Geschichten von der Erde - Michael Maniura - E-Book

Geschichten von der Erde E-Book

Michael Maniura

0,0

Beschreibung

Was geschieht, wenn die Auswirkungen staatlich verordneter Therapie gegen ein angeblich hochansteckendes Virus die der Krankheit übertreffen; eine seit über einem Jahrzehnt verschollene Fliegerlegende wieder auftaucht; eine vergessene Sage Wirklichkeit wird; die Kleinsten die Größten werden; sich künstliche Sklavinnen gegen ihren Herrn auflehnen; sich ein Artefakt moderner Technik als 155jährig herausstellt; sich ein missgestaltetes Geschwulst als siamesischer Zwilling herausstellt, der Allmachtsträume hegt; Urmenschen auf die Idee kommen, eine Stadt zu bauen und eine Wanderung auf den höchsten Berg Afrikas in eine unerwartete Romanze mündet? Die Geschichten von der Erde beantworten die Fragen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 647

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Man gewöhnt sich an alles

Nikumaroro

Allein

Laura Dee

Billionenheer

Dschempy und Nencya

Abwehrschlacht

Der schwarze Teppich

Untersuchung

Armageddon

Ruhe und Frieden

Das Tal der Verlorenen

Geschöpfe

Zeitschleife

Boris W. Gothart

Bill H. Windler

Bryan S. Snyder

Boyle K. Donners

Annabel Leh

Cassius

Genius

Der Baum der Erkenntnis

Atlantis

Sintflut

Drei Zündfunken

Etrurien

Eine Kilimanjaro-Besteigung

Ein schweinisches Abenteuer

Dein Leben

Im Andenken an Howard Phillips Lovecraft (1890-1937)

Man gewöhnt sich an alles

Der Mann fühlte sich in seinem Altenheim angemessen wohl. Er hatte vor Kurzem im Kreis seiner zur Großfamilie herangewachsenen Sippe seinen 100. Geburtstag über sich ergehen lassen und war aus diesem Anlass für einige Tage in sein früheres Zuhause entlassen worden, da das Pflegepersonal davon ausgegangen war, dass während der Zeit der Feierlichkeiten genügend junge Leute in Reichweite waren, sollte er einen Schwächeanfall erleiden.

Das Ganze hatte ihn recht angestrengt und so stolz er war, als Familienoberhaupt mit seiner sehr runden Zahl für ein denkwürdiges Ereignis gesorgt zu haben, so froh war er gewesen, in die Ruhe und Geborgenheit seiner Heimstatt zurückkehren zu dürfen.

Er war nicht völlig gebrechlich und vermochte die meisten seiner täglichen Verrichtungen aus eigener Kraft zu bewerkstelligen, aber zu schlüpfrigen wie duschen und abwaschen sprang Unterstützung hinzu. Zu putzen brauchte er nicht und Fenster und Lampen erst recht nicht.

Im Grunde lief sein Status auf ‚betreutes Wohnen‘ hinaus. In Grenzburg, der nördlichsten Stadt von Biederland, war er aufgewachsen, hatte sein Leben zugebracht und nunmehr sein letztes Domizil auf Erden gefunden. Vom Fenster seines Zimmers aus sah der Mann den Kontrollposten des Nachbarstaats sich langweilen.

Der Hausarzt ließ sich mangels akuter Anlässe nur gelegentlich dienstlich blicken. Im gartenähnlichen Innenhof saßen er und der Hundertjährige dagegen häufig auf der Bank zusammen, die das Innere der runden Pergola als informellen Treffpunkt jener Hausbewohner und -betreuer bestimmte, die gern einer Zigarette zusprachen. Ein überdimensionierter Aschenbecher im Zentrum des Arrangements dokumentierte nämlich, dass es sich um eine der wenigen Örtlichkeiten auf dem Heimgelände handelte, in der Tabakgenuss geduldet war. Der Hundertjährige rauchte nicht, aber der Mediziner wie beinahe alle seiner Zunft.

„Es kriecht mal wieder ein asiatisches Virus zu uns ’rüber“, erklärte dieser, „von der Corona-Sorte.“ „Was hat das mit mir zu tun?“ „Naja, Sie haben eine Cornavin-Allergie und ein Erreger, der zu dieser Gruppe gehört, könnte für Sie gefährlich, sogar lebensgefährlich werden.“ „Hier am Ende der Welt?“ „Viren kümmern sich wenig um Längen- und Breitengrade. Ich würde mich an Ihrer Stelle aber nicht zu sehr beunruhigen; noch gelingt es recht gut, die Angesteckten zu isolieren und vom Rest der Menschheit fernzuhalten.“ „Ich beunruhige mich nicht.“ „Eben. Sehen wir mal, was unsere Virologen ’rausfinden. Man kann zwar, wie es aussieht, den Erreger nachweisen, aber keinerlei Symptome.“ „Und warum dann dieser Aufwand?“ „Aus Vorsicht. Wir kennen das Virus nicht und wenn’s blöd kommt, rafft es selbst oder eine Mutation mit einem Schlag Tausende dahin.“

Der Herr Doktor hatte seine Zigarette zu Ende geraucht. Er stand auf, drückte sie aus wandte sich zum Gehen. „Ich muss zurück zu meinen Patienten. Wie bereits gesagt, machen Sie sich keinen Kopp.“ –

Im Forschungslabor der Finster Pharma AG trafen sich die Herren Dr. C. Moll und Dr. H. Dur zu einer ersten Versuchsreihe. Während sie ihre Reagenzgläser richteten, sprachen sie nicht viel, zumal das Sprechen dadurch erschwert war, dass schneeweiße Ganzkörper-Schutzanzüge sie umhüllten. Allzu lange hält es jedoch der Mensch in Gesellschaft nicht schweigend aus. H-Dur musste nachfragen, was C-Moll mit dumpfem Gebrumm von sich gegeben hatte.

C-Moll: Mittlerweile haben wir jedes Jahr so ein Geschenk aus Asien.

H-Dur: Seien wir froh; dadurch geht uns nie die Arbeit aus.

C-Moll: Sehen Sie das nicht ein bisschen arg ökonomieorientiert?

H-Dur: Was heißt ökonomieorientiert? Ich sehe es realistisch. Gäbe es uns nicht, wäre Biederland schon seit einigen Jahren ausgestorben.

C-Moll: Übertreiben Sie nicht ein wenig? Ich hatte bei all‘ den Epidemien und Pandemien nie das Gefühl, dass unsere Arbeit Entscheidendes zur Eindämmung beitrug.

H-Dur: Und unsere Impfstoffe? Sollen die nichts zur Eindämmung beigetragen haben?

C-Moll: Die kamen doch regelmäßig erst auf den Markt und wurden flächendeckend eingesetzt, als die Herdenimmunität längst das Ihre getan hatte. Ist ja auch logisch, denn man muss Impfstoffe ausreichend auf seine Nebenwirkungen testen, sonst ist die Impfung, sprich die Therapie gefährlicher als die Krankheit. Und das darf nie passieren.

H-Dur: Mit dieser Aussage sprechen Sie unseren Bemühungen ihr Existenzrecht ab.

C-Moll: Keineswegs. Jede Erkenntnis trägt den Keim des Guten in sich. Ich sehe selbst, dass wir inzwischen eine solche Routine erworben haben, dass wir immer rascher zu Ergebnissen gelangen. Die ganzen Coronaviren sind sich ähnlich, was die Sache insofern erleichtert, als wir sozusagen mittendrin beginnen können. Was wir bereits an Erkenntnissen haben, brauchen wir nicht neu zu gewinnen.

H-Dur. Na also! Ich dachte bereits, ich müsste Sie als Kollegen abschreiben.

Sich physisch den Schweiß von der Stirn zu wischen war C-Moll ob seiner Panzerung nicht vergönnt, aber im Geiste tat er es. Er durfte sich in Zukunft nicht so weit aus dem Fenster lehnen, sonst stand sein tägliches Brot auf dem Spiel. –

Premierminister Rufus Rüde schnaubte vor Wut. Er und sein Staatssekretär Olaf Ölfisch von Glitsch studierten unter Ausschluss der Öffentlichkeit die neusten Meldungen.

Rüde: Es ist wieder soweit.

Ölfisch von Glitsch: Was wie weit?

Rüde: Ein neues asiatisches Virus. Diesmal leisten wir von vornherein ganze Arbeit.

Ölfisch von Glitsch: Wie meinen Sie das?

Rüde: Na, alles, was unser Virenschutzgesetz hergibt: Maskenzwang, sobald die eigene Wohnung verlassen wird, bedingungslose Ausgangsperre und ebenso bedingungsloses Besuchsverbot und strikte, mindestens vierwöchige Quarantäne bei bloßem Verdacht auf Infizierung. Die Untertanen sollen mich kennenlernen!

Ölfisch von Glitsch: Sie meinen den Souverän?!

Rüde: Nach außen hin, klar! Bei der letzten Welle benahmen sich alle wie außer Rand und Band, und das nur, weil unter meiner Vorgängerin noch Föderalismus herrschte und jeder der Zwergenkönige bestimmen durfte, was er wollte – oder auch nicht.

Ölfisch von Glitsch: Da waren Sie noch einer von denen.

Rüde: In meiner Provinz war klare Kante angesagt. Wer ohne zwingenden Grund auf die Straße trat – also Arbeit, Arzt, Apotheke oder Lebensmittelgeschäft aufsuchen, und zwar die jeweils nächstgelegenen –, war sofort mit einer saftigen Buße dran.

Ölfisch von Glitsch: Naja, das hat Ihr Provinzsäckel schön gefüllt.

Rüde: Und das wird diesmal landesweit so sein. Also: Sofort Virennotstand ausrufen, Parlament bis zu dessen Ende auflösen und allen Gerichten Urteile untersagen, die meine Maßnahmen unterlaufen.

Ölfisch von Glitsch: Geht das denn?

Rüde: Haben Sie das Gesetz nicht durchgelesen? §52a besagt klipp und klar, dass gegen Notstandsmaßnahmen kein Einspruch möglich ist. Einen Strauchdieb dürfen die Damen und Herren im Talar von mir aus aburteilen.

Ölfisch von Glitsch: Die Maßnahmen sind auf acht Wochen befristet.

Rüde: Mit Verlängerungsmöglichkeit. Das werde ich drei Tage vor Ablauf jeweils natürlich tun – ich bin ja ein gesetzestreuer Landesvater. Das mit den Gerichten ist sowieso bald vorbei. Eine meiner ersten Amtshandlungen war bekanntlich, den Justizministern der Provinzen Weisungsbefugnis über die Höfe in ihrem Einzugsbereich zuzugestehen…

Ölfisch von Glitsch: …und diese – die Provinzpräsidenten, meine ich – wiederum Ihnen direkt zu unterstellen.

Rüde: Damit ist die Gewaltenteilung de jure gewahrt und keiner hat Grund zu protestieren.

Ölfisch von Glitsch: Genau, Herr Premierminister. Ein genialer Schachzug. Nur….

Rüde: Was?

Ölfisch von Glitsch: Naja, jetzt, da das Parlament aufgelöst wird…

Rüde: …kann ich alles allein bestimmen. Hat doch diese kriminelle liberale Fraktion einige aus meiner Partei auf ihre Seite gezogen, sodass ich meine Mehrheit verlor. Diese Verräter werde ich zur Rechenschaft ziehen! Besagter Fraktion entziehe ich sowieso ihr Mandat – für immer.

Ölfisch von Glitsch: Dennoch eine Frage.

Rüde: Welche?

Ölfisch von Glitsch: Ist das Virus denn so gefährlich, dass diese strengen Verfügungen gerechtfertigt sind?

Rüde: Es gibt mindestens eine Person in unserem Land, die durch das Cornavin an Leib und Leben gefährdet ist. Das reicht.

Ölfisch von Glitsch: Äh…?

Rüde: Manchmal sind Sie extrem begriffsstutzig. Unsere hochentwickelte Ethik erlaubt nicht, dass Menschenleben nach Nutzen gegeneinander aufgewogen werden, auch nicht ein Hundertjähriger im äußersten Norden gegen den nach Millionen zählenden jungen, gesunden Rest. Die Person muss geschützt werden, und das funktioniert nur mit rigorosem Vorgehen.

Apropos: Sämtliche Grenzen, Flughäfen und Häfen werden geschlossen. Ein Verlassen des Landes gilt als Verrat und wird mit zehn Jahren Gefängnis bestraft.

Ölfisch von Glitsch: Aber dann können wir ja nichts mehr im- und exportieren.

Rüde: Sehr richtig. Unser Land kann sich selbst ernähren und wir müssen jede Bedrohung unterbinden.

Ölfisch von Glitsch: Finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben? Ich meine, was soll der Souverän…, äh, sollen die Untertanen denken…?

Rüde: Die haben nichts zu denken. Wo kämen wir hin, wenn plötzlich alle Vertreter minderwertiger Intelligenz zu denken anfingen?! Ich warne Sie, Herr Ölfisch von Glitsch. Wenn auch Sie auf Weichei machten, wären Sie die längste Zeit mein Staatssekretär gewesen.

Ölfisch von Glitsch: Selbstverständlich nicht, Herr Premierminister.

Rüde: Freut mich zu hören. Noch ’was: Demonstrationen jeglicher Art sind hinfort nicht erlaubt – auch wenn ein Gericht eine zulässt – und werden mit drei Jahren Gefängnis geahndet. Experten dürfen sich darüber hinaus nicht mehr kritisch äußern.

Ölfisch von Glitsch: Die Virologen?

Rüde: Exakt die. Es werden nur die Meinungen derer zugelassen, die die härteste Linie vertreten. Die können auch mit einem Orden rechnen. Alle anderen werden mundtot gemacht.

Ölfisch von Glitsch: Wie soll ich das denn im Einklang mit unserer verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit verargumentieren? Zumal die Damen und Herren eventuell gar keine Meinung vertreten, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse unterbreiten.

Rüde: Erkenntnisse! So viele Köpfe, so viele Meinungen gilt vor allem in der Medizin. Ich akzeptiere nur Forschungsergebnisse, die mir politisch in den Kram passen. Üben Sie gehörig Druck aus, damit die Wissenschaft gleichgeschaltet ist!

Ölfisch von Glitsch: Gleichschalten ist ein negativ belastetes Wort. Wie wär’s mit harmonisieren? Das klingt wunderbar nach Friede, Freude, Eierkuchen.

Rüde: Ich merke, Sie finden in die Spur zurück. Haben wir die Fachleute auf unserer Seite, werden die Untertanen automatisch kuschen.

Ölfisch von Glitsch: Der Souverän, meinen Sie. Was ist eigentlich mit Soziologinnen und Soziologen?

Rüde: Pah, Soziologie ist doch keine Wissenschaft. Davon abgesehen, dass sich auf diesem Feld sowieso nur Kommunisten und sonstiges linkes Gesochs tummeln.

Ölfisch von Glitsch: Hm, Kommunistenfresser oder -hasser ist auch nicht gerade ein Begriff, der Begeisterung auslösen wird. Wie wär’s mit Verschwörungstheoretikern und Rechtsradikalen, die es zu bekämpfen gilt? Im Gegenzug taufen wir die Willigen, Devoten in Vernünftige und die Vorkämpfer für den totalen Lockdown in Helden um.

Rüde: Sie beginnen zu begreifen und um eine elegante Wortwahl waren Sie ja noch nie verlegen. Die sei Ihnen hiermit auch in Zukunft vertrauensvoll überlassen.

Ölfisch von Glitsch: Danke, Herr Premierminister. –

Wer eine geballte Ladung Nobelpreisträger kennenlernen möchte, kommt um den Stammtisch nicht herum. Dort findet sich alles Wissen und alle Weisheit der Welt vereint. Ein Querulant wie Dietmar Denker fühlt sich dort weniger wohl, aber auch so einer sollte nicht 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche zu Hause die Wände anstarren. So geschieht zuweilen, dass er sich zwischen heftig gestikulierenden Zeitgenossen eingequetscht findet und aufpassen muss, dass sein Bier nicht von erregten Extremitäten weggefegt wird.

Ganz den gegenteiligen Charakter zeigt Donald Duckmäuser, der wie üblich auch heute das große Wort führte. „Das ist eine Riesensauerei“, deklamierte er gerade. Seine dezibelstarke Grölstimme übertönte wie immer sechs andere, leisere. „Wie meinst du das?“ wollte Detlev wissen. „Na, dass ab morgen wieder alle Kneipen zumachen müssen. Die sind bestimmt keine Virenschleudern.“ „Woher willst du das wissen?“ „War ja auch letztes Mal nicht so.“ „Alkohol desinfiziert!“ setzte Heiner triumphierend hinzu. „Und warum sollten uns unsere gewählten Regierungsvertreter sonst so einschränken wollen?“ setzte Detlev nach. „Um uns zu unterdrücken. Wir sollen kein Bier trinken, nicht rauchen, mit dem Arsch daheim bleiben und unseren Mund halten.“ Würde mich interessieren, dachte Dietmar, ob du dazu auch stehst, wenn sie dich in der Wachstube befragen.

Ein Wort gab das andere und keiner der Stammgäste kümmerte sich um die anderen Anwesenden, die an diesem Abend, an dem eine Auswärtsmahlzeit für lange Zeit zum letzten Mal möglich sein würde, die Schankstube füllten. Günter Ganter hielt sich am Tresen an seinem Bier fest und fragte sich, ob er das herüberwehende Gespräch, das mittlerweile weitreichende intergalaktische Verschwörungen bemühte, für seine Zwecke nutzen könnte. Er war mit einer prominenten Talkshow-Moderatorin gut bekannt und wusste, dass diese ständig auf der Suche nach ‚Volkes Stimme‘ war. Ihr Magazin firmierte unter ‚unabhängig, überparteilich‘, aber natürlich war sie politisch abhängig und durfte sich mit der Staatsführung nicht wirklich anlegen. Da war so ein Typ wie der, der im Augenblick den Stammtisch aufmischte, gerade recht: Volkes Stimme, wie sie im Buch steht und so einen Bockmist erzählt, dass jeder Fernsehzuschauer sofort dessen geistige Kapazitäten durchschauen würde und im Umkehrschluss über Umsicht und Weisheit der Führungsriege umso begeisterter wäre.

So geschah es, dass Dietmar auf seinem Nachhauseweg höflich angesprochen wurde. „Entschuldigen Sie.“ „Ja?“ „Ich bin Journalist und suche Talkshowteilnehmer. Wir möchten in unseren Sendungen gern alle Meinungen zu Wort kommen lassen und Sie haben mich überzeugt, dass Sie Erhellendes zur aktuellen Situation beizutragen haben.“ Dietmar sah sein Gegenüber prüfend an. Der Kerl hatte am Tresen gesessen, erinnerte er sich, man soll in der Öffentlichkeit immer aufpassen, was man sagt. Andererseits: Eine Plattform, die Hunderttausende erreicht, wär‘ für einen abgehalfterten Dörfler wie ihn etwas! „Von mir aus“, hörte er sich brummen und hielt kurz darauf Günter Ganters Visitenkarte in der Hand und hatte diesem auf eine zweite seinen Namen, seine Anschrift, Email-Adresse und Telefonnummer diktiert. Da wird sowieso nichts draus, dachte er, nachdem er sich von dem Mann verabschiedet hatte, außerdem: Was hat den eigentlich auf mich aufmerksam gemacht? Ich hab‘ doch außer ‚noch eins‘ zu Hannes, dem Wirt, praktisch nichts gesagt.

Auch Günter Ganter war unsicher geworden. Sie Stimme…? Die, die er in Erinnerung hatte, hatte ganz anders geklungen. Sollte er sich vertan haben? –

Dietmar Denker saß im Zug und ihm gegenüber ein Herr, der erstaunlicherweise Anzug und Krawatte trug. Auch dieser musste einen triftigen Grund vorzuweisen haben, dessentwegen er einen Ortswechsel vornehmen durfte, denn generell herrschte ja Ausgangssperre. Das Zugpersonal, Schaffner und Kellner in Personalunion, hatte in dem beinahe leeren Waggon genug Muße, seine Fahrgäste nach ihren Wünschen zu befragen. „Einen Kaffee, die Herren?“ „Gern.“

Zum Genuss von Speisen und Getränken war erlaubt, sich kurzzeitig seiner Gesichtsmaske zu entledigen. „Sie gehören also zu den Privilegierten“, mutmaßte der Herr im Anzug. „Die reisen dürfen?“ „Genau.“ „Sie werden’s nicht glauben: Ich bin bei der bekannten Moderatorin Hilde Kappelhoff zu einer Talkshow eingeladen und trage deswegen einen Marschbefehl in der Tasche.“ „Wie sind Sie denn dazu gekommen?“ „Wie die Jungfrau zum Kind, wie man so schön sagt. Ein Journalist sprach mich auf der Straße an und fragte mich, ob ich Lust dazu hätte. Er war am letzten Tag, als die Kneipen noch offen hatten, Zeuge unseres Stammtischs. Offenbar hat ihm meine Art, nichts zu sagen, imponiert.

Darf ich fragen, was Ihnen zu Ihrem Privileg verhalf?“ „Ich bin arbeitsloser Virologe.“ „Wie ist das denn möglich? Virologe ist derzeit wahrscheinlich der gefragteste Beruf überhaupt.“ „Aber nur Virologen mit der richtigen, der politisch erwünschten Meinung.

Ich war in der Forschungsabteilung der Finster Pharma beschäftigt, die wahrscheinlich als erste einen Impfstoff auf den Markt bringen wird….“ „Und die hat Sie ’rausgeschmissen? Es dürfte sich um die Firma handeln, die in Kürze die reichste von allen sein wird und deren Aktien durch die Decke schießen werden. Haben Sie silberne Löffel geklaut?“ „Schlimmer. Ich habe den Sinn unserer Forschungen angezweifelt.“

Als hätte er sich verhört, beugte sich Dietmar Denker vor und sein Gesicht unterschritt den vorgeschriebenen Mindestabstand. „Hallo, die Herren!“ mahnte der Schaffnerkellner. Erschrocken entschuldigte sich Dietmar und lehnte sich zurück. „Jetzt machen Sie mich neugierig.“

„Mein Name ist Cecil Moll und ich arbeitete wie gesagt bei Finster an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Cornavin-Virus. Bald merkte ich, dass ich gegen Windmühlenflügel kämpfte….“ „Wie das?“ „Naja, das Virus ist völlig harmlos. Ich hatte eine Mortalitätsrate von unter einem Zehntel Promille errechnet und das ist noch zu hoch gegriffen; meines Erachtens liegt sie bei null. Wir wissen von einer einzigen hundertjährigen Person im Altersheim von Grenzburg, die sich bei einer Infektion eventuell Probleme einhandeln könnte.“ „Im äußersten Norden des Landes?!“ „Genau.“ „Und deswegen herrscht bis zur südlichsten Stadt, bis Berchterbaden in 1.200 Kilometern Entfernung Ausgangssperre?“ „Genau.“

Diesmal lehnte sich Dietmar vor Fassungslosigkeit zurück. „Und Sie sind der einzige, der das weiß?“ „Der einzige, der es laut sagt. Mein Kollege, Dr. Hartmut Dur, eine absolute Koryphäe, weiß das ebenso, redet aber der Obrigkeit nach dem Mund. Jetzt hat er die alleinige Verantwortung für den hoffnungsfroh erwarteten Impfstoff und seine garantierte Redeplattform im Fernsehen.“ „Gegen einen Impfstoff spricht doch nichts.“ „Nach nur wenigen Monaten Testphase? Einigermaßen sicher sein, dass keine allzu groben Nebenwirkungen auftreten, kann man erst nach drei Jahren. Das heißt, Nebenwirkungen treten immer auf, sonst handelt es sich um kein Medikament. Nach drei Jahren weiß man aber wenigstens, wer auf keinen Fall eine Dosis erhalten darf.“

Der Kaffee war ausgetrunken und Dr. Cecil Dur und Dietmar Denker waren gezwungen, sich ihre Knebel wieder vorzubinden. Obwohl die Worte nunmehr dumpfer ins Freie krochen, führten sie ihre Unterhaltung fort.

„Ich bin kein Impfgegner“, gestand Dietmar, „ich bin gegen Tetanus, Polio, Meningitis und Gürtelrose geimpft; sogar gegen Gelbfieber, weil ich einmal nach Westafrika gereist bin.“ „Da spricht überhaupt nichts gegen, Herr…“ „Denker, Dietmar Denker.“ „…Denker, denn da gibt es entscheidende Unterschiede.

Gürtelrose kann sehr unangenehm werden; Tetanus, Polio und Meningitis sind hingegen mit einer über 50%igen Sicherheit tödlich, wenn sie einmal ausgebrochen sind. Dagegen ist das Risiko einer erprobten Impfung zu vernachlässigen. Eine Impfung, die meines Erachtens jedoch weit gefährlicher als die Krankheit selbst ist….“ „Sie erschrecken mich, Herr Doktor.

Wie geht’s bei Ihnen eigentlich weiter?“ „Ich habe eine Anfrage bei der angesehensten medizinischen Fakultät beim Nachbarn Gripsland gestartet und die nehmen mich mit Kusshand – entschuldigung, das klingt ein bisschen überheblich –, denn dort ist man der gleichen Meinung wie ich. Sie haben ja sicher gehört oder gelesen, dass nirgendwo außerhalb Biederlands großes Tamtam um das Cornavin-Virus gemacht wird.“ „Die Regierung versucht ja, alle derartigen Meldungen als ‚Fakes‘ zu klassifizieren und zu unterbinden.“ „Zum Glück gelingt ihnen das nicht, obwohl der Konsum feindlicher, das heißt ausländischer Nachrichten seit Kurzem unter Strafe steht. Das scheint aber – wiederum zum Glück – niemanden abzuschrecken.“

Dietmar sah sein Gegenüber nachdenklich an. „Und Sie haben die Bewilligung, ins Ausland zu reisen?“ „So lautet mein Marschbefehl. Im Koffer über mir befindet sich alles, was ich vorerst mitnehmen darf. Von der ‚anderen Seite‘ gelingt mir vielleicht, irgendwann einen geordneten Umzug in die Wege zu leiten.“ „Und die Bewilligung erhielten Sie anstandslos?“ „Erstaunlich anstandslos. Ich glaube, die Obrigkeit war froh, mich so elegant loszuwerden; mich einfach ins Gefängnis oder Irrenhaus zu stecken wagte sie aufgrund meiner Reputation anscheinend doch nicht.“ –

„Also, Hilde“, instruierte der Regisseur seine Moderatorin unmittelbar vor der Sendung. „Du weißt, dass es sich um einen ‚Mann aus dem Volk‘ handelt, keiner logischen Argumente fähig, aber laut und grob. Genau das, was die Zuschauer jetzt brauchen, da viele von ihnen die Kompetenz unserer Führungsriege anzweifeln.“ Hilde Kappelhoff lachte. „Sicher. Fast bin ich beleidigt, dass du mir das sagst. Ich mach‘ das seit 20 Jahren.“ „Achtung, er kommt aus der Maske“, warnte eine Helferin.

„Wie ich das Wort ‚Maske‘ hasse“, sagte Dietmar Denker, der in diesem Augenblick das Studio betrat, „auch wenn es hier eine andere Bedeutung hat als draußen.“

Die Sendung hieß ‚Hilde direkt‘ und war weniger als Talkshow denn als Interview zu betrachten, denn die Moderatorin nahm sich ihre ‚Gäste‘ einzeln vor, um sie auseinanderzunehmen. Bisher hatte sie noch nie versagt.

„Guten Abend zunächst.“ Hilde hatte ihren professionellen Tonfall hervorgeholt und spielte jetzt die perfekte Medienschaffende. „Nehmen Sie bitte Platz, Herr Denker.“

Beide saßen in Glaskäfigen, durch ein Mikrofon mit der Außenwelt verbunden. Die Tontechnik überwand deren Isolation durch eine ausgefeilte Mikrofon-Anordnung.

Denker: Danke. Und guten Abend, Frau Kappelhoff.

Kappelhoff: Guten Abend. Entschuldigen Sie mein Versäumnis. Sie gaben mir gerade das Stichwort für meine erste Frage. Sie sagten, Sie hassen Masken. Das ist heutzutage eine ungewöhnliche Aussage, weil jeder in der Öffentlichkeit eine trägt – zu seinem und zum Schutz seiner Mitmenschen.

Denker: Das mit dem Schutz lassen wir einmal dahingestellt. Es gibt jede Menge Virologen….

Kappelhoff: Die wir alle der Fakeverbreitung überführen konnten.

Denker: Überführen? Ich denke, deren Widerrufe wurden befohlen.

Kappelhoff: Nana, Herr Denker, wir leben in einer Demokratie. Man gewöhnt sich an alles und an die Maskenpflicht sowieso.

Denker: An alles?

Kappelhoff: An alles, was das tägliche Leben ausmacht.

Denker: Beruflich?

Kappelhoff: Auch an alles, was den Broterwerb ausmacht.

Denker: Gewöhnt sich ein Soldat im Schützengraben daran, von einer Granate zerrissen zu werden?

Kappelhoff: So ein unsinniges Beispiel!

Denker: Des Soldaten Beruf, wie ich ihn verstehe. Nehmen wir gern ein anderes. Gewöhnt sich eine Näherin in Bangla Desh daran, sich unter unwürdigsten Bedingungen sechs Tage die Woche zwölf Stunden am Tag die Finger wundzunähen?

Kappelhoff: Dafür gibt’s Amnesty International.

Denker: Wie wunderbar, jegliche Verantwortung an irgendwelche Organisationen abzugeben, seien sie staatlich oder nichtstaatlich. Bleiben wir zu Hause. Warum mühen sich die Gewerkschaften ab, für ihre Mitglieder bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen? Wenn man sich an alles gewöhnt, müssten sich die Arbeiter und Angestellte gegen Veränderungen – auch Verbesserungen – wehren.

Kappelhoff: Arbeitsbedingungen haben doch nichts mit Maskenpflicht zu tun.

Denker: Es gibt zwei Seiten: Einmal mein eigenes Risiko, das durch eine Maske nicht verringert wird; das ist sogar amtlich. Außerdem habe ich das Recht, das Risiko bewusst einzugehen….

Kappelhoff: Haben Sie nicht!

Denker: Ich darf auch eine Krebsbehandlung ablehnen.

Kappelhoff: Krebs ist nicht ansteckend.

Denker: Damit kommen wir zur zweiten Seite: Dass ich jemanden anstecke. Trage ich Antikörper in mir, bin ich nicht mehr ansteckend; ich könnte sogar mit meinem Blutplasma jemand anderen retten. Warum sollte ich mir dann das Gesicht zuhängen?

Kappelhoff: Aus Solidarität.

Denker: Solidarität geschieht ausschließlich freiwillig. Eine Zwangsmaßnahme ist eine Zwangsmaßnahme und niemals Solidarität. Es handelt sich um das meistmissbrauchte Wort des 21. Jahrhunderts. Soll ich mir aus Solidarität mit einem Querschnittsgelähmten meine Rückenmarksnerven durchtrennen?

Kappelhoff: Vergleichen Sie doch nicht Äpfel mit Birnen.

Denker: Es geht um Menschen mit Beeinträchtigungen. Solidarität bedeutet, jemandem in Not selbstlos zu helfen, aber nicht Selbstzerstörung, damit die Unbill jeden gleichermaßen, sozusagen gerecht trifft.

Kappelhoff: Davon ist doch keine Rede!

Denker: Dann haben Sie sich missverständlich ausgedrückt. Wenn davon keine Rede ist, wie Sie behaupten, bräuchte ich mir die Unbill der ‚Maske‘ ja nicht anzutun.

Kappelhoff: Es geht um die Ansteckungsgefahr.

Denker: Wir drehen uns im Kreis. Mit dem Bannstrahl ‚ansteckend!‘ haben wir die dritte Stufe des Sündenfalls erreicht.

Kappelhoff: Wie meinen Sie das?

Denker: Die erste war der angebliche Sündenfall selbst. Die Menschen hatten vom Baum der Erkenntnis gegessen und waren forthin ‚böse‘. Um sich von dieser Sünde ‘reinzuwaschen, halfen nur üppige Zahlungen an die Kirche. Die zweite war unser Umweltverhalten. Wir waren ‚böse‘, weil wir mit unserer Atemluft CO2 ausstießen und Abfall und Fäkalien produzierten. Um uns von dieser Sünde reinzuwaschen, halfen nur üppige Zahlungen an irgendwelche Umweltorganisationen. Nun sind wir ‚böse‘, weil wir ansteckend sind oder wenigstens sein könnten. Um uns von dieser Sünde reinzuwaschen, müssen wir mit einem Knebel im Gesicht herumlaufen, der uns am Atmen und am Sprechen, vor allem am Protestieren hindert.

Kappelhoff: Die Maske hindert doch nicht am Atmen.

Denker: Nicht? Warum sollen dann Kinder, Asthmakranke und Leute, die sich anstrengen, sei es beim Sport oder der Arbeit, darauf verzichten? Autofahren mit ‚Maske‘ wird mit einem Bußgeld belegt, weil die verminderte Sauerstoffzufuhr die Reaktionszeit am Steuer vermindern kann.

Kappelhoff: Das ist doch nur unter ganz bestimmten Umständen so; für alle anderen sind die Beeinträchtigungen marginal.

Denker: Immerhin gestehen Sie sie zu. Halten Sie es für gesund, über längere Zeit hinweg das eigene CO2 einzuatmen? Von der Natur ist das nicht so vorgesehen. Oder was glauben Sie, was die Ursache für die sich häufenden Lungenembolien ist?

Kappelhoff: Der Zusammenhang ist nicht erwiesen.

Denker: Sie argumentieren wie’s kommt. Der medizinische Nutzen der ‚Masken‘ ist höchst umstritten, wird aber als erwiesen dekretiert. Der Zusammenhang zwischen Maskengebrauch und Lungenschäden ist offensichtlich, wird aber als ‚nicht erwiesen‘ beiseite gewischt, weil der der Obrigkeit nicht in den Kram passt. Wissenschaft nach Gutdünken nenne ich das. Zurück zu meinem ‚böse‘. Jemand, der nicht ansteckend ist, braucht nach der Logik des römischen Rechts auch keine ‚Maske‘ zu tragen.

Kappelhoff: Was hat ein Virus mit dem römischen Recht zu tun?

Denker: ‚Im Zweifel für den Angeklagten‘. Ich darf niemanden zur Sühne zwingen, der nicht nachweislich schuldig ist.

Kappelhoff: Wer redet denn von Schuld?

Denker: Das gesamte Volk gilt als schuldig, ansteckend zu sein.

Kappelhoff: Das ist doch keine Schuld!

Denker: Expressis verbis nicht, aber implizit sehr wohl. Jeder, der mit einem Lappen vor dem Gesicht herumläuft, outet sich damit als Virenschleuder und Verbrecher an der Menschheit.

Kappelhoff: Davon ist doch überhaupt keine Rede. Es geht um Respekt gegenüber dem Nächsten.

Denker: Jemand, der nicht infiziert ist, schadet dem Nächsten nicht, indem er ihm sein Gesicht zeigt.

Kappelhoff: Das wissen Sie ja nicht.

Denker: Aber ich darf auch nicht das Gegenteil unterstellen, denn das ist eine unzulässige Pauschalverurteilung. Das meinte ich mit dem römischen Recht.

Kappelhoff: Ich glaube nicht, dass das römische Recht irgendetwas mit einer Vireninfektion zu tun hat.

Denker: Ob Sie das glauben, spielt keine Rolle. Sie haben allerdings die Mehrheit und vor allem die Polizeigewalt unserer Feudalherren im Rücken.

Kappelhoff: Sie sprechen von unseren gewählten Volksvertretern.

Denker: Ich spreche von der Obrigkeit, die jenseits aller Rechtsstaatlichkeit mittels Angstmache per Dekret regiert und sich einen Dreck um unsere Verfassung kümmert.

Kappelhoff: Es gibt offenbar Unverbesserliche, die nicht begreifen, dass ein Virus unsichtbar ist und damit die Gefahr, die von ihm ausgeht. Das sind die, die durch staatlichen Druck zu ihrem Glück gezwungen werden müssen.

Denker: Die Unsichtbarkeit ist das Geniale daran. Warnt die Obrigkeit vor einem Invasionsheer von jenseits der Grenze, ist für jeden offensichtlich, ob das stimmt oder nicht. Warnt sie vor unsichtbaren Viren, ist das nicht so einfach. Die Medaille der Unsichtbarkeit hat nämlich wie alle Medaillen zwei Seiten.

Kappelhoff: Jetzt bin ich gespannt.

Denker: Kinderleicht. Entweder ist die Warnung berechtigt oder nicht. Wenn nicht, handelt es sich um pure Angstmache, die den Untertanen befiehlt, sich lebendig begraben zu lassen und wenn sie doch einmal an die Öffentlichkeit müssen, das nur geknebelt zu tun. Weil das Virus unsichtbar ist, kann keiner direkt das Gegenteil beweisen.

Kappelhoff: Aber die Infizierten….

Denker: Was interessiert mich oder jemand anderen ein Infekt, der symptomfrei abläuft? Den interessiert nur die Obrigkeit, indem sie mit der Hygienekeule sämtliche sonstigen Rechte erschlägt. De jure gibt es zwar noch das Demonstrationsrecht, de facto jedoch nicht mehr, weil die Hygienevorschriften jede Versammlung unterbinden – und Versammlung ist das Merkmal einer Demonstration.

Kappelhoff: Das sehen Sie so.

Denker: Manchmal habe ich das dumme Gefühl, dass ich der einzige bin.

Als Dietmar Denker außer Hörweite war, fauchte Hilde Kappelhoff ihren Regisseur an: „Was faselst du von einem ‚Mann aus dem Volk‘, der keiner logischen Argumente fähig, aber laut und grob wäre. Davon kann beim Denker keine Rede sein. Der hat mich ganz schön ins Schwitzen gebracht.“ Der Angesprochene kratzte sich am Kinn. „Hm, komisch. Der war mir ganz anders geschildert, um nicht zu sagen angepriesen worden. Ich weiß auch nicht….“ –

Premierminister Rufus Rüde schnaubte vor Wut. „Was ist das denn für eine unfähige Schnepfe? Lässt sich von einem hergelaufenen Dorftrottel über den Tisch ziehen.“ „Frau Kappelhoff ist seit Jahrzehnten eine ausgewiesene Talkshowmoderatorin“, antwortete Olaf Ölfisch von Glitsch. Der Premierminister schnaubte noch lauter. „Ausgewiesene? Ausgewiesen als Versagerin, wenn ich das richtig sehe. Und Sie, Herr Ölfisch von Glitsch, sehen zu, dass die Sendung gestern Abend ihre letzte war.“ „Ich werde mit dem Intendanten reden.

Sollen wir den Herrn Denker gleich mit mundtot machen?“ „Hm.“ Rufus des Rüden seltene Phasen intensiven Nachdenkens bewirkten, dass sein Stimmvolumen unter hundert Dezibel sank. „Ich glaube, das wäre politisch unklug.

Nein, wir laden ihn besser nochmals ein, um ihn von einem Fähigen – wirklich Fähigen! – auseinander nehmen zu lassen. Das macht am besten keine Moderatorin und auch kein Moderator, sondern ein Fachmann der härtesten Sorte. Ich denke, H-Dur, das heißt Doktor Hartmut Dur, unser Vorzeigevirologe wäre der Richtige. Versuchen Sie die beiden zusammenzubringen.“

Öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender haben die Aufgabe, unabhängig und neutral zu berichten. Allerdings werden die Intendanten und Programmdirektoren unmittelbar von den Provinzpräsidenten ernannt und hüten sich, sich gegen deren zarten Andeutungen über die ‚vertrauensvolle Zusammenarbeit‘ mit bestimmten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sperren. Während des aktuell ausgerufenen Notstands ist wiederum der Premierminister gegenüber den Provinzpräsidenten weisungsbefugt, was diesen sich bequemerweise hinter einem geflüsterten ‚Weisung von ganz oben‘ zu verstecken erlaubt.

Nicht lange, nachdem ‚Hilde direkt‘ der Vergangenheit angehörte, fand Dietmar Denker eine erneute Einladung zu einem öffentlichen Gespräch in seinem Briefkasten. Bei dem Namen Hartmut Dur runzelte er die Brauen. Hatte er den Namen nicht schon einmal gehört? Nicht in den Medien – da war H-Dur allgegenwärtig –, sondern privat?! Richtig, der Doktor Moll, der ihm während der damaligen Zugfahrt gegenüber gesessen hatte, hatte ihm von seinem früheren Kollegen erzählt.

Diesmal würde ihm eine solche Begegnung nicht ins Haus stehen, denn mangels Fahrgästen war der öffentliche Verkehr eingestellt und er gezwungen, sein eigenes Auto zu benutzen. Ein Bezugsschein für Benzin hatte beigelegen, denn wie für eine Ausflugsfahrt einfach tanken war schon lange nicht mehr statthaft. –

Als Lukas Krawattke den Bußgeldbescheid in der Hand hielt, verhärtete sich sein Gesicht. „Das war’s“, kommentierte er, „jetzt werde ich handeln.“ „Was hast du vor?“ fragte seine Frau.

Lukas wandte sich Luise zu. „Seit dem Suizid unserer Tochter haben wir alles verloren. Wir können – ich kann folglich nichts mehr verlieren. Aber jemanden mitnehmen.“ Luise blickte ihren Mann entsetzt an. „Was meinst du damit? Und was ist das eigentlich?“ „Das ist ein Bußgeldbescheid, weil Magda gegen die Ausgangssperre verstoßen hat, als sie ins Wasser ging“, knurrte Lukas, „und da sie als Tote nicht mehr zahlen kann, sind wir als Eltern, das heißt als nächste Verwandte zahlungspflichtig.“

Luise sog hörbar die Luft ein. „Hoch?“ „Wir sind ruiniert, aber das macht nichts. In Zukunft wird Geld keine Rolle mehr spielen.“

Luise schloss die Augen. Alles stand wieder vor ihr, als wäre es gestern gewesen. Der Abschiedsbrief und die rüde Antwort des Polizeiwachtmeisters, als sie angerufen und darum gebeten hatte, die Tochter zu suchen. „Wir sind angewiesen, Maskenverweigerer, Verstöße gegen das Verbot, die eigenen vier Wände ohne triftigen Grund zu verlassen, und die Verbreitung von Fakes zu ahnden. Für Bagatellen wie häusliche Messerstechereien, Vergewaltigungen und Suizide haben wir keine Ressourcen. Und – lassen Sie sich‘s gesagt sein: Suizid ist kein triftiger Grund, die Cornavin-Auflagen zu missachten. Das kann teuer zu stehen kommen.“

Irgendwann fand sich doch eine verständnisvolle, auf informellem Weg angeheuerte Polizeitruppe, die Magda aus einer stillen Bucht fischte. Als Luise die Leiche ihrer Tochter sah, brach sie zusammen.

Lukas brachte zu weinen nicht mehr fertig. Er hatte sich ins darknet eingeloggt und tippte einen Geheimcode ein, den Code der ABW – der Aktion bedingungsloser Widerstand. Auf die Frage: ‚Willst Du ein Konto anlegen?‘ tippte Lukas ‚ja‘ ein. ‚Bist Du Sympathisant?‘ ‚Ja.‘ ‚Bist Du bereit mitzumachen?‘ ‚Ja.‘ ‚Und bist Du bereit, aufs Ganze zu gehen?‘ ‚Ja.‘ ‚Dann gib Namen und Kontaktdaten ein. Sei sicher, dass Deine Daten vertraulich behandelt werden und niemand außer uns selbst in der Lage ist, sie zu hacken. Jeder Fremde, der bei uns einzudringen versucht, wird von uns erkannt, erbarmungslos verfolgt und zu Tode gehetzt werden.‘ –

Als der Mann die Haustür öffnete, erschrak er. Vor ihm standen drei Polizisten. „Sind Sie Herr Donald Duckmäuser?“ „Äh…, ja.“ „Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Das Gesetz, dass Polizisten einen gerichtlich ausgestellten Hausdurchsuchungsbefehl brauchen, um in eine private Wohnung eindringen zu dürfen, war zwar nie aufgehoben worden, aber seit Ausrufung des Notstands wusste jeder Biederländer, dass es sehr ungesund war, sich der Staatsgewalt zu widersetzen, auch wenn diese sich je jure ungesetzlich verhielt. „Bemühen Sie sich doch bitte herein, die Herren Wachtmeister“, säuselte Donald und versuchte so unbefangen wie möglich zu klingen. Ich hab‘ doch nichts Ungesetzliches im Haus? fragte er sich in aller Stille, oder etwas im Haus, das zwar nicht ungesetzlich ist, aber der Obrigkeit ein Dorn im Auge sein könnte?

Die Herren trugen keineswegs den Titel Wachtmeister, gingen aber darüber hinweg, da sie Duckmäusers Bestreben nach Unterwürfigkeit anerkannten. Dessen Sorge erwies sich als unbegründet. Seine Besucher wollten lediglich wissen, was während der letzten Stammtischzusammenkunft so alles zur Sprache gekommen sei. „Ist da nicht wüst über die Regierung geflucht worden?“ fragte gerade einer von ihnen. Für die Schlussfolgerung, dass es die Aussagen Günter Ganters waren, die die Exekutive auf Trab gebracht hatten, fehlte Donald der Horizont. Außerdem war ihm damals vor Aufregung dermaßen der Puls in die Höhe geschossen, dass er die übrigen Gäste des Etablissements nicht wahrgenommen hatte. Ihm war klar, dass unter ihnen ein Verräter gesessen hatte, und mit traumwandlerischer Sicherheit ebenso klar, wer dieser Verräter war.

„Wissen Sie“, gab er entspannt von sich, während er sich auf dem Küchenstuhl zurücklehnte und sich räkelte, „wir haben schon einen bei uns, der unserem verehrten Herrn Premierminister und sein Kabinett regelmäßig beleidigt und verunglimpft. Alle Mahnungen unserer- und vor allem meinerseits, sich zu mäßigen, haben nie etwas gefruchtet.

Naja, im Augenblick gibt es unsere Zusammenkünfte nicht und ich bin, ehrlich gesagt, froh darüber. Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch mitgemacht hätte. Da ging mir zu viel gegen den Strich.“ „Können Sie uns den Namen des Herrn sagen?“ „Selbstverständlich.“ –

Langsam verlor das Fernsehstudio für Dietmar Denker seine Bedrohung. Er saß Doktor – in Kürze Professor – Hartmut Dur, genannt H-Dur, gegenüber. Seine größte Trumpfkarte durfte Dietmar leider nicht ausspielen. Die schmückte Cecil Molls Aussage, dass H-Dur seine apokalyptischen Äußerungen wider besseres Wissen von sich gab. Das hatte ihm C-Moll damals im Zug zwar zugeraunt, aber selbst wenn er diesen hätte herzitieren können, stünde Aussage gegen Aussage. Er hatte keine Wahl, als unauffällig zu versuchen, H-Dur in Widersprüche zu verwickeln.

H-Dur: Wir sehen doch, wie das Virus vordringt. Die Maßnahmen müssen bis zur totalen Ausgangssperre ohne jede Ausnahme für alle verschärft werden. Es werden viel zu viele ‚triftige Gründe‘ abgenickt.

Denker: Da bisher alle Maßnahmen wirkungslos sind, könnten sie auch aufgehoben werden.

H-Dur: Wie kommen Sie darauf, dass alle Maßnahmen wirkungslos sind?

Denker: Ich denke ergebnisorientiert. Jeder Verschärfung der Maßnahmen folgte eine Erhöhung der Infektionszahlen auf dem Fuß.

H-Dur: Gäbe es die Maßnahmen nicht, wären längst alle infiziert. Denker: Das ist eine Behauptung.

H-Dur: Sie können nicht das Gegenteil beweisen.

Denker: Natürlich nicht, sehr geschickt. Sie können aber ebenso wenig meine ergebnisorientierte Sichtweise widerlegen.

H-Dur: Sie haben ja keine Ahnung! Im Gegensatz zu Ihnen befinde ich mich mitten im Kampf.

Denker: Sie befinden sich mitten in der Ausnahme.

H-Dur: Wie meinen Sie das?

Denker: Ich kenne eine Frau, die im Jugendamt arbeitet. Sie hat nie geheiratet und Kinder strikt von sich gewiesen. Für sie bestehen Familien aus prügelnden Vätern, alkoholkranken Müttern, verstörten Kindern und gewalttätigen Jugendlichen, weil sie täglich acht Stunden damit zu tun hat. Der Blick aufs Ganze zeigt jedoch, dass die aufgezählten Umstände die Ausnahmen sind. Merkwürdigerweise sieht sie das nicht, obwohl ihr ihre eigene Erfahrung sagen müssten, dass das so ist. Als Beamtin kann sie sich eine Wohnung in gutbürgerlicher Umgebung leisten, in der all‘ diese Gründe zu ihren Panikattacken gar nicht auftreten. Ungefähr in dieser Situation sehe ich Sie.

H-Dur: Sie können doch Sozialverhalten nicht mit dem eines Virus vergleichen.

Denker: Es hat zumindest Auswirkungen. Durch ständiges Eingesperrtsein erhöht sich die Gefahr eines psychischen Schadens bis zum völligen Ausrasten. Isolation ist eine anerkannte Foltermethode.

H-Dur: Was nützen Freiheiten, wenn das Virus die ‚Freien‘ dahinrafft?

Denker: Der Freie ist wenigstens in Freiheit gestorben. Wobei das ein Streit um des Kaisers Bart ist, denn die Mortalitätsrate liegt bei unter einem Zehntelpromille. Beim Abwägen….

H-Dur: Und dann auch nur Alte, wem nützen die schon?! Es ist nicht statthaft und zynisch, Menschenleben gegeneinander abzuwägen, wie Sie wahrscheinlich wissen!

Denker: Das weiß ich sehr wohl; allerdings darf keine Therapie schlimmer als die Krankheit sein. Wenn mehr Menschen durch die Maßnahmen sterben oder zumindest als psychische Wracks daraus hervorgehen, ist letztlich ein Verzicht aufs Abwägen schlimmer, als das zu tun.

H-Dur: Sie möchte ich sehen, wenn Sie einmal auf meine Hilfe angewiesen sind.

Denker: Auf dieses K.O.-Kriterium warte ich schon länger. Als 68jähriger Diabetiker wurde ich gegen meinen Willen einer Risikogruppe zugeteilt. Jetzt schlüpfe ich zur Abwechslung bewusst in diese Rolle und erlaube mir folgende Aussage: Ich würde nie verlangen und fände es unfair, wenn Millionen eingesperrt werden, nur damit ich vielleicht – vielleicht! – vor einer Infektion geschützt bin. Millionen Gesunde, die unschuldig im Gefängnis sitzen.

H-Dur: Ich habe mich nur um die Befallenen zu kümmern.

Denker: Mir ist klar, dass Sie den Experten-Tunnelblick haben. Eine Soziologin….

H-Dur: Unverschämtheit!

Denker: …eine Soziologin ist auch eine Expertin, hat aber vermutlich einen völlig anderen Blick.

Moderatorin: Wir laden auch Soziologinnen und Soziologen zu der Sendung ein.

Denker: Die sind mir entgangen. Ich nehme scharenweise Virologinnen und Virologen wahr, die ihre unumstößliche Meinung äußern – denn außer ihnen ist ja niemand kompetent –, aber so gut wie niemanden aus anderen Disziplinen und wenn, vermutlich nur solche, bei denen Sie sicher sein dürfen, dass sie obrigkeitskonforme Meinungen äußern. Ich bin Ihr Alibi-Gast, damit Ihnen nicht Einseitigkeit vorgeworfen werden kann. Und ein dankbarer, denn als inkompetenten Nicht-Experten darf man mich nach Belieben auseinandernehmen.

H-Dur: Das stimmt doch auch!

Denker: …dass ich Nicht-Experte bin?

H-Dur: Genau!

Denker: Aber ich kann ein bisschen lesen und schreiben. Der Premierminister ist Jurist, der Gesundheitsminister Bankkaufmann und die Bildungsministerin Hotelfachfrau. Die dürfen sich zur Epidemie äußern und alle bewundern sie ob ihrer Umsicht und Weisheit.

Moderatorin: Man kann sich doch in ein Fach einarbeiten.

Denker: Zweifellos. Wie erwähnt bin auch ich als Informatiker des Lesens und Schreibens mächtig. Wäre ich mit diesem Beruf Minister, zweifelte niemand meine Kompetenz an.

Moderatorin: So dürfen Sie das nicht sehen.

Denker: Ich danke Ihnen. Diese Aussage beweist, dass ich völlig richtig liege und es mir nur verboten ist, mir diese Meinung zu bilden. Vermutlich steht darauf in Kürze Gefängnis.

Moderatorin: So dürfen Sie das nicht sehen. –

„Ein Polizeiauto!“ stieß Luise Krawattke hervor, als sie aus dem Fenster sah. „Die Scheißbullen!

Moment mal.“ „Was ist?“ „Meine whatsapp meldet sich. Es könnte sein….“ „Deine Kumpel?“ „Scheint so.“

Lukas Krawattke war wahrlich kein Papierkranich, aber die beiden, die vor seiner Haustür standen, ließen ihn in ihren Schatten verschwinden. „Verflucht.“ Das war das Kennwort. „Und zugenäht.“ „Gut. Bist du bereit, Lukas?“ „Bereit. Klamotten für einige Wochen. Für Verpflegung ist gesorgt, hat’s geheißen.“ „Auch für Schuhwerk, das ist so.“ Lukas drehte sich zu seiner Frau um, die ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten vermochte. Plötzlich wurde die Miene des einen Zyklopen weich und unmittelbar darauf die des anderen auch. „Was hat Sie bewogen…?“ Luise vollführte eine einladende Handbewegung. „Wollen Sie nicht ’reinkommen? Für einen Kaffee reicht’s doch sicher.“

„Naja“, brummte der Erste. Während die Maschine lief, legte Luise den beiden Widerständlern den Abschiedsbrief ihrer Tochter Magda vor. „Hier lesen Sie’s schwarz auf weiß. Die Ärmste war ein lebenslustiges Geschöpf und hat all‘ die Restriktionen nicht mehr ertragen.“ Als der Erste, der sich als Motte vorgestellt hatte, das Schreiben gelesen hatte, zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schneuzte sich geräuschvoll. Dann gab er das Papier an den Zweiten weiter, der sich als Mücke geoutet hatte. „Okay“, sagte er, „ich verstehe einiges. Sie sind mit Ihrem Mann einverstanden, Frau Krawattke?“ „Wir haben alles abgesprochen und ich teile seine Meinung, dass wir nichts mehr zu verlieren haben, dass es aber andere gibt, die gerechterweise auch etwas verlieren sollten.“

Dann war der Augenblick des endgültigen Abschieds gekommen. Lukas küsste seine Frau nochmals innig und schritt entschlossen auf das Polizeiauto zu.

„Habt ihr das geklaut?“ fragte er, als sein Haus außer Sicht war. Mücke fuhr und Motte auf dem Beifahrersitz drehte sich halb zu ihrem neuen Mitglied auf dem Rücksitz. „Ja.“ „Aber…, aber fällt das Ding denn nicht auf? Ich meine….“ „Jedes andere Auto fällt auf, da kein Privatverkehr mehr zugelassen ist. Von dieser Sorte…“ Motte haute auf die Rückenlehne, „…gurken Hunderte pro Quadratkilometer ’rum, von denen keiner weiß, was der andere tut. Alle jagen Maskenverweigerer und unerlaubte Freigänger.“ „Aber ihr habt doch keine Uniformen an.“

Motte zwinkerte ihm zu. „Glaubst du? Was meinst du, wie viele Geheimpolizisten unterwegs sind, die genau unser Outfit tragen.“ „Und ich?“ „Du bist unser Gefangener. Und wenn ein Bulle tatsächlich blöd tut….“ Motte streckte seinen rechten Zeigefinger aus und zuckte mit ihm zwei Mal auf und ab. „Peng, peng.“ „Was ist eigentlich mit denen passiert, die hier drin saßen?“ „Die waren nicht kooperativ.“ „Was heißt das?“ „Sie tun jetzt der Natur einen Gefallen und düngen unser Friedewäldchen in größter Gelassenheit.“

Ein bisschen unheimlich wurde Lukas jetzt doch. „Gibt es denn Kooperative?“ „Jede Menge, nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei den Grenzposten und vor allem bei der Armee. Da, denke ich, sind über die Hälfte auf unserer Seite. Das ist wichtig, denn das Endziel ist ein bewaffneter Angriff auf das Parlament und dazu brauchen wir Panzer und Kanonen. Vorerst haben wir nur Kalaschnikows.“ „Kalaschnikows?“ „Jede Menge im Kofferraum. Kannst du damit umgehen?“ „Nein.“ „Dann lernst du’s.“ „Wo geht’s jetzt eigentlich hin?“ „Zum Hauptquartier. Das ist gut versteckt, obwohl es sich in der Nähe der Hauptstadt befindet. Dort ist auch das Ausbildungslager.“

Eine Weile schwiegen die Drei. Dann hielt es Lukas nicht mehr aus. „Motte?“ „Ja?“ „Körperlich passt’s ja, aber ich habe den Eindruck, dass du dich recht gewählt ausdrückst. Ich hatte mir einen, äh…, Räuberhauptmann irgendwie anders vorgestellt.“ Motte lachte dröhnend. „Ich bin Professor für Geschichte und Philosophie und hoffe, das irgendwann auch wieder sein zu dürfen.“ „Darfst du das denn jetzt nicht?“ „Mit meinen Meinungen, mit denen ich nicht hinter dem Berg halte? Abgesehen davon, dass unser gegenwärtig installiertes Feudalsystem wertfreies Lehren und Forschen nicht ansatzweise zulässt.“ –

Rufus Rüde schnaubte vor Wut. „Diesmal war’s die Moderatorin, die den frechen Kerl zur Räson brachte. Ich hätte gedacht, H-Dur verkauft sich besser. Du lieber Himmel! Einer, der kurz vor der Professur steht, lässt sich von einem Dorftrottel unter den Tisch schwatzen. Wo sind wir bloß hingeraten?“ „Soll ich den Dorftrottel verhaften lassen?“ fragte Olaf Ölfisch von Glitsch. „Nein, warten Sie noch. Normalerweise hätte ich sofort ‚ja‘ gesagt, aber verfahren wie die Situation ist, halte ich es für besser, diesen sogenannten Denker argumentativ klein zu kriegen.“ „Das ist zufällig sein Name.“ „Einen unpassenderen hat wohl selten einer getragen.

Ich habe zwei weitere Eisen im Feuer. Einmal hetze ich unseren Gesundheitsexperten auf ihn und, wenn der auch versagt, meinen Gesundheitsminister. Das ist ein Kerl nach meinem Geschmack. Spätestens der wird diesen Möchtegern-Liberalen kleinkriegen.

Was ist da los?“ Ölfisch von Glitsch sah auf sein Smartphone. „Eine Gruppe Kabinettsmitglieder hat sich angemeldet, um mit Ihnen über die weiteren Maßnahmen zu debattieren.“ Rüde schnaufte wieder. „Richtig, ich hatte mich zu einem Treffen mit denen breitschlagen lassen. Die wollen mich überreden, weich zu werden, aber das kommt nicht in Frage. Die werden mich, ihren Chef, kennenlernen!“

Der Gesundheitsminister hatte sich der Abordnung nicht zugesellt, aber Innen-, Finanz- und Wirtschaftsminister, die Familien- und Bildungsministerin und auch die Justizministerin gehörten ihr an. Gemeinsam übergaben die Fünf dem Premierminister ihre Forderung nach maßvollen Lockerungen der Einschränkungen, die das öffentliche Leben massiv beeinträchtigten.

Die Justizministerin verlangte, dass Gerichte wieder ein Mitspracherecht erhielten, wenn eine Verfügung allzu offenkundig gegen die Verfassung verstieße.

Die Bildungsministerin verlangte, Kindergärten und Schulen wenigstens teilweise wieder zu öffnen, da bei kleinen Kindern vermehrt psychische Störungen aufträten und die Schüler nach einem verlorenen Schuljahr ihrer Konkurrenz aus den Nachbarländern hoffnungslos unterlegen seien.

Die Familienministerin stieß in dasselbe Horn und verwies auf die vermehrte Zahl von Psychologen, die nötig seien, um die verkorksten Familienverhältnisse, die Depressiven und die, die bis zur Gewalttätigkeit durchgedreht wären, wieder aufs rechte Gleis zu führen, aber es gäbe auf Grund geschlossener Universitäten derzeit keine Möglichkeit, hochqualifizierten Nachwuchs in diesem Fachgebiet auszubilden. Auch sei die Zahl der Suizide im Vergleich zum Vorjahr auf das Dreifache angewachsen, was sicher nicht als Zufall abzutun wäre.

Die Wirtschafts- und Finanzminister begnügten sich mit Zahlenreihen, die die geordneten und ungeordneten Firmenzusammenbrüche auflisteten und nachwiesen, dass die Rangfolge des einstigen Industriestaats Biederland von den oberen Plätzen ins untere Mittelfeld gerutscht sei; nur einige afrikanische Länder folgten noch dahinter, während sämtliche asiatischen Konkurrenten kilometerweit nach oben vorbeigeschossen wären.

Der Innenminister beklagte die zunehmende Gewalt bei illegalen Demonstrationen; vor allem befürchtete er, dass sich Untergrundgruppierungen bildeten, die in Kürze vollkommen außer Kontrolle geraten könnten.

Die Justizministerin kanzelte Rüde als Erste und am heftigsten ab. „Ich bin selbst Jurist und weiß, was verfassungsmäßig ist und was nicht; alles, was ich bestimme, ist per definitionem verfassungsmäßig, denn die Verfassung bin ich.

Ich glaube, Frau Ministerin, unsere weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit ist hiermit beendet. Ich werde bis auf weiteres Ihr Amt kommissarisch mit übernehmen.“

Tatsächlich hatte Rufus Rüde besagtes Examen in der Tasche, aber jeder wusste, auf welche Weise er es errungen hatte. Er hatte vor Bestechung, Verleumdung und Gewaltandrohung nicht zurückgeschreckt und da sein Vater während seiner Studienzeit dort Provinzpräsident war, wo seine Lehranstalt stand, hatte niemand gegen den prominenten Sohn vorzugehen den Mut gefunden. Hatte ein Professor gewagt, seinem erregbaren Schüler vorzuhalten, dieser sähe einen Fall falsch, war er niedergebrüllt worden. Das wusste zwar jede und jeder, aber das zu sagen traute sich heute niemand mehr.

Zum Glück – oder war es eher Pech zu nennen? – hatte Rüde nie eine Kanzlei eröffnet, sondern war unverzüglich in die Politik eingestiegen und hatte sich – zunächst von seinem hochrangigen Vater unterstützt – nach oben getreten, gebissen und geboxt. Seine Vorgehensweise hatte sich nie geändert, weil er nie auf nennenswerten Widerstand gestoßen war. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, seine impulsiven Handlungen zu überdenken, da er sich im Besitz unumstößlichen Wissens und unumstößlicher Wahrheit wähnte.

Dem Innenminister ging es nicht viel besser als seiner Kollegin aus dem Justizministerium. „Es flackern immer mehr Unruheherde auf.“ „Dann unterbinden Sie sie. Das ist doch Ihre Aufgabe!“ „Aber das Volk….“ „Das Volk, das Volk! Das Volk hat zu nicken und zu kuschen. Außerdem bin ich das Volk.“

Am weitesten drang der Wirtschaftsminister gegen Rüdes Faustauf-den-Tisch-Schlagen und Schnaufen-Knurren-Bellen durch. „30 Tage Quarantäne für Leute, die kerngesund sind und wichtige Funktionen einnehmen. Was nützt es, wenn die alten Leutchen in Heimen vor Infektionen geschützt sind, aber verhungern, weil das gesamte Betreuungspersonal luftdicht abgeriegelt ist?“ „Es gibt keine Kompromisse.“ „Und die Feuerwehr? Sie darf kein größeres Feuer löschen, weil die Männer beim Halten des schweren Schlauchs zu dicht beisammenstehen. Sollen ganze Städte abbrennen?“ „Infektionsschutz ist wichtiger.“

De facto kümmerte sich das Feuerwehrpersonal im Brandfall nicht um die Abstandsvorgaben, aber das durfte keinesfalls offiziell irgendwo vermerkt werden.

Rüde schlug zum ungefähr hundertsten Mal mit der Faust auf den Tisch. Scheint ziemlich schmerzunempfindlich zu sein, dachte die ehemalige Justizministerin, ich hätte mir schon längst die Hand gebrochen. Dem Leviathan länger zuzuhören hielt sie dagegen für Zeitverschwendung, obwohl es schwierig war, das nicht zu tun. „Wir werden das Virus besiegen, ist das denn so schwer zu begreifen?“ schrie er gerade, „und dagegen hilft nur striktestes Vorgehen: Schließen aller nicht-systemrelevanter Betriebe, keine privaten Besuche, Verbot von Ortswechseln und Ausgangssperre, die nur für den Weg zum Einkaufen in das nächstgelegene Lebensmittelgeschäft, zum Arzt oder zur Apotheke oder zur Arbeit gegen entsprechenden Nachweis durchbrochen werden darf….“ „Und die Polizei?“ flüsterte die Erziehungsministerin. Unerklärlicherweise hatte Rüde das durch sein eigenes Gebrüll hindurch gehört. Obwohl keine und keiner es für möglich gehalten hätte, steigerte sich die Dezibelzahl seiner Stimme um einen weiteren Dreierlogarithmus. „Die Polizei hat selbstverständlich freie Hand. Wir müssen doch illegale Sperrenbrecher und Verweigerer mit aller Härte ahnden, sonst tanzen die uns bald auf der Nase herum.

Und, Herr Innenminister, wir müssen mit aller Härte und Konsequenz gegen eventuelle Widerstandsnester vorgehen. Ich weise Sie hiermit an, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – mit allen! – gegen solche vorzugehen.“ „Scharfe Bewaffnung schließen Sie aber aus?!“ „Wo denken Sie hin, Sie Weichei! Der Staat hat das Gewaltmonopol und wird das auch durchsetzen, auch wenn ein paar ins Gras beißen. Umso besser für die Allgemeinheit. Dann weiß jeder, woran er ist.

Ich warne Sie: Sollten Sie vor der letzten Eskalationsstufe zurückschrecken, geht es Ihnen wie Ihrer Ex-Kollegin vom Justizressort, damit Sie’s wissen!

Auch wenn Sie sich auf den Kopf stellen, meine Damen und Herren, wiederhole ich meine Position: Es gibt keine Kompromisse. Noch was: Jegliche Kritik an meinen Dekreten wird ab sofort mit drei Jahren Gefängnis bestraft.“ „Sie meinen Demonstrationen und Randale?“ „Nein. Verbale Kritik reicht, um sie unter Fakes einzuordnen, und auf Verbreitung von Fakes stehen bekanntlich drei Jahre – ohne Einspruchsrecht.

Die Audienz ist beendet.“

Rufus Rüde kehrte mit rotem Kopf in seine Gemächer zurück. „So“, schnaubte er – zu normaler Artikulation war er auch in ruhiger oder ihm gewogener Umgebung nicht fähig –, „den Softies hab‘ ich’s gegeben.“ „Großartig, Herr Premierminister“, flötete Olaf Ölfisch von Glitsch eilfertig. –

Der Gesundheitsexperte der Regierung, August Nullus Nullstein, war sich bewusst, dass seine künftige Karriere in der Partei davon abhing, wie gut er sich gegen diesen Dietmar Denker schlüge. Ein ‚Mann aus dem Volk‘, von allen für einen Dorftrottel gehalten, hatte zunächst einer altgedienten Moderatorin und dann dem höchsten Virologen die Butter vom Brot geleckt. Nun war H-Dur in seinem Forschungsprogramm gefangen und hatte kaum Zeit gehabt, sich vorzubereiten, während er, Nullstein, zwar Mediziner, aber in erster Linie Politiker war. Er wusste ganz anders mit Beschimpfungen umzugehen als ein in seinem Elfenbeinturm begrabener Professor.

Das Dumme war nur, dass dieser Denker niemals unhöflich oder gar beleidigend aufzutreten schien. Vielleicht gelang es, ihn zu provozieren….

Nullstein: Die Gefahr lauert überall. Selbst durch Aerosole, das heißt die Luft, die uns umgibt, ist Ansteckung möglich.

Denker: Auf beliebige Entfernungen?

Nullstein: Auf beliebige Entfernungen.

Denker: Wozu gibt es dann die Abstandsregeln?

Nullstein: Um das Ansteckungsrisiko zu verringern.

Denker: Wie das, wenn doch das Virus auf beliebige Entfernungen übertragen werden kann?

Nullstein: Das liegt doch auf der Hand: Je größer die Abstände zwischen den Personen, desto geringer das Ansteckungsrisiko. Das müsste auch einem nicht-Experten wie Ihnen einleuchten.

Denker: Theoretisch ja, aber ich komme mit dem Widerspruch nicht klar.

Nullstein: Mit welchem Widerspruch?

Denker: Wissen Sie, ich bin zwar Nicht-Experte, aber den inneren Widerspruch einer Logikkette zu erkennen bin ich in jeder beliebigen Wissenschaftsdisziplin in der Lage. Wenn Sie einerseits argumentieren, Aerosole übertrügen das Virus über jede beliebige Distanz und zwei Sätze später, Abstandhalten sei eine gute Maßnahme, um Ansteckungen zu verhindern, ist das ein Widerspruch.

Nullstein: So ein Unsinn!

Denker: …den Sie da verbreiten, richtig

Nullstein: Nein, so ein Unsinn, den Sie da verbreiten.

Denker: Ich habe gar nichts verbreitet, sondern Ihnen zugehört. Die überraschende Nachricht, eine Schutzmaßnahme sei gleichzeitig unnütz und wirksam, haben Sie verbreitet.

Nullstein: Sie drehen mir das Wort im Mund herum.

Denker: Tut mir leid, aber bei Ihnen gibt’s nicht viel ‘rumzudrehen. Das machen Sie ganz von sich aus. –

Lukas hatte sich schnell an das Leben im Ausbildungslager gewöhnt, so hart der Drill auch war. Aber er brauchte jetzt genau den, um von seinen Erinnerungen abgelenkt zu werden. Kaum noch tauchten Traumbilder von Magda auf, dafür umso mehr Alpträume von Ungeziefer, das er unter seinen Füßen dank des mit stählernen Kappen und Sohlen ausgestatteten Schuhwerks zertrat, das ihm hier zur Verfügung gestellt worden war. Alle Schädlinge trugen dasselbe Gesicht, das Gesicht des Rüden. Wenn er aus diesem Traum erwachte, lag Lukas nicht schweißgebadet in den groben Linnen, sondern trug ein Gefühl tiefster innerer Befriedigung in sich.

Erstaunlich viele Frauen hatten sich der ABW, der Aktion bedingungsloser Widerstand angeschlossen. Diese erinnerten allerdings ebenso wenig an Papierkraniche wie Motte und Mücke. Lukas hatte durchaus Erfolge bei seinen Schießübungen vorzuweisen, aber eine Erkenntnis ließ sich nicht leugnen: Frauen haben im Durchschnitt nicht nur schärfere Augen als Männer, sondern auch ein besseres Gefühl für Proportionen und Entfernungen. Hannah blies aus einem Kilometer Entfernung jedem Pappkameraden sauber den Schädel vom Rumpf. Niemals ging ein Schuss von ihr fehl und sie war schnell. Kein Mann war imstande, ihr in einem gestellten Kampf zu entrinnen. Es war klar, dass sie es sein würde, die im Sturm die Dächer der Regierungsgebäude von Scharfschützen zu säubern hatte.

Während Mücke für das Grobe zuständig war, war Motte Gründer und Chef der Bewegung. Seine logistischen Fähigkeiten waren unerlässlich, um neben Neurekrutierungen für jeglichen Nachschub bei Geräten, Fahrzeugen und Verpflegung zu sorgen. Folglich sahen ihn die einfachen Soldaten selten.

Während der Mittagspause saßen Hannah und Lukas nebeneinander. „Du siehst immer so traurig aus“, kommentierte Hannah, „gefällt’s dir bei uns nicht?“ „Doch, sehr. Ich habe nur ein schlechtes Gewissen.“ „Doch nicht wegen der Dreckschweine im Rüdenpalast?!“ „Gar nicht, im Gegenteil. Nein, ich denke an Luise, meine Frau. Ich hab‘ sie allein gelassen. Wir hatten das zwar so besprochen, aber allein da draußen, das gefällt mir jetzt nicht mehr. Hierher hätte sie allerdings nicht gepasst. Das wäre ein zu wildes Leben für sie. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Hannah legte Lukas die Hand auf den Unterarm. „Ich sag‘ Mücke Bescheid, dass er sie holen soll. Sie muss nicht zu uns Flintenweibern. Wir haben auch eine Truppe fürs Feine, die weitgehend aus Frauen besteht und fürs seelische Wohlbefinden sorgen soll – nein, nicht, was du denkst! Es geht ums Schmücken und um Musik und Tanz, denn irgendwann sind wieder Weihnachten und Fasching und die Feste wollen wir richtig feiern. Nachdem wir den Rüden erlegt haben.“ –

Der Gesundheitsminister, Gewald Reißzahn, bereitete sich auf das letzte Gefecht gegen Dietmar Denker vor. „Sogar Nullstein hat versagt“, wiederholte er kopfschüttelnd, „man meint ja geradezu, dieser Dorftrottel hätte etwas auf dem Kasten.“ Reißzahn war der einzige seiner Ministerriege, dem Rufus Rüde etwas abgewann: Ebenso schneidig wie er und dennoch intellektuell wirkend, betrachtete dieser ihn als Aktivposten. „Ich denke, du wirst’s machen“, stärkte ihm sein Chef den Rücken und hatte zu diesem Zweck die niedrigste Lautstärke hervorgeholt, zu der er fähig war – die eines Staubsaugers älterer Bauart.

Die Moderatorin hatte ihre Begrüßungsfloskeln hinter sich gebracht und dem Gesundheitsminister das Wort erteilt.

Reißzahn: Das wird jetzt zur Chefsache!

Denker: Damit ist das Scheitern vorprogrammiert.

Reißzahn: Was fällt Ihnen ein, unsere Kompetenz anzuzweifeln?!

Denker: 105 Jahre Erfahrung zeigen, dass staatliche Eingriffe zur Verschlechterung und Verteuerung der Leistungen führen, wenn der Untertan Glück hat. Wenn er Pech hat, führen sie zur Funktionsuntüchtigkeit des Gemeinwesens.

Reißzahn: Der Staat ist als einzige Institution zu großen Leistungen fähig.

Denker: Der Staat ist bereits mit der Verwaltung eines Kaugummiautomaten überfordert.

Reißzahn: Beweise!

Denker: Ihre täglich wechselnden Bestimmungen sind ein deutliches Zeichen von Hilflosigkeit. Um irgendetwas vorzeigen zu können, schlagen Sie wie ein schwer verwundetes Raubtier blindlings um sich. Was morgens um Zehn noch erlaubt war, ist nachmittags um Zwei ein schweres Delikt.

Reißzahn: Unsinn! Uns geht es immer und ausschließlich um das Volkswohl und Menschenleben.

Denker: Einem Politiker geht es niemals um das Volkswohl und Menschenleben – von seinem eigenen einmal abgesehen –, sondern immer und ausschließlich um seine eigene Machtbasis und wie er sie festigt und erweitert.

Reißzahn: Was unterstehen Sie sich, uns das zu unterstellen!

Denker: Da gibt’s nichts zu unterstellen, denn es handelt sich um eine offenkundige Tatsache. Ich drehe die Argumentation um: Ein altruistischer – heute sagt man empathischer – Mensch wird Krankenschwester oder Altenpfleger, Entwicklungshelferin oder Seenotretter, aber garantiert kein Politiker. Das läuft auf dasselbe hinaus, klingt aber viel schmeichelhafter.

Reißzahn: Ich glaube, ich lasse Sie ins Gefängnis werfen.

Denker: Ich danke Ihnen. Das ist genau das Argument, das ich erwartet hatte – weil’s nämlich keins ist. –

Beinahe hatte Dietmar Denker es erwartet. Vor seiner Tür standen zwei Polizisten und forderten ihn auf, schnellstens einige persönliche Dinge wie Körperpflegeartikel und vielleicht einige Bücher einzupacken. „Kleidungsstücke sind nicht nötig. Die bekommen Sie gestellt.“ „Somit bin ich verhaftet?!“ „Richtig.“ „Mit welcher Begründung?“ „Verbreitung von Fakes.“ „Welche Fakes?“ „Dass die Maßnahmen gegen das Cornavin-Virus sinnlos sind, dass die Regierung inkompetent und nicht verantwortungsbewusst handelt und sogar hilflos ist, dass anerkannte Virologen Unsinn erzählen, um nur einige zu nennen.“ „Die Verfassung garantiert Meinungsfreiheit.“ „Die ist gewährleistet. Wie Sie wissen, steht jedoch das Verbreiten von Fakes unter Strafe und wird als Delikt geahndet.“

Hinter den Gardinen beobachtete Donald Duckmäuser, wie sein schärfster Stammtisch-Rivale ins Polizeifahrzeug geführt und abtransportiert wurde, und rieb sich die Hände. „Mindestens drei Jahre“, murmelte er, „bin ich dich jetzt los.“ –

„Stümper“, urteilte Motte, nachdem er seinen Getreuen die Aufnahmen der flächendeckenden blutigen Demonstrationen aus den verschiedenen Städten des Landes gezeigt hatte. „Kein Plan, einfach drauflos.“ „Das hat immerhin einen Vorteil.“ „Welchen, Lukas?“ „Naja, die Bullen können keine Rädelsführer hopsnehmen, weil es keine gibt.“ „Nicht ganz falsch, was du sagst, aber ohne Organisation und Logistik entwickelst du keine Durchschlagskraft. Du siehst und ihr seht ja, dass zum Schluss die Obrigkeit siegt. Einige Tote und Schwerverletzte unter den Demonstranten, der Rest festgenommen und die Bullen allenfalls mit ein paar Kratzern.“ „Aber wird das Volk nicht langsam aufstehen?“ „Im Volk steckt eine große Kraft, aber die wird nur mit der Aussicht auf Erfolg geweckt. Solange die Obrigkeit jedes Mal obsiegt und unsere gleichgeschalteten…, entschuldigung, harmonisierten Medien diese Siege als Sieg von Demokratie und Vernunft zelebrieren, rechne ich von Volkes Seite mit nicht allzu viel Unterstützung.“

Jemand tippte Lukas von hinten auf die Schulter. Dieser drehte sich um und sah in Mückes Gesicht, das von Ernst gezeichnet war. Lukas‘ Magen begann zu revoltieren. „Komm‘ bitte kurz ’raus“, hauchte Mücke ihm zu, „ich muss dir ’was sagen.“

Lukas folgte Mücke wortlos. Er ahnte, nein, er wusste, worum es ging. „Ich sollte und wollte ja Luise, deine Frau, holen“, berichtete Mücke hastig. Er gedachte die unangenehme Unterredung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. „Ich traf sie nicht an. Ich versuchte von euren Nachbarn herauszubringen, was los war, aber die wussten auch nichts – sofern sie mir die Wahrheit erzählten. Wie du weißt, haben wir auch etliche Polizisten unter unseren Verbündeten. Ich fragte mich durch und erfuhr, dass sie deine Luise verhaftet hatten.“ „Warum?“ krächzte Lukas. „Einmal, weil ihr das Bußgeld nicht bezahlt hattet, das ihr wegen des Verstoßes gegen die Ausgangssperre nicht bezahlt hattet – du weißt, als deine…; deine….“ „Schon gut, Mücke, erzähl‘ weiter.“ „Zum anderen, weil du verdächtigt wirst, dich einer Terrorbande angeschlossen zu haben und sie dir Beihilfe geleistet hat.“ „Also verhaftet. Und weiter?“ „Sie wurde im Gefängnis nicht gut behandelt.“ „Ist sie…; ist sie…?“ Mücke nickte langsam und sehr ernst.

Lukas war zu keinen Tränen fähig. Er ballte die Fäuste und stieß hervor: „Sippenhaft. Die ist nach unserer Verfassung auch verboten und ich Idiot hatte nicht bedacht, dass das Dreckschwein natürlich auch dieses Verbot außer Kraft gesetzt hat.“ „Tust du mir einen Gefallen, Lukas?“ „Hm?“ „Nenn‘ ihn nicht Dreckschwein. Das ist eine Beleidigung des Vierfüßers, der sich zwar tatsächlich zuweilen im Dreck wälzt, aber hochintelligent und sensibel ist.“ „Du hast recht, Mücke. Das Attribut Scheiße in Menschengestalt wird dem Rüden eher gerecht.“

Lukas ballte die Fäuste noch fester. „Das werden sie büßen. Ja, das werden sie büßen, vor allem der Eine.“ –

Premierminister Rufus Rüde schnaubte vor Wut. Er hatte die diversen Korrespondentenberichte vor sich, die aus allen Ecken des Landes Demonstrationen, Brandstiftungen und Sabotageakte meldeten. Demonstrationen gelang es immer häufiger, gegen ihre befohlene Auflösung die Oberhand zu behalten und sogar Mitglieder der Exekutive zu überreden, nicht mehr weiter gegen ihr eigenes Volk vorzugehen und zu desertieren.

„Verdammte Terroristenbrut!“ fluchte Rüde. Aller Unbeugsamkeit zum Trotz, die er nach wie vor nach außen hin abstrahlte, hatte er vorsichthalber seine Frau in seine Amtsresidenz bringen lassen, denn der Berg der Drohungen gegen ihn und seine Familie, hätte sie jemand ausgedruckt und gestapelt, wäre mittlerweile auf Himalayahöhe angewachsen. Parlament, seine Residenz und verschiedene Bürotrakte waren vor wenigen Jahren unter dem Gesichtspunkt der Minergie, das heißt frei von äußerer Energiezufuhr, als Vorbild und Muster des zukünftigen Bauens errichtet worden. Der ganze Komplex wirkte auf Grund großzügiger Abstände luftig und schwebend, war aber durch ein unterirdisches Labyrinth miteinander verbunden, damit den erlauchten Damen und Herren gewählte Volksvertreter direkter Kontakt gewährleistet war, ohne dass sie mit den Gemeinen draußen zusammenstießen. Sie blieben für jene Gemeine allerdings sichtbar, denn der Architekt hatte nicht mit riesigen Glasfronten gespart, deren siebenfache Panzerung die Privilegierten drinnen im Fall eines Falles vor jedem Angriff von draußen zuverlässig schützten. Das Material war ohne Versagen durch alle Fegefeuer der Härtetests gegangen und nun seiner Bestimmung würdig verwendet worden. Einzig auf einen Angriff durch Panzer hatte die Herstellerfirma verzichtet.