet und vor Kurzem die Vermutung bestätigt. In nicht allzu ferner Zukunft soll eine professionelle Expedition die Sache ergründen.“ „Und wir kommen ihr zuvor.“ „Richtig, Sigurd. Wobei ich mir davon nicht allzu viel versprechen würde. Eine Höhle ist eine Höhle.“ „Stell‘ dir vor, wir gelangten tatsächlich versehentlich zum Mittelpunkt der Erde.“ „Das ist Quatsch und das weißt du ganz genau. Dass Axel Lidenbrocks vielbeschworenes ‚Zentralfeuer‘ mittlerweile allgemeines Wissensgut geworden ist, hat jeder außer dir seitdem mitgekriegt.“

Eine gute Autostunde entfernt liegt das Eifeldorf Gommerich, der dem Brennpunkt unserer Begehrlichkeit nächstgelegene bewohnte Ort und Namensgeber der Grotte. „Arg profan“, nörgelte ich, „statt mit der Bahn nach Kopenhagen, per Schiff von dort nach Island, von Reykjavik zu Pferde zum Einstiegsort zu gelangen und dann immer noch vor einer respektablen Klettertour zu stehen, hocken wir uns in eine Blechbüchse und sind zwischen zweitem und drittem Frühstück vor Ort.“ „Einige Annehmlichkeiten sollte das 21. Jahrhundert schließlich bieten.“ „Ich sehe, Tobias, du hast mich nicht verstanden.“

Tobias ist nicht nur in Gommerich aufgewachsen, sondern auch Geologe und fühlte sich in dieser doppelten Kompetenz verpflichtet, uns in die Abgründe seines Wissens einzuführen. „Der Parkplatz hier“, begann er seine Ausführungen wissenschaftsneutral, „kennt keine zeitliche Begrenzung. Ein Pkw darf hier acht Tage stehen, ohne dass ein Hahn danach kräht. Wir werden ihn folglich auch für die eigentliche Aufführung nutzen.

Bis zu dem bekannten Eingang haben wir ungefähr eine Stunde Fußmarsch. Dort steht ein Verbotsschild, wenngleich niemand Schicht fährt, um das Verbot zu überwachen. Es informiert auch eine Tafel den Neugierigen, welche touristischen Attraktionen zukünftig hier vorgesehen sind.“ „Seit kurzem?“ „Nein, Sigurd, seit ewig. Das liegt an der Kausalkette, dass es keine Neugierigen gibt – jedenfalls keine, die gewillt sind, hier Geld liegenzulassen. Dadurch liegt auch kein Geld herum, das zur Verschönerung unserer vergessenen Welt verwendet werden kann. Dadurch ist die Eifel nach wie vor von den großen touristischen Strömen abgeschnitten. Ich sehe auch zu meinen Lebzeiten keinen Ausweg aus der Sackgasse. Gommerich rühmt sich eines Gasthauses mit drei Zimmern und unauffindbar – auch für ein Navi der unteren Preisklasse – hofft ein winziger Campingplatz auf Gäste, meist vergeblich.“

Zu meinen Lebzeiten. Welch‘ bitteren Nachgeschmack würde diese hingeworfene Aussage wenige Tage später hinterlassen.

Wir stapften den wenig gepflegten Kiesweg entlang. Tobias führte seine Einweisung fort: „Die Beschilderung ist, wie ihr seht, korrekt. Da keine vorhanden ist, führt sie auch nicht in die Irre.“ „Ohne das schönreden zu wollen: Für uns ist’s natürlich ideal.“ „Für jeden, der für sich sein will, ist’s ideal, Sigurd.

Ideal ist auch die tektonische Vergangenheit der Eifel. Vor etwa 12.900 Jahren brach der Vulkan aus, der sich heute Laacher See nennt. Die Intensität der Eruption überstieg die des Vesuvs von 79, des Mt. St. Helens 1980 und des El Chichón 1982 bei Weitem. Sie lagerte ihre Sedimente bis Südskandinavien und Italien ab.“ „Seitdem ist der Laacher See erloschen?“ „Seitdem. Man glaubte lange, für immer, aber neuere Rechenmodelle haben durchaus die Möglichkeit eines nächsten Ausbruchs aufgezeigt.“ „Nächste Woche?“ „Nächste Woche, nächstes Jahr oder in tausend Jahren – wer weiß.“

Siberius sah die Gelegenheit gekommen, seine humanistische Bildung heraushängen zu lassen. „Als Goethe zusammen mit dem Freiherrn von Stein vor dem Loch stand – dem Laacher See, meine ich – sagte er: Ich kann nicht aus meinem Neptunismus heraus […] Warum sollte denn das Wasser nicht auch löchrige Steine machen wie die Bimssteine? Beinahe 40 Jahre vor Goethes Einschätzung, genauer gesagt 1777 hatte Cosimo Alessandro Collini bereits geschrieben: …dass der Laacher See aus einem sehr wichtigen Vulkan entstanden sei, der sich hier selbst versenkt hat und erlosch. Damit hat dieser vor 250 Jahren das heutige Wissen vorweggenommen.“

„Was ist denn Neptunismus?“ fragte ich, der von uns Dreien vom Wissensgebiet Geologie und Vulkanologie am weitesten entfernt ist. Tobias sah sich wieder in der Pflicht. „Neben einigen Aussetzern wie sein Geschimpfe über die Respekt- und Interesselosigkeit der Jugend prägten einige Erkenntnisse Aristoteles‘ die 2000 Jahre nach ihm. So war er der Meinung, dass Vulkane durch ein Feuer im Innern der Erde tätig werden. Feuer entsteht durch einen brennbaren Stoff, der angefacht wird. Als Stoff nahm er Schwefel an und Stürme in der Tiefe der Erde, die dessen Anfachen besorgen.

Diese Meinung hielt sich bis ins 19. Jahrhundert, vermutlich, weil sie dem intuitiven Empfinden nahekommt. Dann begannen die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Götter Neptun – daher Neptunianer – und Pluto, die den alten Antagonismus zwischen Wasser und Feuer widerspiegelten. Zur Feuerschule stießen die Vulkanisten unter der Federführung des Franzosen Nicolas Desmarest, die der Meinung waren, dass prismatische Basaltsäulen, wie sie im nordirischen Antrim, bei Stolpen östlich von Dresden und an einigen Stellen auf Gran Canaria auftreten, dadurch entstanden seien, dass durch Erdhitze geschmolzenes Gestein an der Oberfläche erkaltete und erstarrte. Das ist auch der heutige Kenntnisstand.“

„Da hat sich der naturwissenschaftlich interessierte und auch kundige Goethe ausnahmsweise auf die falsche Seite geschlagen“, stichelte ich, denn ich weiß, dass Siberius nicht nur Kircher, sondern auch den großen deutschen Dichter bewundert. „Er hat ja auch zugegeben, dass er aus seiner Denke nicht herausfindet, obwohl es gewichtige Indizien zu Gunsten der Gegenseite gibt“, bekam ich zur Antwort.

„Wie dem auch sei“, fuhr Tobias ungerührt fort, „über die Basaltsäulen kommen wir zu den Höhlen, die klaffende Wunden in der Erde infolge tektonischer Tätigkeit sind.“ „Wie ein ‚Bäcker‘ in einem Brötchen, ein Hohlraum mitten im Teig, entstanden durch die Hitze.“ „So könnte man es einer Hausfrau erklären“, pflichtete Tobias mir bei, ohne sich bei dem Vergleich ein Lächeln zu verkneifen. Dann zeigte er auf die sich vor uns erhebende Felswand und sagte: „Genug der Diskussion. Wir sind da.“

Wir betrachteten die Tafel, die die beeindruckenden Pläne des Landes und des Kreises bezüglich der Zukunft des Standortes verkündete. An Stelle eines Kassenhäuschens, das den Zugang regelte, verkündete allerdings vorerst eine weitere Tafel, auf der ‚Betreten untersagt‘ stand, das Ende all‘ unserer hoffnungsvollen Höhlenforscher-Ambitionen.

„Wir könnten das Verbot ignorieren“, sagte Tobias, „denn wie erwähnt ist hier keine Sau, um es zu überwachen….“ „Und Videokameras?“ „Selbst für die müsste jemand ab und zu einen frischen Akku vorbeibringen und den Speicherchip austauschen, Siberius. Aber ich darf dich beruhigen. Wir bleiben brave Staatsbürger, gehen ein paar hundert Meter weiter nach links und stehen vor einer anderen, verbotsfreien Öffnung – verbotsfrei, weil sie bislang außer von den erwähnten abenteuerlustigen Jungs von niemandem entdeckt wurde.“

Immer wieder begleiteten uns Risse in der Felswand, die sich jedoch für einen Einstieg als zu schmal oder zu hoch gelegen entpuppten. Abrupt blieb Tobias stehen. „Hier!“ Wir sahen uns um. Nirgends lud eine Lücke im Gestein zum Eindringen ein. Tobias lächelte. „Er ist wirklich gut verborgen, der Eingang. Passt auf.“ Er huschte zwischen zwei Bäumen durch, führte eine weitere Kehrtwendung durch, war plötzlich hinter einem Gebüsch verschwunden und rief uns. „Da sollen wir durch?“ „Wir müssen uns nur kurz bücken; dann sind wir durch die Pforte durch und stehen in einer Grotte, die bequemes Stehen erlaubt.“

Wir schalteten die Lampen unserer Smartphones ein und folgten Tobias‘ Beispiel. Tatsächlich, hier drin sah es recht gemütlich aus. „Wären wir Steinzeitmenschen, könnte ich mir das als komfortable Wohnstatt vorstellen.“ „Super, Sigurd. Dann bleibst du hier, bis wir dich nächste Woche abholen.“ „Du mich auch. Von hier aus willst du also starten?“ „Leuchte mal dahin – ja, genau. Da seht ihr einen Gang, der sich ins Innere zu immer weiter verzweigt. Einige kenne ich noch von damals. Allerdings durften wir nicht weiter vorzudringen wagen als unser Ariadne/Theseus/Dädalus-Faden reichte. Ihr wisst schon.

So“, bestimmte Tobias, als wir wieder draußen waren, „nun gehen wir in Abständen von zehn Minuten los und versuchen unabhängig voneinander mit meiner App zurück zum Fahrzeug zu finden. Und wehe, ihr schaltet euer Navi ein oder versucht, euch auf euren Orientierungssinn zu verlassen.“

Meinen Blick ausschließlich auf das Smartphone fixiert wies mir das Gerät an Gesträuch und Geäst vorbei den Weg zurück. „Gut“, sagte ich, als wir uns wieder gefunden hatten und unsere Ergebnisse abglichen. „Allerdings sollte man trotzdem ab und zu auf den Boden schauen, damit man nicht in einer Zweigfalle hängen bleibt.“ „Ist dir das passiert?“ „Fast.“ „Zweigschlingen werden in der Höhle kaum auf uns lauern“, kommentierte Tobias trocken, „aber dafür wird’s felsig. Da lässt sich’s auch sauber den Fuß verknacksen.“

Einstieg und erster Tag

Der große Tag war gekommen. Da ich einen Kombi besitze, entschieden wir uns für ihn als Transportmittel, denn alles Gepäck zusammen ergab einen stattlichen Berg an unförmigen Rucksäcken und Schnüren. Bei unseren Kolleginnen und Kollegen sind wir zwar außer als Triumvirat der Alternativen auch als das Ton-Steine-Scherben–Trio bekannt bis berüchtigt, hatten aber diesmal nicht an die große Glocke gehängt, dass wir gemeinsam unterwegs, sondern getrennt verlautbart, dass wir für gut eine Woche nicht erreichbar seien. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten.

Die Autofahrt war als Spaziergang zu werten. Vorsichtshalber speicherte ich die Parkplatzkoordinaten auf meinem Smartphone. Dann marschierten wir los. Mit 22 Kilo auf dem Buckel schien der Trampelpfad durch den Wald ungleich länger als die Woche zuvor, als wir nur ein Plastikteil pro Mann zu tragen hatten. Tobias‘ App wog zum Glück nicht allzu viel, aber nun hatte jeder von uns eine Hochleistungstaschen- und eine ebensolche Stirnlampe plus zwei power packs dabei, um den Weg professionell auszuleuchten, für acht Tage Wasser und Proviant, einen Schlafsack, einmal Wechselkleidung, einen Schlafanzug, eine Rolle Toilettenpapier, ein Packen Erfrischungstücher und ein Paar Wanderstöcke pro Teilnehmer. Barometer, Thermometer und Hygrometer, um Luftdruck, -temperatur und -feuchtigkeit zu messen, und den Kompass hatte Tobias an sich genommen; Seile und Strickleitern trug Siberius, während Pickel, Spaten, Nägel und der Hammer, um diese notfalls irgendwo einschlagen zu können, an mir hängengeblieben waren. Auf eine Kamera hatten wir kollektiv verzichtet. Alles, was diesbezüglich zu leisten sein könnte, wälzten wir auf unsere Smartphones ab. Wir brauchten auch keine Stifte und Notizblöcke, denn zum Tagesabschluss gedachten wir unsere Erlebnisse und Erkenntnisse deren Speicherchips anzuvertrauen. Alles, was gegen Regen schützt, hatten wir aus selbsterklärenden Gründen ebenfalls zu Hause gelassen.

Allen gegenseitigen Frotzeleien zum Trotz entbehrte der Augenblick nicht einer gewissen Feierlichkeit. Tobias war in stillem Einvernehmen zum Leithengst erkoren worden und in dieser Rolle hielt er eine kurze Ansprache. „Also Jungs“, sagte er und verdeutlichte mit dieser Anrede, dass er sich wieder als 15jähriger fühlte. „Wir bewegen uns 3½ Tage lang ins Innere, egal ob es tiefer oder nur weiter geht. Wir wollen nicht zum Mittelpunkt der Erde vordringen, sondern Anzeichen von bisher unbekanntem, um nicht zu sagen undenkbarem Leben zu entdecken. Nach Ablauf dieser Zeit kehren wir um, egal, ob wir ’was gefunden haben oder nicht.

Ich wiederhole unsere Abmachungen. Wir bleiben unter allen Umständen zusammen. Sollte einer abgängig sein, schalten wir alle sofort unsere App auf Rückweg um und streben so schnell wie möglich ans Tageslicht zurück. Finden wir uns alle wieder ein, ist’s gut. Fehlt einer, versorgen sich die beiden anderen eventuell neu mit Vorräten und machen sich auf die Suche.

Und nun: Auf geht’s!“

Wir klatschten uns ab und wandten uns dem Loch zu. Siberius hielt vor dem ultimativen Schritt wenige Sekunden lang inne und verkündete: „Im Andenken an den großen Denker und Universalgelehrten Athanasius Kircher, dessen Annahme, dass die Erde ein lebender Organismus sei, wir mit unserer Expedition einem Beweis näherbringen wollen.“ Dann tauchten wir unwiderruflich ins Dunkle.

Wir hatten beschlossen, dass im Vorwärtsgang nur der Vorderste von uns seine Stirnlampe einschaltete und die beiden anderen hinterherstapfen sollten. Wenn diese erschöpft war, würde der nächste die Führung übernehmen und die Stirnlampe des bisher Ersten an dessen power pack aufgeladen werden. Sollte jemand etwas Beachtenswertes entdecken, hatte er „halt“ zu rufen und die anderen auf seine Entdeckung aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck hatten wir die stets griffbereiten Taschenlampen mitgenommen, denn damit sind mit knappen Handbewegungen Ecken ausleucht- und inspizierbar.

Im Lauf der ersten paar hundert Meter wurde mir klar, dass die Lidenbrock’sche Gruppe mit ihren Ruhmkorff’schen Laternen besser ausgerüstet gewesen war, denn diese strahlen Licht nach allen Seiten ab und vermitteln auf diese Weise ein heimeliges Gefühl, während die punktförmigen Strahler der modernen Welt kalt genau nach vorn zielen und die ihnen folgenden Träger im Dunkeln lassen. Naja, dachte ich, dafür ist ihre Effizienz um einen gewaltigen Faktor besser. Lidenbrock & Co. hätten für kaum länger als zwei Tage K2Cr2O7 mitzuschleppen geschafft.

Als Erster hatte – natürlich – Tobias die Führung übernommen. Bei einem Hindernis rief er aus: „Obacht, Loch!“ oder „Obacht, Schwelle!“. Gefühlt waren wir bereits Stunden unterwegs, obwohl kaum mehr als eine halbe davon vergangen sein dürfte. Noch bewegten wir uns in Regionen, in denen sich unser Einheimischer auskannte, und noch hatte das Ganze eher den Charakter eines Abenteuerspiels als einer ernstgemeinten Forschungsexpedition. Während des Vorwärtsdringens schwiegen wir weitgehend. Plötzlich blieb Tobias stehen und mahnte: „Pst!“ Wir verharrten. „Haltet am besten kurz die Luft an.“ Tatsächlich, ein kaum vernehmbares Schleifgeräusch von links unten ließ unsere Herzen höher schlagen. Wie auf Kommando zogen Siberius und ich unsere Taschenlampen aus dem Halfter und richteten ihren Strahl dorthin, wo wir das Geräusch vermuteten. Ein ungefähr 40 Zentimeter langes Band wand sich im Knick zwischen Felsboden und -wand entlang. Ich atmete hörbar auf. „Eine Blindschleiche, völlig harmlos.“

Wir versuchten das Tier unbehelligt zu lassen, drückten uns am anderen Ende des Ganges an ihm vorbei uns setzten unseren Weg fort. „Die braucht wohl kein Licht, weil sie blind ist.“ „Das ist ein Irrtum, Tobias“, dozierte ich, „die Bezeichnung rührt vom Althochdeutschen plint her, was glänzend bedeutet – wegen ihrer glänzend geschuppten Haut. Sie ist keine Schlange, obwohl Carl von Linné sie mit anguis fragiilis irrtümlich ‚zerbrechliche Schlange‘ getauft hat, sondern ein beinloses Reptil.“ „Anscheinend braucht sie kein Licht.“ „An sich ist sie sogar tagaktiv. Ich denke, unser Exemplar hat hier eine Nische zum Überleben gefunden. Felswände schwitzen immer ein bisschen und Beute findet sie offenbar auch.“ „Was frisst denn eine Blindschleiche?“ „Schnecken und Käfer, aber auch Blattläuse und Ameisen. Sie ist nach der unsinnigen menschlichen Einordnung folglich ein Nutztier. Es wäre interessant zu erforschen, ob sie hier unten eine kürzere Lebenserwartung hat, denn auf Grund der steten Temperatur entfällt die Winterstarre und sie bleibt ununterbrochen aktiv.“

„Sag‘ mal, Sigurd…“ „Ja, Siberius?“ „Wenn es hier Blindschleichen gibt…; denkst du, es könnte unter Tage auch richtige Schlangen geben?“ „Selbst wenn. Die einzige in unseren Breiten vorkommende Art ist die Ringelnatter, und die ist harmlos, weil ungiftig. Im Gefahrenfall gibt sie allerdings ein stinkendes Sekret ab.“ „Giftig oder nicht. Ich möchte nicht wirklich gern, dass eine in meinen Schlafsack kriecht.“ „Das Risiko hast du immer, wenn du im Freien übernachtest. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings sechs Richtige mit Zusatzzahl und hier drin noch geringer.

„Wisst ihr, wem ich hier gern begegnen würde?“ Ich erntete keine neugierigen Grunzlaute, denn mir als Biologen wird immer eine Affinität zu sich windenden Glibberwesen unterstellt. Ich beantwortete deswegen meine Frage selbst. „Einem Grottenolm. Das ist ein sehr selten anzutreffender Schwanzlurch, der in Höhlengewässern lebt. Dessen Augen sind tatsächlich degeneriert und hinter die Kopfhaut abgetaucht.“ „Dann gilt es auf ein Höhlengewässer zu stoßen.“

„Das liegt durchaus drin“, meldete sich Tobias, unser Geologe zurück. „Und zwar nicht nur, weil die Felsen schwitzen, sondern auch, weil Höhlen zuweilen tief ins Erdinnere hinabreichen und das Regenwasser sich bekanntlich seinen Weg abwärts sucht. Unterirdische Seen sind deswegen eher der Normalfall und es ist durchaus möglich, dass auch wir auf einen stoßen. Ganz falsch lag Otto Lidenbrock mit seiner Einschätzung nicht. Lediglich die von ihm erwarteten unterirdischen Quellen sind unsinnig. Mit Millionen Jahre altem Regenwasser hätte er richtig gelegen.“ „Dann hast du ja eine Chance auf deinen Grottenolm“, knurrte Siberius, „aber eins sag‘ ich dir, Sigurd: Wenn das widerliche Viech zu mir ‚Papa‘ sagt, verweise ich es an dich.“ „Woher weißt du, dass es widerlich ist?“ Siberius‘ neuerlicher Knurrlaut blieb unverständlich.

Bis zur ersten Pause trat wieder Schweigen ein, nicht zuletzt, weil uns kein weiteres Lebewesen mehr begegnete. Dann setzten wir uns und gaben uns unserer ersten unterirdischen Mahlzeit hin. Wir probierten eine Weile herum, bis wir die auf Streulicht eingestellte Lampe so platziert hatten, dass sie unser ausgewähltes Areal einigermaßen ausleuchtete. Das menschliche Auge ist erstaunlich lichtempfindlich, bereits acht Photonenquanten nimmt es wahr. Wie wir dasaßen und uns gütlich taten, hätte auch eine mittelalterliche Räuberhöhle nicht funzliger gewirkt. Nur dass uns keine Rauchschwaden von Fackeln oder Gerüche von Petroleumlampen belästigten.

Ob von ‚gütlich tun‘ die Rede sein durfte, lasse ich dahingestellt. Wir hatten uns weitgehend mit Müsli- und Schokoladenriegeln versorgt, um unseren Energiehaushalt möglichst gewichtsarm abzudecken. „Um eine Verstopfung kommen wir wohl nicht herum“, meinte Siberius skeptisch. „Schlimmstenfalls gibt es in der Apotheke immer noch Rizinusöl“, erwiderte ich tröstend. „Bah!“

Bevor wir weiterzogen, testeten wir Tobias‘ App. Tatsächlich hatte sie Daten generiert, die sich in der Waagerechten als gut lesbare Karte präsentierte und, vor den Bauch gehalten, den Weg zurück ins richtige ‚Loch‘ zurück an die Oberfläche wies. „Du solltest deine Professur aufgeben und deine Software verkaufen, Tobias. Die macht dich zum Millionär.“ „Keine schlechte Idee, Sigurd. Der Lackmustest besteht allerdings darin, dass wir mit ihr anstandslos zurückfinden.“ „Wenn der Test negativ ausgeht“, merkte Siberius in seiner typisch destruktiven Art an, „wird’s sowieso nichts mit dem Verkauf. Dann sind wir nämlich alle verreckt.“ „Immerhin haben wir alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen, um den Rückweg erfolgreich zu meistern. Jules Verne hat ja nicht nur den drei Höhlenforschern, sondern auch den drei Astronauten in seinen Mondromanen zugemutet, keinerlei Gedanken daran zu verschwenden. Axel wurde von Onkel Otto jedes Mal, wenn er laut daran zu denken wagte, rüde ob seines Kleinmuts gerüffelt.

Herrlich die zeitgeistige Übersetzung Joachim Fischers in dem rigoros zusammengestrichenen Text bei Bärmeier & Nikel 1966“, fuhr ich verträumt fort, „als der Neffe vom Weg abkommt und im Gebet ausruft: ‚Onkel, Onkel, warum hast du mich verlassen?‘“ Tobias lachte. „Auch der Ausruf: ‚Niedergefahren im Snæffels, verloren, verlaufen und im dritten Monat wieder ausgespieen mit der Lava‘ klingt sehr biblisch.“ „Dabei stimmt nicht, dass der Roman ein grandioses Scheitern beschreibt, wie Volker Dehs es in seiner kommentierten Ausgabe von 2005 hinstellt.“ Siberius gab sich wie immer sachlich-nüchtern. „Jules Verne hat vermeiden wollen“, fuhr er fort, „sich dank der überraschenden Rettung durch den Stromboliausbruch festzulegen, ob das Erdinnere glühend oder kalter Stein sei und sich nach Abschluss der seinerzeitigen heftigen Kontoverse eventuell zu blamieren. Dabei hat er sich festgelegt.“

„Wie meinst du das?“

„Die Lidenbrock-Expedition folgt den Spuren Arne Saknussemms, der den Mittelpunkt der Erde nicht nur erreichte, sondern auch den Weg zurückfand, wie das verschlüsselte Dokument beweist, das der Professor in einer alten Schwarte findet. Lassen wir außen vor, dass der Isländer allein schaffte, was Vernes Helden zu Dritt bewältigen, dass er all‘ die Instrumente nicht besaß, über die Lidenbrock verfügte und und und: Er hatte sein Ziel erreicht und das wäre nur bei kaltem Erdinneren möglich gewesen.“

„Wie hätte Saknussemm denn feststellen sollen, dass er am Ziel war?“ „Am Erdmittelpunkt herrscht Schwerelosigkeit, Tobias. Es kann natürlich sein, dass das einem Menschen des 16. Jahrhunderts nicht bewusst war. Darauf will ich aber nicht hinaus. Ich will darauf hinaus, dass Vernes Roman impliziert, dass es Saknussemm erreicht hat, und er sich damit sehr wohl auf den kalten Steinbrocken im Weltraum festlegt. Das wurde zu meinem Erstaunen nie diskutiert. Auch Volker Dehs scheint den Widerspruch nicht bemerkt zu haben. Jedenfalls weist er in dem umfangreichen Schrifttum zu seinem Lieblingsautor und dem Roman nirgends darauf hin.“

Nachdem die Diskussion wie häufig bei uns theorieverliebten Kathedergrößen vom Hölzchen aufs Stöckchen geraten und die Pause deswegen zu ungeplanter Dauer ausgeartet war, packten wir nichtsdestoweniger zufrieden unser Gerödel zusammen. Eine geistige Entdeckung ist ja auch eine Entdeckung. Dann setzten wir unseren Weg besten Mutes fort.

Bisher ging es moderat, aber beständig bergab. Plötzlich rief Siberius, der nach der Pause die Führung übernommen hatte: „Vorsicht!“ „Was ist?“ „Hier ist ein Schacht in die Tiefe.“

Wir untersuchten das Hindernis im Schein dreier Streulichtquellen und stellten fest, dass es sich um keinen Schacht, sondern einen beinahe gestuft gestalteten Steilhang handelte. Tobias, der Jüngste von uns und auch der erfahrenste Kletterer, seilte sich an und begann sich hinab zu tasten. Dank der Schall-Trichterwirkung in den Gängen war es möglich, dass wir uns über weite Entfernungen verständigten.

„Und?“ „Bis jetzt hat’s wirklich Treppenhauscharakter, jetzt – ah, jetzt bin ich unten. Wartet, ich leuchte mal, ob es irgendwo weiter geht.“ Nach einer Weile: „Ja, es geht weiter. Ich denke, ihr könnt mir problemlos folgen. Ab und zu braucht ihr Hände, aber keine Seilschaft.“

Siberius und ich stellten uns vermutlich deutlich ungeschickter als Tobias an, aber nach einer Weile standen wir neben ihm. „Der Rückweg ist gesichert“, urteilte Tobias, „denn einen Hang, den man herunter schafft, schafft man auch wieder hinauf.“ „Was hättest du eigentlich gemacht, wenn hier einfach Schluss gewesen wäre?“ „Na, wieder hoch gekraxelt, Siberius, und wir hätten uns woanders hin orientiert. Wir haben ja ein biologisches und kein geografisches Ziel.“

Danach ging es ereignislos weiter wie bisher. „Wie tief sind wir eigentlich, Tobias? Kannst du das feststellen?“ Der Angesprochene zückte sein Barometer. „Ungefähr tausend Meter ab Eingang, Sigurd, also 600 Meter unter Normal Null.“

Als der Abend – an der Oberfläche Abend – herannahte, weitete sich der Gang und zum ersten Mal wähnten wir uns in einer Grotte, wie sie die Attraktivität zur Besichtigung freigegebener Höhlen markant erhöhen. Es plätscherte. „Stopp!“ rief Siberius, „hier ist’s nass.“

Wir leuchteten unsere Umgebung aus, so gut es ging, und stellten fest, dass wir tatsächlich vor einem Gewässer standen. „Hier hat sich im Lauf der Jahrmillionen Regenwasser gesammelt“, dozierte Tobias, „das heißt, wir dürften die tiefste Stelle des Labyrinths erreicht haben.“ „Ob man das Wasser trinken kann?“ „Theoretisch spricht nichts dagegen, Sigurd. Allerdings ist es vermutlich biologisch tot und so wird’s auch schmecken.“ „Dann habe ich nachher etwas zu tun.“

Entfernungsschätzungen in die Senkrechte geraten dem menschlichen Auge ohne Hilfsmittel äußerst grob. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Reichweite der Taschenlampen bei stärkster Spoteinstellung 50 Meter beträgt und ihr Strahl die Decke gerade erreichte, trugen wir besagte 50 Meter in unsere Smartphonedateien ein. „Sollen wir dem Ding einen Namen verleihen“, fragte ich, „Tobias- oder Siberiusgrotte?“ „Wenn, dann Sigurdgrotte.“ „Kommt nicht in Frage!“ „Du willst abwarten, bis wir auf ein richtiges Meer stoßen, das du dann nach dir benennst?“ „Sicher nicht. Das hieße selbstverständlich Lidenbrock-Meer.“

Es blieb vorerst bei Grotte A und wir bereiteten uns auf das Nachtlager vor. Dazu gehörte auch das Aussuchen einer möglichst abgelegenen Nische, um von unliebsamen Gerüchen verschont zu bleiben. Irgendwohin galt es schließlich die offizielle Toilette zu platzieren.

Unser frugales Müsli-/Schokoladenmahl rundeten wir mit einem ebenso frugalen Apfel ab, von denen jeder einen für jeden Tag im Gepäck hatte, um unsere Verdauung wenigstens einer Spur von Ballaststoffen auszusetzen.

Zum Tagesabschluss ging jeder einer anderen Beschäftigung nach. Ich setzte mich ans Wasser und hoffte. Als ich des Hoffens überdrüssig wurde und bereits von meinen Kameraden gehänselt wurde, sah ich ihn. Den 30 Zentimeter langen, bleichen Aal, der jedoch in eine Schwanzflosse auslief. Bei genauerem Hinsehen waren zudem Gliedmaßen erkennbar, wenn auch in stark unterentwickelter Form. „Sigurd….“ „Pssst!“ „Oh. Hast du ’was entdeckt?“ Ich nickte und gebot mit einer Handbewegung Schweigen. Nach einer Weile hatte Hugo, wie ich meinen Fund getauft hatte, genug von mir und schwamm außer Sicht. Ich erhob mich und kehrte zu unserem Lager zurück. „Hast du einen gesehen?“ „Ja, habe ich. Damit ist klar, Tobias, dass das Gewässer nicht biologisch tot ist, denn der Olm muss ja von etwas leben.“ „Und was ist das?“ „Das sind kleine Krebstiere, Wasserasseln und Flöhe. Die muss es hier folglich geben.“ Jetzt war es an mir zu dozieren. „Die Sehorgane sind weitgehend funktionslos, aber nur weitgehend. Licht nehmen sie wahr. Das Tier ist sehr flexibel und kann sowohl über die Haut im Freien als auch über Kiemen den Sauerstoff des Wassers atmen. Der Teich ‚lebt‘, Tobias.“ „Dann können wir ja probieren, unsere Wasservorräte damit aufzufüllen. Extrem sauerstoffhaltig dürfte es allerdings nicht sein. Es geschieht ja keine Umwälzung durch Strömung oder Wind.“ „Wir werden’s sehen. Die Temperatur hier ist jedenfalls ideal. Wir haben konstant 14°C und der Grottenolm liebt solche zwischen zehn und 17 Grad.“ „Was hast du jetzt von deiner Entdeckung, Sigurd? Kein Foto, keine Tonaufzeichnung, nichts.“ „Ich habe einen Grottenolm auf freier Wildbahn gesehen, Siberius. Das werde ich auch gleich in meinem elektronischen Tagebuch vermerken.“ „Wie dem auch sei und wie selten ein Grottenolm auf freier Wildbahn vorkommen mag: Wir hängen immer noch an kohlenstoffbasierten Organismen.“ „…und æroben.“ „Meckert nur. Für mich ist jede seltene Tierart ein Gewinn.“ „Wie heißt das Biest eigentlich wissenschaftlich?“ „Proteus anguinus.“ „Deinen proteus anguinus in Ehren, Sigurd, aber wenn der sich schon wie eine Stecknadel im Heuhaufen versteckt: Wie sollen wir gänzlich unbekannte Organismen aufspüren?“ „Das fällt mir heute Abend keine Antwort ein, Siberius. Immerhin haben Grottenolm und Stecknadel einen Vorteil gemeinsam.“ „Und welchen?“ „Den, den du angedeutet hast. Der Sucher weiß, wie aussieht, was er sucht.“

Wir wickelten uns in unsere Schlafsäcke und testeten die Multifunktionsfähigkeit unserer Multifunktionsanoraks, indem wir sie als Kopfkissenersatz unter unsere Köpfe knäuelten – für richtige flauschige Kissen hatte sich beim besten Willen kein Platz mehr gefunden. Für Pyjamas sehr wohl, wie ich bei der Gepäckauflistung bereits beschrieben hatte, denn die Vorstellung, in Tageskleidung die Nacht zu verbringen, war uns allen grenzwertig, um nicht zu sagen eklig erschienen. Als alle Lichter gelöscht waren, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie stockfinster es hier war.

Bisher war es angenehm gelaufen. Der Gedanke, in einen engen Felsschlund kriechen zu müssen, schreckte mich. Ich bin nicht so klaustrophob, dass ich in keinen Fahrstuhl oder in kein Flugzeug steige, aber immer froh, wenn ich wieder im Freien bin. Gebirgsjäger versus Tunnelbohrer ist für mich eine leichte Wahl. Mit dem Gedanken, dass für mich spätestens im Fall zu großer Beklemmung Schluss mit unserem Ausflug wäre, schlief ich ein.

Seltsame Vorkommnisse

Ich tastete dort nach meinen Schuhen, wo ich sie gestern Abend abgestellt zu haben meinte. Nach einer Weile erkannte ich, dass ich sie im Dunkeln nicht finden würde, und schaltete die Taschenlampe ein. Da waren sie, allerdings nicht rechts, sondern links neben dem Schlafsack-Fußteil. Ich runzelte die Stirn, denn das war für mich ungewöhnlich, und begann mich anzukleiden. Morgentoilette mit Dusche entfiel natürlich. Meine Kameraden waren mittlerweile auch erwacht und taten es mir gleich.

Zum Frühstück holten wir wie auf Kommando Petflaschen aus den Rucksäcken, deren Inhalt nicht durchsichtig war. Siberius hatte eine mit dunkelgrünem, Tobias mit hellbraunem und ich eine mit schwarzem Inhalt gezückt: Tee, Milchkaffee und schwarzem Kaffee. Wir grinsten uns an, vor allem Tobias und ich. „Es gibt eine Romanserie von Patrick O’Brian um einen Kaperkapitän namens Jack Aubrey zur Zeit der napoleonischen Kriege, Siberius, und der ist wie sein Schiffsarzt Stephen Maturin Kaffeefan.“ „Was willst du mir damit sagen, Sigurd?“ „Die haben naturgemäß mit zahlreichen anderen Kollegen aus derselben Zunft zu tun und nach einer Weile schält sich als roter Faden heraus, dass teetrinkende Kapitäne ihre Schlachten verlieren und kaffeetrinkende gewinnen.“ Siberius grunzte. „Romanserie, sagst du. Das heißt, die Geschichten sind fiktiv. Das heißt des weiteren, dass dieser O’Brian Kaffeetrinker war und sonst nichts. Das wiederum scheint mir kein Wunder zu sein, denn dem Namen nach ist er ja Ire.“ „War.“ „Gestorben ist er auch noch?! Da siehst du mal, wie wenig die Kaffeetrinkerei nützt.“

Ob Tee oder Kaffee: Wie schön, einmal etwas anderes als Wasser hinter die Zähne gegossen zu haben, auch wenn wir mit erkalteten Varianten hatten Vorlieb nehmen müssen. Nachdem wir alles zusammengepackt hatten, wählten wir einen der zahlreichen Gänge aus, die von der Grotte aus weiter ins Innere des Berges führten, und marschierten los. Heute war ich zu Beginn als Führer auserkoren worden.

Mir kam wieder Jules Vernes ‚Reise zum Mittelpunkt der Erde‘ in den Sinn, in dem sich die Lidenbrock’sche Expedition kurz nach ihrem Einstieg ins Innere für den falschen Weg entscheidet. Joachim Fischers Übersetzung von 1966 trifft Axels Befindlichkeit am besten: Wir entschieden uns für die Galerie mit den gotisch anmutenden Gewölbebögen. Damit begann der entsetzliche Irrweg.

Für uns gab es keinen Irrweg, denn es gab kein erklärtes geografisches Ziel. Meine Schuhe brachten sich wieder in Erinnerung beziehungsweise wie unkonventionell ich sie am Vorabend abgestellt hatte. Ich schnitt das Thema an, um etwas zu sagen, und erntete Schweigen. „Was ist mit euch? Hat euch mein gestriger Grottenolm so imponiert, dass ihr es ihm in Zukunft gleichzutun und in immerwährendes Schweigen zu verfallen gedenkt?“ Siberius‘ Stimme hinter mir klang leicht knarrend. „Das ist es nicht.“ „Sondern?“ „Mir ist das Gleiche passiert.“ „Was sagst du da?“ „Mir ist das Gleiche passiert.“ „Mir auch“, erhob sich Tobias‘ Stimme eine Menschenbreite weiter hinten.

Vor Bestürzung blieb ich so abrupt sehen, dass die anderen auf mich aufliefen. „He! Spinnst du?“ „Entschuldigt. Jetzt bitte auf Ehre und Gewissen: Hat sich einer von euch heute Nacht diesen lustigen Gag ausgedacht?“ Wir hatten uns die Gesichter zugekehrt und sahen uns an. „Auf Ehre und Gewissen, nein“, gelobte Siberius. „Auf Ehre und Gewissen, auch nein“, gelobte Tobias. „Auf Ehre und Gewissen, auch nein“, gelobte ich als Letzter. Wir sahen uns an. „Aber wer…?“

Wir vermochten die Frage nicht zu beantworten. Ob sich ein Vorreiter oder Nachahmer unseres ehrgeizigen Plans ebenfalls hier unten befand? Ich hielt das zwar für möglich, aber für unmöglich, dass sich jemand in der unterirdischen Totenstille anzuschleichen und in der Stockfinsternis den eher harmlosen Streich fertiggebracht haben sollte. Auch im Schlaf hätten wir jedes Geräusch und jeden glimmenden Span wahrgenommen und wären aufgewacht.

Oder ein Mensch lebt seit ewigen Zeiten hier unten, braucht kein Licht mehr und bewegt sich lautlos wie eine Katze?

Oder ein Riesen-Grottenolm…?

Oder sonst ein Wesen…?

Das Verrückte war, dass wir dieses sonst-ein-Wesen eigentlich suchten und bei dem Gedanken hätten in Jubelrufe ausbrechen müssen, es gefunden zu haben.

Oder es uns. Naja, wenn es nichts weiter vorhatte als uns ein bisschen mit dem Verschieben von Utensilien zu unterhalten, hielt sich die Gefahr in überschaubaren Grenzen. Wenn das allerdings nur der Anfang gewesen sein sollte….

Ich verstaute die unerfreulichen Aspekte dieser Überlegungen zunächst in einer unzugänglichen Ecke meines Gehirns und stapfte weiter. Meinen Freunden ging es offenbar ebenso, denn selbst das Mittagessen verlief schweigend.

Beim Zusammenpacken hielt ich es nicht mehr aus und fragte in die Runde: „Zu welchen Ergebnissen seid ihr gekommen?“

Es stellte sich heraus, dass Tobias und Siberius ebenso weit gediehen waren wir ich, nämlich nicht über Spekulationen hinaus. „Kann es sich nicht auch um eine kollektive Halluzination gehandelt haben?“ fragte Siberius hoffnungsvoll – seine Hoffnung bestand darin, ein zweifaches „ja“ als Antwort zu hören.

Leider enttäuschten Tobias und ich ihn. „Wäre es mir allein so gegangen“, erklärte Tobias, sichtlich jedes Wort abwägend, „könnte ich dir zustimmen. Aber nicht bei drei synchronen Vorgängen – vorausgesetzt, wir sind untereinander ehrlich.“ „Das versichere ich dir“, doppelte ich heftig nach, „zumal ich als Linkshänder meine Schuhe nie rechts deponieren würde, sofern ich die Wahl habe.“ Siberius schwieg eine Weile, bevor er bekannte: „Mir geht’s genauso, nur anders herum. Die Gegenläufigkeit der Wanderungen schließt auch ein Erdbeben mit geringfügigen Bodenbewegungen aus.“

Ein Erdbeben! Warum war ich darauf nicht gleich gekommen? Auch Tobias biss darauf sofort an. „Das ist nicht gesagt“, führte er aus und seine Erleichterung war ihm anzuhören, „ein Erdbeben hat keine Richtung wie ein Strudel. Wir selbst in den Schlafsäcken und unsere Rucksäcke waren zu schwer, um uns davon beeindrucken zu lassen, aber für unsere Wanderstiefel hat der Impuls gelangt.“ „Und warum haben wir nichts gehört? Ganz geräuschlos lief das sicher nicht ab und hier unten herrscht Totenstille.“ „Ich gehe davon aus, Siberius, dass wir bei der Totenstille extrem tief geschlafen haben.“

Die Schlussfolgerung stellte alle zufrieden, denn wir wollten glauben, was unser Geologe überlegt hatte. Deutlich besseren Mutes marschierten wir weiter und erreichten am Abend wie bestellt eine weitere Grotte, die zum Biwakieren wie geschaffen schien. In zwei Dingen unterschied sie sich allerdings von der der vergangenen Nacht. Es hatte sich kein Wasser in ihr zu einem See gesammelt und sie wies Stalaktiten und Stalagmiten auf. „So tief unten eine Tropfsteinhöhle?“ äußerte ich mich verwundert. „Auch Gestein kann wasserdurchlässig sein“, dozierte der zuständige Professor Tobias Ton, „außerdem wissen wir nicht, wie dick oder dünn der Fels über uns ist. Vielleicht fänden wir nach wenigen Metern nach oben bereits Humus.“ „Die Mieten und Titten befinden sich noch weit auseinander. Lässt sich daraus schließen, dass entweder die Höhle selbst nicht sehr alt ist oder sie noch nicht lange tropft?“ „Genau das, Sigurd. Weißt du eigentlich, welche von oben hängen und welche von unten wachsen?“ „Äh…?“ „Sehr gut, richtige Antwort. Nicht die eben, sondern die in der Frage davor versteckte. Die Titten hängen ’runter und die anderen Dinger erwarten sie sehnsüchtig von unten.“ „Die Eselsbrücke lautet also: Frau ist oben.“ Siberius hatte nach langer Abstinenz endlich wieder einen humorigen Einfall erbrochen.

Der zweite Abend unter Tage unterschied sich organisatorisch nicht vom ersten, aber mental mehr als deutlich. Hatten wir gestern vor lauter Diskutieren erst spät in die Schlafsäcke gefunden, fiel uns heute kein Thema mehr ein. Offenbar hatte uns die Schuhgeschichte mehr belastet als wir uns selbst zuzugeben bereit waren. Wir untersuchten unser Schlafgemach gründlich, fanden aber nichts Verdächtiges.

So lagen wir nunmehr bereits um Neun in den Daunen, obwohl es uns an Müdigkeit gebrach. Ich hörte, dass die anderen sich genauso ruhelos herumwälzten wie ich. Irgendwann schliefen wir dennoch ein.

Ich erinnere mich an keinen Traum während der ersten Nacht unter Tage, auch nicht vage an aufblitzende Gedankenfetzen. Die zweite machte diese Lücke mehr als wett. Ich befand mich auf wilder und zielloser Flucht vor Steinschlägen und unterirdischen Gewittern, die sich wiederum als Steinschläge entpuppten. Von allen Seiten prasselten die Geschosse auf mich ein, trafen mich aber nicht, da es mir immer wieder gelang, ihnen auszuweichen. Panikartige Ängste beherrschten und hetzten mich und erlaubten kein Ausruhen.

Irgendwann hatte ich dennoch die Tiefschlafphase erreicht. Die sorgte dafür, dass ich einigermaßen erholt erwachte und erlaubte mir, mich wohlig zu räkeln. Ein paar Minuten döste ich weiter, während denen mir verschiedene Gründe für meine halb missratene Nacht durch den Kopf wanderten. Anscheinend begannen die völlige Stille und Finsternis und das Gefühl des Eingesperrtseins ihre Wirkung zu zeigen, denn meine Beklemmung war mit schlechter Atemluft nicht begründbar. Ich wundere mich immer wieder, wie frisch sich diese auch in der tiefsten Gruft hält. Sie hat unendlich viel Zeit, war meine Erklärung, sich gleichmäßig auszubreiten, wird nicht aufgebraucht und hält eine gleichmäßige Kühle, im Fall der Gommericher Grotte 14°C. In die relativ kleinen Gemächer, auf die wir bisher gestoßen waren, müsste bei einem eventuellen Touristenandrang mit Sicherheit künstlich Sauerstoff eingespeist werden. Die Kathedralen, wie sie die Adelsberger Grotten bei Postojna in Slowenien oder die Mammuthöhlen in Kentucky zu bieten haben, bleiben auch bei Tausenden von Besuchern täglich unbeeindruckt.

Auch Tobias und Siberius begannen sich zu rühren. Zeit, sich zu erheben. Die natürlichen Kathedralen blieben vorerst an meinen Gehirnzellen haften.

„Vielleicht finden wir ja auch eine“, stellte ich während des Frühstücks beziehungslos in den Raum. „Wenn du uns verrätst, wovon du sprichst, vielleicht“, brachte Tobias undeutlich, weil kauend heraus. „Halt so Riesengewölbe wie…“ „…das Lidenbrock-Meer?“ „Ich wäre schon mit den Mammuthöhlen zufrieden.“

Die Schuhepisode war vergessen, aber irgendwie auch das Ziel unserer Exkursion. Leben auf Siliziumbasis – auf der Erde? Wo gibt’s denn sowas?!

„Welchen Gang nehmen wir?“ Tobias‘ gestrige Frage wiederholte sich. Wir leuchteten die verschiedenen Bögen ab. Während sich in meinem Gehirn Joachim Fischers Worte wiederholten: Damit begann der entsetzliche Irrweg, blieb Tobias‘ Lichtkegel an einer Stelle haften. „Sagt mal, war das gestern auch schon da?“ „Was denn?“ „Na, da!“ Wir starrten die Stelle an und allmählich formte sich eine Inschrift, grob aus dem Fels gehauen und kaum, aber unter konzentriertem Hinsehen doch erkennbar. Wären Siberius‘ oder meine kurzsichtigen Sehwerkzeuge heute Morgen für die Führung zuständig gewesen, wäre sie uns entgangen.

Die Inschrift.

Kehrt um!

Uns sträubten sich die Nackenhaare. Minutenlang waren wir zu keinem Wort und keiner Bewegung fähig, bevor sich Tobias aufraffte, die eingeritzten Runen mit den Fingerspitzen nachzufahren. „Wie mit einem Messer eingeschnitten“, waren seine ersten Worte nach langem Schweigen. Sie klangen rau und ungesund.

„Aber wer…?“ Meine Stimme klang nicht besser – gefühlt eher schlimmer.

Tobias zuckte die Schultern. Wir hatten alle ein Schweizer Armeemesser dabei, aber die waren viel zu wenig hart, um derart deutlich in Basalt einritzen zu können. Ich dachte wieder einmal an Jules Verne und seinen Roman ‚Schwarz-Indien‘, in dem ein vergessener Büßer namens Silfax versucht, den Abbau des letzten, ‚seines‘ Flözes im schottischen Aberfoyle zu verhindern. Der Büßer hatte seine Bezeichnung von der mönchskuttenartigen Dienstkleidung, in der er in den Schächten über den Boden kroch und dabei eine Fackel hochhielt. Mit dieser löste er eine kleine Explosion aus, wenn sich Schlagwettergase gebildet hatten, und befreite den Schacht damit von ihnen. Aus der Schilderung der Arbeitsumstände liest sich von selbst heraus, dass es sich um eine dreckige und lebensgefährliche Schinderei handelte, die den Untersten der damaligen gesellschaftlichen Rangordnung oblag.

Des Weiteren dachte ich an ‚Das Tier in der Höhle‘, die erste Geschichte von Howard Phillips Lovecraft, die er je veröffentlichte. Dort verirrt sich ein namenloser Ich-Erzähler in den Mammut-Höhlen, trifft auf ein fellbewehrtes Etwas, das er für gefährlich hält, und tötet es. Erst danach dämmert ihm, dass er eine Kreatur umgebracht hat, die wenigstens früher ein Mensch gewesen war.

Nach und nach gewannen wir unsere Fassung wieder und diskutierten, wie die Schrift wohl dort hingelangt sein mochte. „Gestern war sie noch nicht da.“ „Woher nimmst du die Sicherheit, Tobias? Hast du genau diese Stelle intensiv ausgeleuchtet?“ „Nein; aber so wie ich die Schrift heute Morgen wahrnahm, hätte ich sie auch gestern Abend wahrgenommen, Sigurd.“ „Da bin ich nicht sicher. Gestern hatten wir konkret nichts gesucht; heute hingegen haben wir die Gänge gezielt auf Begehbarkeit geprüft.“ „Hm.“ „Versuchst du zu argumentieren, Sigurd“, ließ Siberius verlauten, „dass du der Meinung bist, die Schrift stünde schon länger hier?“ „Ausgeschlossen ist es nicht.“ „Das nicht. Aber wer soll ihr Autor sein? Ein paar Jungs mit Schabernack im Sinn wie Tobias vor 20 Jahren, die hier herumstromerten?“ „Sowas haben wir natürlich verbrochen“, schaltete sich wiederum der Beschuldigte ein, „aber nie im Leben sind wir oder irgendwelche anderen Jungs so tief hier eingedrungen, wie wir uns jetzt befinden. Wir hatten ja auch noch keine Apps, die uns den Rückweg gewiesen hätten.“ „Höchstens den Ariadnefaden.“ „Und wenn sie den Rückweg nicht mehr fanden?“ Ich dachte an ‚Das Tier in der Höhle‘.

Tobias und Siberius sahen mich an, als gedächten sie mich zu hypnotisieren. Beide schluckten. „Ich glaube, das hättest du besser nicht gesagt, Sigurd.“ Mir selbst lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Entschuldigt, das ist mir ’rausgerutscht. Meines Wissens verschwand hier in der Gegend nie jemand spurlos.“ „Meines Wissens auch nicht“, bestätigte Tobias und wir zogen los. Ganz ließ mich der Gedanke nicht los, plötzlich über ein menschliches Skelett zu stolpern. Dennoch diente die Theorie, dass ein paar Jungs vor Jahren die Buchstaben als harmlosen Streich in die Wand geritzt hatten, zur Beruhigung, denn sie bot die bevorzugte natürliche Aufklärung des Geheimnisses an. Weder Tobias noch Siberius, überlegte ich, war eingefallen, die Höhe des Schriftzuges für ungewöhnlich zu halten. Graffitis bringt der Mensch intuitiv in Augenhöhe an und unser Menetekel hatte sich einige Zentimeter über unseren Scheiteln befunden, in geschätzten zwei Metern Höhe. Wir sind nämlich alle Drei ungefähr 1,80 Meter groß.

Irgendwie war die Stimmung trotz unserer uns selbst eingeredeten Erleichterung gedrückt, denn wir bahnten unseren weiteren Weg schweigend. Ich beschäftigte mich mit dem Dreikörperproblem. Angenommen, einer von uns hätte heute Nacht doch heimlich die Zeichen in das Gestein geritzt, weil er in böser Absicht von vornherein ein Hämmerchen und einen Meißel tief unten in seinem Rucksack verstaut hatte: Wer könnte es gewesen sein? Mich selbst schloss ich aus, sodass zwei potenzielle Missetäter übrig blieben. Wäre es Tobias, würde Siberius sich natürlich genauso ausschließen und für ihn blieben Tobias und ich übrig. Dasselbe galt mit anderen Koordinaten für Siberius. Man konnte es drehen, wie man wollte: Erst die Sicherheit von Zweien, es nicht gewesen zu sein, würde zweifelsfrei auf den Dritten hinweisen. Und die Sicherheit gab es nicht. Siberius ist der Schweigsamste und häufig Mürrischste von uns, aber das weist ja nicht unbedingt auf einen miesen Charakter hin. Tobias und ich führen seine zeitweilige Misslaunigkeit darauf zurück, dass er in seiner Fakultät die wenigsten Mädchen abkriegt. Insgeheim wissen wir indes, dass das eine alberne Einschätzung ist.

Als wir zum Mittagessen abhalfterten, hatte ich mich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass aus drei Gründen keiner von uns als Täter in Frage kam: Er hätte eine Leiter und Licht gebraucht und so viel Lärm verursacht, dass die anderen unbedingt aufgewacht wären.

Allmählich normalisierte sich unser Verhalten in das übliche jahrzehntelang befreundeter Kumpel. „Morgen Mittag heißt’s den Rückweg antreten“, verkündete Tobias. „Nach 3½ Tagen wie geplant“, murmelte ich. „Glaubst du, dass wir einen vollen Tag länger brauchen, um zurück ans Tageslicht zu gelangen?“ „Wir sind jetzt ganz schön tief unten.“ „Wie tief?“ „Beinahe 2.000 Meter, also 1.600 Meter unter Normal Null.“ „Das ist ja schier nichts im Verhältnis zur Strecke, die wir zurückgelegt haben.“ „Stimmt schon. Der Tag länger für den Aufstieg ist ja auch nur Reserve. Wenn uns die Welt nach sieben Tagen wiederhat, ist’s auch nicht schlimm. Oder findest du das?“ Das fand ich nicht und musste zugeben, dass mir der Gedanke sogar angenehm war. Nach 60 Stunden in den dunklen Gängen war mir, als hielte ich mich bereits 60 Tage darin auf. Dass wir kein ungewöhnliches, sozusagen unirdisches Leben hier entdecken würden betrachtete ich mittlerweile als gesetzt.

Kurz nach dem Wiederaufbruch geschah, was statistisch schon längst hätte geschehen müssen: Wir standen vor undurchdringlichem Fels, der den Gang mikrobensicher abschloss. „Na gut“, beschied Tobias, „gehen wir solange zurück, bis wir einen vielversprechenden anderen Durchlass finden. So testen wir gleichzeitig nochmal meine App.“ Und wenn sie in dieser Umgebung, fernab jeglicher menschlicher Orientierungspunkte, nicht funktioniert? fragte ich mich bange, aber nicht laut.

Sie tat es und nach einer Weile standen wir in einer Grotte, die wir am frühen Vormittag bereits passiert hatten und die mit ihren zahlreichen Löchern einem Schweizer Käse glich. Nach einiger Überlegung, die auf einen Abzählreim hinauslief, entschieden wir uns für eins, dessen Querschnitt uns erlaubte, nebeneinander zu marschieren.