Lausanne - Sherzad Hassan - E-Book

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Sherzad Hassan

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Beschreibung

Lausanne, eine Studentin an der Sorbonne, erträgt es nicht, dass ihr Freund Kawa unentwegt vom Leid des kurdischen Volkes spricht. Gleichzeitig erinnert ihr Name ihn stets an den Vertrag von Lausanne, der sich 2023 zum hundertsten Mal jährt. Eineblutige Liebesgeschichte über eine der größten Tragödien in der Geschichte der Kurden und ein Einblick in eine von politischen Erschütterungen traumatisierte Seele. Im Anhang enthalten sind ein Interview mit dem Autor, ein kontextualisierender Beitrag von Prof. Sherko Kirmanj (»Der Vertrag von Lausanne und das Los der Kurden«) und der Vortrag »Zu Sprache und Person eines Autors« von Sherzad Hassan.

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Seitenzahl: 63

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Lausanne

Fragen an Sherzad Hassan

Sherko Kirmanj: Der Vertrag von Lausanne und das Los der Kurden

Sherzad Hassan: Zu Sprache und Person eines Autors

Über den Autor

Impressum

Lausanne

Lausanne hob den Kopf und schwang ihr dattelfarbenes Haar mit einer majestätischen Bewegung zur Seite. Sie herrschte mich an, ich solle sie doch endlich in Ruhe lassen mit meinem ewigen Gerede über die Spaltung Kurdistans. Sie wollte nichts mehr darüber hören, schon gar nicht in dieser schummrigen, abgelegenen Bar, denn die Geschichte der Kreuzigung meines Landes sei abscheulich und unerträglich!

Es war schmerzhaft, wie sie mit mir sprach und mich warnte, wieder mit etwas anzufangen, das sie als abstoßend empfand. Obwohl sie doch wusste, dass es das Wichtigste für mich war, über unsere tragische Geschichte zu sprechen. Es ist meine persönliche Geschichte, aber auch die meiner Nation – bedeutsam für mich und andere.

Ein Schatten legte sich über meine Augen. Schüchtern sah ich sie an, als ob sie in dicken Nebel gehüllt wäre; Wut und schlechte Laune entstellten die zarten Züge ihres himmlischen Gesichts.

Das Licht der rot und gelb glimmenden Lampen reichte nicht aus, um mich ihre Anmut und zauberhafte Schönheit erkennen zu lassen, aber ihre glänzenden Honigaugen berauschten mich, obwohl ich vermutete, dass sie noch nie Tränen für irgendjemanden oder irgendetwas vergossen hatten – aber wer weiß? Vielleicht täuschte ich mich. Einmal sagte ich ihr, sie sei wie ein weiblicher Engel, der niemals weint und im Paradies keine Trauer kennt.

Sie runzelte die Stirn über meinen Argwohn; ich beobachtete, wie sie sich mit ihren zarten Fingern das Haar zurechtzupfte, doch sobald sie den Kopf senkte, fiel es wieder fließend herunter und verbarg ihr Gesicht und Dekolleté.

Ich bemerkte die laszive Art und Weise, wie sie die Tasse hob und an ihren Mund führte, dabei schien sie nicht einmal einen Schluck davon nehmen zu wollen. Diese weibliche Geste war genug, um mich um den Verstand zu bringen. Ihr heimliches Verlangen erfüllte wie ein Zwitschern den ganzen Raum. Ein Tropfen des schwarzen arabischen Kaffees blieb in den feinen Rillen ihrer roten Lippen haften, was mich an jenen dämmernden Abend auf der Spitze des Eiffelturms zurückversetzte, wo ich diese fülligen Lippen genießen durfte – es war, als würde uns eine duftende Brise sanft schaukeln. Ich musste an den Moment denken, als ich sie in einer Menschenmenge, umgeben von tausenden Pariser Lichtern, umarmte. Ihre trügerischen Augen forderten mich auf:

– Nimm meine Hand, umarme mich, küss mich …

Zwei Augen, zwei Seelen: Ihr linkes war mit Zuneigung und Zärtlichkeit erfüllt, das rechte mit Verlangen. Letzteres war am heutigen Abend dominant – eine schummrige Ecke suchend, in der sie ihre unausgesprochene Begierde ausleben konnte. Plötzlich weckte sie mich aus meinen Träumereien und brachte mich zurück zu etwas, das im Gegensatz zu dem stand, was ich erwartet und mir vorgestellt hatte.

– Kawa, du hast bereits vier oder fünf Teile von Kurdistan in mich hineingestopft. Jetzt weiß ich beinahe mehr als du über diesen verfluchten Teil der Welt und die verdammte zerrissene Landkarte! Du hast mich mit all dem beladen, kannst du mich heute Abend mit diesem überdramatischen Unsinn bitte verschonen?

Erschöpft hob ich mein Glas und sah mir Lausanne durch das goldfarbene Bier an. Dann breitete sich ein scheues Lächeln über mein Gesicht.

– Warum grinst du?

– Dein Gesicht sieht hinter dem Glas befremdlich aus.

– Entstellt?

– Ja, aber trotzdem bezaubernd!

– Einmal hast du mir gesagt, du seist dermaßen erschöpft und betrübt, dass du die Schönheit nicht mehr genießen könntest. Wir saßen genau hier, kannst du dich erinnern?

Für eine Weile hatte ich nichts zu entgegnen, sie hatte das Recht, mir Vorwürfe zu machen, da ich ihr nicht alles von mir geben konnte. Sie hatte Besseres verdient, als Abend für Abend mit mir rumzuhängen und sich mein Elend anzuhören. Aber sie wusste auch, dass sie keinen anderen Mann finden konnte, der sich ihr gegenüber so aufgeschlossen gab und so wild auf sie war wie ich.

– Lausanne, ich nehme es dir nicht übel, wenn du mir Vorwürfe machst. Vielleicht kann nicht einmal ein echter Pariser die Schönheit so begehren oder auskosten wie ich. Aber Männer wie ich sind bis in alle Ewigkeit verdorben. Im Kern hast du recht, ich kann keine Schönheit genießen, wenn sie nicht irgendwie mit Kummer und Melancholie zusammengebraut wurde. Du kennst doch die Kurden, sobald wir geschlüpft sind, werden wir mit Schmerz und Leid vertraut. Schon mit der Muttermilch fließen Plage, Unglück und Qual durch unsere Adern. Weißt du, wenn die Mütter die Wiegen ihrer Kinder schaukeln, tun sie es weinend. Ich habe den Eindruck, dass sich das ständige Klagen meiner Mutter in meiner Seele eingeprägt hat; mich davon zu befreien, scheint mir unmöglich.

– Ich befürchte, dich könnte die gleiche Krankheit befallen haben wie unseren berühmten Romancier, der bis zu seinem Tode ledig blieb.

– Wen meinst du denn?

– Gustave Flaubert.

– Da hast du recht. Ich schätze ihn und sein Meisterwerk Madame Bovary. Er sagte immer, alle Männer seien glücklich, außer ihm: »Wo für sie Brüste, Waden und Fleisch sind, erkenne ich nur das Skelett.«

– Also … Was willst du damit sagen?

– Lausanne, Flaubert und ich unterscheiden uns voneinander. Er hat womöglich den Tod in den Dingen noch viel intensiver gefühlt als ich. Nur gelang es ihm nicht, die Schönheit jenseits des Todes wahrzunehmen. Doch er war ein Genie, vielleicht genau deswegen. Es ist doch immer so, dass die großen Autoren abnormal sind und ihre Komplexe, Neurosen und Krankheiten in ihre Werke einfließen lassen. Oder ich sollte vielleicht besser sagen: Flaubert hatte eine verhängnisvolle Haltung dem Leben, zumindest den Frauen gegenüber.

– Aber soweit ich weiß, hatte er ein Verhältnis mit der Dichterin Louise Colet!

– Ach, diese Geschichte. Niemand hat ihre vermeintliche Affäre thematisiert, nur seine Liebesbriefe an sie sind erhalten geblieben.

– Er hielt sich jedoch gelegentlich in Paris und London auf, wo er offenbar eine Maitresse hatte.

– Ist das dein Ernst? Willst du Herrn Flaubert eine Liebesgeschichte unterstellen, nur weil er zwischen Paris und London pendelte?

– Und willst du ihm unterstellen, dass er ein Frauenfeind war?

– Nein, ganz und gar nicht … Das ist nicht dein Ernst!

– Vergiss es einfach. Willst du denn der nächste Flaubert werden?

– Nein, überhaupt nicht. Das ist schon aufgrund unserer verschiedenen kulturellen Hintergründe nicht möglich, aber ich schätze an ihm, dass er jede Art von Zensur ablehnte.

– Hältst du dich auch für abnormal oder psychisch krank, wie diese genialen Schriftsteller?

– Schon, aber mit einem Unterschied: Ich bin kein Genie!

Auf einmal befahl sie mir, das Thema Gustave Flaubert bleiben zu lassen.

– Warum läufst du eigentlich immer vor mir weg? Sei ehrlich und sag mir, warum du letzte Nacht nicht bei mir geblieben bist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich gebraucht hätte. Nachdem du weg warst, konnte ich die ganze Nacht kein Auge zudrücken. Ich flehte dich an, nicht zu gehen. Schämst du dich eigentlich nicht, eine Frau in so einer Situation allein zu lassen?

Sie hatte recht. Ich hatte mich wahrlich nicht wie ein Gentleman verhalten und schämte mich dafür, weggegangen zu sein. Ich hätte bleiben und sie wenigstens umarmen sollen. Doch ich traute mich nicht, ihr den wahren Grund meines unmännlichen Verhaltens zu verraten. Irgendwann sagte ich:

– Ich hätte deine Nähe umso mehr gebraucht. Ein Gentleman sollte sich schämen, wenn er eine Frau verzweifeln lässt. Vor allem, wenn er sie liebt. Wenigstens sollte er sie in die Arme schließen. Ich muss gerade an Alexis Sorbas denken. Er meinte, Gott würde jene Männer, die eine einsame Frau enttäuschen, in die Hölle werfen …

– Eine befremdliche Logik.

– Gar nicht so befremdlich. Schließlich möchte jeder Mann ein »Sorba« sein und jede Frau wünscht sich einen Mann wie ihn. Befremdlicher ist vielmehr, dass du ausgerechnet bei mir hängen geblieben bist.