Läuft bei uns - Steffen Weinert - E-Book

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Steffen Weinert

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Beschreibung

«In Gedanken zähle ich die Tage bis zum Ende der Pubertät. Es sind noch viele. Sehr, sehr viele.» Sebastian Schulz, alleinerziehender Vater der 14-jährigen Mathilda, ist entsetzt, als seine Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben eine Vier mit nach Hause bringt. Da das Kind sein wichtigstes Projekt ist, lässt er alles stehen und liegen und fahndet nach der Ursache. Doch die ist glücklicherweise schnell gefunden. Sebastian ist überzeugt: Sein Kind ist hochbegabt und deswegen in der Schule einfach nur unterfordert. Allerdings - er ist so ziemlich der Einzige, der an diese Theorie glaubt …

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Seitenzahl: 197

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Steffen Weinert

Läuft bei uns

Ein Vater-Tochter-Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«In Gedanken zähle ich die Tage bis zum Ende der Pubertät. Es sind noch viele. Sehr, sehr viele.»

 

Sebastian Schulz, alleinerziehender Vater der 14-jährigen Mathilda, ist entsetzt, als seine Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben eine Vier mit nach Hause bringt. Da das Kind sein wichtigstes Projekt ist, lässt er alles stehen und liegen und fahndet nach der Ursache. Doch die ist glücklicherweise schnell gefunden. Sebastian ist überzeugt: Sein Kind ist hochbegabt und deswegen in der Schule einfach nur unterfordert. Allerdings – er ist so ziemlich der Einzige, der an diese Theorie glaubt …

Über Steffen Weinert

Steffen Weinert, Jahrgang 1975, hat an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und arbeitet heute vor allem als Autor und Regisseur. Sein Kurzfilm «Der Aufreißer» lief auf mehr als 60 nationalen und internationalen Filmfestivals und hat mehr als 20 Preise gewonnen. Sein Langfilmdebüt «Finn und der Weg zum Himmel» wurde unter anderem auf den Festivals in Shanghai, Stuttgart und Biberach gezeigt sowie vom SWR und BR ausgestrahlt. Im November 2016 erschien sein Roman «Die Netten schlafen allein» bei Rowohlt, den er in Kürze mit Kostja Ullmann in der Hauptrolle selbst verfilmen wird.

Ich habe keine Rituale, bloß die Dinge,

die man immer gleich macht

Michael Ballack

1

«Mathilda, mein Schatz. Aufstehen. Frühstücken», flüstere ich meiner Vierzehnjährigen sanft ins Ohr und ernte wie jeden Morgen die gleiche Reaktion. Nämlich keine.

Ein mehrmaliges Wiederholen meiner Worte in zunehmender Lautstärke entlockt ihr dann immerhin ein gutturales Grunzen, das entfernt an den Brunftschrei eines Wasserbüffels erinnert und wohl so etwas bedeuten soll wie «geh weg». Ihre Liegeposition bleibt derweil aber unverändert.

Ganz offensichtlich gehorcht ihr Körper ihr noch nicht. Ein typisches Problem von Heranwachsenden. Ich als fürsorglicher Vater bin aber natürlich gern bereit, ihr bei ihrem Problem zu helfen.

Ich gehe also ins Bad, halte dort meine Hände einige Sekunden lang unter kaltes Wasser, kehre ins Kinderzimmer zurück, schiebe meine nun feucht-kalten Hände unter Mathildas Bettdecke und lege sie ihr auf den Rücken.

Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten: Mathilda windet sich, schlägt mit Armen und Beinen aus, und ich muss höllisch aufpassen, dass sie mir kein blaues Auge verpasst. Danach richtet sie sich katapultartig auf und blickt mich grimmig an. «Pa-pa! Mann!»

«Ma-thil-da! Kind!», antworte ich und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. «Wunderschönen guten Morgen! Gut geschlafen?»

«Bin noch nicht fertig damit.»

«Doch, bist du.» Ich ziehe ihr die Bettdecke weg, öffne die Gardinen, dann das Fenster und hänge die Decke zum Auslüften über den Sims.

Mathilda krümmt sich in Embryonalstellung auf der Matratze. «Ist kalt.»

«Ja, ist kalt.»

«Mach zu.»

«Nein, ich mach nicht zu.»

«Doch. Ich werde sonst krank.»

«Nein. Wirst du nicht.»

«Ist kalt.»

«Ja, ist kalt. Im Bad ist warm.»

Ein letztes Aufbäumen, dann quält sie sich endlich grummelnd aus dem Bett und trottet ins Bad.

Während sie sich ihrer Morgenhygiene widmet, mache ich Kaffee und Rührei, presse Orangen aus und schneide Äpfel auf. Danach schmiere ich ein Pausenbrot, das ich anschließend in dem Jutesack verstaue, mit dem Mathilda ihre Schulsachen transportiert.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie schließlich in die Küche. «Ich hab gar keine Zeit zum Frühstücken.»

«Ich weiß. Iss trotzdem was.»

Ohne sich zu setzen, zieht sie ihre Schuhe an, trinkt einen Schluck Orangensaft, beißt ein Stück von ihrem Brot ab und schiebt sich eine Gabel voll Rührei in den Mund. Dann schultert sie den Jutesack, gibt mir einen flüchtigen Abschiedskuss und geht.

«Tschüs.»

«Tschüs, meine Liebe, und viel Spaß in der Schule.»

«Sehr witzig, Papa.»

Ich warte darauf, dass die Tür ins Schloss fällt und mein Tag beginnen kann. Doch das erlösende Geräusch bleibt aus, stattdessen kommt Mathilda zurück. Sie hält ein Blatt Papier in der Hand, welches sie vor mich auf den Tisch legt. Zeitgleich drückt sie mir einen Stift in die Hand.

«Hab ich ganz vergessen. Das musst du noch schnell unterschreiben.»

«Wie? Schnell unterschreiben?», frage ich und fühle mich ein klein wenig überrumpelt. «Warum gibst du mir das erst jetzt?»

«Vergessen.»

Ich überfliege das Blatt und folgere aufgrund von Signalwörtern wie «Zellteilung» und «Membran», dass es sich um eine Biologie-Arbeit handeln muss.

«Kannst du dich bitte beeilen?», drängelt Mathilda. «Ich bin spät dran.»

Ich tue ihr den Gefallen, setze meine Unterschrift in die untere rechte Ecke des Blattes und widme mich dann wieder meiner Zeitung. Mathilda ist zufrieden und steckt die Arbeit in ihren Jutesack.

Doch dann fällt mir plötzlich ein, dass ich gar nicht gesehen habe, welche Note auf dem Blatt stand. Warum eigentlich nicht? Bisher musste ich mir über Mathildas schulisches Vorankommen zwar keine Sorgen machen, denn sie bringt seit jeher ausschließlich Einsen und Zweien mit nach Hause, aber die Zensur ist doch die entscheidende Information, wegen der die Eltern die Arbeiten unterzeichnen müssen.

«Kann ich das noch mal sehen, bitte?», frage ich, kurz bevor sie die Wohnung endgültig verlässt.

«Warum?»

«Weil ich was nachsehen will.»

«Was denn?»

«Mathilda, gib mir die Arbeit, bitte.»

«Ich muss los.»

«Kannst du gleich. Aber vorher gibst du mir die Arbeit.»

Mathilda blickt mich wenig kooperativ an, tut dann aber doch, was ich von ihr verlange, und fischt das Blatt wieder hervor.

Auch beim erneuten Überfliegen kann ich die Note nicht auf Anhieb entdecken. Doch dann folge ich einer Eingebung und hebe das gelbe Post-it mit der Aufschrift «Bitte unterschreiben lassen» ein wenig an und blicke darunter. Schlagartig entweicht jegliches Blut aus meinem Gesicht. «Eine Vier?», frage ich entsetzt.

Mathilda zuckt mit den Achseln. «Kann doch mal passieren, oder?»

Ich versuche, mich zusammenzureißen. Aber es klappt nicht, denn aus einer Vier wird schnell mal eine Fünf und aus einer Fünf eine Sechs, und ab da ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass meine Tochter fortan nicht mehr im Klassenzimmer sitzt, sondern es putzt. «Darüber müssen wir dringend reden, Mathilda.»

«Machen wir, Papa. Aber nicht jetzt, denn jetzt muss ich zur Schule. Sonst gibt’s noch mal ’ne Vier, und das willst du doch nicht, oder? Bis später.» Spricht’s und ist so schnell zur Tür hinaus wie noch nie.

2

Mathilda und ich. Wir beide sind eigentlich ein Dream-Team. Normalerweise zumindest. Es sieht zwar manchmal nicht so aus, aber unsere Beziehung ist seit jeher sehr eng.

Wir vertrauen uns. Wir schätzen uns. Wir lieben uns. Letzteres ganz besonders. Auch wenn Mathilda diese drei Worte in den vergangenen Jahren nicht mehr sehr häufig über die Lippen gekommen sind, bin ich mir sicher, dass sie es genauso empfindet wie ich.

Früher waren bei ihr Liebesbekundungen Usus. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit gestand sie mir, wie sehr sie mich doch liebt: «So sehr» nämlich, und dieses «so sehr» veranschaulichte sie dann, indem sie ihre Arm so weit sie konnte ausbreitete.

Dass es jetzt seit längerem keinerlei verbale Liebesbezeugung mehr gegeben hat, liegt, schätze ich, an der Pubertät. Sobald diese durchgestanden und Mathilda nicht mehr so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, wird sie in diesem Punkt bestimmt wieder etwas spendabler. Zumindest hoffe ich das.

Früher, so mit sechs oder sieben, nannte sie mich immer «den besten Papa der Welt». So oft und mit solcher Inbrunst, dass ich es eine Weile lang auch wirklich geglaubt habe. Obwohl ich wusste, dass ich täglich mindestens zwanzig Erziehungsfehler machte. Für sie war ich trotzdem der beste Papa der Welt. Diese Zeit war wunderschön.

Ich sehne mich oft nach jener bedingungslosen Liebe zurück. Die süßen Worte des Nachwuchses funktionieren ein bisschen wie Drogen. Man wird süchtig danach. Und wenn der Dealer einem plötzlich den Stoff verweigert, wird man ganz nervös und muss aufpassen, dass man keine unsinnigen oder schädlichen Dinge anstellt, um dennoch daran zu kommen. Wie zum Beispiel zu versuchen, ihn mit immer größer werdenden Geburtstagsgeschenken zurückzukaufen.

Ich habe diesem Drang glücklicherweise immer widerstanden. Glaube ich zumindest. Natürlich mache ich meinem Kind gern eine Freude, aber übermäßig teure Anschaffungen wie zum Beispiel das lange gewünschte Pony – samt Stellplatz, Futter, Impfungen und allem anderen, was noch dazu gehört – hat es nicht gegeben, obwohl ich es mir mittlerweile leisten könnte.

Mathilda hat es meinem Empfinden nach ganz gutgetan, dass es in unserem Miteinander klare Regeln und Prinzipien gibt, auf die sie sich verlassen kann. Ich bin ein liebevoller Vater, aber vielleicht auch ein kleines bisschen streng, das muss ich schon zugeben. Mir ist wichtig, dass Bettgehzeiten penibel genau eingehalten werden, dass sich Mathilda einmal im Monat von unserem Hausarzt durchchecken lässt, dass sie nur das isst, was wir besprechen, und dass sie mich anruft, wenn sie mal abends oder am Wochenende bei einer Freundin ist. Einmal, wenn sie dort ankommt, und ein zweites Mal, wenn sie von dort aufbricht.

Ganz normale Regeln eben, die es in jeder anderen Familie auch gibt.

3

Mein Verleger Dr. Heiko Hessler begrüßt mich wie immer blendend gelaunt. Ganz richtig, ich habe einen Verleger. Denn ich bin ein sehr bekannter Schriftsteller. Genauer gesagt, bin ich eine sehr bekannte Schriftstellerin, denn ich schreibe unter dem Pseudonym Lore Lachmund. Lediglich meinen ersten Roman Das Raunen der Regenwürmer habe ich unter meinem richtigen Namen Sebastian Schulz veröffentlicht. Ich habe fünf Jahre daran geschrieben, laut Verlag hat er sich dann insgesamt 36 Mal verkauft.

Nein, das ist nicht viel. Ich bezweifle zudem auch, dass diese 36 Menschen das Buch überhaupt zu Ende gelesen haben. Bei einem 800-Seiten-Werk, das überwiegend aus Naturbeschreibungen besteht, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering.

Nach diesem finanziellen Desaster folgte eine kurze, aber nicht minder schmerzvolle künstlerische Krise, aus der mich erst mein Kumpel Heiko befreite, indem er mich dazu überredete, unter weiblichem Pseudonym bittersüße Liebesromane für die Frau zwischen dreißig und fünfzig zu schreiben.

Und er hatte recht. Lore Lachmunds erstes Buch Dornrösel schaffte auf Anhieb den Sprung in die Bestsellerlisten. Genauso erging es den beiden Folgetiteln Schneeweißel und Rosenrötel. Alle drei Romane wurden verfilmt, was den Absatz noch mal vervielfachte. Dadurch wuchs nicht nur meine – beziehungsweise Lore Lachmunds – Bekanntheit beträchtlich, sondern auch unser gemeinsamer Kontostand. Seitdem haben wir einen Lauf, die Lore und ich, denn die folgenden sechs Romane wurden allesamt ebenfalls Bestseller.

«Hallo, Heiko. Wie geht’s dir?», frage ich etwas außer Atem, denn die letzten beiden Stockwerke zu seinem lichtdurchfluteten Dachgeschossbüro muss man ohne Lift zurücklegen, und Sport bereitet meiner Meinung nach nur dann Freude, wenn man ihn passiv betreibt, sprich zusieht. Das hat sich mit den Jahren natürlich auf meine Kondition ausgewirkt.

«Großartig. Wirklich großartig geht’s mir. Ich habe eine neue Bekanntschaft gemacht. Fünfzehn Jahre jünger. Nymphomanin und eine Granate, sag ich dir.»

Heiko sieht ganz und gar nicht aus wie jemand, der sich den ganzen Tag mit Literatur beschäftigt. Man könnte ihn eher für einen Supermarktleiter oder Gebrauchtwagenhändler halten. Braun gebrannt, Polohemd, Karojackett, wild wuchernde Brustbehaarung, Bürstenhaarschnitt. Und durchtrainiert. Äußerlich also das genaue Gegenteil von mir. Auch charakterlich könnten wir nicht unterschiedlicher sein. Ohne überheblich klingen zu wollen: Heiko ist deutlich einfacher gestrickt als ich und in erster Linie an seiner Bedürfnisbefriedigung interessiert. Und vermutlich genau aus diesem Grund immer wesentlich entspannter, selbstzufriedener und glücklicher als ich.

«Das freut mich für dich», sage ich, lege mein hellgraues Sportsakko – das ich immer zu Außenterminen trage – ab und lasse mich aufs Sofa plumpsen. «Wie geht’s deiner Frau?»

Eine Millisekunde lang meine ich die Spur eines schlechten Gewissens über Heikos Gesicht huschen zu sehen, doch vielleicht täusche ich mich, denn als ich blinzle, ist der Ausdruck auf seinem Gesicht wieder verschwunden, und ich sehe sein breites, selbstsicheres Grinsen.

«Eins-a-Themenwechsel, Lore. Aber danke der Nachfrage. Frau und Kinder sind wohlauf. Ihnen geht es ebenfalls hervorragend, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Mika hat von mir ein neues Sportcoupé bekommen, was sie sehr glücklich macht, und den Drillingen habe ich ein Pony geschenkt. Und bei dir? Wie läuft’s privat?»

«Alles wie gehabt», antworte ich wahrheitsgemäß.

«Frauen?», fragt Heiko vorsichtig.

Diese Frage stellt er immer. Ich schüttle milde lächelnd den Kopf. «Ich konzentriere mich auf Kind und Karriere, weißt du doch.»

Heiko nickt nachdenklich. «Na gut. Dann lass uns doch mal über die Idee für dein neues Buch sprechen.»

«Sehr gern», erwidere ich, und im gleichen Moment durchströmt mich ein angenehmes Kribbeln. Selbst nach insgesamt zehn veröffentlichten Büchern bin ich in Momenten wie diesem nach wie vor ein wenig aufgeregt. Doch die Erfahrung zeigt, dass ich es nicht sein müsste, denn in der Regel kommen von Heiko ausschließlich begeisterte Kommentare wie «Knalleridee», «Das verkauft sich wie geschnitten Brot» oder «Du bist ein Genie». Doch heute wirkt er nicht ganz so überschwänglich wie sonst. Streng genommen, scheint sogar genau das Gegenteil der Fall zu sein.

«Also: Ich habe deinen Pitch mit großem Interesse gelesen …»

«Okay.» Das fängt gar nicht gut an. ‹Mit großem Interesse› bedeutet so viel wie ‹Das Lesen bereitete mir körperliche Schmerzen›.

«Und die Grundkonstellation von Sabine und der Sultan finde ich auch schon ganz gut.»

«Okay.» Meine innere Anspannung nimmt deutlich zu. Die Grundkonstellation findet er schon ganz gut. Was meint er damit? Dass es eine Liebesgeschichte ist, in der eine Frau und ein Mann vorkommen?

«Aber …» Er hält inne und scheint mit sich zu ringen, ob er den Satz zu Ende führen soll oder lieber nicht.

Ich rutsche unruhig auf meinem Platz hin und her. «Jaaa?», sage ich ungeduldig, nachdem er das Weitersprechen eine Spur zu lange hinausgezögert hat.

«Lass mich ehrlich zu dir sein, Sebastian. An der Idee ist an sich nichts auszusetzen. Eine Liebesgeschichte zwischen einem Scheich und einer Bombenentschärferin habe ich so noch nicht gelesen. Das könnte originell und lustig werden. Das könnte ein typischer Lore Lachmund werden.»

«Könnte?», frage ich irritiert. «Du meinst wahrscheinlich, es wird originell und lustig, oder?»

«Nein, genau das meine ich nicht …»

«Nein?»

«Nein, denn ich glaube … na, wie soll ich es ausdrücken?»

Wieder macht er eine viel zu lange Pause.

Ich trommele ungeduldig mit meinen Fingern auf der Sofalehne.

«Ich glaube, es gibt ein Problem mit der Ausführung.»

«Aha … Wie meinst du das?»

«Ich habe das Gefühl, dass dir … dass dir langsam der … Sprit ausgeht.»

«Der Sprit?»

«Ja. Beim vorletzten Titel hatte ich schon so eine Ahnung, beim letzten hat sich dieses Gefühl noch mal verstärkt. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber ich habe den Eindruck, deine Texte werden mit der Zeit irgendwie … papierener. Sie wirken ausgedacht. Leidenschaft, Originalität und Esprit werden von Buch zu Buch weniger. Kurz: Meine Faszination nimmt ab. Und das beunruhigt mich. Vor allem, weil sich das ja auch bei den Verkaufszahlen bemerkbar macht.»

«Wie? Das macht sich bei den Verkaufszahlen bemerkbar? Was soll das denn heißen?»

«Wir verkaufen von jedem neuen Buch weniger Exemplare. Das soll es heißen. Nicht dramatisch weniger, zum Glück, aber der Trend ist nicht zu leugnen.»

Ich nicke und bemühe mich, die Fassung zu bewahren. Vor meinem inneren Auge ziehen die kommenden Stationen meines Lebens vorüber: einbrechende Verkaufszahlen, ausbleibende Buchverträge, Privatinsolvenz, Obdachlosigkeit, Mathilda im Heim, Alkoholismus, Wut gegen das System, Ausraster, Sachbeschädigung, Kontaktverbot.

Heiko spricht einfühlsam weiter. «Ich habe lange drüber nachgedacht, woran das liegen könnte. Warum der schleichende kreative Niedergang bei meinem Star-Autor? Eine befriedigende Antwort habe ich allerdings noch nicht gefunden. Aber ich habe eine Vermutung.» Er blickt mich lange und ernst an.

«Lass die Pausen, Heiko. Die machen mich wahnsinnig. Sprich einfach weiter.»

Heiko streckt die Hände entschuldigend von sich und holt dann Luft, um mir seine Vermutung zu präsentieren. «Also: Ich fürchte, es liegt daran, dass dein Erfahrungsschatz in Sachen Liebe mittlerweile aufgebraucht ist.»

«Aha, fürchtest du?»

«Ja, fürchte ich», erwidert er und unterstreicht diese Aussage bedeutungsschwanger mit mehrmaligem bedächtigen Nicken. «Wie lange warst du mit keiner Frau mehr zusammen?»

«Wieso? Das spielt doch keine Rolle.»

«Vielleicht doch. Sieben, acht Jahre etwa?»

«Ziemlich genau zehn.»

Er nickt wieder, und zwar so, als wäre damit alles klar. «Du musst mal wieder was erleben. Raus in die Welt. Spaß haben!»

Ich schüttle entschieden den Kopf. «Ich habe genug Spaß in meinem Leben. Auf der Herfahrt habe ich zum Beispiel ein Radioessay über Walter Gropius und die Bauhausbewegung gehört.»

«Genau das meine ich», ruft Heiko. «Diese Lustfeindlichkeit kann auf Dauer einfach nicht gesund sein. Und besonders dann nicht, wenn man in so einem Bereich arbeitet, wie du es tust.»

«Mach dir mal um mich keine Sorgen», blocke ich ab.

«Das tue ich aber, und deswegen habe ich mir gedacht, Heiko, hab ich mir gedacht, da musst du was unternehmen, damit dein bestes Pferd im Stall auch weiterhin dein bestes Pferd bleibt.» Er klatscht einmal in die Hände, geht dann zu seinem Schreibtisch, holt einen Umschlag aus der Schublade, kommt zurück und überreicht mir diesen mit einem Schmunzeln im Gesicht. «Für dich. Um dir den Wiedereinstieg zu erleichtern.»

Mit mulmigem Gefühl im Magen öffne ich den Umschlag, ziehe die darin befindliche Karte heraus und sehe sie mir zuerst neugierig, dann aber mit zunehmendem Entsetzen an. «Ein Puff-Gutschein?! Geht’s noch?!»

«Puff-Gutschein! Ich bitte dich. Das ist ein Gutschein für ein Arrangement: ‹Herrenabend› mit zwei Damen deiner Wahl im wirklich sehr geschmackvollen Sauna-Club Melanie», korrigiert mich Heiko.

«Und was ist daran jetzt kein Puff-Gutschein?»

«Nennen wir es ‹Freizeitpark für den erwachsenen Mann›», schlägt Heiko in beruhigendem Ton vor.

«Nenn es, wie du willst, ich gehe da auf gar keinen Fall hin.»

«Komm schon …»

«Nein!»

«Auch nicht, wenn ich mitkomme?», fragt er und zwinkert mir komplizenhaft zu.

«Dann erst recht nicht», antworte ich barsch. «Für Sex zahlen ist sowieso ein absolutes No-go. Das mache ich nicht.»

«Muss du doch auch gar nicht», interveniert Heiko. «Ich hab’s doch schon bezahlt!»

«Ob du oder ich. Egal. Du weißt schon, was ich meine. Man zahlt einfach nicht für Sex. Entweder verliebt man sich und hat Sex, oder man verliebt sich nicht, dann hat man eben keinen Sex. Und ich bin nicht verliebt und werde mich auch nicht mehr verlieben. Deshalb lasse ich es. In meinem Interesse und in dem der Frauen. Und was meine Bücher betrifft und dass mir angeblich der ‹Sprit› ausgeht: Nichts von dem, was ich die letzten Jahre geschrieben habe, entspringt meinem Erfahrungsschatz. Es ist alles ausgedacht. Erfunden. Erstunken und erlogen. Ich hätte nicht gedacht, das einem Verleger von Liebesromanen jemals sagen zu müssen. Geschichten erfinden ist nämlich genau das, was Autoren tun. Nicht ein einziges Buch hätte ich mit meinen eigenen Erfahrungen füllen können.»

Heiko blickt mich mit leerem Gesichtsausdruck an. Er wirkt jetzt ein wenig eingeschüchtert, weswegen ich meinen Ton abmildere: «Pass auf, ich schreibe nächste Woche ein ausführliches Exposé und die ersten Kapitel, und ich verspreche dir, dass du davon so begeistert sein wirst wie von allen vorangegangenen Büchern zusammen. Und die Verkaufszahlen werden auch wieder nach oben schnellen. Da bin ich mir sicher. Spätestens dann, wenn die nächste Verfilmung kommt. Okay?»

Heiko nickt zögerlich, und ich lächle ihn zufrieden an.

Nachdem ich mich verabschiedet und sein Büro verlassen habe, setze ich mich in meinen Wagen und lasse die Tür ins Schloss fallen. Durch jahrelange Übung habe ich mir eine gewisse professionelle Abgeklärtheit beim Führen solcher Gespräche zugelegt: souverän wirken, Probleme herunterspielen, das Gefühl vermitteln, dass es für alles eine einfache Lösung gibt, die ich zudem auch noch kenne oder zumindest in Kürze finden werde. Aber jetzt, so allein, stelle ich mir doch die Frage, ob Heiko nicht vielleicht recht damit haben könnte, dass meine Bücher immer schlechter werden. Ich verdränge den Gedanken und starte den Wagen.

4

Mein Stammlokal, in das ich fast jeden Tag zum Mittagessen einkehre, heißt Die Zwölf Elfen und gehört meiner besten Freundin Gudrun. Es ist eine Mischung aus französischer Brasserie und deutschem Wirtshaus. Die Räume sind schön hell und groß und immer mit frischen Blumen dekoriert. Möbel im runtergerockten Retro-Style. Serviert wird deutsch-französische Küche.

Irgendwann in den Neunzigern waren Gudrun und ich mal zusammen. Drei Monate lang. Bis zu dem Tag, als sie beschloss, der Schlagzeuger der Punk-Band Die dreihebigen Jamben sei eine bessere Partie als ich. Diesen Entschluss bereute sie zwar wenige Wochen später bitterlich und wollte zurück zu mir, doch ich war inzwischen leider anderweitig vergeben. An Mathildas Mutter Isa. Der Freundschaft mit Gudrun tat das aber keinen Abbruch, und ein Jahr später wurde auch sie fündig und verliebte sich in ihren jetzigen Mann.

«Schlechter Tag?», fragt Gudrun, während ich mich setze und sie mir wie immer ungefragt die Tagessuppe serviert.

«Kann man sagen», erwidere ich und stoße einen Seufzer voller Weltschmerz aus.

Gudrun setzt sich zu mir. «Beruflich oder privat?»

«Beides. Mein Verleger ist unzufrieden mit meinen Büchern, und Mathilda ist plötzlich schlecht in der Schule.»

Gudrun winkt ab und setzt sich neben mich. «Also nichts wirklich Gravierendes.»

«Doch», erwidere ich ein wenig gekränkt. «Mein Verleger ist unzufrieden mit meinen Büchern, und Mathilda ist plötzlich schlecht in der Schule.»

Gudrun blickt mich mitfühlend über den Rand ihrer Brille an, lehnt sich zu mir herüber, schlingt ihre Arme um meinen Körper und drückt mich einmal ganz fest.

«Besser?»

«Bisschen», gebe ich ehrlich zu.

«Dann erzähl mal. Von Mathilda. Das andere ist doch Quatsch.»

«Mathilda hat eine Vier in Bio bekommen!»

«Und?»

«Sie hat eine Vier!», wiederhole ich noch mal. «Sonst stand sie immer zwischen Eins und Zwei.»

«Und?», fragt Gudrun ein weiteres Mal.

«Sie ist um zweieinhalb Notenstufen abgerutscht!»

«Uuuuuuund?»

«Gudrun! Was ist los mit dir?!», platzt mir jetzt der Kragen. «Mein Kind ist dabei, ins Bildungsprekariat abzurutschen, und dein einziger Kommentar dazu ist: Und?»

«Die Frage ist nicht, was los ist mit mir, sondern was los ist mit dir», erwidert sie ruhig. «Es gibt nämlich überhaupt gar keinen Grund, sich wegen einer einzigen schlechten Note so aufzuregen.»

«Finde ich schon», entgegne ich brummend.

«Finde ich nicht. Und ich würde mir wünschen, dass du die kleine Maus mal in Ruhe lässt. Die geht ihren Weg schon ganz allein. Da musst du Helikopter-Papa dich gar nicht einmischen.»

Und da sind wir auch schon bei unserem Dauerstreitthema: der Kindererziehung. Gudrun ist der Meinung, ich wäre überbehütend. Doch das ist natürlich völliger Quatsch. Helikopter-Eltern sind Menschen, die ihrem Nachwuchs sofort ein Globulus in den Mund stopfen, wenn der mal über seine eigenen Füße stolpert, oder in die Notaufnahme fahren, wenn sich das Kind eine Schürfwunde am Ellenbogen zugezogen hat. Das alles tue ich definitiv nicht. Aber ich kann verstehen, dass es aus Gudruns Perspektive so aussieht, als wäre ich überbehütend, denn sie befindet sich definitiv am entgegengesetzten Ende der Skala. Sie ist eine Laisser-faire-Mutti, wie sie im Buche steht. Bei ihr dürfen die Kinder alles, und sie greift so gut wie nie ein. In ihrer Familie herrscht permanenter Ausnahmezustand. Wie soll es auch anders sein bei vier Jungs im Alter zwischen drei und sieben. Gudrun erträgt das archaische Chaos aber mit einer Dalai-Lama-artigen Gelassenheit, die ich schon fast wieder bewundernswert finde. Sie lässt sich selbst dann nicht aus der Ruhe bringen, wenn die Bälger mal wieder mit irgendwelchen Fleischwunden oder ausgeschlagenen Zähnen ankommen, weil sie irgendwo heruntergefallen oder gegengerannt sind oder von etwas eingequetscht wurden.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man als Mutter so sorglos sein kann, und irgendwann bin ich dahintergekommen: Es liegt an der Anzahl der Kinder. Wenn eines draufgeht, bleiben ihr immerhin noch drei. Ich hingegen habe ja nur die eine Tochter, deshalb muss ich natürlich besser aufpassen. Als ich Gudrun meine Theorie dargelegt habe, hat sie mir allerdings nur den Vogel gezeigt.

«Und was sagt dein Verleger?», setzt Gudrun unser Gespräch unvermittelt fort.

«Mein Verleger sagt, dass meine Bücher schlechter werden, weil ich keine Frau habe», antworte ich niedergeschlagen.

Gudrun zieht eine Augenbraue nach oben.

«Was?», frage ich irritiert.

«Nun ja …»

«Du findest auch, dass meine Bücher schlechter werden?»

«Nein … Weiß nicht. Ich habe, ehrlich gesagt, schon lange keines mehr gelesen. Sorry, keine Zeit. Hole ich aber bald nach. Was ich meine, ist: Ich kann mir gut vorstellen, dass das Fehlen einer Partnerin dein Leben mit den Jahren ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht hat und man jetzt langsam die Symptome sieht.»

«Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.»