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Vier Jahrzehnte nach ihrem Tod findet Gregor Höppner im Tagebuch seiner Mutter den Namen eines französischen Kriegsgefangenen. Er stößt auf die Geschichte der großen, geheimen Liebe einer selbstbewussten, jungen Frau während des Zweiten Weltkriegs voller ungestillter Sehnsüchte und unerfüllten Hoffnungen. Mit einem Freund begibt er sich auf die Suche nach dem verlorenen Namen und der Geschichte seiner Mutter aus einem früheren Leben. "Nur mit Mühe und Not redete ich ihm aus mich mitzunehmen! Stieg dann hinter Braunschweig des Morgens um 4 Uhr auf freier Strecke aus dem Güterzug, um meinen Weg allein weiterzugehen. Nichts hatte er behalten bis auf ein halbes Brot, alles musste ich mitnehmen. Nie vergesse ich den Augenblick, als sich der lange Zug in Bewegung setzte und er weiß, schneeweiß im Gesicht in der Tür stand und weinte und dann mußte ich gehen, den schwersten Weg meines Lebens allein, verlassen, betrogen und belogen." Luzies Tagebuch 1948
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Seitenzahl: 312
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Gregor Höppner
Der verlorene Name
Roman
© 2022 by ANTHEA VERLAG
Hubertusstraße 14, 10365 Berlin
Tel.: (030) 993 93 16
e-Mail: [email protected]
Verlagsleitung: Margarita Stein
www.anthea-verlag.de
Ein Verlag in der ANTHEA VERLAGSGRUPPE.
www.anthea-verlagsgruppe.de
Umschlaggestaltung: Stefan Zimmermann
Bildnachweis und Bildrechte: Gregor Höppner
Lektorat, Korrektorat und Satz: Paul Richter
ISBN 978-3-89998-394-4
eISBN 978-3-96767-015-8
Prolog
Berta
Ein Kaffee mit Patrice I
Aus grauer Städte Mauern
Hand eines Engels
Friedhof
Ein Kaffee mit Patrice II
Landjahr
Neuer Beruf
Reichsarbeitsdienst
Ein Kaffee mit Patrice III
Sommerfrische
Erfolgsmeldungen
Ein Kaffee mit Patrice IV
Evakuierung
Heimatanschrift: Etzin, über Wustermark/Osthavel
Ein Kaffee mit Patrice V
Richtung Westen
Jessheim
Eisenach
Fremdheit
Ein Kaffee mit Patrice VI
Erkenntnis
Frau Day
Genesung
Eine Reise mit Patrice
Paris
Caen
Montreuil
Epilog
Danksagung
Über den Autor
Für Angela, Thomas und Michael
„Ich dachte immerfür ein Familienleben geschaffen zu sein.Es ist aber so ganz anders um mich bestellt“
Luzies Tagebuch
„…Ich erinnere mich, wie aus einem zarten Dunstschleier der neue Tag erwuchs, es war Ostern, nie habe ich es bewusster erlebt! Dann kam der Nachmittag, an dem unsere Gäste erschienen, es war eine Berlinerin mit ihrem Jungen. Bohnenkaffee und einen Veilchenstrauß hatte ich als Gruß von Ramette. Kerzen waren angezündet, ein netter Tisch gedeckt, wie gut konnte man diese Wärme und Geborgenheit gebrauchen. Für Ramette war dieser Nachmittag ein Geschenk, er kam nämlich später auf Strümpfen heraufgeschlichen, es war ja strengstens verboten. Nach fünf Jahren Gefangenschaft, das erste Mal als Mensch, keine vergitterten Fenster, kein Holztisch, keine stinkenden Kameraden. Ich musste es einfach tun, es war auch richtig. Es war so interessant und unterhaltend, habe nur gelauscht, kaum mich an den Gesprächen beteiligt, wie war doch die Welt groß und weit. Vielleicht wurde in diesen Stunden das Samenkorn gelegt, ja man könnte es beinahe glauben. – Mir fehlte, seitdem Angela geboren war, etwas, ich suchte es immer fort, es war etwas verloren gegangen, aber was?“
Luzies Tagebuch
Seit mehr als 45 Jahren bin ich im Besitz einer Holzkiste von der Größe eines Schuhkartons, die meine Brüder nicht haben wollten. Mein Erbe. Darin enthalten sind Briefe meiner Eltern, die sie einander schrieben, Tagebuchaufzeichnungen meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, Ostergrüße, Weihnachtskarten, Beileidskarten zum Tod meiner Stiefschwester, Fotoalben und eben jene Aufzeichnungen meiner Mutter, umschlungen von einem blauen Band.
Diese Holzkiste befand sich immer oben auf dem Hängeboden unserer Wohnung in der Halskestraße in Berlin.
In den langen, warmen Sommernächten nach dem Tod meiner Mutter holte mein Vater die Kiste mit den Papieren herunter, erzählte vom Krieg, seiner Gefangenschaft, brachte mir das Morsealphabet bei, das er als Funker gelernt hatte und schickte mich oft erst weit nach Mitternacht ins Bett. Es war seine Art Trost zu spenden. Er selbst blieb noch lange wach, stand auf dem Balkon und rauchte still seine Zigarette in die lindenduftende Dunkelheit Berlins.
Ich war damals zehn Jahre alt und konnte nicht begreifen, warum meine Mutter gestorben war. Ich verstand nicht, warum mich niemand aus der Familie auf dem langen Weg ihres Sterbens mitgenommen hatte, nicht meine Brüder, nicht meine Oma Berta, nicht mein Vater, niemand hatte mit mir darüber gesprochen. Ich fühlte mich betrogen um ein Adieu, ein Lebewohl. Stets hieß es: …wenn Mutter erst wieder gesund ist… Ich war wütend, dass meine innere Empfindung, dass etwas nicht stimmt, abgetan wurde. Es war eine Wut, die lange Zeit mein ständiger Begleiter war.
Die Holzkiste auf dem Hängeboden – das Band um die Papiere und Briefe darin, wie Stacheldraht um eine wohlgehütete Heimlichkeit, ein Bann gegen zu große Neugierde – unvorstellbar für mich, dieses Siegel aufzubrechen, damals und noch Jahre, nachdem mein Vater gestorben war.
„Die Kiste mit den Briefen und Papieren ist dein Erbe, sie ist da und fertig - vielleicht später“, sagte ich mir.
Wovor fürchtete ich mich? Einem großen Familiengeheimnis? Die Eltern: Nazis? Kriegsverbrecher? Mörder?
Meine Neugierde lässt mich nicht ruhen. Ich öffne die Kiste, vermute, dass darin ein Schlüssel zu meinem Leben verborgen sein könnte. Ich löse das blaue Band und entdecke Menschen und ihre Schicksale, ihre Leben, ihre Geheimnisse. Ich lerne sie kennen. Und ich lerne meine Mutter Luzie kennen. Hatte sie doch die Gelegenheit nicht nutzen können, mir von damals zu erzählen, von ihrem Leben vor meiner Zeit.
Das Einzige, was ich von diesem Damals kannte, war der Name ihres ersten Ehemanns – Walter. Er starb kurz nach dem zweiten Weltkrieg und einige Jahre später die gemeinsame achtjährige Tochter, Angela. Ich finde in der Holzkiste ein Fotoalbum mit Angelas Geburtsanzeige, Bilder meiner Mutter, Bilder ihrer Hochzeit mit Walter, Walter in Uniform. Und jene mit einem Band umwickelten Aufzeichnungen. Es sind große Blätter, eng beschrieben, in einer wundersamen Schrift, gleichmäßig, klar, kräftig. In Sütterlin. Um sie lesen zu können, muss ich erst meiner Mutter Schrift erlernen, meine Mutter-Sprache. Alles ist mir vertraut, als ob ich den Klang ihrer Stimme höre. Ihre Worte treffen mich ins Herz.
Doch eigenartig: Nie, auch in der Beschreibung der schlimmsten, schwierigsten Situation kommt ihr ein Fluch, eine Verwünschung oder Beschimpfung über die Lippen. Ist sie so sanft, so mitfühlend, so verzeihend, so ohne Hass und Abscheu? Will sie sich vor einer Verurteilung ihres Handelns, ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe durch andere schützen, indem sie wohlgeformte Worte wählt? Warum werden keine Daten, keine Orte genannt? Sind sie dem, der die Aufzeichnungen liest, bekannt und ist deshalb keine Erinnerungsstütze und Erklärung notwendig? Kam die Anregung, Gedanken und Träume aufzuschreiben, von Frau Day? Einer Psychologin, die Luzie in der Zeit nach Walters Tod aufsuchte. War es Teil einer Therapie? An wen richtet sie das Geschriebene? Oder ist es nur eine stille, schriftliche Zwiesprache mit sich?
Sieben Blätter, nummeriert mit den Seitenzahlen 8 bis 14, existieren noch, die Blätter 1 bis 7 fehlen. Wo sind sie? Wer hat sie entfernt? Sollten sie verschwinden, um Luzie in guter Erinnerung zu behalten? Damit das Bild von ihr nicht befleckt wird?
Es tauchen Personen und Begebenheiten auf, von denen ich noch nie etwas gehört habe, Ereignisse und Namen, die meine Neugierde weiter anfeuern. Wer ist Ramette?
„Ein in sich verschlossenes Kind in unfriedlichen Familienverhältnissen, Zank, Lärm, nur Häßlichkeiten. Sehnsucht nach Sonne und Liebe. Hatte doch keinen Platz, wo ich in Ruhe für mich war, oh ja es war bitter und hart, ich war mit 15 Jahren schon alt, Spiel und Heiterkeit kannte ich nicht.“
Luzies Tagebuch
Berta hatte den Steckrübenwinter 1916/17 überlebt, diese reiche Zeit. Reich an Entbehrung, an Hunger und Kälte, reich an Sorgen um das Ding in ihrem Bauch; reich an Verzweiflung, reich an Verwünschungen ihres Größenwahns, ihrer gefühlsduseligen Verliebtheit, ihrer Unvorsichtigkeit, ihrer Leichtfertigkeit.
Sie war gezwungen, ihr bisheriges Leben aufzugeben, das kleine bisschen Freiheit, ihre Unabhängigkeit, weil sie auf den Sommerball des Jahres 1916 im Paresü, dem Park-Restaurant-Südende gehen wollte. Weil sie sich etwas gönnen wollte, einmal, weil sie tanzen wollte unter den schattigen Bäumen am Rande des Sees. Weil sie in der hitzigen Augustschwüle eine Kahnpartie machen, begehrt sein wollte. Sie wollte sich dem Schwung der Blaskapelle hingeben, dem Schwung des Walzers, dem Schwung seiner Hüfte, seiner adretten Marineuniform, den lächelnden Lippen unter seinem Schnäuzer. Und nun hatte sie einen Braten in der Röhre.
Anbetteln, überreden musste sie ihn, Willy, den Matrosen, anflehen, dass er sie nimmt, sie nicht auf der Straße sitzen lässt, dass er sie heiratet. Und jetzt hält ihr frisch Vermählter seinen Kopf für Kaiser und Vaterland hin. Gott sei Dank ist er Heizer auf dem kleinen Kreuzer Frankfurt und nicht auf einem dieser schrecklichen U-Boote. Die Angst um ihn und ihre Zukunft lässt sie nachts immer wieder hochschrecken. Sein kleiner Sold reicht nicht vorn und hinten auch nicht, ihre Stellung hatte sie verloren und damit ihre Bleibe. Seit der Hochzeit im Oktober wohnt sie in Willys Bude.
1905 hat sie das 300-Seelen Dorf Neu Zowen verlassen und sucht sich eine Stellung als Dienstmädchen bei einer Herrschaft. Mit sechzehn Jahren geht Berta, ein kesses Mädchen, in die Hauptstadt des Deutschen Reiches, in die Weltstadt, die Millionenmetropole, den Moloch – Berlin. Sie bricht auf, um dem ärmlichen Leben in der von Kiefern bestandenen Öde Hinterpommerns zu entfliehen.
Berta, 1909
Über zehn Jahre arbeitet sie bei der Herrschaft. Hat allen Avancen, von welcher Seite auch immer, widerstanden. Hat auf den Richtigen gewartet, wollte ihren Anstand und ihr Herz nicht einfach wegschenken. Hört ihren Vater ihr hinterher brüllen, dass sie sich noch umgucken würde. Sie seien nun mal einfache Leute, keine Von und Zu. Ihre vorlaute Klappe würde sie noch bitter bereuen, und wenn sie ihm Schande bereite, und selbst wenn sie den ganzen Weg von Berlin auf Knien nach Hause gekrochen käme und ihn um Verzeihung bitten würde, er würde sie in den Dreck zu den Schweinen stoßen.
Nach Hause, nach Pommern, kann sie nicht. Dieser Hochmut! Nein, nein, das hat sie nun davon, das ist die gerechte Strafe, schwanger von einem Oberkellner. Nein, sie kann nicht zurück.
Nun steht Berta in der Kälte von Berlin stundenlang nach Brot an. Ab und zu trifft sie ein Mädchen aus ihrer Stellung, die steckt ihr etwas Essbares zu.
Im April 1917 erklären die Vereinigten Staaten von Amerika dem deutschen Kaiserreich den Krieg und am 20. Mai erblickt Bertas erste Tochter Luzie das Licht der Welt. Berta ist jetzt 28 Jahre alt.
Willy kommt auf Heimaturlaub, kiekt sich ma seine Kleene an, Luzie, die Strahlende, die Leuchtende, die Herrscherin des Lichts. Stolz is er uff dit Wunder des Lebens und sagt:
Daruff muss icke erst ma eenen heben jeen, ooch wenn se n bisschen mickrig is, die Kleene. Musse ihr ma mehr zu futtern jeben.
Nu, wovon denn?,
sagt Berta,
is doch nüscht da. Dieser jottfaadammte Kriech.
Nanana,
sagt Willy,
imma langsam mit de junge Ferde. Wenstens is Somma,
kannse schön draußen sitzen und inne Sonne plienen,
und verschwindet wieder aus der Heimat in den Kohlenbunker, um ordentlich Dampf zu machen unterm Arsch seiner Majestät Schiff. Kein Ende in Sicht.
Willy, 1917
Willys kleine Bude unterm Dach in der Brandenburgischen Straße in Südende – fünf Parteien wohnen dicht auf dicht im nach hinten gesetzten Anbau, Klo draußen übern Hof, das Wasser gefriert im Winter – ist als Junggesellenbude mit gelegentlichem Damenbesuch ganz in Ordnung. Aber für die kleine Familie? Luzie ist ein Jahr alt und Berta zum zweiten Mal schwanger. Im Oktober und November 1918 wird ihre Sorge um ihn immer größer, als sie von den Matrosenaufständen in Kiel hört. Wie sie Willy, den Sozi, kennt, ist er bestimmt mittenmang.
Der Krieg ist zu Ende, Willy heil und gesund zurück. Aber besser wird es nicht. Nun hocken sie zusammen in der Bude, mit dem kleinen Kind, das immerzu krank ist. Sie haben nichts zu essen und Bertas Bauch wird unaufhörlich runder. Willy geht jetzt öfter vor seinem Dienst in die Eckkneipe, in der er arbeitet, spült mit den einbeinigen Kriegsheimkehrern seine Angst vor dem Leben nach dem Krieg hinunter. Spät kommt er nach Hause, es gibt Brüllereien, es setzt Schläge. Hat er seinen Rausch am Sonntag ausgeschlafen, nimmt er seine Luzie auf den Arm, hakt die dicke Berta unter, und dann geht es am Teltowkanal entlang bis zum Stadtpark. Sonntagsspaziergang wie bei anstänje Leute.
Abends holt er die Klampfe vom Schrank, setzt sich an das Kinderbettchen und singt für seine Kleene:
Die Blümelein, sie schlafen
schon längst im Mondenschein,
sie nicken mit den Köpfchen
auf ihren Stängelein…
Berta steht hinter ihm, wiegt sich sacht im Takt und denkt daran, wie er sie damals im Gartenlokal angelächelt hat,
…die Vögelein, sie sangen
so süß im Sonnenschein…,
wie der Begriff sich zur Wehr setzen in ihrem Kopf nirgends zu finden war,
streut er ins Aug ihm Sand…,
und wünscht sich, dass er doch einfach ein bisschen besser aufpassen würde,
schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kindelein.
1920 ziehen sie in die Lichterfelder Straße um, den Berg rauf. Die Wohnung hat ein halbes Zimmer mehr und die Toilette ist halbe Treppe, nicht mehr übern Hof. Liselotte, die Zweitgeborene, wird bald zwei Jahre alt und ihre große Schwester Luzie bleibt das Sorgenkind, kraftlos und matt. Nachwuchs Nummer drei kündigt sich an.
Im Jahr darauf gibt es die Wende zum Besseren, trotz Inflation, Arbeitslosigkeit und allen Unsicherheiten der neuen Republik. Sie ziehen erneut um, nun in die Halskestraße, mit den wenigen Möbeln, die die jetzt fünfköpfige Familie ihr Eigen nennt. Willy schnorrt sich alles zusammen, bei Bekannten aus der Kneipe. Hier werden sie bleiben, für immer. Endlich eine größere Wohnung, drei Zimmer.
Der Aufstieg, gesellschaftlich und finanziell, ist da, Willy wird Geschäftsführer der Kneipe. Er hat es zu etwas gebracht, dank seines Charmes und seines Talents, Menschen für sich einzunehmen. Doch sein Geld landet nicht nur im Haushalt – er ist ein lustiger Geselle, lädt gerne seine Freunde ein, auch die falschen.
Wenn de so fille faakoofen würdest, wie de selba trinks, wärste schon längste Krösus jewesen,
sagt Berta. Immer wieder gibt es Streit. Berta ist unzufrieden und argwöhnisch.
Im April 1923 soll Luzie in die Volksschule gehen, doch der Amtsarzt lehnt eine Einschulung ab, er stuft das zarte Mädchen als schuluntauglich ein. Luzie ist jetzt sechs, Liselotte vier und Erika, die dritte Schwester, drei Jahre alt und Berta kann endlich etwas dazuverdienen: Sie übernimmt die Hauswartstelle. Berlin-Steglitz, Südende, Halskestraße, Parterre, rechts.
Die Wohnung hat eine Küche mit einem Fenster, das zu ebener Erde in den Hinterhof führt. Die Kinder benutzen es als schnellsten Weg in den Garten, der kaum einer ist, eine Fläche, die nur im Sommer, wenn die Sonne es über die Dächer der engstehenden Nachbarhäuser geschafft hat, Licht bekommt. Berta pflanzt hier etwas Gemüse an, Radieschen, Salat und Kräuter, wie sie es aus dem Garten ihrer Mutter in Hinterpommern kennt. Es stehen zwei große Fliederbüsche im Hinterhof, lila und weiß, die herrlich duften, wenn sie blühen. Manchmal schneidet Willy ihr einige Zweige ab und steckt sie in einen Topf, Berta freut das.
Wenn sich Luzie, Liselotte oder Erika beim Spielen im Garten oder auf der Straße das Knie aufschlagen und weinend zu Berta rennen, gibt es nichts Tröstendes außer ein paar Katzenköpfen und die Ermahnung gefälligst aufzupassen. An die Küche schließen eine niedrige Kammer und der Flur an. Von dort gehen das Badezimmer, die zwei immer kalten Schlafzimmer und das Wohnzimmer ab.
Im Wohnzimmer steht der dunkle Kachelofen mit einer Holzbank davor, ein ausziehbarer Esstisch mit Sofa, am Erkerfenster, das zur Straße weist, ein runder Tisch mit Stühlen und Unmengen von Bügelwäsche, die Berta für Nachbarn aus dem Hinterhaus für ein paar Groschen übernommen hat. Auf der Anrichte steht die große Tischuhr, die zu jeder Viertelstunde ihren Gong erklingen lässt, ein Hochzeitsgeschenk von Bertas Vater, das er ihr vier Jahre nach der Hochzeit anlässlich seines ersten Besuches bei ihr und Willy mitgebracht hatte. Einmal am Tag öffnet sie das Glas vor dem Ziffernblatt, zieht die Uhr mit dem Schlüssel auf, der in der Schublade der Anrichte liegt, steht und lauscht für einen Augenblick. Spürt, wie mit jedem Ticken der Uhr ihre Lebensträume vertrocknen.
An Sonntagen, wenn Willy frei hat und sich seine Schwägerin, Tante Ida, zum Mittagessen selbst eingeladen hat, gibt es Suppe, Kohlrouladen, Nachtisch und für Willy eine Zigarre. Berta schneidet einen Laib Graubrot auf. Sie umfasst ihn mit dem linken Arm, drückt ihn an die Brust und bewegt ein abgewetztes, teuflisch scharfes Brotmesser schneidend auf sich zu. Scheibe um Scheibe schneidet sie gleichbleibend dünn ab und legt das geschnittene Brot in den Korb, der auf den gedeckten Esstisch im Wohnzimmer neben die Suppenschüssel kommt. Haben sich die Mädchen nach dem Spielen mit den Nachbarskindern Hände, Hals und Gesicht geschrubbt, die feinen Sonntagssachen angezogen und sind endlich alle in der guten Stube versammelt, beginnt das Essen. Nur das leise Klappern der Suppenlöffel und das Ticken der Uhr sind zu hören. Luzie ist so aufgeregt und begeistert von ihrem Erfolg beim Kästchenhüpfen, dass sie sich nicht zurückhalten kann und Tante Ida davon erzählen muss. Berta greift in den Brotkorb, nimmt eine Scheibe Graubrot heraus und schlägt Luzie damit ins Gesicht,
Bein Essen wird nich jeredet.
Sie legt die Scheibe Brot in den Korb zurück.
In der letzten Zeit tauchen vermehrt Leute aus einem extravaganten Gewerbe bei Willy in der Kneipe auf. In Steglitz sorgt es für immer neuen Gesprächsstoff, das Filmgeschäft. Mit dem Schlossparkkino hat das sechste große Lichtspieltheater in der Schlossstraße eröffnet. Auch in der Nähe des Stadtparks gibt es ein Kino, das Palast-Theater. Willy ist entflammt, er sieht seine große Chance. Hat nicht erst vor kurzem das Lichtspielhaus Südende im Saal des Restaurants Zur Esche aufgemacht? Da zeigen sie großartige Filme mit Gesang und Musik. Gleich um die Ecke.
Berta rast vor Zorn,
Dit is doch allet Kokolores. Wat willse denn da? Wie stellse dir dit denn vor? Wer soll denn die Mäula von de Jören stoppn, kannse mir dit ma sarjen? Dit is doch allet nur wejen die Waiba!
Hör uff mit den Jeseir, du olle Jiftnudel. Ick mach, wat ick will, so is dit,
brüllt Willy und schmeißt die Wohnungstüre hinter sich zu.
Die Filmschaffenden treffen sich nach getaner Arbeit bei Willy in der Kneipe. Er erzählt zu Hause von diesen Menschen, diesen Verrückten, diesen Göttern. Der Glanz, den die Filme und ihre Hersteller in dieser unruhigen, düsteren Zeit versprühen, ist in Willys Erzählungen zu spüren, in seinen Augen zu lesen. Luzie erlebt ihren Vater, der strahlt, begeistert ist, voller Energie und Schaffenskraft. Er will Teil dieses Glanzes werden, lässt die Kneipe Kneipe sein, gibt zu Bertas Entsetzen seinen Geschäftsführerposten auf und lässt als Beruf im Berliner Adressbuch Film Industrie eintragen. Er ist mächtig stolz darauf. Überall in Steglitz werden Filmaufnahmen gemacht, in den gläsernen Dachstühlen am S-Bahnhof Steglitz, im Stadtpark und in den Rauhen Bergen, dieser riesigen Sandgrube in der Nähe vom Friedhof Bergstraße. Stummfilmproduktionen schießen wie Pilze aus dem Boden. Willy setzt sein handwerkliches Geschick ein und arbeitet sich in kurzer Zeit hoch. Er leitet die Abteilung Kulissenbau, springt überall ein, wenn Not am Mann ist, manchmal auch als Gitarre spielender Mexikaner mit Sombrero in den Reihen der Statisten.
Doch sein Glück ist nur von kurzer Dauer. Die Inflation und die zurückgehenden Zuschauerzahlen zwingen die Filmfirmen zu Entlassungen und Schließungen. Viele Kinos kämpfen um ihr Überleben. Schweren Herzens muss Willy aus der Film Industrieausscheiden und verdingt sich nun wieder in seinem gelernten Beruf als Maler.
Im April 1924 ist es soweit, dass Luzie endlich, mit sieben Jahren, in die Volksschule kommt. Sie besucht die Mädchenschule der 5. und 7. Volksschule an der Markus-Kirche, zu Fuß drei Minuten von zu Hause. Sie bleibt das schwächliche und zarte Mädchen, ihr körperlicher Zustand hat sich nicht verbessert. Die familiäre Situation auch nicht. Berta wirft Willy vor, die ganze Familie ins Elend zu stürzen, mit seiner Leichtsinnigkeit. Wie konnte er nur so dumm sein, die Kneipe aufzugeben. Das Thema Geld führt zwischen Berta und Willy zu ständigem Streit. Wenn Willy spät abends nach Hause kommt und sein Magen so leer ist wie der seiner Kinder, macht Berta ihm die Suppe mit Einlage auf dem Herd noch mal warm.
Wo kommste denn jezze her, hä? Wills ma doch nich assählen det de vonne Arbeet komms? Warst wieda inne Kneipe jewesen, ja, mit deine sojenannte Freunde, wa?,
raunzt Berta ihn an und stellt ihm den Teller auf den Tisch. Er setzt sich, nimmt einen Löffel und spukt augenblicklich wieder aus.
Willste ma faajiften mit den Schweinefraß? So ein dreckijet Dreckszeujch!,
und schleudert Berta den Porzellanteller vor die Füße, der scheppernd zu Bruch geht.
Ja, ja, kaputt machen, dit kannste, aba mehr ooch nich. Wie kann man nur so doof sein un bein Film arbeeten?Uff so een wie dich hamse da jewartet, janz bestimmt. Kannse mia ma sajen wie dit weita jehen soll?
Er beantwortet ihre Frage mit einer Salve von Schlägen.
Halt deine dreckije Klappe.
Die drei Schwestern verkriechen sich in einer Ecke im Flur und halten sich ihre Hände schützend vor die Köpfe.
Luzie! Komm her und mach dit da sauba, nu wird’s bald,
wird sie von Berta in die Küche gerufen. Sie muss das zerbrochene Geschirr zwischen den Beinen ihrer heulenden Mutter zusammenkehren. Beim Aufsammeln schneidet sie sich an einer Scherbe, Blut tropft auf die Dielen. Berta guckt ihre älteste Tochter kopfschüttelnd an, versetzt ihr ein paar Ohrfeigen und sagt:
Dusslije Jöre. Unjeschicktet Fleisch muss ab.
Höa uff zu flennen, mach dit sauba.
Willy brüllt in der Tür stehend:
Dit kommt nur, weil du mit den Jeld nich umjehen kanns. Schmeißt dit ausn Fensta und ick buckel mir jeden Tach ab und denn is nüscht mehr da, wenn icke na Hause komme. Dit is allet deine Schuld.
Geld. Wozu soll Geld nütze sein? Inflation und Weltwirtschaftskrise sind andere Wörter für den täglichen Kampf mit Wäschekörben voll wertloser Geldscheine. Anstehen für Brot und Lebensmittel, die man eigentlich nicht bezahlen kann, weil das Geld abends nur ein Zehntel des Wertes hat, den es am Morgen noch besaß. Es wird angeschrieben und gestundet. Auch Willy muss anschreiben lassen, in der Kneipe.
Die drei Schwestern haben ständig Hunger. Wenn Luzie aus der Schule kommt, muss sie sich um die Kleinen kümmern, ob es ihr passt oder nicht. Sie muss die Kindersachen flicken, Socken stopfen und die Küche in Schuss halten, die Öfen versorgen, wenn Berta wieder stundenlang für ein paar Kartoffeln unterwegs ist. Wehe, es ist nicht alles ordentlich, dann setzt es eine Tracht Prügel und gleich noch eine, wenn der Vater nach Hause kommt.
Oben, im fünften Stock, ist die Waschküche. Ein großer Raum unter dem Dach mit einer Kammer, in der ein Kupferkessel und ein Steingutwaschbecken mit einem Kaltwasserhahn zu finden sind. Am Sonnabend ist Waschtag, dann muss Luzie die Kohlen und die Berge dreckiger Wäsche mit hochschleppen. Mit den anderen Mietern im Haus wird den ganzen Tag gewaschen, die Wäsche auf dem Waschbrett geschrubbt, in der stickigen Luft, im heißen Dampf der Waschküche, schweißnass von Kopf bis Fuß. Hier oben werden nur die großen Teile gewaschen, Bettbezüge und Laken. Wird die noch dampfende Wäsche an einem frostigen Wintertag – und die Wintertage sind schnell frostig in Berlin – auf die Leinen im zugigen Dachboden gehängt, gefriert sie binnen einer halben Stunde und wird bretthart, um niemals, nie trocken zu werden. Die restliche Wäsche wird unten im Badezimmer in der Wanne gewaschen. Die ganze Wohnung hängt voll mit Stoffwindeln und Hemdchen, Röcken, Kleidern und weißen Oberhemden, die Luzie ordentlich aufhängen muss. An schlimmen Tagen läuft die Feuchtigkeit die Wände des Badezimmers herunter. Überall klebt der Kohle- und Aschestaub, auch wenn nur noch in der Küche geheizt wird. Nicht geheizt, es wird gekocht, das wenige, was es gibt. Wärme ist nur ein Nebenprodukt.
Innerlich erfroren, vom Hunger gekrümmt, starr vor Angst und dem Gefühl, alles falsch zu machen, ganz und gar falsch zu sein, verkriecht sich Luzie mit ihren beiden Schwestern unter der Bettdecke, um sich gegenseitig wenigstens ein bisschen zu wärmen. Der einzige weiße Fleck am Bettzeug ist jene Stelle, an der sich die Atemluft in Eiskristallen niederschlägt.
Die kleine Kammer an der Küche wird vorübergehend untervermietet. Willys freundschaftlicher Dienst an einem nicht nur vom Krieg versehrten Kameraden, der in der Nordsee im Ölteppich eines versenkten Schlachtschiffes schwamm und auch Jahre später noch an einer chemischen Pneumonitis leidet. Er darf bleiben, bis er einen Platz im Lungensanatorium Beelitz gefunden hat.
Der hat mir bei Jericht mal ’n Arsch jerettet,
sagt Willy mit einem Augenzwinkern.
Das kehlig gurgelnde Husten des Kameraden ist Luzies ständiger Begleiter. Nur am Vormittag verstummt es, für die kurze Zeit im selten geheizten Klassenzimmer.
Es sind die große Müdigkeit und der ständige Hunger, die dem zehnjährigen Mädchen zu schaffen machen, die sie unaufmerksam sein lassen. Sie führen dazu, dass sie die richtige Antwort nicht weiß, nicht, weil sie die Frage nicht verstanden hätte, nein, sie hat sie vor Müdigkeit nicht gehört. Das ermutigt den Herrn Lehrer, freundlich und fürsorglich mit dem Rohrstock dreinzuschlagen, um dieses eigenwillige, impulsive Mädchen zu ermahnen und zur Ordnung zu rufen. Sie ist nicht die einzige. Eine ganze Reihe ihrer 46 Klassenkameradinnen haben Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, besonders im Deutschunterricht. In das einschläfernde Aufsagen einer schillerschen Ballade spinnt ihr müder Kopf den Beginn des Schwimmunterrichts im Stadtbad in der Bergstraße. Die Schulkinder gehen mit Schuhen durch die Halle, die Bademeisterin brüllt: Ausziehen! Eine Schwimmhalle wie ein Kirchenschiff, große bogenförmige Fenster als Oberlicht des Tonnengewölbes, Jugendstil von 1908. Schmiedeeiserne Geländer an der Galerie der ersten Etage, türkisblaue Fliesen im länglichen Schwimmbecken, mit halbkreisförmigem Abschluss, darüber eine Kuppel. In der Apsis nimmt die Wassertiefe zu, die Fliesen schimmern in einem dunklen Schwarzblau.
Das Stimmengewirr der Kinder, verstärkt durch das metallische Schlagen der Umkleidekabinentüren, echot durch das Gewölbe. Sie steht da, mit nackten Füßen in ihrem Badeanzug, und bekommt eine Schwimmweste mit eingenähten Korkklötzen angelegt, der Stoff der Weste ist noch tropfnass von den Vorbenutzern. Ihre dünnen Beine fangen an zu zittern, sie muss dringend auf die Toilette, ihr ist kalt.
„Und wärfst du die Krone selber hinein
Und sprächst: Wer mir bringet die Kron,
Er soll sie tragen und König sein –
Mich gelüstete nicht nach dem teuren Lohn.“
Sie steigt die Treppe tief ins Becken hinab. Das mäßig warme Wasser umspült ihren Leib, der Badeanzug saugt sich voll, schwer wie Blei. Am Beckenrand hoch über ihrem Kopf steht die Bademeisterin und hält ihr eine lange Holzstange vor die Hände, fordert sie auf, mit der eingeübten Schwimmbewegung zu beginnen. Sie versucht gleichmäßig zu atmen, gleichmäßig einen Zug nach dem anderen zu machen, oben zu bleiben. Der Kork bietet nur wenig Auftrieb. Sie schaut nicht nach unten, sie schaut an den Beckenrand, beginnt die Fliesen zu zählen. Ihr Kopf gerät wieder und wieder unter die Wasseroberfläche.
„Und ob's hier dem Ohre gleich ewig schlief,
Das Auge mit Schaudern hinuntersah,
Wie's von Salamandern und Molchen und Drachen
Sich regt' in dem furchtbaren Höllenrachen.“
Die Stimme der Bademeisterin ertrinkt in ihren Ohren, die Bewegung ihrer Beine beginnt aus dem Rhythmus zu geraten, sie strampeln, finden keinen Widerstand. Wasser schwappt durch ihre Nasenlöcher, schießt am Gaumensegel entlang in den Rachen. Mit einem würgenden Husten versucht sie, es aus dem Hals zu bekommen. Sie ergreift die angebotene Stange, um sich zu retten, inne zu halten, Luft zu holen, Atem zu schöpfen. Doch die Bademeisterin bleibt nicht stehen, rettet sie nicht, holt sie nicht aus dem kalten Wasser. Sie zieht sie damit immer weiter am Beckenrand entlang zur Apsis. Ihr Puls überschlägt sich.
„ Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch,
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachligte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers greuliche Ungestalt,
Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne
Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.“
Das Kommando:
Die ganze Runde, los jetzt,
verschwindet in ihrem prustenden, blubbernden Ausstoßen der Luft. Die Beine durchwühlen kältere Wasserschichten. Jetzt, so weiß sie, ist sie an der schwärzesten, an der tiefsten Stelle des Beckens. Es ist nicht zu erkennen, was da unten ist, doch da ist etwas, das nur darauf wartet, dass ihre Kräfte sie verlassen. Ihre Bewegungen werden unruhiger, ungleichmäßiger, sie benutzt ihre Arme wie ein Hund im Wasser. Das Rufen der Bademeisterin verschmilzt mit dem Krach in der Halle und den Wellen, die in ihre Ohren schlagen. Keuchend erreicht sie die Leiter auf der anderen Seite des Beckens. Sie umklammert die Sprossen so fest, dass ihre Handknöchelchen weiß hervortreten. Ein Rinnsal warmen Wassers zwischen ihren Beinen.
„Und da hing ich und war's mir mit Grausen bewusst
Von der menschlichen Hilfe so weit,
Unter Larven die einzige fühlende Brust,
Allein in der grässlichen Einsamkeit,
Tief unter dem Schall der menschlichen Rede
Bei den Ungeheuern der traurigen Öde.“
Sie schreckt hoch, als die Schulglocke schrillt.
Nächste Woche nochmal den Taucher.
Herrschaften! Das muss sitzen! Alle Strophen!
Auswendig! Pardon wird nicht gegeben!,
sind die letzten Worte des Deutschlehrers.
Es gibt keinen Schwimmunterricht, nicht 1927, nicht in der Schule und für Mädchen schon gar nicht, ihr Vater wäre auch strikt dagegen gewesen.
Meenste Schwimmen hätt mir jerättet, wenn se den Kahn faasenkt hätten, vor England? Besser ’n Ende mit Schrecken als jakeens. Wär ick ebn abjesoffen und bei de Flundern jelandet,
hätte er auf ihren Wunsch schwimmen zu lernen geantwortet.
Zuhause ist der Ton in den vergangenen Jahren rauer geworden. Es hagelt Schläge bei der kleinsten Kleinigkeit. Widerworte werden nicht geduldet. Von beiden Elternteilen nicht. Luzie erwischt es immer als erste. Weil sie jähzornig ist, weil sie aufbegehrt. Weil sie die Älteste ist.
Im Februar 1928 wird Helga, die vierte Tochter, geboren. Nach acht Jahren Pause. Geld für die Engelmacherin war keins mehr da. Berlin-Steglitz, Südende, Halskestraße, Parterre, rechts.
Wenn die Eltern sich nicht anschreien, herrscht zwischen ihnen kaltes Schweigen, nur das Ticken der Tisch-Uhr zerschneidet die entsetzliche Stille. Die Wände verströmen Traurigkeit. Berta sitzt am Erkerfenster und schaut dem an ihr vorbeiziehenden Leben hinterher.
Eine Klassenkameradin erkundigt sich bei Luzie, ob sie nicht Lust habe, in den Osterferien für ein paar Tage mitzukommen, auf eine Wanderung, mit den anderen Mädchen, es würde auch nichts kosten.
Zaghaft fragt sie zu Hause nach.
Wat soll dit denn sein? Sind wa dir nich mehr jut jenuch, ja? Musse jezze noch zu fremde Leute hin, ja? Wer hat dir denn in nen Kopp jeschissn? Allet nur Flausn. Wandan. Krichse ja die Mottn. Arbeeten sollse. Dit jibs doh janich. Da machse wat mit. Ha ick ja noch nie jehört, so n Blödsinn. Wandan! Nüschte is, du bleips hia. Hasse mia faastandn!,
brüllt Berta.
Es bricht ein Gewittersturm los. Übersät von blauen Flecken kann sie tagelang nicht sitzen. So ist sie noch nie verdroschen worden. Von ihrer Mutter.
Doch ihre Freundin lässt nicht locker. Sie lädt sie ein, mal an einem Sonntag zu einem Treffen mit den Mädchen vorbeizukommen. Sie würden sie auch abholen und die Eltern überreden. Als Willy die jungen Mädchen sieht, wie sie mit ihrem strahlenden Lächeln vor der Wohnungstür stehen, um Luzie abzuholen, ergreift ihn eine Wehmut. Es ist das Adrette, das Ordentliche, die Gleichförmigkeit der Blusen und Röcke, ihrer geflochtenen Haare, das vorne zusammengeknotete Halstuch, dass ihn an seine Zeit bei der Marine erinnert. Er war gerne Matrose, fern der Heimat, genoss die Momente an Deck bei ruhiger See mitten in der Nacht. Weit der Himmel über ihm, Sterne unzählbar, funkelnde Punkte, die Ewigkeit. Da machte er sich keine Sorgen um seine Existenz. Er sagt aus einer Laune der Großzügigkeit heraus,
Berta, nu lass ma. Wenn die wech is, broochse och wenija ze kochen. Die frisst uns soweso nua de Haare von nKopp, wa? Um die Kleenen, da kann sich Liselottchen kümman. Is alt jenuch, …
Er schaut seiner großen Tochter hinterher und summt,
… denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland…,
leise, ganz leise.
Für Luzie beginnt eine neue Zeit.
„Für Ramette war dieser Nachmittag ein Geschenk, … nach fünf Jahren Gefangenschaft, das erste Mal als Mensch, …“, schreibt Luzie in ihren Tagebuchaufzeichnungen.
Ramette. Ich suche also nach einem französischen Soldaten, nach einem von etwa zwei Millionen Kriegsgefangenen, die nach Frankreichs Kapitulation in Deutschland zwischen 1940 und 1945 interniert waren, und ich habe nur seinen Nachnamen? Ist das mein Ernst? Ein recht großer Heuhaufen und eine sehr kleine Stecknadel. Die Erfolgsaussichten, diesen Menschen zu finden, tendieren bei Licht betrachtet gegen Null. Warum schrecke ich nicht zurück und streiche sofort die Segel? Ist es mein Glaube an das Gute oder Naivität? Ich gebe mir ein halbes Jahr, um diese Suche mit einem Ergebnis abzuschließen.
Auf einer genealogischen Internetseite entdecke ich tatsächlich einen Familienstammbaum mit dem Namen Ramette. Es gibt auch eine Emailadresse. Gerne würde ich schreiben: „Ist Ihr Großvater der von mir gesuchte Ramette?“ Doch mein Französisch reicht dazu nicht aus.
Ich frage Patrice, einen französischen Bekannten, ob er für mich eine E-Mail übersetzen könnte. Ich erfahre bei der Gelegenheit, dass Patrice nach seinem Militärdienst, den er in Deutschland ableisten musste, seine in Frankreich begonnene journalistische Laufbahn in Deutschland fortgesetzt hat. Er ist neugierig und will etwas mehr zu meiner Recherche wissen, zu der Geschichte dieses Franzosen und meiner Mutter.
Während ich Patrice von der Kiste erzähle, den Aufzeichnungen und einer großen Frankophilie in unserer Familie, wird mir bewusst, dass die Zuneigung zu allem Französischen, die Annäherung an den Erbfeind, immer von Luzie ausging.
So besuchten meine beiden großen Brüder in den 60er Jahren ein Gymnasium in West-Berlin, an dem Französisch als erste Fremdsprache unterrichtet wurde – auf ihr Betreiben hin. Diese Schule lag nicht in unserem Einzugsbereich, und doch wurde jeden Morgen eine Busfahrt von einer Stunde als Schulweg hingenommen – es gab hervorragende Schulen ganz in unserer Nähe.
Auch, dass beide Brüder nach Frankreich zu einem jeweils vierwöchigen Schüleraustausch geschickt wurden – auf Luzies Betreiben hin. Michael, der älteste, war in der Bretagne bei einem Fischkonservenhersteller untergebracht, was zwei wunderbare Nebeneffekte hatte: er lernte dort Wasserskifahren und unsere Familie bekam irgendwann kurz vor Weihnachten ein Paket aus Frankreich geschickt, einen Karton mit Unmengen kleiner, bunter Büchsen, in Öl eingelegte Sardinen. Thomas, der mittlere Bruder, wurde nach Colmar ins Elsass geschickt.
Der Austausch fand auch in die andere Richtung statt. Alain, ein französischer Student, lebte für längere Zeit bei uns in der Familie, Jean-Marc, ein Austauschschüler des Schiller-Gymnasiums, für ein paar Wochen, und auch Gérard, ein französischer Soldat, war bei uns ein oft und gern gesehener Gast, stets in Uniform. Mein Vater spielte stundenlang mit ihm Schach, während meine Mutter die beiden mit Getränken und Käsehäppchen versorgte. Immer war sie bei solch einem Besuch in äußerst aufgeräumter Stimmung und dem Gast herzlich zugewandt.
Wenn alle Jahre wieder die Westberliner aufgefordert waren, alliierte Soldaten zwecks Völkerverständigung einzuladen, dann saß zum Fest im Lichterglanz der Kerzen ein Franzose in Uniform mit uns an der gedeckten Tafel unterm Christbaum. Vater sagte: „Na, da laden wir wieder einen Franzosen zu Weihnachten ein; warum eigentlich keinen Engländer oder Amerikaner?“
Nach einigen Wochen möchte mir Patrice die Ergebnisse seiner Nachforschungen mitteilen. Wir gehen eine Tasse Kaffee trinken.
Tatsächlich hat der Inhaber der E-Mail-Adresse geantwortet. Sein Großvater sei Kriegsgefangener in Deutschland, in Süddeutschland, bis 1945 gewesen. Also nicht unser Ramette, wie Patrice sagt. Auch ich vermute die Begegnung meiner Mutter mit Ramette eher in Berlin oder der näheren Umgebung.
Er gibt mir die Adresse des Suchdienstes in Bad Arolsen, der Arolsen Archives, ich könne dort eine Anfrage stellen, und wenn es da nicht klappt, beim Internationalen Roten Kreuz in Genf. Auf jeden Fall solle ich weitersuchen, es wäre wichtig, dieser Geschichte ein Gesicht zu geben. Auch wenn es Durststrecken geben werde, ich solle unbedingt weiterforschen. Ob ich einen Vornamen oder eine Anschrift habe? Nein, nichts davon ist in Luzies Tagebuchaufzeichnungen zu finden. Dieser Nachname Ramette, sagt Patrice, komme nicht sehr häufig vor, nicht etwa wie Dubois, und die Franzosen hätten bei der Repatriierung nach Kriegsende, der Rückkehr ins Vaterland, sehr genau Buch geführt. Die Rückkehrer aus Deutschland seien mitunter drangsaliert und der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt, einige gar unter Spionageverdacht ins Gefängnis gesteckt worden. Dementsprechend sollte es zu diesen Vorgängen in französischen Archiven etwas geben. Er werde sich melden, sobald er etwas gefunden habe. Die ersten Monate meiner mir zugestanden Zeit sind vergangen. Langsam beginne ich zu ahnen, was mich erwartet.
Mit Gérard im Zoologischen Garten, 1964
„Meine Fahrten und Wanderung im Bund waren mir alles, nehmen meine Angst und Feigheit, machten meinen Körper gesund, war vorher ein schwaches zartes Kind, bin erst mit 7 Jahren in die Schule gekommen, habe vom 10-12 Lebensjahr viel Kopfschmerzen und Brecherscheinungen gehabt, alles war weg, konnte gut schwimmen, fuhr nur mit dem Rad, war von zu Hause weg.“
Luzies Tagebuch
Da stehen ihre Freundinnen vor ihrer Tür und holen sie ab. Die vier fahren mit der S-Bahn Richtung Wannsee, laufen ein ganzes Stück durch den Grunewald. Der sandige Boden unter ihren Schuhen, der Duft der Kiefern, das Laub der Bäume lässt das Sonnenlicht wie Schatten tanzen, eine andere Welt, eine andere Luft.
Sie treffen die restliche Gruppe, die mit Fahrrädern gekommen ist, auf einer Wiese am Teufelssee. Ein freudiges Hallo. Luzie bleibt schüchtern abseits. Schaut. Hört.
Die Mädchen springen in den See, baden, schwimmen, toben, ein Juchzen und Jauchzen. Jemand drückt ihr eine Stulle in die Hand. Sie sitzt am Seeufer und hält das Brot fest.
Sie spürt die Wärme auf der Stirn, auf den Händen, Armen, die Kühle des Sandes, der zwischen ihren Zehen hervorquillt, wenn sie die Füße bewegt. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, sieht hinter geschlossenen Augen das Blut in ihren Lidern, ihr Mund öffnet sich, sie atmet aus. Und ein. Und aus.
Vom Wasser her wird ihr Name gerufen: Luzie, komm mit rein, es ist so herrlich. Sie öffnet ihre Augen, schaut in Richtung der Rufenden, schüttelt leicht den Kopf und beißt, wie zur Entschuldigung, in die Stulle. Leberwurst mit dünn geschnittenen Gewürzgurken und Butter.
Es ist abgemacht, dass sie beim nächsten Treffen dabei ist. Dann soll es mit dem Rad hinaus in Wald und Feld gehen. Sie sagt, sie käme gerne mit, aber sie habe kein Fahrrad. Macht nichts, erwidert ihre Freundin, bei ihnen stünde noch eins im Keller.
Einige der Lieder, die auf dem Rückweg gesungen werden, kennt sie. Von ihrem Vater.
Halli Hallo, wir fahren.
Ihr Kopf glüht von der Sonne, schwirrt von all den Eindrücken, diesen eigenartigen Gefühlen und der Gewissheit, dass sie gar nicht Rad fahren kann.
Wir fahren in die Welt.
Willy hat eine gewisse Sympathie für die ganze Sache. Wurde dieser Bund, dieser Jungnationale Bund, anfangs in den 20er Jahren doch von seinem Admiral geführt, dem Oberbefehlshaber der Hochseeflotte in der Skagerrakschlacht, 14/18.