Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum - Brita Schirmer - E-Book

Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum E-Book

Brita Schirmer

4,9

Beschreibung

Studien gehen davon aus, dass ca. 1 % aller Menschen im Autismus-Spektrum sind. Für Eltern ist die Diagnose ihres Kindes oft ein Schock, zumal sie sich häufig allein gelassen fühlen und das Kind mit seinem oft schwierigen Verhalten sie extrem fordert. Dennoch finden die meisten ihr inneres Gleichgewicht wieder und genießen ihr Leben. Für dieses Buch wurden Mütter und Väter von Söhnen im Autismus-Spektrum interviewt. Sie erzählen aus ihrem Leben, davon, wer oder was ihnen am meisten geholfen hat und was sie sich für ihre Kinder wünschen. Das Buch klärt zum einen über die Situation der Familien auf und macht zum anderen Eltern Mut, die gerade erst die Diagnose ihres Kindes erhalten haben.

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Brita Schirmer Tatjana Alexander

Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2015

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-028767-9

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028768-6

epub:    ISBN 978-3-17-028769-3

mobi:    ISBN 978-3-17-028770-9

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

Vorwort

Einführung

1 Was ist das Autismus-Spektrum?

1.1 Wie der Autismus zu seinem Namen kam

1.2 Hans Asperger

1.3 Leo Kanner

1.4 Autismus als psychiatrische Diagnose: Frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom

1.5 Die Autismus-Spektrum-Störung

1.6 Von der Autismus-Spektrum-Störung zum Autismus-Spektrum

2 Die Diagnosestellung

2.1 Die Symptome

2.2 Was die Diagnose erschwert

2.3 Was Eltern in der frühen Entwicklung ihrer Kinder beobachten

3 Schwierige Kinder – schwierige Eltern?

3.1 Wie der Autismus entsteht

3.2 Die Lebensentwürfe der Eltern

3.3 Traditionslose Eltern

3.4 Was die Eltern brauchen

3.5 Die emotionale Situation der Eltern

3.6 Die Belastung der Eltern

3.7 Die Paarbeziehung der Eltern

3.8 Die Sorge um die Geschwisterkinder

4 Risiken für die Beziehungsentwicklung zwischen Mutter (Vater) und Kind

4.1 Blick’ mir in die Augen!

4.2 Bindungsverhalten

4.3 Ablöseprozess

4.3.1 Der Ablöseprozess bei neurotypischen Heranwachsenden

4.3.2 Der Ablöseprozess bei Heranwachsenden im Autismus-Spektrum

Elterninterviews

Anne L. »Da bin ich schon sehr froh, man hat jetzt einen anderen Blick auf die Dinge«

Horst E. »Da habe ich gemerkt, dass es ja mindestens tausend Eltern gibt, die mit einem autistischen Kind leben müssen«

Sabine H. »… die Vernunft ist schwer in den Vordergrund zu rücken, weil die Liebe einfach so stark ist«

Sabine Sch. »Wenn man erst einmal merkt, was man selber für eine Kraft hat!«

Thomas H. »Warum muss ich Menschen bewerten? Ich kann sie doch einfach nur so akzeptieren …«

Charis H. »Leute, ich habe es nicht schwer!«

Uwe B. »Das Kind nicht aufgeben«

Ines N. »Also, uns hat es wirklich richtig zusammen- geschmiedet!«

Lars N. »Für Till wünsche ich mir, dass es ihm gut geht«

Stephie L. »Mattes hat einen Drehtic!«

Andreas D. »Ich muss nicht immer so viel wie möglich haben«

Kerstin R. »Eigentlich ist er ja so mitfühlend, wenn man ihm irgendwas erklärt«

Ute B. »Söhnke war ein Wunschkind«

Nadja K. »Nehmt es doch einfach mal so, wie die Dinge sind, und seid glücklich!«

Sybille K. »Wir haben uns halt damit arrangiert.«

Nachwort

5 Die Erfahrungen der Eltern im Spiegel qualitativer Textanalysen

5.1 Was macht eine autistische Störung aus? Besonderheiten ihres Sohnes, die den Eltern früher oder später auffallen

5.1.1 Auffälligkeiten in der körperlichen Entwicklung

5.1.2 Auffälligkeiten im Sozialverhalten

5.2 Die Diagnose der autistischen Störung als Schwellenereignis

5.3 Die Haltungen in der Verwandtschaft und Veränderungen im Freundeskreis

5.4 Reaktionen aus dem weiten sozialen Umfeld

5.5 Innere und äußere Ressourcen: Was/wer war für die Eltern hilfreich

5.5.1 Soziale Ressourcen

5.5.2 Professionelle

5.5.3 Hilfreiche Strategien und Haltungen

5.5.4 Materielle und zeitliche Ressourcen

5.6 Hatte die autistische Problematik des Kindes einen Einfluss auf die Paarbeziehung?

5.7 Welche Therapieformen, Maßnahmen, elterliche Strategien waren für das Kind aus der Sicht seiner Eltern hilfreich?

5.8 Persönliche Entwicklung der Eltern mit Rückblick auf ihre Auseinandersetzung mit der besonderen Situation ihres Kindes

5.9 Schlussbemerkungen

Literatur

Vorwort

 

Vor fast zwei Jahrzehnten habe ich, Brita Schirmer, in Berlin eine Elterngruppe für Angehörige von Menschen im Autismus-Spektrum ins Leben gerufen. Die Idee entstand, nachdem sich eine Mutter bei mir während eines Beratungsgesprächs darüber beklagt hatte, wie einsam sie sich in ihrer Situation mit einem Sohn im Autismus-Spektrum fühle. Sie erklärte mir, wie sehr sie den Austausch mit Familien mit einer ähnlichen Lebenssituation vermissen würde.

Diese Information nahm ich zum Anlass, ein erstes Treffen für diese Mütter und Väter zu organisieren. Seitdem trifft sich eine Gruppe von Angehörigen, zumeist Eltern, einmal im Monat und ein Teil von ihnen fährt sogar einmal im Jahr mit ihren Töchtern und Söhnen für ein Wochenende gemeinsam weg.

In der Zwischenzeit waren schon Angehörige von über 150 Familien bei den monatlichen Treffen der Elterngruppe. Einige kommen regelmäßig, andere einige Male im Jahr und die nächsten nur dann, wenn sie ein Problem im Zusammenhang mit ihrem Kind quält. Dies ist oft die Zeit, unmittelbar nachdem bei ihrem Sohn oder ihrer Tochter die Diagnose gestellt wurde, manchmal auch, wenn der Übergang in die oder aus der Schule ansteht oder die Pubertät neue Fragen aufwirft.

Zwischen vielen Familien sind in den vergangenen Jahren Freundschaften entstanden. Einige fahren zusammen in den Urlaub und besuchen sich regelmäßig. Ein Teil der Eltern hat sich organisiert und bietet unter dem Namen Elternzentrum Berlin e. V. Beratung und Informationsveranstaltungen zum Thema Autismus an und vertritt öffentlich die Interessen der Menschen im Autismus-Spektrum.

In diesem Buch kommen 15 Mütter und Väter aus dieser Gruppe zu Wort. Sie berichten von sehr persönlichen und berührenden Erfahrungen, die sie mit ihren Kindern gemacht haben. Sie schildern, wer oder was ihnen am meisten geholfen hat und was sie sich für ihren Sohn wünschen. Dass ausschließlich Eltern eines Sohnes zu Wort kommen ist Zufall, wenngleich auch grundsätzlich mehr Männer als Frauen im Autismus-Spektrum sind (Bölte, 2009b, S. 69f.).

Natürlich ist es schon eine besondere Gruppe von Eltern, die überhaupt in ein Interview einwilligt (Solomon, 2013, S. 34). Viele Aussagen der Eltern spiegeln so zwar individuelle Erfahrungen wider, scheinen aber dennoch in einem gewissen Rahmen verallgemeinerungswürdig: Das Leben findet nach einer schwierigen, manchmal traurigen, konflikthaften und mitunter auch trostlos erscheinenden Phase seine Normalität wieder. Die beinhaltet eben auch Glück mit dem Kind und schöne Erlebnisse, die als bereichernd erlebt werden.

Entgegen eines gängigen Vorurteils genießen die meisten der Eltern ihr Leben, so wie es andere Mütter und Väter auch tun. Die Forschung unterstützt diese Auffassung. Familien mit einem behinderten Kind erleben zwar mehr Stress, aber nicht weniger positive Gefühle (Hackenberg, 2008, S. 55).

Es ist faszinierend zu sehen, welche Stärke und Kraft viele Mütter und Väter entwickeln, um ihre schwierige Lebenssituation zu bewältigen. Das Zusammenleben mit ihrem Kind betrachten die meisten von ihnen, wie Anne L. in diesem Buch als Bereicherung.

Ein Kind im Autismus-Spektrum zu haben, ist also für Eltern nicht das Ende eines schönen Lebens und auch nicht eine Begrenzung der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht wenige Elternteile befürchten dies ja nach der Diagnosestellung zunächst. Doch das Zusammenleben mit einem Kind im Autismus-Spektrum gibt dem Leben zwar eine unerwartete Richtung, viele Mütter und Väter empfinden jedoch ihr Kind als eine Quelle von Glück. Sie begrüßen rückblickend die Veränderung ihrer Lebensperspektive und einige, wie zum Beispiel Ines N. in ihrem Interview, berichten sogar von der Festigung ihrer Partnerschaft durch das Kind. Die starke Belastung, denen die Familien ausgesetzt sind, soll dabei aber keinesfalls bagatellisiert werden und wird beim Lesen der Interviews auch deutlich.

Das wichtigste Anliegen dieses Buches ist es, den Eltern, die erst kürzlich die Diagnose ihres Kindes erfahren haben, Mut zu machen: Das Leben geht weiter und es kann ein schönes Leben sein. Mit diesem oder vielleicht sogar wegen dieses Kindes, weil es aufmerksam macht auf Dinge, auf die sie nie aufmerksam geworden wären. Und weil es Anlass gibt, die eigenen Werte und Prioritäten zu überprüfen oder toleranter zu werden, wie es Thomas H. in seinem Interview von sich sagt. Wer ist wirklich ein Freund, auch in einer schwierigen Situation? Was sind die Dinge, auf die es tatsächlich ankommt im Leben? Was macht das Leben lebenswert? Das Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum veranlasst dazu, viele Dinge ganz neu zu überdenken und sich mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen man sich sonst nie beschäftigt hätte. Was für eine Chance!

Aber auch den Angehörigen und Professionellen soll es Mut machen. Mut zu Gesten des Verständnisses, der Anteilnahme und zur ganz konkreten Hilfe.

Um auch dem Leser, der etwas weniger mit der Thematik vertraut ist, einen Zugang zu den Erfahrungen der Eltern ermöglichen, soll im Folgenden dargestellt werden, was man unter dem Autismus-Spektrum versteht und was die Besonderheiten der Kinder und ihrer Familien sind.

 

 

 

 

 

 

Einführung

 

 

 

 

 

1

Was ist das Autismus-Spektrum?

1.1        Wie der Autismus zu seinem Namen kam

Der Begriff Autismus wurde im Jahre 1911 vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Er bezeichnete damit eines von vier zentralen Merkmalen der Schizophrenie, nämlich den Kontaktverlust der von ihm beobachteten Patienten mit der Umwelt und ihren Rückzug aus der Wirklichkeit (Bleuler, 1911, S. 51).

Eugen Bleuler sah allerdings zunächst im Autismus nicht zwangsläufig etwas Pathologisches. Er verstand ihn als eine allgemein menschliche Eigenschaft, die während einer Schizophrenie nur besonders deutlich wird.

Der Terminus Autismus fand rasch Eingang in die Fachsprache der Psychiatrie. Als Loslösung von der Wirklichkeit, zusammen mit dem Überwiegen des Innenlebens diente er bald zur Bezeichnung verschiedenster Formen von Kontaktstörungen. In der Folgezeit wurde der Begriff dann aufgegriffen, um ein Symptom einer Psychose oder einer Psychopathie zu kennzeichnen (Neumärker, 2010, S. 99ff.). Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass ihn mehrere Jahrzehnte später fast zeitgleich und unabhängig voneinander zwei Männer verwendeten, um damit ein von ihnen jeweils erstmalig beschriebenes Syndrom zu bezeichnen.

1.2        Hans Asperger

Der erste war Hans Asperger (1906–1980), Pädiater und Leiter der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitätsklinik. Am 3. Oktober 1938 hielt er einen Vortrag, in dem er anhand eines Fallbeispiels die Charakteristika der Autistischen Psychopathen darstellte (ausführlicher unter Schirmer, 2002). Der Vortrag wurde unter dem Titel Das psychisch abnorme Kind im gleichen Jahr in der Wiener Klinischen Wochenzeitschrift abgedruckt (Asperger, 1938). Das Thema beschäftigte ihn auch in der Folgezeit und wurde von ihm in verschiedenen Vorträgen und Publikationen fortgeführt (Neumärker, 2010, S. 113).

Seine Habilitationsschrift mit dem Titel Die »Autistischen Psychopathen« im Kindesalter (Asperger, 1944) ging im Jahre 1943 bei der Schriftleitung der Zeitschrift Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten ein. Er bezog sich in der Begründung seiner Terminologie hierin explizit auf die fachwissenschaftlich äußerst bedeutsame Arbeit Eugen Bleulers und dessen Begriffsschöpfung (ebd., S. 84).

Hans Asperger beschrieb in seiner Habilitationsschrift vier Jungen: Fritz V., Harro L., Ernst K. und Hellmuth L. Das vierte Kind, Hellmuth K., dient dabei der Abgrenzung der Autistischen Psychopathie von einer cerebralen Störung. Während die erste angeboren ist, hat die zweite eine andere Ursache, bei Hellmuth L. war sie aufgrund eines Geburtstraumas entstanden.

Hans Asperger fasste in seiner Beschreibung folgende Merkmale zusammen, die bei einem Kind auftreten müssen, wenn bei ihm eine Autistische Psychopathie vorliegt:

  Es handelt sich um eine angeborene Störung.

  Es gibt eine Einschränkung der Beziehungen zur Umwelt auf allen Gebieten.

  Die Auffälligkeiten bestehen schon vom zweiten Lebensjahr an und bleiben das ganze Leben hindurch bestehen.

  In der verbalen und nonverbalen Kommunikation fallen Besonderheiten auf, wobei die sprachliche Ausdrucksfähigkeit gut ist.

  Die Kinder sind kreativ und begabt, wenn es um eigene Interessen geht.

  Sie sind beeinträchtigt, vor allem wenn die eigenen Interessen nicht berührt werden oder mechanisch auswendig gelernt werden soll.

  Die Kinder haben Schwierigkeiten beim Erlernen von alltäglichen Verrichtungen.

  Sie haben eine qualitativ andere Gefühlsebene.

  Die Kinder vollführen sogenannte »Bosheitsakte«.

  Sie sind motorisch ungeschickt,

  haben ein gutes logisches Denkvermögen,

  Besonderheiten in der Wahrnehmung,

  ein reifes Kunstverständnis und

  Auffälligkeiten im Bereich der Sexualität (Asperger, 1944).

1.3        Leo Kanner

Der zweite Pionier auf diesem Gebiet war der Kinderpsychiater Leo Kanner (1896–1981), zu dieser Zeit Direktor der Child-Psychiatric-Clinic in Baltimore. Er nannte 1943 das von ihm entdeckte Syndrom early infantile autism. Er beschrieb es anhand der Falldarstellungen von elf Kindern (Kanner, 1943). Für kennzeichnend hielt er u. a. folgende Merkmale:

  Die Kinder haben eine angeborene Unfähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten, wohingegen diese zu Dingen durchaus bestehen.

  Ihre verbale Kommunikation ist auffällig. Ein Teil der Kinder erwirbt die Sprache nicht, bei den anderen dient sie lange Zeit nicht dazu, einen Inhalt zu übermitteln.

  Sie bestehen auf Gleichförmigkeit und haben eine begrenzte Variation spontaner Aktivitäten.

  Sie stammen aus sehr intelligenten Familien.

  Sie haben ein gutes kognitives Potential und ausgezeichnete Fähigkeiten, etwas auswendig zu lernen (ebd.).

Kanners auf Englisch publizierte Arbeit wurde weltweit stärker zur Kenntnis genommen als die von Hans Asperger auf Deutsch geschriebene.

1.4        Autismus als psychiatrische Diagnose: Frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom

Ein Psychiater in Europa oder in den USA bezieht sich heute bei seiner Diagnosestellung auf eines von zwei Klassifikationssystem, in dem Störungen mit ihren Namen und Symptomen aufgelistet werden. In beiden Manualen werden sie nach bestimmten Kriterien hierarchisch geordnet und mit einem Code aus Buchstaben und Zahlen verschlüsselt.

Das erste wird von der Weltgesundheitsorganisation erstellt. Es ist die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). Die Abkürzung ICD steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Beim zweiten handelt es sich um das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association.

Beide Materialien werden regelmäßig überarbeitet. Auch das Verständnis dessen, was als psychische Störung verstanden wird, unterliegt einem Zeitgeist. Dabei werden ICD und DSM in wesentlichen Aspekten aufeinander abgestimmt.

Es dauerte mehr als 35 Jahre, bis die Syndrome, die von Hans Asperger und Leo Kanner beschrieben worden waren, Eingang in diese Klassifikationssysteme fanden. Erst im Jahre 1979 wurde der frühkindliche Autismus in das ICD-9 aufgenommen. Ein Jahr später findet man ihn auch in der dritten Überarbeitung des DSM.

Das Asperger-Syndrom wurde sogar noch später, nämlich im Jahre 1992, im ICD-10 erwähnt. Die von Hans Asperger ursprünglich gewählte Bezeichnung Autistische Psychopathie wurde als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Sie wurde durch die Verwendung seines Namens ersetzt. 1994 wurde die Asperger-Störung auch im DSM-IV, der vierten Überarbeitung, erstmalig aufgeführt.

Im ICD-10 findet man nun noch eine dritte tiefgreifende Entwicklungsstörung, die den Autismus im Namen hat: den atypischen Autismus. Alle drei Formen werden als eigenständige und voneinander abgrenzbare tiefgreifende Entwicklungsstörungen verstanden.

Damit war zum einen die Voraussetzung für ein deutlich ansteigendes allgemeines Interesse an diesen Phänomenen geschaffen. Zum anderen setzte sich aber damit auch endgültig eine defizitorientierte Betrachtungsweise des Autismus durch. Leo Kanners und Hans Aspergers Darstellungen hatten noch sowohl Stärken als auch Schwächen enthalten. Hans Asperger hatte im Jahre 1938 explizit formuliert: »Nicht alles, was aus der Reihe fällt, was also ›abnorm‹ ist, muß deshalb auch schon ›minderwertig‹ sein« (Asperger, 1938).

Natürlich gibt es Menschen im Autismus-Spektrum nicht erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Allerdings hatten sie bis dahin andere Diagnosen erhalten (vgl. King, Bearman, 2009, S. 1125). Einige galten als Menschen mit geistiger Behinderung oder man diagnostizierte bei ihnen eine Sprachentwicklungsverzögerung (ebd.), eine minimale Hirnschädigung unklarer Genese, eine minimale cerebrale Dysfunktion, eine Zwangsstörung mit neuronaler Dysfunktion oder eine Mehrfachbehinderung. Es gab auch Kinder, die als verhaltensgestört galten. Einige Menschen, die heute eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum erhalten würden, fielen erst durch ihre später hinzukommenden psychischen Probleme, wie z. B. Depressionen, auf.

Mit der Aufnahme in die Klassifikationssysteme ICD und DSM stiegen nun die Diagnosezahlen rasant an. Zugleich begann mit dem Kinofilm Rain man auch ein mediales Interesse an dem Thema. Große Teile der Bevölkerung wurden auf diese Weise mit den Auswirkungen einer Autismus-Spektrum-Störung bekannt.

1.5        Die Autismus-Spektrum-Störung

Im Mai 2013 erschien das DSM 5. In diesem Manual wurde die kategoriale Betrachtung des Autismus mit seinen verschiedenen Formen zugunsten der Idee eines einheitlichen Kontinuums mit unterschiedlichen Ausprägungen aufgegeben. In Untersuchungen war zuvor festgestellt worden, dass Erwachsene mit frühkindlichem Autismus in ihrer Symptomatik nicht eindeutig von denen mit Asperger-Syndrom unterschieden werden können (Amorosa, 2010, S. 26). Damit wurde fraglich, ob es sich tatsächlich um klar abgrenzbare Entwicklungsstörungen handeln konnte.

Im DSM 5 spricht man deshalb von der Autismus-Spektrum-Störung. Die Frage, ob man einzelne Formen des Autismus klar voneinander abgrenzen kann, wird damit unnötig. Allerdings bleibt es weiterhin bei einer Orientierung an dem Störungsaspekt. Doch letztlich verwundert dies nicht weiter, schließlich soll eine Diagnose auch zu Ansprüchen gegenüber Leistungsträgern wie Krankenkassen oder Sozialämtern führen.

Eine aktuelle überarbeitete Variante des ICD wird noch im Jahre 2015 erwartet.

1.6        Von der Autismus-Spektrum-Störung zum Autismus-Spektrum

In den letzten Jahren setzt sich immer stärker die Erkenntnis durch, dass es sich beim Autismus nicht nur um eine Summe von Defiziten, sondern um ein besonderes Fähigkeitenprofil handelt, das durchaus auch Stärken beinhaltet (Theunissen, 2015).

Welche der vielen individuellen Eigenschaften eines Menschen als wertvoll und welche als nutzlos bewertet werden, hängt von der Anforderungssituation ab, die in einer Kultur an den Menschen gestellt werden. Ob eine ganz konkrete Eigenschaft als Defizit oder als Fähigkeit interpretiert wird, ist unterschiedlich. Blind zu sein kann bspw. als Defizit, aber wie z. B. bei Teiresias, dem blinden Seher aus der griechischen Mythologie, oder Homer, dem blinden Dichter, auch als Gabe verstanden werden. Um eine Alternative zur einseitig negativen Betrachtungsweise des Autismus’ und einer ausschließlichen Fokussierung auf den Störungsaspekt anzubieten, spricht man in der letzten Zeit immer häufiger vom Autismus-Spektrum.

Dies ist eine Entwicklung, die ganz maßgeblich von Menschen mit dem Asperger-Syndrom vorangetrieben wurde. Im Jahre 2000 entstand in der Bundesrepublik in Mülheim die erste Asperger-Selbsthilfegruppe. Vier Jahre später wurde Aspies e. V. als Interessenvertretung für Menschen mit Asperger-Syndrom in der Bundesrepublik ins Leben gerufen. Diese Menschen haben ein berechtigtes Interesse daran, nicht nur als »defizitär«, »mangelhaft«, »gestört« oder »krank«, sondern auch mit ihren Stärken gesehen werden.

Sie verweisen zur Erklärung des Phänomens Autismus auf die Neurodiversität. Keine zwei Menschen, nicht einmal eineiige Zwillinge, gleichen sich in ihren körperlichen Merkmalen, also Größe, Haar- und Augenfarbe, dem Abdruck der Papillarleisten am Endglied eines Fingers (dem Fingerabdruck) und natürlich auch ihrer Hirnentwicklung vollständig. Mit dieser milliardenfachen Verschiedenheit muss und darf die Menschheit schon immer zurechtkommen. Sie ist keinesfalls nur problematisch, sondern birgt für eine arbeitsteilige Gesellschaft ein großes Potential (Krüger, 2014). Sie hat auch dafür gesorgt, dass die Menschheit sich an unterschiedlichste Lebensumstände auf dieser Erde anpassen konnte. Ganz egal, wie sich die Lebensverhältnisse änderten, mindestens ein Teil der menschlichen Population war immer gut genug angepasst, um überleben und sich fortpflanzen zu können. Menschen im Autismus-Spektrum sind nach dieser Theorie einfach eine Möglichkeit, wie Menschen sein können. Den Autismus begreifen sie als Teil ihrer Identität, nicht als Krankheit.

2

Die Diagnosestellung

Seit einiger Zeit ist bekannt, dass es sich beim Autismus um ein Phänomen handelt, das mit spezifischen Besonderheiten in der Hirnentwicklung einhergeht (z. B. Bauman, Kemper, 1994). Dessen ungeachtet wird er bisher nur auf der Grundlage der Beurteilung des Verhaltens einer Person diagnostiziert. Das bedeutet, dass der Kinder- und Jugendpsychiater ein Kind beobachtet und seine engsten Bezugspersonen befragt, um die Diagnose stellen zu können. Bei Erwachsenen erfolgt die Diagnose ebenfalls durch einen Psychiater.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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