Leben heißt, das Verlierbare lieben - Mirjam Rabe - E-Book

Leben heißt, das Verlierbare lieben E-Book

Mirjam Rabe

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Beschreibung

Mirjam Rabe hat Erinnerungen an das Weiterleben ihres Vaters nach einem Zusammenbruch literarisch verarbeitet. In einer ganz eigenen Sprache und Sprachbildern ohne Klischees schildert sie eine von Verwandlung und Abschied geprägte Zeit ihrer Jugend. Sie nimmt die Leser:innen ganz in das Beziehungsgeschehen hinein und zeigt damit nicht nur ihr eigenes Ringen mit der geistig veränderten Persönlichkeit ihres Vaters, sondern auch, dass Erfahrungen mit Behinderung nicht nur als Mangel, sondern auch als Bereicherung erlebt werden können. Mit ihrer Geschichte berührt die Autorin Fragen, die uns alle angehen: Was bleibt, wenn die Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen man sich selbst oder einen anderen Menschen identifizierte, verloren gehen? Wie verändert sich die Haltung zum Leben, wenn die Einsicht in die Verletzlichkeit und Verlierbarkeit all dessen, was einem wichtig ist, akzeptiert und umarmt wird?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 134

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mirjam Rabe

Leben heißt, das Verlierbare lieben

Eine Geschichte von Verwandlung und Abschied

Patmos Verlag

Inhalt

I Aufbruch

Loslassen

Wie durch Glas

Zwischen Ich und Du

Eine fließende Wand

Die Blicke der Anderen

Was bleibt

Jenseits der Rollen

Kein Mangel mehr

II In ein gelösteres Sein

Im Garten

Die Linien

In den weißen Räumen

Nirgends wird Welt sein …

Der Schmerz in Gedanken

Durch uns hindurch

Wo das Licht sich sammelt

Stille Nacht

Mit geöffneten Armen

III Entlang der Grenze

Schutzlos

Die Erde unter uns

Bonum est confidere

Auf der regennassen Straße

Ich bring’ dir die Bilder

Der Himmel, sichtbar

Aus der Ferne

Was siehst du?

IV Abschied

Da kein Tod mehr wird sein

„Ich kann dich nicht sehen.“

Dunkle Zweige

Das Leise

Wegsegen

Durch jenen Spalt

Licht, mich umspülend

ÜBER DIE AUTORIN

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Ich laufe zu dir. Ich bring’ dir die Bilder.

I Aufbruch

Loslassen

Die Zugvögel über mir und das Bild in mir. Ich sehe dich auf dem Felsen sitzen, fühle deinen Blick, der dem nachgeht, was niemand wird halten können. Nicht mit diesen Händen. Nicht mit diesem Bewusstsein.

Wunderschönste Normalität, als solche nicht erkannt, die ich immer erinnern werde: der Tag vor dem Tag, mit dem die andere Zeit begann. Ein Nachmittagsausflug im späten Mai, wir fahren durch die uns vertraute hügelige Landschaft, über uns ziehen die Wolken, ich spüre die Biegungen der kurvigen Straße in meinem Körper, das weiche Gegengewicht des Autositzes, Grund, der ruhig bleibt, während wir uns bewegen. Ein Stück Welt, das war und nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Du am Steuer. Wie sicher ich mich gefühlt habe – bei dir, mit dir. Am nächsten Morgen gingst du mit Aktentasche aus dem Haus in der frischen Morgenluft und du kamst nicht wieder, nicht am Mittag, nicht am Nachmittag, und es dauerte Tage, bis wir Kinder in die Intensivstation durften.

Die Tür ist grau umrandet und von schwerem Glas, zögerlich führt uns ein Krankenpfleger in den Raum am Ende des Flures. Ich versuche nicht nach links und rechts zu blicken, nur in der Erwartung zu bleiben, dich zu sehen. Der künstliche Atem, das Flackern der Geräte. Ich muss mich nicht zu dir beugen, ich bin noch nicht so groß. Ich sage, ich bin da, ich sage den Namen, mit dem du mich liebevoll angesprochen hast, wenn meine Beine beim Wandern müde wurden. Du blickst nicht zu mir, keine Regung deines Körpers zeigt mir, dass du mich verstehst. Der Raum, der uns umgibt, ist so sehr ein Nicht-Zuhause, du bist wie es scheint losgelöst von allem, das zu dir gehörte, aber es bist du, ich konzentriere mich auf das, was geblieben ist: dein Körper, einzigartig und unverwechselbar, durch alle Veränderung hindurch und damit der Mensch, der du bist, der einen Ort einnimmt, im Familiengefüge, im Weltgefüge, der von keinem anderen eingenommen werden könnte.

Draußen geht die Welt weiter. Es ist Frühling, Lichtstrahlen brechen durch die dunklen schmalen Gitterstäbe der Umrandung des Stadtparks, ich lasse meine Hand über das schwere Eisen gleiten, während wir zum Auto zurückgehen. Niemandem möchte ich begegnen, niemanden sprechen müssen, der aus der Welt des ‚Davor‘ kommt, ohne es zu wissen, ohne von dem Bruch zu wissen, den diese Welt erlitten hat. Zuhause schreibe ich in mein Tagebuch in Schreibschrift, die nie so recht gleichmäßig und gerade werden möchte: Ich will dich behalten, egal wie.

Wie durch Glas

Die Zeit bleibt nicht stehen. Es kommen Morgen und Abend, jede Nacht geht vorüber, auch wenn sie schlaflos ist, es gibt keine Pause vom Alltag. Dass die Welt sich arglos weiterdreht, empfinde ich als rettend, zugleich aber auch als eine weitere Verletzung, als mangelnden Respekt vor dem, was geschehen ist. Heilsam sind die Zuwendungen, besonders die stillen, die keine Worte, keine Beschreibungen von mir verlangen. Ein großer Topf mit frisch gekochter Suppe, den wir Kinder auf den Steinen vor der Terrassentür finden, wenn wir von der Schule kommend in ein stilles, leeres Haus heimkehren. Kein Zettel zum Gruß, doch gerade in dieser wortlosen Geste erreicht uns so viel Wärme von Freunden und Nachbarn. Ihnen könnte ich begegnen, ich könnte sie ansehen, vielleicht auch erzählen. Doch sobald ich unter Menschen bin, die nichts von unserem Erleben wissen, beginnt mein Blick vielem auszuweichen, in Hilflosigkeit und Trotz, als trüge ich unfreiwillig ein Geheimnis in mir, durch das ich mich anderen entfremdet fühle: das Wissen darum, wie zerbrechlich alles ist. In den Schulräumen fixiere ich einen Punkt an der Wand, wenn es im Biologieunterricht um Herzversagen oder Ähnliches geht, verlasse ich das Unterrichtszimmer, nicht um die Toilette aufzusuchen, sondern um still an einem geschlossenen Fenster zu stehen und durch das Glas hindurch nach draußen zu blicken. Etwas Beruhigendes geht von diesem Blick auf den von alten Mauern geschützten Schulhof aus, ein Bild, das mit einer immer unterschwellig fühlbaren Traurigkeit in Resonanz geht: sich langsam bewegende Menschen oder aber die Leere des in den Pausen von Leben gefüllten Platzes.

Manche Ärzte sagen, vielleicht kommt vieles wieder zurück, vielleicht dauert es ein Jahr. Und es ist gut, mit diesem Vielleicht zu leben. Du kommst nach Hause, zu Besuch. Und wir denken: Wird es so sein, wenn du wieder ganz bei uns bist, wenn du die Klinik verlassen kannst? Dann bist du wieder dort, in den anderen Räumen und ich denke an dich, in scheinbar belanglosen Momenten des Alltags, höre in mir deine Stimme, die mich ermahnt und ermutigt hat und auch in der Erinnerung an eine Ermahnung fühle ich nur Wärme und trostvoll, schmerzvoll: die Nähe des Fernen. Und es beginnt, was von nun an immer andauern wird: eine Beziehung, in der Fragen gestellt werden, die offenbleiben, eine Beziehung, in der Wut nicht aufkommen, sich nicht gegen den Anderen richten kann, und sich so ihre eigenen Wege sucht, die nach innen, nicht nach außen führen.

Ich will dich behalten, egal wie. Noch bin ich keine 12 Jahre alt. Jede Veränderung, auch wenn sie Verlust bedeutet, ist für mich sanfter als der Tod, von dem ich nichts weiß und nichts wissen will. Hauptsache, du bist irgendwo irgendwie noch da, möglichst bald wieder ganz bei uns. Nur: Wie trauert man um jemanden, der noch da ist? Gar nicht, denn er ist ja noch da. Aber um das, was unwiderruflich verloren ging? Kaum Raum für Trauer. Ich kann mich noch gut umgewöhnen in einem Alter, in dem sich ohnehin die Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit beständig ändert. Nur würde ich manchmal gerne sagen, in einer Klarheit, die keiner weiteren Worte mehr bedarf, dass du nicht mehr da bist – so wie du da warst –, dass du jetzt fehlst. Und wenn ich so fühle, dass du mir fehlst, denke ich mir, es wäre einfacher, einen Menschen durch den Tod zu verlieren und trauern zu dürfen und das Verständnis anderer finden zu können, gezeichnet sein zu dürfen. Der Tod würde all dem, was ich als Schwere in mir trage, ein Recht geben, zu sein. So aber geht es weiter, das Lernen und Umgewöhnen und manchmal ist mir, als würde ich eine leise blutende Wunde betrachten, lautloses Fließen und Versickern, wie ein Bild, unfähig, die Wunde zu stillen.

Nur ein Bild.

Zwischen Ich und Du

Auf dem Fahrrad durch den grauen Regen. Immer die Wege, die Wege zu dir, die, seit sie nicht mehr nach Hause führen, schwer geworden sind. Nach unten gegen den Widerstand der Pedale, Druck in meinen müden Beinen, ich war noch nie in diesem Stadtteil. Weit hinaus aus dem Zentrum führt der Weg, vorbei an einem Kanal.

Dort muss es sein, durch die geöffnete Schranke, bei den Fahrradständern auf dem großen fremden Innenhof mache ich halt. Nur verschwommen nehme ich eine Umgebung wahr, Menschen sind da, aber nicht als Mitmenschen, sie gehen ihre Wege, jeder die eigenen Sorgen tragend, die Köpfe immer wieder nach unten geneigt. Gegenüber des massiven L-förmigen Gebäudekomplexes ein Park, ein Draußenbereich, dichtes, schweres Grün der Laubbäume im Sommerregen. Die grauen Wände trennen Innen und Außen und doch ist es alles wie ein in sich geschlossener Innenraum, weit weg, ein anderer Raum, einer, in dem man nicht freiwillig ist, weshalb auch die schön gestalteten Grünanlagen von unsichtbaren Wänden umrandet zu sein scheinen.

Manchmal sind Pfeile auf dem Boden, sie ziehen die Blicke noch stärker nach unten, grauer Asphalt, der übergeht in graues Linoleum, hier geht es zum Haupteingang, dort zum Aufzug. Nicht zu viel fühlen, nicht zu viel blicken zu den Fragen, den offenen, hilflos suchenden. Am Ende eines langen Flures zur rechten Hand die Tür zu deinem Zimmer. Zu deinem Zimmer? Nein, es ist nicht deines. Nichts darin verrät, wer du bist. Die Zimmerpflanze weiß von nichts, kennt niemanden und jeden, kein Bild, das deine Erinnerungen trüge. Nur, dass du da bist, verrät, dass du bist. Oder ist es zunächst die bloße Anwesenheit deines Körpers und du bist anderswo, kommst erst zurück zu uns, wenn du uns ansiehst, uns hörst, wenn du uns erkennst, wenn du erkennst, dass wir dich erkennen?

Ich gehe über die Türschwelle, gehe über die Angst, wir könnten miteinander in einem Raum sein, ohne miteinander zu sein, ohne uns zu erkennen. Die Angst vor der Ferne im Nahen, die so anders ist als die warme Nähe des Fernen. Schmerzlich, immer noch, die Erinnerung, an das erste Mal, als wir dich zusammen in diesem Zimmer besuchten. Ich blickte zu dir in den Raum, der nicht deiner ist, und du sagtest: „Schwester, bringen Sie mir bitte …“. Ich habe gebraucht, um zu realisieren: Du hast mich nicht erkannt. Ich bin dir fremd. Ich wollte weglaufen und hätte doch nie weglaufen können von dir.

Aber nun schläfst du und ich kann dir nahe sein, so wie ich es bin, wenn ich an dich denke. An deinem Bett sitzend, in der Stille, erinnere ich mich müde an die Freude, die in uns war, als du wieder begonnen hattest, zu sprechen. An die Hoffnung, es würde jetzt wieder so sein und werden, wie es war, wir könnten zurückkehren an den Ort, an dem der Alltag zerbrach. In deinem Wieder-Besitz war jedoch zunächst nur das bereits einmal Gesprochene: Erst kamen Laute, dann Silben, dann Verse, mit und in denen du gelebt hattest, und schließlich mühsam die bewusst gebildeten Wörter. Sie kamen dir als vertraute, aber unzuverlässige Bekannte und inzwischen wissen wir, sie bleiben dir nicht so, wie sie einem Kind bleiben, wenn es sie einmal gefunden hat. Sie haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. An deinem Bett sitzend, nehme ich wahr, wie sehr die Wörter gemeinsam mit den ihnen fest zugeordneten Bedeutungen uns Halt gegeben hatten, bevor sie verloren gingen. In der Stille, müde vom Kreisen meiner lautlosen Gedanken. Sind sie in mir oder sind sie in dem leeren Raum, der uns umgibt, in dem die Luft so dicht wird, sich fast gegen mich drängt, sodass ich wieder das Fenster öffnen möchte und, im Unzuhause, nicht weiß, ist es erlaubt?

Doch dann wachst du auf und ein Abenteuer beginnt: Wir sehen uns an und ich glaube zu sehen, dass du mich siehst. Woran ich es sehe, ich weiß es nicht. Sehe ich es in deinen Augen oder aus ihnen heraus? Augen, in denen ich mich spiegele, aber nicht nur, die ich nicht als Teil eines Körpers betrachten kann, nein, mir scheint, sie sind niemals ein Teil, immer ein Ganzes: Augen, die mich ansehen. Meinen Blick erwidern, der sich bricht.

Wie sehr möchte ich verweilen, in diesem Zwischen von Ich zu Du, von Du zu Ich, voller Trost, voller Gewissheit.

Du öffnest vorsichtig den Mund, in dem Versuch, etwas zu sagen. Und ich öffne mich hin zu dir, als würde ich zu dir eilen, möchte dir Raum geben, möchte dir helfen, mich zu erreichen, wenn du es willst. Nun ist es, als tasteten wir nach einander, hinein in den leeren Raum. Wir versuchen es mit den damaligen, den vertrauten Wörtern, manchmal sind sie da, die unsichtbaren Ströme, Verbindungen zwischen deinen und meinen Gedanken. Dann nehme ich ein Wort als Stütze, hoffend, es wird mich zu dir bringen, und es bricht weg, wie ein morscher Wanderstock. Fast will ich mich abwenden in Schmerz und Scham darüber, so unbeholfen zu sein in der Beziehung zu einem Menschen, mit dem das Sprechen einmal einfach, einmal selbstverständlich war.

Aber du bist, und ich halte fest an dem, der du für mich warst und ich wende mich nicht ab. Und während ich bleibe in dieser schmerzhaft unerwarteten Gegenwart, an deinem Bett sitzend, entdecken wir gemeinsam die neuen Brücken, die ganz anderen Wege, das Spiel. Brücken, auf die wir, noch unsicher, die ersten Schritte setzen können. Du möchtest das Bett, das Zimmer verlassen, etwas einkaufen, dir etwas zu essen aussuchen, doch es ist noch nicht so weit. Wie im Reich der Kindheit grenzen die Welten aneinander, Fantasie und Wirklichkeit, und die Grenzen sind weich. Was war das, Wirklichkeit? Willst du im Rollstuhl sitzen und ich schiebe dich? Meine Griffe finde ich an der Lehne des Bettes. Oder wird das Bett zur Kutsche, zum Auto, – wir kommen ganz sicher an.

Der Weg zurück durch die grauen Flure bis zu der großen Haupttür im Erdgeschoss ist mir leichter als der Weg zu dir. Etwas hat sich gelöst. Zwar trage ich die schweren kreisenden Gedanken, wie in all diesen Tagen, fast ohne es zu merken, fast nicht mehr erinnernd, wie es war und wäre ohne sie. Doch zaghaft, freudig, leise ist da ein Staunen, ein neugieriges Fragen, ein anderes Verstehen. Ich kann die Menschen sehen und ansehen als Mitmenschen, die sie sind. Und ich spüre, wir werden etwas lernen, gemeinsam, etwas ganz Neues erfahren, ja, selbst in diesem Gebäude, welches mir so sehr Fremdheit, Ungeborgenheit bedeutet, dass ich es nicht Haus, nicht Ort nennen kann. Es wird nicht bleiben bei dem Grau, das die Blicke zu Boden zieht. Wir werden, uns anblickend, durch das Licht unserer Augen, etwas Neues schaffen, wie kahl die Wände auch sein mögen, wie lang und leer die Flure – ja, selbst dann, wenn deine Augen die äußeren Dinge nicht sehen können.

Mit dieser Hoffnung gehe ich zurück nach Hause, ohne dich.

Eine fließende Wand

Wochen später darfst du das Zimmer verlassen. Es ist ein milder, trockener Sommertag, ich schiebe deinen Rollstuhl über die Schotterwege in dem großen Parkgelände. Freie Wiesen, Bänke, kleine Lauben und schließlich eine Weide mit Ziegen, die Wiese umsäumt von einem kleinen Wald. Dort halten wir an. Du bist eingeschlafen.

Während du schläfst, sage ich dir alles, spreche alle Gedanken so aus, wie sie in mir sind. Vielleicht hätte ich niemals so zu dir gesprochen, wäre alles geblieben, wie es war, nie mich so sehr geöffnet. Aber spreche ich zu dir? Ich weiß, dass du schläfst. Wer nimmt die Worte auf, die so schutzlos freigesetzten? Ich sage sie, weil ich sie allein nicht mehr halten kann, sage sie dir, einem Du. Warum solltest es nicht du sein, zu dem ich spreche? Auch wir, die wir uns weniger verändert haben, hören nicht auf zu sein, wer wir sind, wenn wir schlafend nicht mehr reagieren. Das Innere, das Äußere. Ich schließe die Augen, so wie du. Ich stelle mir vor, wenn wir schlafen, sind wir verbunden ohne Worte, ja, ohne die Möglichkeit, einander nicht zu erkennen. Öffne ich die Augen, ist die Welt da und mit ihr: die Ferne, die Missverständnisse, die wahren Fragen: Wer bist du? Wer bin ich? Müde beschließe ich, leben zu wollen in der Offenheit der ausstehenden Antworten.

Nach langen Monaten kommst du wieder nach Hause. Mit der Hilfe von Freunden haben wir neue Strukturen für den veränderten Alltag gefunden. In uns ist Erleichterung und Freude, wieder mit dir zuhause zu sein, doch gerade hier, in den eigenen Räumen, sind wir mit dir ständig damit konfrontiert, wie es früher war, vor deinem Zusammenbruch. Alles, was du nicht mehr kannst und doch so selbstverständlich konntest, umgibt dich als dein Leben, das dir selbst nicht mehr zugänglich ist. Du bist ehrgeizig, wie du es immer warst. Nicht nur Sprechen und Laufen, auch das Schreiben lernst du wieder, doch es geht dir mühsam von der Hand, und was du schreibend festhalten möchtest, ist das schmerzliche Bewusstsein der Differenz von Vorher und Nachher.