Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Befehlsfluss eines Programms ist so logisch oder unlogisch, wie logisch oder unlogisch sein Entwickler dachte. Dessen ungeachtet gaukelt es dem arglosen Anwender Zauberei vor. Dass Software nichts mit Zauberei zu tun hat, versucht dieses Buch an Hand fiktiver, aber glaubwürdiger Beispiele dem Leser nahezubringen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 684
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Geleitworte
Universum
COMPRINT
Zwei Quadratmeter
Drei Minuten
Die Erscheinung eines Vampirs
Dampf und Schnee
Pentateuch oder Die fünf Bücher
Hundert
Zeitlupe
Babylon
Dorian
Geschafft
Schöne neue Welt
Schattenwirtschaft
Sysiphusarbeit
Angriff
Chaos
Rekonstruktion
Rückschlag
Große Politik
Zielgerade
Kehrtwende
Anhang: Errechnen der IBAN-Prüfzahl
Funkloch
Die Vergessene
Schizoskribia
Voynichstraße 313
Innsmouth, Massachusetts
Gespenst am Chomolungma
Die vierte Stufe oder Schöne neue Welt
Mauatua
Prinzessin Eleonora
Reflexionen über die Folgen eines Ehebruchs
Duell um Helena
Landweg
Maler und Mönch
Der Kampf der Elemente
Ulalume
Auch Bitketten hinterlassen Staub – unmessbaren. Genau so unmessbaren wie mystische Ereignisse, von denen wir manchmal nicht wissen, ob sie wahr oder nur geträumt oder gefühlt sind. Die Abläufe im Innern einer Rechenanlage sind so profan wie der Softwareschöpfer sie gestaltete, gaukeln dem arglosen Anwender aber Zauberei vor. Manche geheimnisvoll anmutenden Vorkommnisse des täglichen Lebens tun das ebenso.
Während der Befehlsfluss eines Programms logisch erklärbar oder höchstens so unlogisch ist, wie sein Entwickler unlogisch dachte, ist das in besagtem täglichen Leben schwieriger. Dennoch: Ebenso wenig wie es künstliche Intelligenz oder intelligente Software gab, gibt und jemals geben wird, ebenso wenig beherrschen Geistwesen das Geschehen. Alles projeziert das Gehirn und hier steht die Menschheit vor ihrem größten und für sie für alle Zeiten unlösbaren Rätsel: Wie ihre eigene Steuereinheit funktioniert. Keine Spezies – und das gilt rein philosophisch für das gesamte Universum – ist intelligent genug, sich selbst zu verstehen. Folglich ist auch keiner vergönnt, etwas zu erfinden, das intelligenter als sie selbst ist.
Michael Maniura im November 2019
Das Jahr 2020 wird im Bewusstsein aller tiefe Spuren hinterlassen. Für die zweite Auflage lag es deshalb nahe, deren Umfang zu erweitern und mindestens eine Erzählung dem Thema Covid-19 zu widmen.
Michael Maniura im Oktober 2020
Für den zweieinhalbjährigen Manfred waren die seltenen Besuche im großen Gomaringer Einkaufszentrum immer ein besonderes Erlebnis, denn der bot deutlich mehr als die kleinen Geschäfte in Nehren, in denen seine Mutter sonst einkaufte. Trotz knappen Geldes gelang es Manfred meistens, seiner Mutter außerhalb der Gelegenheiten, an denen sie um das Öffnen ihres Portemonnaies nicht herum kam – Weihnachten, sein Geburtstag – ein Spielzeug abzuringen. Das lag daran, dass der Supermarkt meistens angefahren wurde, wenn kurz vor Monatsende der bescheidene Lohn auf dem Konto gutgeschrieben war und dieses kurzzeitig das aufwies, was um Worte nicht verlegene Finanzpolitiker gern eine schwarze Null nennen.
Roswitha selbst war dem Bummeln nicht abgeneigt und verbrachte mehr Zeit damit, mit heimlicher Sehnsucht die ausgelegten Waren ausführlicher zu begutachten als zum unmittelbaren Einkauf nötig wäre. Manfred hielt still, wusste er doch, dass es kein Spielzeug geben würde, begänne er zu quengeln. Ziellosigkeit führt häufig dazu, den eigentlichen Zweck eines Besorgungsgangs aus den Augen zu verlieren und ohne das heimzukehren, das man ursprünglich hatte erstehen wollen. Heute fiel es Roswitha rechtzeitig ein. Sie hatte mit dem Sport-Kinderwagen den Laden bereits verlassen, war aber noch nicht auf dem Weg zum Auto, als sie „Mist!“ ausrief. „Was ist, Mama?“
„Jetzt hab‘ ich doch das Brot vergessen. Zum Glück ist der Bäcker vor der Kassenzone, da brauch‘ ich nur an der Theke anzustehen.“ Roswitha wandte sich an ihren Sohn. „Das geht schnell und ich bin gleich wieder zurück, Manfred. Bleib‘ solange hier im Wagen, du stehst ja im Schatten.“
„Mama, willst du mich allein lassen?“
„Nur ein paar Minuten. Du wirst sehen, das geht ratz-fatz.“ Sprach’s, arretierte geschickt mit einem Fuß die Bremsen des Gefährts und verschwand hinter den automatischen Schiebetüren des horizontfüllenden Gebäudes.
Manfred kullerten ein paar Tränen aus den Augen, denn Zeitgefühl entwickeln Kinder erst ab ihrem sechsten Lebensjahr. Zwischen ein paar Minuten, ein paar Stunden oder nie mehr gibt es für einen Zweieinhalbjährigen keinen Unterschied. Kam Mama nie mehr wieder? Sollte er schreien?
Als sich Manfred dazu entschlossen hatte, fiel ein Schatten über ihn. Erschrocken sah er hoch, beruhigte sich aber sofort wieder, als er einen riesigen Steinmann über sich gewahrte, der sich behutsam zu ihm hinunterbückte und ihn liebevoll ansprach. „Keine Sorge, kleiner Mann, deine Mama kommt wieder. Solange sie nicht da ist, zeige ich dir die Welt. Das hast du dir doch immer schon gewünscht, nicht?“
„Ja.“ Manfreds Stimme klang schüchtern, aber nicht verängstigt. Er hatte merkwürdigerweise auch keine Angst. Er besah sich den Mann genauer. Zweifellos aus Stein, hatte dieser sozusagen keine Dicke, aber riesige Hände und Füße, die aus seiner flachen Substanz herausragten. Hätte Manfred Lewis Carrolls ‚Alice im Wunderland‘ gekannt, hätte er eine Ähnlichkeit mit den Spielkartensoldaten der Herzkönigin festgestellt, nur dass sein – Freund? – nicht aus Papier bestand. Manfred hatte selbst immer wieder solche Gestalten gemalt und seiner Mutter gesagt, es handele sich um Steinmänner. „Aber Manfred“, hatte diese geantwortet, „Steine sind doch nicht so flach, sondern immer dick. Denk‘ an die Steine auf dem Spielplatz.“
„Es gibt dich doch, den Steinmann ohne Dicke!“ Manfred empfand beinahe eine Art Triumph.
„Sicher. Sonst könnten mich ja die anderen Leute sehen – wenn ich dick wäre, meine ich. So aber siehst nur du mich.“
Er griff nach Manfred und holte ihn aus seinem Sportwagen.
„Nun komm‘, wir wollen noch viel sehen.“
„Aber was wird Mama sagen, wenn sie zurückkommt und der Wagen ist leer?“
„Sobald deine Mama zurückkommt, sind auch wir zurück. Sie wird nichts merken, das verspreche ich dir.“ Merkwürdigerweise glaubte Manfred dem Steinmann alles. „Na gut; was wirst du mir zeigen?“
„Zunächst die nähere Umgebung, von der du schon einiges kennst.“
„Aber das kenne ich, wie du sagst. Ich dachte, du willst mir viel mehr zeigen.“
„Die Winkel sind ganz anders. Bist du schon einmal geflogen?“
„Geflogen?“
„Naja, hoch droben, über allen Häusern entlangfahren.“
„Fällt man da nicht ’runter?“
„Schau‘ dich um. Wir sind längst oben.“
Manfred schaute sich um. Tatsächlich! Ein Stück weit hatten sie sich bereits vom Supermarkt entfernt und näherten sich dem Haus, in dem Roswitha mit Manfred wohnte. Manfred war begeistert. Er ruhte sicher in der Hand des Riesen. Er spürte ganz genau, dass diese aus Stein bestand, und das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Einen Stein kaputt zu machen war seiner Erfahrung nach unmöglich.
Manfred schaute mit brennenden Augen nach unten. Dann hob er den Kopf und stellte fest, dass die Welt offenbar nirgendwo ein Ende erreichte. „Es geht noch viel weiter“, ermunterte ihn der Riese, „wir steigen jetzt richtig hoch.“
Langsam begann der Boden unter ihnen eine gewölbte Form anzunehmen. „Die Erde – das ist der Himmelskörper, auf dem ihr lebt – ist rund und ab einer gewissen Entfernung von der Oberfläche kann man das sehen“, sagte der Riese.
Was waren das für Wörter? Himmelsdings – den Himmel kannte Manfred, denn den sah er, wenn er den Kopf in den Nacken legte –, Entdings und Oberdings? „Was für Dings?“
„Ihr lebt auf einem Ball im Weltraum oder Himmel. Das ist aber nicht der einzige, es gibt noch viel mehr davon. Du wirst es sehen. Jetzt guck‘ dir aber erstmal deinen an, die Erde. Oberfläche ist das, was an der Kugel außen ist und auf der ihr herumlauft und Entfernung – naja, wie weit etwas weg ist.“
Manfred nickte. Er hatte das alles einige Male in der Tagesschau gehört, aber nie verstanden und auch selten gefragt, was es bedeutet. Wenn er fragte, bekam er meistens die Antwort: „Das verstehst du nicht, dafür bist du noch zu klein.“ Irgendwann hatte er aufgehört zu fragen und nun erklärte ihm alles sein Freund so anschaulich, dass er es ohne Weiteres verstand.
„Hier sind die Länder und Kontinente, die du bewohnst. Siehst du das Blaue da ganz hinten?“
„Ja.“
„Da beginnt das Meer. Vorher sollst du aber noch das Land wissen, in dem du wohnst. Das kleine ist Baden-Württemberg. Siehst du?“ Und mitten durch Städte und Dörfer, Flüsse und Seen, Straßen und Eisenbahnlinien zog sich eine unregelmäßige grelle Linie. „Kannst du zaubern?“ Manfred war tief beeindruckt.
„Ein bisschen. In Wirklichkeit zaubere ich das alles aber nur in deinen Kopf. Die Leute dort unten können die Linie nicht wahrnehmen. Pass‘ auf, jetzt wirst du Deutschland sehen.“ Und die unregelmäßige grelle Linie erweiterte sich in drei Richtungen und umschloss nun ein viel größeres Gebiet.
„Was ist mit der Ecke da unten links?“
„Du passt gut auf. In der Ecke da unten links ist Deutschlands Grenze mit der Baden-Württembergs gleich, denn unmittelbar daran schließen sich Frankreich und die Schweiz an.“
„Das sind andere Länder?“
„Genau. Warst du schon einmal da?“
„Nein, noch nie. Ich weiß aber, dass es Leute gibt, die dorthin fahren. Mama hat da kein Geld für.“
„Schade, aber vielleicht wird’s einmal besser werden. Jetzt guck‘ dir Deutschland an, deinen Heimatstaat. Was siehst du da oben?“
„Etwas Blaues. Du hast eben gesagt, was das ist, aber ich hab’s vergessen.“
„Das Meer. Dort brauche ich keine Linie hinzuzaubern, das ist die natürliche Grenze jedes Landes.“
„Du hast mir noch nicht gesagt, was eine Grenze ist.“
„Da endet ein Land und ein anderes fängt an. Manchmal – aber nicht immer – sprechen die Leute hinter einer Grenze ein völlig andere Sprache und du verstehst sie nicht.“
„Woher kommt das?“
„Das ist leider eine scheußliche Geschichte. Manchmal haben sich die Menschen jahrhundertelang – also eine ganz, ganz lange Zeit – um ein Stück Land geprügelt und am Schluss haben die es gekriegt, die die Stärkeren waren.“
„Wie im Sandkasten, wenn Uwe mir meinen Plastiklaster wegnehmen will?“
„So ungefähr. Ich finde es nicht nett, wenn Uwe so etwas tut.“
„Ich auch nicht, aber es gibt Erwachsene, die meinen, man müsste alles teilen.“
„So ganz verkehrt ist das auch nicht.“
„Aber warum muss immer ich teilen? Andere behalten alles für sich. Uwe gibt nie etwas her.“
„Das ist natürlich ungerecht. Es müssen alle gleichviel geben und nehmen. Allerdings“, fuhr der Riese fort, „hast du hier das generelle Problem – also das, das immer da ist: Geteilt wird selten gerecht, sondern immer zu Gunsten dessen, der stärker ist.“
„Oder lauter weint. Meistens Mädchen. Sabrina weint immer, wenn sie etwas haben will, und sagt, ich hätte ihr Spielzeug weggenommen. Dann kommt Mama gelaufen und sagt, ich müsste es ihr wiedergeben.“
„Das gibt’s natürlich auch, den Angegriffenen spielen und von der Weltgemeinschaft verlangen, dass andere dem Kläger helfen, zu bekommen, worauf er keinen Anspruch hat.“
„Jetzt hast du schon wieder viele Wörter verwendet, die ich nicht kenne.“
„Angegriffener und Angreifer sind klar, oder? Die Weltgemeinschaft ist in deiner Welt die Gemeinschaft der Mütter, die bestimmen, wem was gehört, und Kläger oder besser Klägerin ist Sabrina, die behauptet, etwas gehöre ihr, was nicht stimmt. Ich denke aber, deine Mutter weiß und auch alle anderen Mütter wissen, welchem Kind was gehört?“
„Klar, aber so manche versucht für ihr Kind schon etwas herauszuschlagen.“
„Und deine Mama?“
„Die ist zu gutmütig. Ich hab‘ schon viele Sachen gehabt, die ich nicht mehr habe.“
„Dann ist sie ein guter Mensch. Allerdings sollte man sich nicht alles gefallen lassen, da hast du recht. Guck‘ jetzt aber wieder runter. Was siehst du?“
„Da ist ja alles blau!“
„Alles nicht, aber das meiste. Die Erde ist zum größten Teil von Wasser bedeckt, was du noch nicht sehen kannst. Im Augenblick siehst du Europa und ein bisschen von Asien und Afrika.“
„Eudings?“
„Europa. Das ist der Kontinent, auf dem du lebst. Er ist schlecht vom viel größeren Asien zu unterscheiden, das du rechts siehst. Ich zeiche dir wieder die Linie.“
„Die läuft aber komisch.“
„Du bist wirklich aufmerksam. Diese Linie ist willkürlich – also grundlos so festgelegt –, beginnt oben mit einem Gebirge – dem Ural – und franst unten völlig unlogisch – also nicht erklärbar – aus. So zählen die weit rechts gelegenen Länder Aserbaidschan, Armenien und Georgien zu Europa, während die Türkei, die links davon liegt, zu Asien geschlagen wurde.“
„Kann man ein Land schlagen?“
„Im Krieg ja, aber nicht in dem Sinn, den du darunter verstehst.“
„Krieg?“
„Wenn sich nicht nur einzelne Menschen prügeln, sondern ganze Länder, wie ich dir schon erzählte. So eine Prügelei hat leider immer furchtbare Folgen für alle, die in den Ländern leben.“
„Warum gehen sie dann nicht weg?“
„Das dürfen sie dann nicht. Wie wenn deine Mama dir Stubenarrest gibt. Tut sie das manchmal?“
„Manchmal.“
„Und – zu Recht?“
„Ich stelle schon alles mögliche an. Aber Stubenarrest finde ich schlimm. Ich weine dann und meistens lässt sie sich erweichen, dass ich wieder ’raus darf.“
„Na siehst du, auch du wendest manchmal Mittel an wie Sabrina.“
„Wie du dir alles merkst.“
„Ich bin ja deine Fantasie und weiß alles, was du weißt. Ich wollte dir aber erklären, was zuschlagen bedeutet. Wenn ich ein kleines Land einem größeren schenke, nennt man das zuschlagen.“
„Schenken klingt aber viel lieber.“
„Das ist die große Kunst mancher Menschen, meistens böser. Etwas Böses so auszudrücken, dass es wie etwas Gutes klingt.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Angenommen, deine Mama verspricht dir etwas – ein neues Spielzeug oder so – und hält es nicht: Wäre das nett?“
„Nein, da wäre ich traurig.“
„Und wenn sie dir sogar sagen würde, sie hätte es dir längst gegeben?“
„Sowas tut Mama nicht!“
„Deine Mama ist wirklich ein guter Mensch. Es gibt aber auch andere. So versprechen viele, die über andere Menschen herrschen wollen, denen alles, was sie wollen, halten dann nichts und sagen, das wäre das Beste für sie, denn sie – die nun beherrscht werden – seien viel zu dumm, um zu wissen, was gut für sie ist.“
„Das ist aber gemein!“
„Leider fallen viele – die meisten – auf solche Verführer herein. Gerade hier in Deutschland scheint man dafür anfällig zu sein. Ich versuche, dich jetzt schon darauf vorzubereiten, wenn du einmal erwachsen sein wirst.“
„Wieso weißt du eigentlich nicht, wie meine Mama ist? Du hast doch gesagt, du wärst meine Fantadings und wüsstest alles.“
Der Steinmann lachte. „Fantasie, das, was in deinem Kopf vorgeht. Aber nur das; was in dem deiner Mama vorgeht nicht. Du merkst dir also auch alles. Aber jetzt schau‘ wieder hinunter.“
Die Erde war nun als blaue, weitgehend von Meeren bedeckte Kugel zu sehen. Manfred war begeistert. „Das ist unser Planet?“
„Ja. Schön, nicht?“
„Was sind die weißen Flecken oben und unten?“
„Das sind die Pole. Da die Sonne ungefähr auf die Mitte der Erde scheint, ist es dort am heißesten und folglich oben und unten am kältesten. Das Weiße ist Eis.“
„Unten ist viel mehr als oben.“
„Das ist richtig. Der Südpol oder die Antarktis ist ein Kontinent, denn dort ist Land unter dem Eis. Der Nordpol oder die Arktis ist nur ein zugefrorenes Meer und viel anfälliger, wenn es wärmer wird.“
„Und – wird es wärmer?“
„Anscheinend; jedenfalls deutet alles darauf hin. Noch ’was?“
„Was sind die braunen und grünen Flecken?“
„Das ist Land, auf dem alle Menschen und alle Landlebewesen wohnen. Im Wasser – also im Blauen – wohnen auch Tiere; das sind die Fische. Siehst du die große grünbraune Masse?“
„Ja. Ist das ‘was besonderes?“
„Das ist der mächtigste Kontinent, Eurasien. Ganz links hängt Europa dran. Ich werde jetzt ein Licht auf Nehren werfen, wo du mit deiner Mama wohnst.“
Ein Punkt leuchtete auf. „Das ist aber winzig.“
„Ist es. Du siehst, es gibt noch viel zu entdecken. Jetzt fliegen wir aber viel weiter fort.“
„Geht es denn noch weiter?“
„Noch viel weiter. Die Erde ist ein Staubkorn im Universum.“
„Unidings?“
„Universum, das Gesamte, wie es auf Deutsch heißt. Wir gehen aber langsam vor. Siehst du den eiförmigen Stein, der um die Erde herumfliegt?“
„Ja.“
„Das ist der Mond. Jetzt kneif‘ ein bisschen die Augen zusammen und schau‘ dorthin.“ Der Riese wies mit seiner freien Hand in eine andere Richtung.
„Ui, das ist aber hell!“
„Das ist die Sonne, der alles Leben auf der Erde seine Existenz
– also dass es leben darf – verdankt und die jeden Morgen brav auf- und jeden Abend wieder untergeht.“
„Warum tut sie das?“
„Tut sie eigentlich gar nicht; sie ist immer da. Aber die Erde dreht sich um sich selbst und deswegen wendet jeder Punkt drauf der Sonne ab und zu den Rücken zu.“
„Warum?“
„Damit alle einmal Tag und einmal Nacht haben, egal wo sie wohnen. Die Nacht brauchen wir ja auch, um uns zu erholen. Ich finde, das ist gerecht.“
„Ich auch.“
„Aber das ist noch nicht alles, denn auch unsere Sonne ist ein Staubkorn im Universum.“
Weiter und weiter ging die abenteuerliche Reise. „Jetzt hast du das ganze Planetensystem vor dir; die Erde ist nämlich nicht der einzige Himmelskörper, der um die Sonne kreist. Allerdings nach jetzigen Erkenntnissen der einzige, auf dem Leute wie wir herumkrabbeln.“
Der Steinmann hatte bereits erklärt, was Himmelskörper bedeutet. Deshalb brauchte Manfred ihn nicht ein weiteres Mal danach zu fragen.
„So, jetzt haben wir die Milchstraße erreicht.“
„Milchstraße?“
„Die hat nichts mit Milch zu tun; es handelt sich nur um einen Streifen zusammengeballter Sterne, der bei gutem Wetter zu sehen ist. Unsere Galaxis ist wie ein flacher Teller geformt. In die Richtung, in die ich zeige, schaust du durch ihre Breitseite, und wo der Teller breit ist, sind viel mehr Sterne als nach oben oder unten sichtbar, wo der Teller ganz dünn ist. Das erinnert ein bisschen an Milch. Hast du schon einmal das Wort Galaxis gehört?“
„Ja, aber keiner wollte mir erklären, was das ist. Ich wär‘ zu klein dafür.“
„Das ist das griechische Wort für Milchstraße. Dieses alte Volk hat vor zweieinhalb tausend Jahren schon genauso empfunden wie wir heute. Heute steht Galaxis oder Galaxie für Sternenhaufen jeglicher Art.“
„Es gibt also viele?“
„Sehr viele. Unsere ist nur eine davon. Schau‘ mal, jetzt sind wir so weit weg, dass du alle Galaxien sehen kannst. Sie sind jetzt nicht mehr größer als vorher ein einzelner Stern. Und das ist es, unser Universum.“
Manfred wurde es allmählich doch mulmig. „Können wir Nehren noch sehen?“
Wieder lachte der Steinmann. „Nein, der Ort ist so winzig, dass das von hier aus nicht mehr geht. Dazu müssen wir zurück.“
Manfred beruhigte sich etwas. Zurück, seine Mama wiedersehen, das hörte sich gut an. Aber etwas fiel ihm noch ein. „Steinmann?“
„Ja.“
„Mama sagt, ich soll jeden Abend im Bett zum lieben Gott beten, bevor ich einschlafe. Wenn das hier das Universum, also alles ist – wo ist dann der liebe Gott?“
Jetzt wurde der Riese ernst. „Den kann ich dir nicht zeigen, dazu bin ich zu klein und zu wenig. Such‘ ihn in dir selbst, denn da ist er drin und passt auf dich auf. Körperlich wirst du ihn nicht finden und auch niemand sonst. Ich konnte dir nur die körperliche Welt zeigen, die, die man anfassen kann. Was man nicht anfassen kann, sieht für jeden anders aus. Zufrieden?“
„Hm-m.“ Manfred war schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen zurück. „Du hast ’was von zurück gesagt. Ich würde jetzt gern wieder zurück zu Mama.“
„Natürlich, kleiner Mann. Dein Wunsch ist mir Befehl.“
„Sind wir nicht ganz weit weg von zu Hause? Wie lange dauert es denn, bis wir wieder dort sind?“
Nun lachte der Riese wieder. „Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ich deine Fantasie bin. Für Fantasie spielen Raum und Zeit keine Rolle. Was ist das?“
„Mein Sportwagen. Das ging aber schnell!“
Sanft platzierte die riesige Gestalt den kleinen Jungen in dessen Gefährt. In diesem Augenblick trat Roswitha mit einem eingewickelten Brotlaib, den sie zwischen Arm und Handtasche balancierte, durch die Schiebetür des Einkaufszentrums nach draußen. „Entschuldige, Manfred“, sagte sie zu ihrem Sohn, leicht außer Atem. „Ich hätte nicht gedacht, dass auch beim Bäcker so ein Andrang ist. Es hat länger gedauert als ich gehofft hatte. Nun haben wir aber alles.“
Sie verstaute die erbeutete Backware in der Ablage unter Manfreds Sitzfläche und begann den Kinderwagen Richtung Auto zu schieben. Manfred sah den Steinmann über sich verharren und winkte ihm zu. „Wem winkst du?“ fragte seine Mutter. „Niemandem, einfach so.“ Der Riese, wie erlöst, winkte zurück, drehte sich um und begab sich auf den Weg zu einem Ort, den niemand kannte und den außer Manfred auch niemand würde aufsuchen können. Behutsam und lautlos schritt er über die Häuser hinweg, behutsam, damit er keins beschädigte, und lautlos, damit ihn niemand wahrnahm. Beinahe ein wenig traurig sah ihn der Junge kleiner und kleiner werden und schließlich verschwinden.
Manfred drehte sich um. „Mama, weißt du, was ich heute gelernt habe?“
„Gelernt? Im Sportwagen? Während ich beim Bäcker anstand?“
„Ja.“
„Und was?“
„Was das ist, das Universum.“
Mein Name ist COMPRINT. Vor- oder Nachname? werden Sie fragen. Nichts von beiden, es handelt sich um meinen vollständigen, denn ich bin ein Computerprogramm. Genauer gesagt eins, das einen Druckbefehl für die Poststraße anstößt. Und nicht nur einen, sondern bis zu mehreren Millionen am Stück. Denn ich kann zwar nicht denken, aber massenweise Daten verarbeiten. Im Fall der Rechnungen fürs Folgejahr kommt es zu der genannten Zahl für meine auftraggebende Versicherung. Mein Herr und Meister, mein Schöpfer und Entwickler hält mich nicht nur für das genialste Hostprogramm, das er je schrieb, sondern über alle Grenzen hinweg für das genialste aller Zeiten. Das macht mich stolz.
Zunächst entschuldige ich mich für den ungewöhnlichen Zeichensatz, aber Courier ist ein Spiegel meiner Welt. Host bedeutet zwar laut Wörterbuch Gastgeber, wird im Deutschen aber im Sinn von Großrechner verwendet. Und der lebt noch in der Schreibmaschinenzeit. Erinnern Sie sich? Jeder Anschlag brachte die Walze um eine Stelle weiter. Da sie nicht wissen konnte, welches Zeichen der Mensch vor der Tastatur als Nächstes zu Papier zu bringen gedachte, war die immer gleich lang, egal ob ein Leerschlag, ein „i“ oder ein „W“ aufs Blatt sollte. Für diesen kleinen Text erlaube ich mir, Ihnen zum für Sie vielleicht letzten Mal dieses Schriftbild zu unterbreiten.
Ich werde von einem menschlichen Operator gestartet. Zunächst müssen alle deklarierten Attribute im Speicher platziert und je nach Anforderung initialisiert werden. In meinem Fall sind das über 300, eine langweilige und langwierige Sache. Langwierig ist auf Ihre Welt übertragen relativ: Pro Befehl brauche ich eine Nanosekunde, das ist eine tausendmillionstel Sekunde. Die schiere Menge und die Platzsuche führt immerhin zum Verbrauch von zwei bis drei Sekunden, bevor der zweite Teil der Vorarbeiten startet: Das Lesen von Steuerdaten, die ich bis zum Ende meines Laufs in meinem Arbeitsspeicher, populär ausgedrückt in meinem Gedächtnis behalte.
Als Beispiel sei die Tabelle TMAINLANG erwähnt, die lediglich aus einem einzigen dreistelligen Datensatz besteht, in dem die am häufigsten vorkommende Sprache abgelegt ist. Enthält er Leerstellen, gibt es nur eine Amtssprache und ich spare mir jegliche Auswertung diesbezüglicher Informationen; steht ein Wert drin, brauche ich nur auf die Texttabellen für abweichende Sprachen zuzugreifen, wenn die des Kunden mit ihm nicht übereinstimmt.
Andere während des Laufs gleichbleibenden Startinformationen sind die Vorlaufkarte, die mir unter anderem das Briefkopfdatum mitteilt, das nicht mit dem Tagesdatum übereinstimmen muss, das reichliche Dutzend der Stapelkürzel im Klartext und der Strukturaufbau des Archivs, das zu verwalten ebenfalls zu meinen Aufgaben gehört; mit diesem ist die verschickte Post nachträglich vom Bildschirm aus jederzeit unverfälscht einsehbar.
Zum Einlesen dieser Grunddaten brauche ich eine knappe Minute, denn auf externe Speicher, sozusagen den Zettelkasten mit Notizen zuzugreifen dauert deutlich länger als jede interne Aktion. Außerdem muss ich für die primäre Leseoperation die Unterlagen dafür erst in den verschiedenen Bibliotheken zusammensuchen; ab der zweiten liegen diese auf dem Schreibtisch griffbereit. Technisch ausgedrückt bedeutet das, dass die Zugriffspfade wie Indizes speicherintern erhalten bleiben, wenn ich sie innerhalb gewisser zeitlicher Abstände immer wieder aufrufe.
Nun bin ich endlich für den ersten Nutzdaten-Lesebefehl bereit. Meine Aufgabe hört sich leicht an, birgt aber einige Stolpersteine.
Herein kommen Rohdaten mit einem Sortiermantel. Der enthält den Stapel, den Schlüssel einer speziellen Zustell- und der eigentlichen Kundenadresse, je nach Dokumententyp Policen- oder Kontonummer, den Dokumententyp selbst und zu guter Letzt eine Zeilennummer entsprechend der Datenlogik. Ein Dokument besteht aus beliebig vielen Zeilen, denn jede Zeile, das heißt jeder Datensatz enthält nur eine Information.
Ausgeben soll ich vertagte Sätze, ver=TAG=te, denn mein korrespondierendes Anschlusssystem für die Aufbereitung vermag nur Tags zu entziffern. Im Fall meiner Versicherung hat man sich für Kleinerzeichen als Beginn und Größerzeichen als Abschluss eines solchen entschieden. Das bedeutet natürlich, dass innerhalb eines Textes kein „<>“ vorkommen darf und wenn, muss es vorher in ein harmloses, das heißt Nicht-Steuerzeichen umgewandelt worden sein. Das muss ein vor mir laufender Kollege besorgen, denn ich käme damit durcheinander. Im Fall unseres Betriebs entschied man sich für Zeichen, die nicht auf der Tastatur zu finden sind und deswegen von keinem Sachbearbeiter versehentlich eingegeben werden können, nämlich die Doppelwinkel „«»“.
Meine wichtigsten Druckobjekte sind die hochkomplexen täglich laufenden Verträge, die einfachen, aber je nach Zahlungsmodus in Menge auftretenden monatlichen Folgerechnungen, die wöchentlichen Mahnungen und für Großkunden unperiodische Kontoauszüge.
Ich bin bei der ersten Leseoperation und meiner ersten Schwierigkeit angelangt. Während Sie wissen, wenn Sie eine Arbeit, sagen wir bügeln beginnen, ist eine Software wie ich dazu zu dumm. Mein Entwickler muss mir neben zahllosen anderen ein Attribut mitgeben, das ich zu Beginn mit Null initialisiert habe und nun lese, um eins hochzähle, den neuen Wert als Setnummer vergebe und das Attribut mit ihm zurückschreibe. Mir ist gleichgültig, ob vorher null oder etwas anderes drinstand. Nun kommen die Vergleiche der Schlüsselfelder. Wechselt eins, hat das unterschiedliche Aktionen zur Folge. Bei einem neuen Stapel erstelle ich ein entsprechendes Deckblatt mit dem Hinweis, wo er hin soll. Bei einer neuen Zustelladressnummer vergebe ich eine neue Setnummer. Bei einer neuen Kundenadress- oder Policennummer oder einem neuen Dokumententyp sind Steuertags zu erzeugen und zwischen die bisherigen Daten zu schieben. Auch die Schlüsselfelder sind als zusätzliche Zwischeninformation vorhanden und müssen initialisiert sein. Da der Sortiermantel, wie sein Name sagt, sortiert ist, in meinem Fall unbedingt aufsteigend, müssen die Schlüsselfelder zu Arbeitsbeginn mit dem technisch kleinstmöglichen Wert gefüllt werden. Low-Value ist eine Bitkette voller Nullen. Ab Lesebeginn muss ich sie jedes Mal mit den aktuellen Werten füllen, denn ich weiß ja nicht, ob sie bei der nächsten Operation noch gleich sind. Das sieht man doch, werden Sie sagen, ein Blick genügt. Übersehen Sie nicht, dass ich diesen Blick nicht habe; bei mir befindet sich immer nur der gerade gelesene Datensatz im Speicher, sozusagen in meinem Kopf, und die nächste Leseoperation überschreibt die Information der vorherigen. Alles, was ich über die Vergangenheit wissen muss, muss ich mir irgendwo aufschreiben.
Ich wende mich der Frage zu, was es mit dem Set auf sich hat. Ein Set umfasst alles, was in einen Briefumschlag gehört. Stellen Sie sich vor, Sie melden Ihrer Versicherung den Kauf eines neuen Autos. Gleichzeitig erhöhen Sie die Deckungssumme Ihrer Hausratversicherung. Beide Verträge werden in einem Rutsch bearbeitet und Ihnen mit den vorgesehenen Änderungen zugesandt. Da wäre es doch ärgerlich, flatterten Ihnen am selben Tag zwei dicke, voll frankierte Umschläge vom selben Absender in den Briefkasten. Ein gern als solches betrachtetes schlaues System sollte also erkennen, dass im selben Lauf zwei unterschiedliche Schriftstücke an denselben Kunden gehen. Wechselt die Policen-, aber nicht die Kundennummer, ist für mich klar, dass kein neues Set beginnt, sondern das alte beibehalten wird.
Nun markiert SETBEG den Beginn und SETEND das Ende jedes Dokuments, denn von der Datenbank kommt alles in der Reihenfolge, die auf den Datenträgern zufällig gespeichert ist. Zu den ältesten Aufgaben der elektronischen Datenverarbeitung gehört das erwähnte Sortieren nach beliebigen Kriterien. So auch bei mir. Ich finde alle nötigen Informationen gebündelt vor und muss also das SETEND zurückhalten, bis ich sicher bin, dass die Wechselkriterien erfüllt sind. Ist das der Fall, setze ich es und fahre mit SETBEG fort. Ist das wie bei gleichbleibender Kundennummer nicht der Fall, verwerfe ich das SETEND, unterdrücke auch das frische SETBEG und fahre fort, als handele es sich um dasselbe Schriftstück. Sie werden Ihre beiden Verträge im selben Umschlag in Ihrem Briefkasten vorfinden.
Eine ähnliche Aufgabe, aber eine Stufe höher erfüllt die Zustelladresse. Meistens handelt es sich bei ihr um die eines Maklers, der ein Korrespondenzmandat seines Kunden hält und dessen Dokumente gebündelt erhält. Das Kriterium ist höherwertig, hier kommt ein SETEND/SETBEG also erst, wenn sich die Zustelladresse ändert. Hat ein Kunde verschiedenen Maklern ein Mandat erteilt, werden seine Schriftstücke auseinandergerissen und jedem Mandatsträger die diesem bestimmten zugesandt. Makler erkenne ich daran, dass sich Zustell- und Adressschlüssel unterscheiden. Tritt ein Fall neu auf, muss ich mit den Daten der Zustelladresse ein Deckblatt bilden, weitere jedoch bei allen folgenden Kunden desselben Mandatsträgers unterdrücken.
Stapel ist das höchste Kriterium. Ein Schriftstück kann an interne Sachbearbeiter, einzelne Agenten, eine Agentur oder direkt an die Empfänger verschickt werden. Dreiviertel aller Verträge und mehr oder weniger alle Folgerechnungen, Mahnungen und Kontoauszüge werden mit QR-Code versehen und direkt auf die Poststraße gegeben. QR steht für quick response, also schnelle Antwort und findet in den wie Kleckse aussehenden schwarzen und weißen Viereck-Pixel mit den gerahmten Quadraten an drei ihrer vier Ecken ihren Niederschlag. Damit zu arbeiten ist die billigste und somit bevorzugte Methode. Hin und wieder möchte aber ein Agent seinem Kunden dessen Vertrag, mit einem Schleifchen geschmückt persönlich übergeben. Hauptsächlich geschieht das nach richtig teuren Abschlüssen.
Was ich bisher schilderte, betrifft die sogenannten Metadaten. Das sind Daten, die nur der Steuerung dienen, folglich für den Außenstehenden keinen Nutzen aufweisen und für diesen deshalb unsichtbar bleiben sollen. Die Metadaten, die ich übriglasse, werden spätestens bei der lesbaren Aufbereitung durch das Anschlusssystem vernichtet, nachdem es seine Aufgabe beendet hat. Bei diesem handelt es sich um eine Textverarbeitung wie Word, aber ohne dynamische Interventionsmöglichkeit. Wenn Sie einen Brief schreiben und sich an einer bestimmten Stelle entschließen, einen Absatz einzuschieben, betätigen Sie aktiv die Carriage Return-Taste. Auf Deutsch heißt sie übrigens Wagenrückführtaste, denn sie ist unter Aufbieten einiger Fantasie dort platziert, wo sich bei der Schreibmaschine einst der Griff zum Zurückstellen der Wagenwalze befand, die bei ihrer Betätigung gleichzeitig eine Zeile vorschob.
Ein solcher Eingriff ist dem Host verwehrt. Für ihn muss alles vorher überlegt sein.
Ich bin mittendrin in der Arbeit. Satz auf Satz folgt und solange ein Datenfluss Nutzdaten – also die Daten, die dem Empfänger tatsächlich mitgeteilt werden sollen – enthält, schneide ich einfach den Sortiermantel ab, rahme sie mit „<“ und „>“ ein und gebe sie weiter. Grob beschrieben besteht die Verarbeitung aus einer Schleife, die so lange aufrecht erhalten wird, so lange Daten vorhanden sind, der Verarbeitung selbst und dem Nachlesen. Das sofortige Nachlesen entspringt dem natürlichen Verhalten eines Menschen am Kühlschrank: Sobald er diesem eine Flasche Bier entnommen hat, legt er eine andere nach.
Die Verarbeitung kann eine ellenlange Befehlsfolge sein, aber auch nur aus einer Zeile bestehen, dem Aufruf eines Unterprogramms oder einer Prozedur. Das ist übersichtlicher und eleganter. Die Prozedur kann wiederum eine Funktion sein, das heißt sie ähnelt optisch einer einfachen Variablen mit anschließenden Parametern. Es kann sogar soweit gehen, dass auch der Parameter eine Prozedur ist, deren Ergebnis direkt als Variable behandelt wird. In meinem Fall sieht die Hauptverarbeitung folgendermaßen aus:
READ FILE(ROHDATEI) INTO(ROHSTRUKTUR)
DO WHILE(NOT EOFBIT)
CALL AKTION_PROC(SET_PROC())
READ FILE(ROHDATEI) INTO(ROHSTRUKTUR)
END
EOF bedeutet End of File oder Datei und wird durch Setzen eines Werts erkannt, hier in der Variablen EOFBIT. Als Variable reicht normalerweise ein Bit, also die kleinstmögliche Einheit, denn zur Definition genügen ja zwei Zustände: Es wurden Daten gelesen oder nicht. Eine sogenannte ON-Bedingung setzt das Bit zunächst auf 0 und bestimmt dann, dass es auf 1 kippen soll, sobald das Dateiende erreicht ist. Auch die Abfrage ist, wie Sie sehen, extrem einfach, nämlich gar keine: NOT EOFBIT ist eine doppelte Verneinung und hat Ja zur Folge, wenn dieses Ende vorliegt. Dann wird das DO umsprungen und ich beende nach gewissen Aufräumaktionen meine Tätigkeit.
Noch ist es aber nicht soweit, denn noch sind Daten vorhanden und ich muss mich der harmlos klingenden Prozeduren SET_PROC und AKTION_PROC annehmen. Wie in der Mathematik üblich werden die Klammern von innen nach außen aufgelöst. SET_PROC ist keine Variable, sondern eine Prozedur, wie Sie an der leeren Klammergruppe unmittelbar hinter ihr erkennen, wenn auch ohne Parameter. Parameter sind mitgegebene Werte, die nur die untergeordnete Prozedur kennt. Das Ganze nennt sich im Sinn objektorientierter Programmierung Vererbung. Vererbt werden kann nur von oben nach unten, nicht anders herum. Allerdings findet das Ergebnis der Prozedur als direkt nutzbarer Wert in der oberen Ebene ihren Niederschlag, entweder in Gestalt eines Attributs oder, wie in der gezeigten Schleife, eines Parameters für eine übergeordnete Prozedur, der AKTION_PROC.
Die SET_PROC ermittelt, ob bei den weiter oben beschriebenen Schlüsselfeldern Änderungen eingetreten sind oder nicht und reicht seine Erkenntnisse in kodierter Form hoch. Die AKTION_PROC verwertet diese Erkenntnisse, nimmt im Ja-Fall die sogenannten Gruppenwechsel vor und speichert die neuen Inhalte der Attribute ab. Ich weiß dann, ob ich mich der einfachen Datenweitergabe widmen kann oder etwas unternehmen, das heißt Metadaten entfernen oder generieren muss. Generieren ist das Fachwort für erzeugen, wie praktisch alle Begriffe der Informatik dem Englischen entlehnt sind. Viel ge- und missbraucht wird kreieren aus dem englischen create, was erschaffen bedeutet. Manchmal führt das zu Übertheatralik. „Der Herr erschuf die Erde in sechs Tagen; am siebten Tag ruhte er“ hört sich bedeutsam an. „Der Herr Operator erschuf eine Datei“ lässt die Frage offen, ob es die Welt verkraftet hätte, hätte er das nicht getan. In englischen Texten ist es manchmal schwierig, zwischen Fachbegriffen und gängigen Redewendungen zu unterscheiden. „A little bit“ ist nicht ein kleines Bit – das es außer einer bestimmten Pilssorte definitionsgemäß nicht gibt, denn alle Bits sind sozusagen punktförmig –, sondern heißt einfach „ein bisschen“.
Doch das nur nebenbei. Allmählich komme ich zum Abschluss meiner Bemühungen. Im Lauf der längsten Folgefaktura im November, die alle Verträge mit Hauptverfall im Januar abhandelt und von denen jeder knapp tausend Zeilen umfasst, habe ich über 900.000 Rechnungen erstellt, also insgesamt zwischen 800 Millionen und einer Milliarde Datensätze verarbeitet. Bei dem Policendruck lauten die adäquaten Zahlen 3.000 bis 5.000 Dokumente und 5.000 bis 20.000 Datensätze pro Vertrag; auch hier komme ich auf die respektable Zahl von 15 bis 100 Millionen pro Verarbeitung. Für jeden eingelesenen Satz brauche ich einige hundert Befehle, um ihn abzuhandeln, sodass die zehn Milliarden locker erreicht werden. Bei einer Nanosekunde pro Befehl sind das zwar nur knapp zwei Minuten, aber der Nettowert – die sogenannte CPU-Laufzeit - wird durch zahlreiche Verwaltungsaufgaben im Speicherinneren meines Gastgebers zu einer Bruttolaufzeit – der elapsed time oder verstrichener Zeit - von bis zu einer Stunde aufgebläht.
Die wichtigste Verwaltungsaufgabe besteht darin, dass Applikationen fast immer parallel laufen, häufig sogar eine speicherinterne Kopie meiner selbst für ein anderes Schriftstück, sodass ich mir die Rechnerzeit mit Kollegen teilen muss. In diesem Fall bekomme ich ein Zeitscheibchen von vielleicht drei Millisekunden zugebilligt, während denen ich drei Millionen Befehle schaffe, denn eine Millisekunde ist eine tausendstel Sekunde. Dann rutscht der Zeiger weiter und es vergeht eine Wartezeit von drei Zehntelsekunden, wenn ich 30 Mitstreiter habe. Warum nicht nur drei hundertstel Sekunden? Weil die Verwaltung der Zeitzuteilung mehr Leistung als die eigentlichen Verarbeitungen kostet. Das schlägt sich darin nieder, dass die Laufzeitdauer drastisch steigt.
Ist es nicht eine der wichtigsten Vorteile von Großrechnern, parallel arbeiten zu können? werden Sie fragen. Dazu ein praktisches Beispiel aus dem Alltag.
In einer Kneipe taucht eine Gruppe von fünf Männern (absichtlich Männer!) auf, erklimmt die Barhocker und verlangt fünf Halbe. Was macht der Wirt? Er weiß auf Grund jahrelanger Erfahrung, dass alle gleichzeitig ihr Bier haben und anstoßen möchten, und will keinen benachteiligen. Er hat aber nur einen Zapfhahn. Die Lösung ist simpel. Er greift kraftvoll fünf Gläser an den Henkeln, öffnet den Zapfhahn und schwenkt die Gläser gleichmäßig unter diesem von links nach rechts und zurück. Alle sind gleichzeitig gefüllt und können ihren Bestellern übergeben werden. Alle sind zufrieden. Das ist die Form der Parallelverarbeitung, die der Erfinder von Prozessoren den Wirten abgeschaut haben muss, denn ein Prozessor kann nur eine Aktion, eine Task pro Zeiteinheit durchführen, so kurz sie auch sein mag. Ich hege den Verdacht, dass der gehirninterne menschliche Prozessor ähnlich arbeitet. Das führte natürlich zu der Konsequenz, dass die vielbeschworene Multitaskingfähigkeit nichts als Einbildung ist.
Mir als dummem Programm stehen solche philosophischen Betrachtungen natürlich nicht zu. Immerhin kann ich wegen dieser Eigenschaft – als dummem Programm, meine ich – kein Alkoholiker sein, wie die Durchsicht meiner lebensnahen Vergleiche möglicherweise nahelegt. Meinem Entwickler wurden allerdings einige skurrile Kommentare in seinen Schöpfungen – auch bei mir – nachgewiesen, die in eine derartige Richtung deuten. So böse Flüsterpropaganda wie „versoffenes Genie“ gebe ich hier allerdings gar nicht erst wieder.
Jetzt ist es geschafft, das letzte SETEND und EOF sind erreicht. Die bereits kurz angesprochenen Aufräumaktionen teilen sich in drei Hauptaufgaben auf: Speicherinterne, das Erstellen und Ausgeben einer Statistikdatei und das Setzen einer finalen Metainformation für mein Anschluss-Textsystem. Bevor ich sie verrate, verabschiede ich mich von Ihnen und hoffe, Ihnen die Tätigkeit einer Softwareapplikation wie mir etwas näher gebracht zu haben. Kreativität oder Erkenntnis meiner eigenen Unzulänglichkeit sind bei mir Fehlanzeige, denn ich vermag nur genau das zu tun, was mein Entwickler in mich eingebaut hat. Mein Dasein wird Ihnen stupide vorkommen, aber wie im ersten Abschnitt angedeutet bin ich in einer Disziplin unschlagbar: Dem massenhaften Bewältigen von Daten, für deren Verarbeitung ich geschrieben wurde. Womit ich endlich zum versprochenen Schluss-Tag komme:
<AMEN>, äh…, <END>.
„Manchmal gurkt’s mich an, nur auf diesem winzigen Areal wirken zu dürfen.“ Wilfried Spatspitz, der erste Schneeschaufler, klingt wie immer missgelaunt.
„Sei doch froh!“ Egbert Standfest, der zweite Schneeschaufler, hält wie immer dagegen. „Stell‘ dir vor, wir müssten wie in der wirklichen Welt hunderte von Quadratmetern räumen. Wir brauchen uns nur um einen Bruchteil von zweien zu kümmern.“
Ein sirrendes Geräusch unterbricht das Gespräch. Das Schweineschnäuzchen, wie der Wismarer Schienenbus mit der Gattungsbezeichnung VT 133 von 1930 wegen seiner beiden charakteristischen Nasen an den Fahrzeugenden landläufig genannt wird, quält sich vorbei und hält am kleinen Bahnhof Sandberg. Der einzige Fahrgast, Elfie Reiselust, steigt aus und verharrt in Wartehaltung, um nach dessen nächster Runde wieder einsteigen zu können. Eigentlich tut sie nur so, denn die Türen des Triebwagens lassen sich nicht öffnen.
Stationsvorsteher Oskar Kellheb, Sandbergs gewichtigster Bewohner und aus diesem Grund das Original der Kleinstadt, hebt die Kelle zur Abfahrt und das Schweineschnäuzchen der Bessunger Kreisbahn setzt sich wieder in Bewegung. „Allmählich wird’s Zeit, dass es der Chef einmal ‘rumdreht; immer nur Links-kurven sind nicht gut, da nutzen sich die Radsätze ungleichmäßig ab“, brummt er.
„Worauf Sie alles achten“, kommentiert Elfie, halb belustigt, halb respektvoll.
„Naja, das ist mein Beruf.“
„Können Sie denn irgend etwas unternehmen, ich meine, sich unserem Schöpfer bemerkbar machen?“
„An sich nicht; ich habe aber manchmal das Gefühl, er reagiert auf meins und unser aller Verhalten.“
Deutlich ungeduldiger gibt sich der Lebkuchen- und Gebäckhersteller Siegfried Islegger, der mit dem Weihnachtsbaumhändler Erwin Tennschen im Gasthof Odenwald beim Frühschoppen sitzt. Die beiden bilden die Honoratiorenschicht Sandbergs.
„Wenn doch nur alles schneller ginge“, seufzt Siegfried.
„Es geht doch alles schnell, viel zu schnell, immerhin 87 Mal so schnell wie in der wirklichen Welt“, kommentiert Erwin nach einigem Nachdenken.
„Wie kommst du darauf?“
„Bei der Bessunger Kreisbahn ist doch alles 87 Mal verkleinert, also auch die Zeit.“ Erwin kann nicht ahnen, welch‘ Diskussionspotenzial er mit dieser dahingeworfenen Bemerkung lostreten sollte. Vorerst endet der Disput aber damit, dass sich Siegfried kopfschüttelnd in Richtung seines Betriebs in Bewegung setzt, um nach dem Rechten zu schauen. „So ein Blödsinn!“ murmelt er.
Eine Wirtschaft hat große Ohren. Das junge Paar, dem die angenehme Aufgabe obliegt, sich dauerhaft vor dem Eingang des Gasthofs Odenwald zu küssen – ob zur Begrüßung oder zum Abschied bleibe hier ungeklärt –, hätte eigentlich besseres zu tun als auf Gespräche anderer zu hören, aber da die ewige Winterzeit beide dazu zwingt, dicke Mäntel zu tragen und es ihnen deshalb nicht vergönnt ist, sich im Freien wirklich zu spüren, lassen sie sich hin und wieder ablenken.
Janine haucht: „Hast du das gehört?“
„Was?“ Jan hat sich mehr auf den weiblichen Mund in seiner unmittelbaren Nähe konzentriert und deshalb Erwins Worte nicht mitbekommen.
„Na, dass in unserer Welt die Zeit 87 Mal schneller verfließt als in der großen, wirklichen.“
Jan versteift sich. „Was?“
„‘was anderes bringst du wohl nicht heraus?“
„Doch, doch; aber das ist doch ausgekochter Blödsinn!“
„Was ist Blödsinn?“ Der Weihnachtsmann, der nach etlichen Runden um Sandberg sein Fahrrad abgestellt hat, um sich für eine kurze Rast im Odenwald niederzulassen, nicht zuletzt, um der drohenden Gefahr der Dehydrierung entgegenzuwirken, will gerade an Janine und Jan vorbei.
„Naja, das mit der verkürzten Zeit.“ Janine unterstellt, dass der Wissensstand aller Sandberger automatisch immer gleich sei.
„Verkürzte Zeit? Ich habe das Gefühl, dass dumme Ideen in Umlauf geraten.“
„Wieso?“
„Gerade stapfte Siegfried – also Herr Islegger – an mir vorbei und murmelte auch etwas von ‚Blödsinn‘.“
„Er hat gerade im Gasthof mit Erwin – also Herr Tennschen – debattiert und da kam das zur Sprache.“
„Was?“
„Heute scheint mir nicht der Tag, uns um den Literaturnobelpreis zu bewerben.“ Janine ist ein bisschen stolz darauf, dass sie im ganzen Ort die einzige ‚Studierte‘ ist; dafür nimmt sie sogar in Kauf, hin und wieder als Klugscheißerin tituliert zu werden. „Das mit der verkürzten Zeit. Da wir im Maßstab 1:87 leben, vergeht für uns auch die Zeit im entsprechenden Maßstab.“
„So ein Blödsinn!“
„Wie gesagt, das mit dem Literaturnobelpreis….“
„Jetzt hör‘ aber auf und lass‘ mich ‘rein! Ich werd‘ mal mit Erwin – also Herrn Tennschen – ein paar Worte wechseln. Vielleicht klärt sich alles in Wohlgefallen auf.“
Janine und Jan rücken etwas beiseite und der Nikolaus quetscht sich an beiden vorbei. Erfreulicherweise sind sie so drapiert, dass Jan im Türrahmen und Janine in der Mitte steht, sodass das Vorbeiquetschen für den Nikolaus einen angenehmen Nebeneffekt nach sich zieht.
„He, so dick bist du auch wieder nicht!“ beschwert sich Janine.
„Ich muss dick sein“, verteidigt sich der rote Mann, „sonst bin ich unglaubwürdig.“
„Dann vergiss wenigstens dein ‚hohoho‘ nicht, wenn du eintrittst“, ruft Janine ihm nach. Die gebrummte Anwort ist durch die Eingangstür, die sich mittlerweile hinter dem neuen Gast geschlossen hat, nicht zu verstehen. Jan wendet sich wieder Janine zu; im Grunde genommen interessiert ihn das Zeitproblem überhaupt nicht. Zum Glück ließ ein einsichtiger Hersteller trotz der eher Schutz bietenden Bekleidung den gelben Mantel und den Rock darunter über Janines Knie enden. Jan überlegt fieberhaft ein Argument, das ihm tiefer anzusetzen erlaubt.
„Bild‘ dir nichts ein“, begrüßt Erwin Tennschen den Weihnachtsmann, „mit Oskar, unserem Stationsvorsteher, kannst du nicht mithalten – deine Leibesfülle, meine ich.“
„Die kriege ich auch nur durch Kissen hin, mit denen ich mich ausgestopft hab‘.“
In Wirklichkeit hat sich die Eingangstür nicht geschlossen, denn sie ist unbeweglich. Der Gasthof wartet in Wirklichkeit auch nicht mit einer Inneneinrichtung auf, da das ganze Gebäude innen vollständig hohl ist, aber H0-Figuren verstehen sich geschickt eine virtuelle Welt zu erschaffen, die an Gemütlichkeit der im Maßstab 1:1 in nichts nachsteht.
Der Nikolaus lässt sich an Erwins rohem Holztisch nieder und schnauft. „Also nochmal. Wie war das mit der Zeitverkürzung?“
„Sag‘ erstmal ‚hohoho‘.“
„Du mich auch. Du willst nur ablenken.“
Oberflächlich betrachtet geht in Sandberg alles seinen Gang. Im selben Augenlick, in dem sich im Bahnhof Sandberg das Schweineschnäuzchen in Bewegung setzt, startet der ‚Fliegende Bessumer‘ vom Haltepunkt Sandberg Rathaus ebenfalls zu seiner nächsten Runde. Sandberg Rathaus ist an sich der wichtigere Halt, denn von hier aus ist es nicht nur ein Katzensprung zum Rathaus, wie der Name nahelegt, sondern auch zum immerwährenden Weihnachtsmarkt. Bei dem Fliegenden Bessumer handelt es sich den ehemaligen VT 501 der Spreewaldbahn. Deren Corporate Identity-Farben rot-beige konnte die Bessumer Kreisbahn beibehalten, denn die sind auch die Ihre. Außer diesen beiden Fahrzeugen trägt die schwere, vierachsige Diesellok der österreichischen Baureihe 2095 diesen Anstrich. Die Rangierlokomotive V 11 von Orenstein & Koppel, ehemals Eigentum der Rhein Sieg Eisenbahn, ist hingegen in einfaches Rot getaucht. Sie verschiebt hauptsächlich Fracht für Siegfried Isleggers Lebkuchenfabrik oder im Zimtbergwerk. Ganz selten wird sie vor einem Personenzug eingesetzt, wenn tatsächlich die Fahrgastzahl einer Runde Eins überschreiten sollte.
Oberflächlich betrachtet ist nichts Außergewöhnliches bemerkbar. Dennoch – wer genau hinschaut, nimmt eine leicht gesteigerte Nervosität aller wahr, die auch vor den Besuchern des Weihnachtsmarkts nicht Halt macht. Das Getuschel ist nicht zu überhören.
„Wie, 87 Mal schneller; muss es nicht 87 Mal langsamer sein, denn wir sind ja um soviel kleiner als die Wirklichkeit und nicht größer?“
„Blödsinn! Bei uns vergeht die Zeit genauso schnell oder langsam wie draußen.“ Das ist Robert Pferd, Künstler und Paradiesvogel in der Miniaturwelt – manche würden ihn auch als Querulanten bezeichnen. Allein wegen dieses Ansehens erntet er empörten Widerspruch. Dennoch findet sich der eine oder andere Sandberger, der sich aus rein sachlich-technischen Überlegungen dessen Meinung anschließt oder deswegen, weil das auch die des einflussreichen Siegfried Islegger ist.
Innerhalb kürzester Frist bilden sich drei Fraktion, die sich räumlich voneinander abzusondern beginnen. Janine hat sich aus Jans Umklammerung gelöst, denn sie als Studierte hat sich auf die Seite der Verlangsamung geschlagen, während der eher träge Jan alles beim Alten lassen möchte.
„Schneller!“
„Langsamer!“
„Blödsinn!“
„Also Leute“, versucht der Weihnachtsmann zu vermitteln, „macht euch doch nicht verrückt.“ Da er ständig um das Dorf radelt, behält er Zugang zu allen Gruppen.
„Radel‘ du weiter!“
„Ruf‘ erst Mal ‚hohoho‘!“
„Du musst es ja gerade wissen!“
„Ich weiß gar nichts.“ Zum ersten Mal seit Langem steigt der Beschimpfte vom Rad, ohne direkt den Gasthof Odenwald zum Ziel zu haben. „Aber ich mache euch einen Vorschlag.“
„Da sind wir aber gespannt!“
„So gespannt braucht ihr gar nicht zu sein. Darauf könnte nämlich jeder kommen, der ein bisschen nachdenkt.“ Unwilliges Gemurmel brandet auf, hat der Nikolaus den Anwesenden doch durch die Blume zu verstehen gegeben, sie seien zum Nachdenken unfähig.
„Wer sind denn unsere Honoratioren und wer ist sonst schlau genug, um in einer Arbeitsgruppe das Problem unvoreingenommen erörtern und lösen zu können?“
Die Namen liegen schnell in der Luft. „Herr Tennschen.“ „Unvoreingenommen? Der hat mit seiner Theorie doch alles ins Rollen gebracht!“ „Genau deshalb brauchen wir einen Gegenpol. Herr Islegger ist doch der, der Erwins – also Herrn Tennschens – Behauptung vehement abgelehnt hat. Den müssen wir unbedingt ins Rennen schicken!“ „Nicht zu vergessen Robert Pferd….“ Ein ablehnender Aufschrei ist die Folge. „1,95 Meter Senkrechtmaß, davon 20 Zentimeter Haare. Wie soll da noch Verstand Platz finden?“
„Also gut, den nicht. Lassen wir’s bei Erwin und Siegfried – also den Herren Tennschen und Islegger.“
„Und die Verlangsamer? Die müssen doch auch ihre Stimme haben.“
„Unsere Klugschei…, ich meine, unsere studierte Janine steht auf deren Seite und kann bestimmt mitargumentieren.“
So landet der Weihnachtsmann schon wieder im Odenwald, im Gefolge die Genannten.
„Erst Mal vier Halbe!“
„Drei“, widerspricht Janine, „mir eine Weinschorle.“ Die drei Männer unterdrücken ein „typisch!“ Wilhelm Hechler, der Gastwirt, gehört zwar auch zu Sandbergs Honoratioren, darf aber bei wichtigen Entscheidungsfindungen nicht mitwirken, da es andernfalls zu Flüssigkeitsengpässen käme.
„Also“, eröffnet der Nikolaus die Sitzung, als alle mit ihren gewünschten Getränken versorgt sind.
„Zunächst beantrage ich“, ergreift Janine das Wort, „für den weiteren Verlauf unserer Zusammenkunft auf das Wort ‚also‘ zu verzichten. Seine allzu häufige Verwendung schmälert unsere Chance, jemals für den Literaturpreis….“ Innerlich stöhnen die übrigen Teilnehmer auf. Unsere Klugsch…, denken sie. Immerhin gewährt ihr längerer Vortrag über guten und schlechten Sprachstil den übrigen Konferenzteilnehmern die Gelegenheit, verstohlen unter dem Tisch nach ihrem Fahrgestell zu schielen, denn in der Stube hat sie natürlich ihren gelben Mantel abgelegt und präsentiert nun einen waffenscheinpflichtig kurzen Rock. Auch Wirt Wilhelm sieht sich genötigt, ständig nach seinen Gästen zu schauen, ob sie nicht auf dem Trockenen säßen.
Irgendwann hat Janine geendet und die Vier können sich auf das Thema konzentrieren, dessentwegen sie zusammensitzen.
„Also…, äh, entschuldigung, kein also“, beginnt der Weihnachtsmann von Neuem, „schneller, kein Unterschied, langsamer. Ich schlage vor, jeder bringt seine – oder jede ihre – Argumente vor. Janine, du bist Befürworterin der Langsamer-Theorie. Warum, meinst du, ist das so?“
„Zunächst stelle ich eine Beispielrechnung an. Eine 1,74 Meter große Person misst in H0 genau zwei Zentimeter. Ein Mensch legt bei einem normalen Spaziergang drei Kilometer in der Stunde zurück, das sind 3.000 Meter oder 300.000 Zentimeter.
Für eine H0-Figur beträgt der adäquate Wert – ein bisschen gerundet – 3.450 Zentimeter pro Stunde. Wir haben aber nur 200 Zentimeter zur Verfügung. Die müsste unsereiner in 3½ Minuten schaffen. Soweit einverstanden?“
Erwin und Siegfried nicken. Sie hätten gern gefragt, was ‚adäquat‘ bedeutet, aber da sie den Ausdruck bereits jetzt nicht wieder fehlerfrei zusammenbekämen, verzichten sie auf einen Kommentar. Janine fährt fort.
„Ein realer Mensch bräuchte dafür 2,35 Sekunden, da er 50 Meter pro Minute oder 0,85 pro Sekunde geht. Das ist 87 Mal schneller als wir oder – im Umkehrschluss – unsere Zeit vergeht 87 Mal langsamer, denn wir brauchen ja gemäß der Rechnung 210 Sekunden durch 2,35 Sekunden gleich 87 – na gut, 89, und das sind unsere 3½ Minuten. Immer noch einverstanden?“
„Jetzt nicht mehr.“ Erwin hat einen Ansatzpunkt gefunden. „Deine Eingangsrechnung ist richtig, Janine, aber genau wegen ihr vergeht die Zeit schneller. Für uns sind es nämlich keine 3½ Minuten, denn in verkleinertem Maßstab misst die Distanz 174 Meter. Für die brauchen wir unsere ganz normale Zeit, also – entschuldigung! – 1/87 der 3½ Minuten, die bereits errechneten 2,35 Sekunden. Da wir das mit unserer Größe natürlich nicht schaffen, muss die Zeit 87 Mal schneller als in Wirklichkeit vergehen.“
„Das ist doch alles akademisch“, schaltet Siegfried sich ein. „Genau wegen Janines Rechnung gibt es keine Zeitverzerrung. Ein wirklicher Mensch braucht für 174 Meter genau dieselben 3½ Minuten wie wir für zwei. Da Größen und Entfernungen sich proportional gleich verändern, bleibt die Zeit als feste Einheit gleich. Das gilt für jeden Maßstab.“
Der Weihnachtsmann krault so fest an seinem weißen Bart, dass er ihn plötzlich in der Hand hält. „Mist“, schimpft er, „jetzt muss ich das blöde Ding mühsam wieder ankleben.“
Wirt Wilhelm hat sich mittlerweile hinzugesellt, nah genug, dass jeder wahrnimmt, dass er sich als Diskussionsteilnehmer betrachtet, und weit genug, dass er Janines untere Hälfte noch im Blick hat. Der Nikolaus, der sich in die Rolle des Schiedsrichters gedrängt fühlt, räuspert sich. Einerseits gäbe er gern Janine wegen ihrer atemberaubenden Beine recht, andererseits widerstrebt ihm genau ihre Meinung. „Am wenigsten gekünstelt klingt ja Siegfrieds Lösung. Aber: Können wir sie beweisen?“
Janine und Erwin schnauben leicht, widersprechen aber nicht. Im Grunde sehen auch sie ein, dass Siegfrieds Beweisführung die schlüssigste ist. So wissen sie nicht, wie sie sich wieder ins Spiel bringen können. Vor allem Janine gibt ungern zu, auf der Verliererseite zu stehen.
Endlich gibt sie sich einen Ruck und verkündet: „Ich muss sagen, dass mich deine Verhältnisrechnung beeindruckt, Siegfried. Ich denke, wir lassen’s dabei.“
Der Weihnachtsmann und Wilhelm, aber auch Erwin atmen auf. Erwin ist ohnehin unwohl ob der Palastrevolution, die er mit seiner Bemerkung losgetreten hat, und doppelt nach: „Ich denke, wir sollten uns darauf einigen. Ich glaube, die meisten von uns sind froh, wenn alles beim Alten bleibt.“
Mit diesem Urteil kehrt wieder Friede in die zwei Quadratmeter ein, die die Bessunger Kreisbahn darstellen. Die Anschlussgleise zum Zimtbergwerk und zur Lebkuchenfabrik Siegfried Islegger werden bedient, die Zahnradbahn zum Aussichtsturm pendelt hoch und wieder hinunter, die Kinder rodeln vom Aussichtsturm zum Zaun des Bergwerks herunter, die unermüdliche Elfie Reiselust steigt in das Schweineschnäuzchen und entsteigt ihm wieder, Wilfried Spatspitz und Egbert Standfest schaufeln Schnee und die Uhr auf der historischen Litfaßsäule zwischen dem Weihnachtsmarkt und dem Rathaus zeigt fünf vor Fünf.
„Wir müssen uns wieder in Positur stellen“, bemerkt Wilhelm, „der Chef wird bald kommen.“
„Dann heißt’s für mich aufs Fahrrad“, seufzt der rote Mann.
„Janine nimmt ihre Aufgabe bereits ernst.“ Wilhelm deutet mit dem Daumen vor die Tür. In der Kälte schmust die Genannte wieder mit Jan. „Jetzt gibt’s ja keine Zerwürfnisse mehr.“
„Dann muss ich mich noch einmal an ihr vorbeidrücken.“
„Darfst, meinst du.“
„Du bist nur neidisch. Sei froh, dass alles so gelaufen ist, wie es lief, und dass alle unser Urteil akzeptiert haben. Ich denke, wir haben unserer kleinen Welt einen Bürgerkrieg erspart.“
„Übertreib‘ nicht. Spätestens nach der Sommerpause wäre alles vergessen gewesen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Zumal es zu einer Debatte gekommen wäre, wie lange diese Sommerpause wirklich dauert. Nun sind alle Fragen beantwortet.“
„Nicht alle.“
„Welche nicht?“
„Wir haben hier ewig Winter und ein Solarium bietet Sandberg nicht. Wie um alles in der Welt kriegt Janine ihre Beine so schön braun?“
Der Weihnachtsmann lacht. „Werkseitig, denke ich. Jetzt muss ich aber wieder.“
Der Schöpfer oder, um es weniger theatralisch auszudrücken, der Erbauer der Zweiquadratmeterwelt betritt den Dachstuhl seines Einfamilienhauses und schaut stolz auf sein Werk. Wie immer spricht er mit ihm oder vielmehr seinen Bewohnern.
„Na, geht’s euch gut?“ Immer wieder beschleicht ihn das Gefühl, dass seine Schützlinge agieren. Verließ der Weihnachtsmann nicht gerade das Gasthaus Odenwald? Jetzt dreht er jedenfalls seine Runden durch das Städtchen wie ein Uhrwerk. Übelzunehmen wäre ihm nicht, sollte er seinem eintönigen Dasein nicht ab und zu mit Hilfe eines Schoppens Abwechslung verleihen.
Der Erbauer nähert sein Ohr der Anlage. Hat ihm nicht gerade der Stationsvorsteher, Herr Oskar Kellheb, zugeflüstert, die Triebwagen sollten wieder einmal gedreht werden – immer nur Linkskurven führten auf die Dauer zu erhöhtem Verschleiß der jeweils äußeren Radsätze?
Stimmt, denkt er. Er ersetzt außerdem den Fliegenden Bessumer durch die elegante Emmina, den ehemaligen Leichttriebwagen der Ferrovia Calabrese, einst vom verflossenen Omnibushersteller Amadeus Wehwärter GmbH & Co KG offiziell als Baureihe M klassifiziert und deshalb im Städtchen ‚Emma‘ genannt. Sie ist wunderschön und erinnert an die aluminiumummantelten Stromlinienwohnwagen der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts aus französischer und italienischer Produktion. Leider bereitet sie technisch einige Schwierigkeiten, denn sie läuft nicht besonders rund. Es wäre aber schade, sie immer nur in der Schachtel liegen zu lassen.
„Wir haben Ende Januar“, sagt der Erbauer, „bald geht’s wieder drei Stockwerke tiefer in den Keller und den Sommerschlaf. Macht euch aber nichts draus, ihr seid ja alterslos.“
Hatte er ein leises, vielstimmiges Zischen vernommen?
„Euch kann’s ja egal sein, wie schnell die Zeit vergeht“, doppelt er nach. „Eine Bahnhofsuhr gibt’s nicht und die auf der Litfaßsäule zeigt immer dieselbe Uhrzeit.“
Tatsächlich hat er sich noch nie Gedanken gemacht, wie schnell in seiner Miniaturwelt die Stunden dahinfließen. In diesem Augenblick dämmert ihm etwas. „Wenn wir uns verstehen können“, sagt er zu seinen Figuren, „muss die Zeit gleich schnell vergehen. Wäre sie 87 Mal langsamer, wäre meine Stimme für euch ein tiefes, unverständliches Brummen mit 87fach reduzierter Frequenz und euer Sprechen für mich ein unhörbares Sirren; wäre sie 87 Mal schneller, wäre es umgekehrt.“
Brandet ihm wieder ein vielstimmiges Zischen entgegen?
Ich danke Harald Hechler dafür, dass ich seine im Eisenbahn Modellbahn Magazin 1 vom Januar 2019 auf den Seiten 120 und 121 unter dem Titel ‚Frostbewältigung auf schmaler Spur‘ vorgestellte Anlage als Basis zu meiner Geschichte verwenden darf.
Der Fahrgast,
in Eile,
weil bis zur Abfahrt des Zuges nur noch drei Minuten bleiben,
springt auf den Fahrkartenautomaten zu,
der zum Glück im Augenblick,
weil Kaiserstuhl ein kleiner Bahnhof ist,
genau gesagt ein Haltepunkt,
weil ihm jede Weiche fehlt,
die ihn zu einem richtigen Bahnhof ernannt hätte,
verwaist ist,
dem Fahrgast also freie Bahn gewährt,
dessen Display ihm mitteilt ‚Bitte den Bildschirm berühren‘,
der Fahrgast also darauf tippt,
weiterer Befehle gewärtig,
dessen nächster ‚Fahrtziel auswählen‘ lautet,
einige Ziele bereits vorgebend,
wie Baden, Zürich, Winterthur, Bad Zurzach oder Waldshut,
von denen aber keins passt,
der Fahrgast deswegen gezwungen ist,
umständlich die Buchstabenleiste in Anspruch zu nehmen,
und mit ‚G‘ beginnt,
sich ihm sofort einige Möglichkeiten verschließen,
zum Glück das ‚l‘ bleibt,
weiter das ‚a‘,
das dem Fahrgast zum Vorschlag ‚Glattbrugg‘ verhilft,
den er erleichtert aufgreift,
und antippt,
nervös,
weil die Schranke bereits zu bimmeln begonnen hat,
und sich ihm ein neues Bild öffnet,
‚Ermässigung‘,
mit den Symbolen großer und kleiner Menschen,
Erwachsene und Kinder,
der Fahrgast vergeblich ‚Halbtax‘ sucht,
während er den Zug von Ferne bereits vernimmt,
und endlich auf die Idee kommt,
dass die kleinen Menschen einfach halben Preis bedeuten,
und auf dieses Symbol tippt,
‚Zu zahlen: CHF 3,40‘ erfährt,
aus seinem Portemonnaie die Münzen herauszerrt,
zwei Zweifränkler,
sie in den vorgesehenen Schlitz wirft,
und in den Geldrückgabeschacht fallen hört,
der Fahrgast sie ihm entnimmt,
noch nervöser,
denn der Zug fährt bereits ein,
der Fahrgast seinen Fehler sieht,
die Taste ‚Jetzt kaufen‘,
sie drückt,
endlich eine Lampe neben dem Geldeingabeschlitz blinken sieht,
die Münzen ein zweites Mal einwirft,
diesmal erfolgreich,
während der Zug quietschend zum Stehen kommt,
es im Automaten langsam rattert,
ihn der Fahrgast „schnell, schnell“, beschwört,
sich allmählich die Fahrkarte druckt,
in den Warenschlitz fällt,
es zu klimpern anfängt,
ah, das Wechselgeld, der Fahrgast erkennt,
ungestüm die Fahrkarte und drei Zwanzigräppler heraus zerrt,
dem Triebfahrzeugführer zuwinkt,
noch wenige Sekunden zu warten,
der ein Einsehen hat,
der Fahrgast nun alles hat,
aber keine Zeit,
die Beute einzustecken,
und sie krampfhaft mit der Hand umklammert,
und mit zwei raumgreifenden Sätzen zur nächsten offenen Tür,
durch sie in den Wagen springt,
bevor sich die Tür unmittelbar hinter ihm schließt,
und der Zug abfährt.
Meine Großmutter lag im Sterben. Meine Eltern beschlossen, gemeinsam zu ihr zu fahren. Da ich in die Schule musste, meine Eltern mich aber nicht vom Unterricht befreien wollten, musste ich allein zu Hause zurückbleiben.
Mein Freund lud mich ein, über Nacht bei ihm zu bleiben. Ich nahm das Anerbieten gern an, denn ich war nicht gern allein in unserem düsteren Altbau. Nicht, dass ich Angst gehabt hätte – ich war eines der wenigen Kinder, denen nie Schauergeschichten von Vampiren oder schwarzen Männern, die einen nachts holten, erzählt worden war, und so bin ich eigentlich nie, auch im Alter von zwei, drei Jahren nicht, schreckhaft gewesen –; trotzdem war es in Gesellschaft schöner.
Der Vater meines Freundes besaß ein schmuckes Häuschen nebst Garten. „So, jetzt können die Gespenster in unserem Haus wüten soviel sie wollen“, dachte ich belustigt. Gespenster! Es sollte ja tatsächlich Leute geben, die daran glaubten. Aber ich war erstaunt, dass mir überhaupt der Gedanke daran kam.
Ich wurde herzlich in der Familie willkommen geheißen, und nachdem ich meine Schularbeiten erledigt hatte, verlustierten wir uns in dem schönen großen Garten. Mein Freund war ungefähr ebenso alt wie ich – also 15 – und wir verstanden uns seit neun Jahren ausgezeichnet. Es war drückend schwül an dem Sommertag und ich hatte schon längst ein Gewitter erwartet.
„Tolle Sachen passieren ja manchmal“, sagte Georg plötzlich, „hast du heute morgen die Zeitung gelesen?“
Das hatte ich nicht, und so musste ich mir Bericht erstatten lassen.
„Heute morgen wurde eine Frau tot in ihrem Bett aufgefunden. Am Tag davor war sie das blühende Leben selbst. Man fand nur zwei rote Punkte an ihrer Kehle. Vorige Woche geschah das gleiche mit einem Jungen und ein paar Tage davor mit einem Mädchen.“
Er sah mich an. „Offenbar geht eine seltsame Seuche um“, sagte er leise, fast flüsternd.
„Das kann schon sein“, antwortete ich. Mich interessierte diese Angelegenheit nicht besonders.
Er merkte es nicht und flüsterte mir zu: „Weißt du, was ich glaube? Wir haben einen Vampir in der Stadt.“
Da lachte ich ihn aus. Georg hatte, muss ich allerdings sagen, schon immer an Gespenster, Kobolde, Feen, Hexen, Zauberer und anderen Hokuspokus geglaubt. Da er aber wusste, dass ich das Vorhandensein dieser Dinge strikt ignorierte, hatte er das mir gegenüber nie zugegeben.
Ich wusste, was man unter Vampiren verstand: Blutrünstige, menschenaussaugende Wesen, die tags Menschen, nachts Gespenster waren. Augenblicklich las ich sogar ein Buch darüber.
Da ich ihn auslachte, wagte Georg es nicht, weiter darüber zu sprechen. Außerdem brach in diesem Augenblick das Gewitter los.
Es war neun Uhr, also ohnehin Zeit, schlafen zu gehen, und so gingen wir ins Haus.
Ich wünschte der Familie gute Nacht und die Hausherrin zeigte mir mein Zimmer.
Es war klein. Links neben der Tür stand das Bett und unter dem Fenster die Kommode, rechts ein Kleiderschrank und in der Mitte ein kleiner runder Tisch, der auf einem ovalen Teppich stand. Das Fenster lag der Tür gegenüber und darunter rauschten die Autos vorbei.