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Eine Frau läuft zurück ins Leben. Eine Frau glaubt nach einem erschütternden Verlust, am Ende ihrer Kraft zu sein. Dennoch beginnt sie zu laufen. Ihre Runden werden von Woche zu Woche länger – und was als Davonlaufen beginnt, wird schließlich ein Weg zurück ins Leben. Immer an ihrer Seite: ihre Freunde, ihre Wut, ihre Liebe zur Musik und ein Humor, der es mit ihrer Verzweiflung aufnehmen kann. »Ich laufe mir die Grübelei weg, andere Leute laufen angeblich, weil sie dabei gut nachdenken können, ich kann an gar nichts anderes denken als an meinen Körper, ob er funktioniert, wie er funktioniert, wie das Laufen sich anfühlt, ob ich noch kann, und wenn ja, wie weit, und ob mir gerade etwas wehtut, oder was am meisten wehtut, als wüsste ich nicht, was am meisten wehtut, aber beim Laufen tut endlich der Körper weh.« Nach dem Bestseller »Der Pfau« zeigt Isabel Bogdan mit diesem berührenden und dennoch humorvollen Roman, was es heißt, an Leib und Seele zu gesunden.
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Seitenzahl: 252
Isabel Bogdan
Roman
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Isabel Bogdan, geboren 1968 in Köln, studierte Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokio. Heute lebt sie in Hamburg und übersetzt u. a. Jane Gardam, Nick Hornby und Jonathan Safran Foer. 2006 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur. 2012 erschien ihr erstes eigenes Buch, »Sachen machen«, 2016 der erste Roman »Der Pfau«, der auf der Shortlist für das »Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels« stand und mit dem Hörkules ausgezeichnet wurde.
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»Ich laufe mir die Grübelei weg, andere Leute laufen angeblich, weil sie dabei gut nachdenken können, ich kann an gar nichts anderes denken als an meinen Körper, ob er funktioniert, wie er funktioniert, wie das Laufen sich anfühlt, ob ich noch kann, und wenn ja, wie weit, und ob mir gerade etwas wehtut, oder was am meisten wehtut, als wüsste ich nicht, was am meisten wehtut, aber beim Laufen tut endlich der Körper weh.«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Leseprobe »Wohnverwandtschaften«
Ich kann nicht mehr. Das ist natürlich Quatsch, ich bin gerade erst losgelaufen, aber schon an der Ampel glaube ich, ich kann nicht mehr, nach nicht mal hundert Metern. Meine Beine sind wie Sandsäcke, bin ich wirklich jemals länger gelaufen? Lange her. Vielleicht fällt mir ein Grund ein, warum ich doch nicht laufen kann, warum ich jetzt sofort umkehren muss, obwohl heute der beste Tag ist, um wieder mit dem Laufen anzufangen, Laufen ist mit Sicherheit gut, außer dass ich nicht mehr kann, vielleicht ist heute auch gar nicht der beste, sondern der schlechteste Tag. Regnet es? Es war schon schwer genug, die Laufsachen überhaupt anzuziehen, unfassbar, wie viel Überwindung einen das kosten kann, auch wenn man fest beschlossen hat, endlich wieder zu laufen, und zwar jetzt, an diesem Tag, wie viel Kraft es kosten kann, die Sportsachen rauszusuchen, zu entscheiden, was bei der Temperatur das Richtige ist, welche Hose, die dicke, die dünne, ist es warm genug, ob ein langärmliges Shirt unter dem kurzen reicht oder ob noch die Jacke darübermuss, was für eine Anstrengung, und dann, wenn man fertig angezogen ist, wirklich loszulaufen, wieso war das so schwer, ich schaffe es doch auch, zur Arbeit zu gehen, das ist längst nicht mehr so hart wie am Anfang, sondern hält mich aufrecht, und immerhin, ich habe es geschafft loszulaufen, die Ampel wird grün, ich kehre nicht um, ich laufe weiter, es regnet gar nicht, aber mein Fuß knackt bei jedem Schritt, und nein, auch das ist kein Grund umzukehren, ich reiße mich jetzt zusammen und laufe weiter. Rike hat recht, sie hat gesagt, ich soll wieder laufen, Rike hat immer recht, natürlich kann ich noch, das ist ja albern. Früher hat es auch meist eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten gedauert, bis ich nicht mehr darüber nachgedacht habe, ob ich noch kann oder nicht oder wie weit und wie lange ich heute kann, bis meine Beine nicht mehr aus Beton waren und ich es nicht mehr bereut habe, ausgerechnet heute zu laufen, überhaupt zu laufen, sondern das Gefühl hatte, ich kann noch eine ganze Weile weiterlaufen und bin zufrieden dabei. Ob das immer noch so ist, keine Ahnung, wie lange bin ich jetzt nicht mehr gelaufen? Sechs oder acht Jahre vielleicht, ewig jedenfalls, ich weiß nicht mehr, warum ich damals mit dem Laufen aufgehört habe, ich war doch ganz fit und habe es auch ganz gerne gemacht, aber das ist lange her, und jetzt tut mir nur noch der Schultergürtel weh. Irgendwann werde ich wieder dahin kommen, dass es von allein läuft, dass sich der Rhythmus so oft wiederholt hat, bis mein Körper zur Maschine wird, na klar, Maschine, mein Körper ist alles Mögliche, aber keine Maschine, er läuft nicht rund, und ob ich es überhaupt so lange schaffe, bis es besser würde, muss ich auch erst mal sehen. Eine halbe Stunde müsste ich doch hinbekommen für den Anfang, wenigstens eine halbe Stunde, früher bin ich eine ganze Stunde gelaufen, fast zehn Kilometer, aber da war ich noch keine vierzig, das werde ich jetzt nicht mehr schaffen, jedenfalls nicht auf Anhieb, aber eine halbe Stunde muss doch zu machen sein, so unfit kann ich nicht sein, oder wenigstens zwanzig Minuten, das ist ja praktisch gar nichts. Wenn ich nur den Beton von den Füßen bekäme, und wenn ich nur besser Luft bekäme, vielleicht habe ich ja eine Allergie entwickelt, meine Lunge pfeift, ich hatte zwar nie Heuschnupfen, aber vielleicht ist ja etwas in der Luft heute, vielleicht muss ich doch umkehren, ich kann nicht mehr.
Gut, ein bisschen geht noch, nur ein Stück, wenigstens bis zur Laterne, dann den Grünstreifen parallel zur Straße entlang bis zum Hammer Park und einmal durch den Park und durch den Grünstreifen wieder zurück nach Hause. Nach Hause. Notfalls zwischendurch ein Stück gehen, zum Beispiel jetzt, Blödsinn, ich bin gerade erst losgelaufen, ich muss langsamer laufen, aber laufen.
Laufen ist super, so schön stumpf, man muss gar nicht denken, ich kann sowieso nur über das Laufen nachdenken und über meinen Körper und gar nicht über den ganzen anderen Mist, weil das alles viel zu anstrengend ist, ich laufe mir die Grübelei weg, andere Leute laufen angeblich, weil sie dabei gut nachdenken können, ich kann an gar nichts anderes denken als an meinen Körper, ob er funktioniert, wie er funktioniert, wie das Laufen sich anfühlt, ob ich noch kann, und wenn ja, wie weit, und ob mir gerade etwas wehtut, oder was am meisten wehtut, als wüsste ich nicht, was am meisten wehtut, aber beim Laufen tut endlich der Körper weh, das ist jedenfalls besser, als vor dem Rechner zu sitzen und stundenlang bunte Kügelchen abzuschießen oder Karten zu sortieren und dabei immer an –
Dem Körper wehtun, das tut gut, ich kann nicht mehr, ich renne weiter. Sie haben sämtliche Hecken und Sträucher zurückgeschnitten, grauenhaft sieht das aus, brutal, alles auf Kniehöhe abgesägt, auf zig Metern Länge, den kompletten Grünstreifen entlang, alles tot, kleine Zweige, größere Sträucher, bis hin zu dickeren Baumstämmen, was alles durcheinanderwächst zwischen Fußweg und Straße, man kann überhaupt nicht mehr sehen, was da mal war, nur Stämme und Stümpfe mit frischen Schnitten, dahinter die Fahrbahn. Was ist noch mal eine Benjeshecke, das hatten wir in der Schule, du hättest es gewusst, das ist doch so was, wo alles Mögliche durcheinanderwächst, indem man abgeschnittene Äste und Zweige in den Boden steckt oder etwas in der Art, da wachsen ein paar Sachen an, andere nicht, und es ist super für die Vögel zum Nisten, muss ich zu Hause mal googeln. Aber ein städtischer Grünstreifen ist bestimmt etwas anderes, nicht so anarchisch, sondern geplant angelegt, und jetzt haben sie es abgeschnitten, auf der Wiese liegt das, was übrig ist, und das ist tot, ich könnte mir vielleicht ein paar Zweige mitnehmen und sie zu Hause in eine Vase stellen, vielleicht würden sie noch aufblühen, vielleicht auch nicht, wer weiß das schon, wie tot es wirklich ist, man staunt ja manchmal, was doch wieder austreibt, und beim Laufen kann ich sowieso nichts mitnehmen. Das, was noch im Boden festgewachsen ist, kommt bestimmt wieder neu, aber die beschnittenen Stümpfe sehen schrecklich verstümmelt aus, man möchte beinahe einen Verband drumwickeln und sie ein bisschen streicheln, es sieht aus, als könnte es nie wieder leben, aber das wird es wohl, und das ist doch alles eine beschissene Metapher. Ich kann nicht mehr, ich muss langsamer laufen oder ein paar Schritte gehen, aber ich will nicht gehen, ich will rennen, mir egal, ob ich noch kann, ich kann nicht mehr.
Alles, was ich über das Laufen weiß, ist, dass man gleichmäßig atmen soll, doppelt so viele Schritte ausatmen wie ein, ich atme zwei Schritte ein und vier aus, ein ein aus aus aus aus, ich sollte meine Schritte zählen, statt über Metaphern nachzudenken, atmen, einfach atmen, sagt Rike, immer weiteratmen, als wäre das so einfach, sag mal einem Ertrinkenden, er soll atmen, aber sie hat natürlich recht, wieso muss sie denn immer recht haben, das macht es doch auch nicht besser. Einatmen, ausatmen, ich kann nicht mehr, laufe trotzdem weiter, langsamer, ich muss langsamer laufen, natürlich kann ich noch, mein einer Fuß knackt immer noch bei jedem Schritt, bekomme ich Seitenstechen, ein ein aus aus aus aus, mein rechtes Knie tut weh, vielleicht brauche ich neue Schuhe, die alten sind ganz schön alt, ein paar Jahre habe ich sie nicht benutzt, aber die Verkäuferin hat damals gesagt, das Material ermüdet auch beim Rumstehen, es federt nicht mehr so gut, deswegen soll man trotzdem regelmäßig neue Schuhe kaufen, auch wenn man sie gar nicht benutzt hat, sonst macht man sich die Fußgelenke kaputt und als Nächstes die Knie und dann die Hüften, es pflanzt sich von unten nach oben fort. Sehe ich alles ein, aber ich muss erst mal wieder anfangen mit Laufen und gucken, ob ich diesmal dabeibleibe oder doch wieder aufgebe, ich fühle mich gar nicht, als könnte ich je wieder etwas durchhalten, fange dauernd Dinge an und bringe sie nicht zu Ende, kaufe ein und koche doch nicht, stelle die Waschmaschine an und lasse das nasse Zeug drin, bis es anfängt zu müffeln, und neben dem Bett liegt ein ganzer Stapel Bücher, von denen ich die ersten zehn Seiten gelesen habe, am liebsten will ich mir immer noch die Kapuze über den Kopf ziehen, aber damit ist jetzt Schluss, ich werde jetzt laufen. Ein ein aus aus aus aus, mein Kopf wummert, dabei ist es ganz schön frisch, es sah so sonnig aus, aber es ist nicht besonders warm, ich hätte die dickere Hose nehmen sollen, bloß gut, dass ich die Jacke drübergezogen habe. Ich habe Seitenstechen, atmen, ein ein aus aus aus aus, es wird schon gehen, beim Laufen wird einem warm genug, nur wenn man schwitzt und die Sachen nass sind und es kalt ist, friert man wieder, obwohl man schwitzt, wie bei Fieber. Mir ist heiß, mir ist kalt, mir tut alles weh, egal, ich laufe jetzt.
Vorhin war ich so sauer, dass ich deine Telefonnummer aus meinem Handy gelöscht habe, jetzt habe ich nicht mal mehr die, wozu auch, kein Anschluss mehr unter dieser Nummer, Rike würde sagen, das ist gut, das ist ein Schritt, und das weiß ich auch selbst, wahrscheinlich ist es gut, dass ich sie nie auswendig konnte, sie ist jetzt wirklich weg, wie alles andere, du bist überhaupt nicht mehr in meinem Telefon, Kontakt gelöscht, Visitenkarte gelöscht, deine Mailadresse habe ich noch im Kopf, vielleicht geht sie da irgendwann von allein weg, und vielleicht muss sie das auch gar nicht, soll sie doch drinbleiben, es geht sowieso so viel weg, und das will ich nicht, du sollst nicht weg sein, und dann will ich wieder, dass alles weggeht, alles, du sollst komplett raus aus meinem Kopf, aus meinem Herzen, sollst du natürlich nicht, sollst du doch, ich will das alles nicht, ich kann das nicht, was soll das überhaupt, ich renne viel zu schnell, ich kann nicht mehr.
Wonach hat der Mann auf der Parkbank gerade gefragt, ich habe ihn nicht verstanden, nein, sorry!, Geld vermutlich, er sieht wirklich sehr heruntergekommen aus, er muss mir doch ansehen, dass ich nichts dabeihabe, nichts dabeihaben kann, ich trage nur die Laufsachen, was sollte ich dabeihaben außer Handy und Haustürschlüssel, denn zu Hause ist niemand mehr, der mir aufmacht, vielleicht kann der Obdachlose nicht sehen, dass ich nichts dabeihabe, vielleicht kann er nicht sehen, dass ich nichts zu geben habe, vielleicht sollte ich stehen bleiben und ihm zuhören und ihn fragen, was er möchte, was er braucht, was ihm fehlt. Er hat bestimmt viel mehr Dreck erlebt als du, und klar, darum geht es gar nicht, der objektive Dreck tut nichts zur Sache, der ist ganz egal dafür, wie dreckig es einem geht, und ich habe dich ja oft genug gefragt, was dir fehlt und was du brauchst, und du wusstest selbst, dass dir nichts fehlte, was ich dir hätte geben können, und konntest nicht in Worte fassen, was du brauchst, du hast gesagt, du brauchst nichts, es geht schon, und dann ging es ja auch wieder.
Ich wollte doch nicht schon wieder an das alles denken, ich wollte mich so schinden, dass ich nur an meinen Körper denken kann, und ich kann auch nicht mehr, ich kann nicht mehr, alles tut weh, meine Lunge, meine Beine, der ganze Körper, ich kann den Kopf trotzdem nicht ausschalten, ich bekomme keine Luft mehr, ich muss langsamer laufen, bis zum Baum wenigstens noch, dann vielleicht ein paar Schritte gehen, mir ist heiß, es ist kalt, mein Knie tut weh, ich muss langsamer laufen.
Die zwei Wörter, die ich zu dem Obdachlosen gesagt habe, haben mich aus dem Atemrhythmus gerissen, zwei Wörter, wie peinlich, aber das war schon immer so, es gibt ja Leute, die sich beim Laufen unterhalten können, das konnte ich noch nie, sobald ich rede, gerät mein Atem aus dem Takt, als würde mir beim Bratschespielen jemand den Bogen festhalten, und dann geht gar nichts mehr, kein Rhythmus, keine Melodie, aber im Moment will sowieso niemand mit mir reden, fürs Laufen ist das besser, aber ich bin wohl auch sonst im Moment keine besonders unterhaltsame Gesellschaft, und auf mein Elend hat natürlich niemand Lust, außer Rike, dem Himmel sei Dank für Rike. Ein ein aus aus aus aus.
Was mag dem Obdachlosen zugestoßen sein, irgendetwas muss einen ja gründlich aus der Bahn werfen, damit man auf der Straße landet, wahrscheinlich erst ein Schicksalsschlag, dann der Alkohol, oder umgekehrt, das ist doch der Klassiker, manchmal finde ich den Gedanken auch ganz verlockend, mich auf eine Parkbank zu setzen und zu saufen. Ganz schön heldenhaft, stattdessen zu laufen, aber Rike sagt, ihre Oma sagt, Saufen kann man schon machen, wenn man Kummer hat, aber nur ein halbes Jahr lang, dann muss man damit aufhören, denn natürlich will ich nicht auf der Parkbank enden, oder vielleicht doch, einfach alles ertränken, bis ich tot von der Bank kippe oder im Dreck erstarre. Ein ein aus aus aus aus, ich setze mich nicht auf eine Parkbank und saufe, ich arbeite, man muss arbeiten, und man braucht feste Abläufe, morgens aufstehen, Probe, zu Hause üben, abends Vorstellung, drei Mahlzeiten täglich, so banal ist das, und so schwer ist das, morgens aufstehen, warum denn, duschen, wozu denn, anziehen, was denn, mir egal, wie ich aussehe oder ob ich den ganzen Tag im Bett liege. Bratsche üben, wie denn, wie soll ich Musik machen, wenn die Welt still geworden ist, wie soll ich Musik machen, wenn du –
Zum Glück gibt es inzwischen manchmal wieder Momente, in denen ich mich abreagieren kann mit der Musik und nicht nur mechanisch Noten abspiele und Fingerübungen mache, sondern tatsächlich Musik, dann tröstet sie mich auch, aber oft ist es immer noch die reine Pflichterfüllung, und das ist auch nicht ganz schlecht, denn gar nicht mehr zu spielen wäre auch keine Lösung. Ein ein aus aus aus aus, vielleicht ist Laufen sogar gut für die Musik, vielleicht macht es den Körper entspannter, natürlich nicht sofort, im Moment ist gar nichts entspannt, Körper nicht, Kopf nicht, aber auf die Dauer, wer weiß, vielleicht hilft es dem Kopf, wenn der Körper etwas macht, umgekehrt funktioniert es ja auch, wenn der Kopf nicht mehr kann, kann der Körper irgendwann auch nicht mehr.
Immerhin, obdachlos werde ich nicht, die neue Wohnung ist schön, ich mag sie, sie ist viel kleiner als die alte, aber für mich allein reicht sie, und sie ist bezahlbar. Was für ein Glück, dass ich kein Blasinstrument spiele oder Sängerin bin, das könnte ich gar nicht, mit diesem zugeschnürten Hals, wie machen das eigentlich Bläser, von Imke weiß ich, dass sie nicht auf Beerdigungen spielen kann, weil sie immer mitweinen muss und die Oboe nicht mehr unter Kontrolle hat. Der Bratsche macht das nichts, da hört man den Kloß im Hals nicht, und ein kleines bisschen kann man sich im Orchester auch verstecken. Ein ein aus aus aus aus, langsamer, ich breche gleich zusammen.
Bis zur Kurve geht es vielleicht noch, dann über die Straße, da kommen Autos, was für eine Erleichterung, ich muss kurz stehen bleiben, eine kleine Pause, und es ist nicht meine Schuld, dass ich nicht weiterlaufen kann. Manche laufen bei solchen Gelegenheiten ja auf der Stelle, bis es weitergeht, wie albern, wofür soll das gut sein, nur für das Gefühl, am Ende die ganze Strecke durchgelaufen zu sein, oder was, ich freue mich, dass ich kurz stehen bleiben und verschnaufen kann. Ich brauche gar keine großen Pausen, nur ganz kleine, ein paar Schritte Gehen reicht, um wieder zu Atem zu kommen, um die Muskeln kurz zu entspannen, hinterher denke ich meist, die paar Schritte hättest du auch noch durchlaufen können, aber manchmal braucht man eben eine Pause, bis es wieder geht, wie beim Zahnarzt, wenn man bei längeren Behandlungen zwischendurch kurz den Mund zumachen muss, sich kurz aufrichten und die verspannten Muskeln lockern, dann geht es wieder, dann kann man den Mund wieder aufmachen und er kann weiterbohren, wenn ich das bitte auch fürs Leben haben könnte, nur eine kleine Pause, in der alles gut ist, in der alles normal ist, in der ich kurz verschnaufen kann, eine Rast, bis es wieder geht, und eine Betäubung hätte ich dann auch gern, aber diese Traurigkeit ist eher wie seekrank sein, man kotzt und kotzt und möchte überhaupt nichts anderes mehr, als dass es aufhört, der Rest der Welt ist ausgeblendet, es soll nur aufhören, wenigstens kurz, nur Luft holen, und nach einer Weile geht es wieder, man kann sich dem Zeug wieder stellen, aber das geht nicht, die Seekrankheit macht keine Pause, die See macht keine Pause, es ist Sturm, es hört nicht auf zu schwanken, es hört nicht auf, wenn eine Welle vorbei ist, man ist nur ganz kurz ein bisschen erleichtert, aber die nächste Welle kommt viel zu schnell, bevor man sich erholen könnte, das Meer ist in Aufruhr, die Übelkeit hört nicht auf, man kotzt weiter und weiter und ist zu gar nichts mehr in der Lage, zu nichts. Aber auch bei der schlimmsten Seekrankheit wird man früher oder später im Hafen landen, und dann ist schlagartig alles wieder gut, vielleicht schwankt der Boden noch ein bisschen, vielleicht bekommt man Muskelkater vom Kotzen, aber es ist vorbei, und bei der nächsten Schiffsreise sind vielleicht gar keine Wellen, ich wünschte, ich wäre nur seekrank oder beim Zahnarzt oder würde nur rennen, ich wünschte, ich könnte eine Pause machen, eine Pause vom Heulen und Zähneklappern und Kotzen, eine Pause, in der ich nicht diesen Klumpen im Bauch habe, diesen Stein, diesen eckigen, scharfkantigen, stinkenden Stein aus verkrustetem Rotz und Schnodder, der mich nach unten zieht, und da unten stinken wir zusammen, ich möchte eine Pause, ich kann nicht mehr.
Wie lang mag die Strecke sein, bis zum Park, einmal durch und wieder zurück, auf Google Maps sah es aus wie eine gute Strecke, mal sehen, was die App hinterher sagt, die ich mir runtergeladen habe, ich fühle mich, als wäre ich schon ewig unterwegs, als wäre ich die längste Strecke gelaufen, die jemals ein Mensch geschafft hat, wahrscheinlich ist es noch gar nichts. Ein ein aus aus aus aus, ich kann nicht mehr, glaube ich, aber irgendwie geht es doch, wie oft habe ich im letzten Jahr gedacht, ich kann nicht mehr, aber ich bin ja noch da, das gilt bestimmt auch fürs Laufen, man ist nur kaputt, aber es geht doch. Es ist offenbar wirklich Zeit, etwas für meinen Körper zu tun, ich bin überhaupt nicht mehr fit, mir tut alles weh und alles wabbelt, komisches Gefühl. Das wird hoffentlich bald besser, wenn ich jetzt öfter laufe, falls ich öfter laufe, falls ich das beibehalte, dann werde ich straff und schön und fit, wenigstens das, als wäre es nicht vollkommen egal, ob ich straff und schön und fit bin, als könnte ich nicht ebenso gut im Bett liegen bleiben und auf dem Laptop Kügelchen abschießen und Chips in mich reinstopfen und der Welt abhandenkommen, aber damit wäre auch niemandem geholfen, vor allem mir nicht.
Rike sagt, es wird jetzt besser, ein Jahr ist rum, ein Jahr lang habe ich alles zum ersten Mal ohne dich gemacht, mein erster Geburtstag ohne dich, kein Sommerurlaub, weil ich nicht allein wegfahren wollte und weil ich sowieso kein Geld hatte, weil ich deine Miete mitbezahlen musste und weil Rike und die Kinder schon mit Olivers Familie verplant waren, dein erster Geburtstag ohne dich, ich habe wieder alles falsch gemacht an deinem Geburtstag, aber wie soll man so etwas denn richtig machen, ich habe allein am Hafen ein Bier auf dich getrunken, obwohl es genauso widerlich geschmeckt hat, wie Bier immer schmeckt. Zum ersten Mal unser Jahrestag ohne dich, der war dir heilig, immer hast du mir Blumen gebracht, und ich habe den Tag meistens vergessen, überhaupt, deine Blumensträuße, dass du so eine Freude daran hattest, mir Blumen zu bringen, einfach so, andere Frauen haben mich darum beneidet. Ich hatte oft Blumen. Das erste Weihnachten und Silvester ohne dich, niemand hat mir zu Weihnachten Käse geschenkt, alles habe ich jetzt einmal ohne dich gemacht, und alles war furchtbar, aber ab jetzt mache ich es nicht mehr zum ersten Mal ohne dich, denn neulich war dein erster Todestag, davor werde ich nie weglaufen können, aber vor deinen Eltern, vor denen kann ich weglaufen, und zwar so schnell und so weit wie möglich, aber wenn ich weiterhin so renne, komme ich nicht mehr besonders weit, ich kann nicht mehr, ich muss langsamer laufen, mir ist schlecht.
Rike meint, nach einem Jahr wird es besser, aber dann hat dein Todestag mir noch mal richtig eine reingehauen, du hast an deinem Geburtstag immer gesagt, du wirst sowieso jeden Tag einen Tag älter, also braucht man um seinen Geburtstag nicht so ein Trara zu machen, und genauso bist du jetzt sowieso jeden Tag einen Tag länger tot, und trotzdem haut der eine Tag mich genauso um, wie dich deine Geburtstage immer umgehauen haben, nur mit der tausendfachen Wucht, mitten in den Bauch. Deine Eltern kann ich immer noch nicht ertragen, gelegentlich musste es sein, weil noch Dinge zu regeln waren, dein Vater guckt mir gar nicht mehr in die Augen, er guckt nur stumm an mir vorbei, deine Mutter ist ein einziger Vorwurf, als hätte ich es ahnen können, als hätte ich es wissen müssen, als hätte ich es verhindern können, als würde ich mich nicht selbst dauernd fragen, ob ich es hätte merken können, müssen, sollen, das hätte ich vielleicht, natürlich hätte ich es merken müssen, aber das habe ich nicht, und vielleicht hätte ich es auch nicht können, wie denn, ich habe gemerkt, dass es dir nicht gut ging, aber überhaupt nicht kapiert, dass es so schlimm war, wie hätte ich es denn wissen sollen, du hast gesagt, es wäre diesmal nicht so schlimm und du bräuchtest keine Hilfe und wenn doch, würdest du wieder zum Superdoc gehen, und ich habe dir geglaubt, du warst ja immer noch lustig, manchmal jedenfalls, denn wenn die Seele kaputtgeht, heißt das nicht, dass auch der Humor kaputtgeht, aber das weiß ich erst jetzt. Deine Eltern tun, als wäre es meine Schuld, dabei mache ich mir die Vorwürfe doch schon selbst, und das ist überhaupt das Schwierigste, mir nicht selbst die Schuld zu geben, was für ein Quatsch, das Schwierigste, alles ist das Schwierigste, alles, der Alltag, der Nichtalltag, dieses Loch, wo du sein solltest, sogar in der neuen Wohnung, wo du nie warst, sogar da fehlst du, ich dachte, vielleicht wird es in der neuen Wohnung besser, und ein bisschen ist es das auch, weil es nur meine ist, nicht unsere, aber wie stellst du dir das denn vor, dass ich ohne dich leben soll? Ein paarmal hätte ich beinahe verwitwet irgendwo angekreuzt, denn so fühlt es sich an, selbstverständlich bin ich verwitwet, ich war richtig wütend, dass ich nicht verwitwet ankreuzen durfte, bloß weil wir nicht verheiratet waren, ich fühle mich aber verwitwet, das muss man doch ankreuzen können. Ledig, was für ein Unsinn, ich bin doch nicht ledig, das klingt ja wie Single, als wäre ich auf der Suche, ich bin nicht auf der Suche, ich bin verloren. Verwitwet und verloren.
Ein ein aus aus aus aus, ich traue mich kaum auf den Friedhof, vor lauter Angst, deine Eltern zu treffen, sie sind andauernd da, vor allem zu all diesen Gelegenheiten, Geburtstag, Todestag, was auch immer, und bepflanzen das Grab neu, ich will sie am liebsten überhaupt nie mehr sehen, nachdem sie mir so deutlich klargemacht haben, was sie von mir halten, sie fanden mich schon immer komisch, Orchestermusikerin, das ist doch kein Beruf, so wenig reell, weil Musik in ihrer Welt höchstens als Hobby vorkommt, und sie haben nie verstanden, wieso ihr handfester und normaler Sohn mit der Oldtimerwerkstatt überhaupt eine Frau mit so einem abseitigen Beruf hat, und meine Bücher überall in der Wohnung und die Noten, das fanden sie alles zweifelhaft und unverständlich, aber irgendwie hatten wir uns dann doch arrangiert, und jetzt benehmen sie sich, als hätte ich dich umgebracht, und wie sie gesagt haben, wir seien schließlich nicht verheiratet gewesen, und deswegen alles selbst bestimmt haben, die Beerdigung, wo und wie du bestattet wurdest, natürlich bei ihnen in Elmshorn, nicht bei mir in Hamburg, wir waren schließlich nicht verheiratet, und welche Musik auf der Beerdigung gespielt wurde, sie sind gar nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich auf der Beerdigung spielen möchte, das hätte ich auch gar nicht gekonnt, aber ich hätte gewusst, welche Musik du hättest hören wollen, und ich hätte die anderen aus meinem Quartett fragen können, ob sie etwas spielen, und Bettina, ob sie singt, aber das wollten sie alles nicht, und ich war zu gelähmt, um mich durchzusetzen, und deswegen hast du jetzt diese Spießerbeerdigung bekommen. Du hättest diese grässlichen Kirchenlieder gehasst, du hättest überhaupt keine kirchliche Beerdigung gewollt, das müssen sie auch gewusst haben, aber sie wollten nichts davon hören, weil man die Dinge nun mal so macht, wie man sie eben macht, und ich habe es über mich ergehen lassen, weil ich nicht die Kraft hatte, mich für dich zu wehren. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt religiös sind oder ob sie das nur wollten, weil es sich so gehört, manches macht man eben in der Kirche, Taufe, Hochzeit, Beerdigung, aber damit ist es auch gut, dann kann man weitermachen wie bisher, und ich Trottel habe noch gedacht, die armen Eltern, die trauern ja ebenfalls, lass sie, wenn es ihnen ein Bedürfnis ist, aber diese Selbstverständlichkeit, mit der sie erwartet haben, dass ich ihnen mein Beileid bekunde, aber umgekehrt gar nicht auf die Idee kamen, die ging mir vor lauter Schmerz erst viel später auf, ich verstehe ja, dass Eltern um ihren Sohn trauern, auch wenn sie ihn sonst nicht gerade mit Zuwendung überschüttet haben, und ich verstehe auch, dass sie die Dinge so haben wollten, wie sie sie eben haben wollten, aber dass sie mich dabei behandelt haben, als wäre ich höchstens eine Episode in deinem Leben gewesen, das habe ich ihnen wirklich übel genommen, dass sie offenbar überhaupt nicht auf die Idee kamen, dass es mir genauso dreckig geht wie ihnen, vielleicht noch dreckiger, denn in ihrem Alltag hast du längst keine Rolle mehr gespielt, in meinem schon, in jeder Sekunde meine ich, du müssest jetzt die Tür aufmachen, jede Sekunde will ich dir etwas erzählen, jede Sekunde fehlst du, ich kaufe immer noch zu viel ein, so viel hast du doch gar nicht gegessen, aber ich habe immer zu viel von allem, zu viele Karotten, dauernd kaufe ich aus alter Gewohnheit Karotten, ich habe mich nie richtig daran gewöhnt, dass du Wurzeln gesagt hast, die hast du gerne gegessen, roh, manchmal bereits zum Frühstück, und ich habe immer welche gekauft, und jetzt verfaulen mir die Wurzeln, aber ich habe nicht nur zu viele Wurzeln, sondern auch zu viel Liebe, ich weiß gar nicht, wohin mit der Liebe, die kann ich ja nicht einfach auf jemand anderen kippen. Manchmal kaufe ich absichtlich deine Lieblingssachen und esse sie selbst, manchmal sogar Sachen, die ich gar nicht mag, Lakritz finde ich gelegentlich ganz okay, aber wenn ich jemals anfange, Marzipan zu essen, bloß weil du das mochtest, oder Bier zu trinken, dann, sagt Rike, macht sie sich wirklich Sorgen. Das Bier an deinem Geburtstag war etwas anderes, sagt sie, und dass sie mitgemacht hätte, wenn sie nicht mit der ganzen Familie bei ihrem Vater gewesen wäre. Deine Eltern wissen nicht mal, was du gerne mochtest, sie wissen nur, was du als Kind gemocht hast, das mit den Wurzeln wussten sie gar nicht, weiße Schokolade, haben sie gesagt, hat er gern gegessen, und ich habe die Klappe gehalten, in Wahrheit fandest du weiße Schokolade bescheuert, du hast gesagt, vielleicht könntest du sie besser akzeptieren, wenn sie nicht »Schokolade« hieße, denn Schokolade sei doch dadurch definiert, dass sie Kakao enthalte, und weiße Schokolade sei also erstens keine Schokolade und zweitens würde sie so unentschlossen schmecken. Das habe ich ihnen alles nicht gesagt, weil ich dachte, es ist vollkommen egal, sollen deine Eltern doch glauben, du hättest weiße Schokolade gemocht, vielleicht hast du das als Kind, aber seit mindestens zehn Jahren, seit ich dich kenne, findest du weiße Schokolade blöd, und es ist mir eine miese, kleine Freude, sie in dem Glauben zu lassen, obwohl ich weiß, dass sie etwas Falsches über dich denken, das ist vielleicht böse, aber ich komme nicht dagegen an, und es würde ja auch nichts besser machen, wenn ich es ihnen sage, und du Idiot kannst es jetzt auch nicht mehr aufklären.