Schulratgeber Autismus-Spektrum - Brita Schirmer - E-Book

Schulratgeber Autismus-Spektrum E-Book

Brita Schirmer

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Beschreibung

Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum sollten in ihrer Kommunikation, im Sozial- und Kontaktverhalten und in ihren Interessen besonders gefördert werden. Lehrkräfte erhalten mit diesem Buch kompakte und praxisnahe Informationen zum sonderpädagogischen Förderbedarf bei Autismus-Spektrum-Störungen, zu den Besonderheiten im Lernen sowie zu bewährten Methoden und Prinzipien der Unterrichts- und Pausengestaltung. Rechtsgrundlagen, Hinweise zur Wahl der geeigneten Schule und zur Elternarbeit sowie spezielle Fragen zum Umgang mit Aggressionen, Besonderheiten in der Pubertät und der Sexualität werden praxisnah behandelt. Für die 5. Auflage wurde das Buch im Hinblick auf Fachinformationen und Literatur aktualisiert und überarbeitet.

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Brita Schirmer

Schulratgeber Autismus-SpektrumEin Leitfaden für Lehrkräfte

5., aktualisierte Auflage

Mit 20 Abbildungen und 1 Tabelle

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. Brita Schirmer ist Dipl.-Lehrerin an Sonderschulen in Berlin, Fachbuchautorin sowie Dozentin im In- und Ausland. Sie hat lange Jahre schwerpunktmäßig mit Schülern im Autismus-Spektrum gearbeitet und begleitet noch immer Familien und Einrichtungen fachlich.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autorin große Sorgfalt darauf verwandt hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03275-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61917-7 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61918-4 (EPUB)

5., aktualisierte Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S. v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

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Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von © BirgitH / PIXELIO Autorinnenfoto: David Meili

Fotos im Innenteil: Reinhard Krüger

Satz: m4p Kommunikationsagentur GmbH, Nürnberg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

1 Was ist Autismus?

1.1 Viele Begriffe: Autismus, Autismus-Spektrum-Störung, Autismus-Spektrum

1.2 Die Symptome

1.3 Schüler ohne Diagnose

2 Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS

2.1 Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

2.2 Ausgewählte rechtliche Grundlagen in Deutschland und Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK)

Aussagen der KMK zum Förderbedarf

Aussagen der KMK zur geeigneten Schule

Aussagen der KMK zur Schulpflicht

Aussagen der KMK zu den räumlichen Bedingungen

Aussagen der KMK zur Unterrichtsmethodik

2.3 Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS in Österreich

2.4 Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS in der Schweiz

3 Autismusspezifischer Förderbedarf

3.1 Nachteilsausgleich

3.2 Übersicht über mögliche Aspekte des autismusspezifischen Förderbedarfs

3.3 Förderbedarf im Bereich der Kommunikation

Die verbale Sprache entwickelt sich nicht

Die beeinträchtigte Körpersprache

Besonderheiten bei vorhandener verbaler Sprache

Kommunikationsanregende Umgebung

Individuelle Kommunikationswege zulassen

3.4 Förderbedarf im Bereich des Sozialverhaltens

Die beeinträchtigte Theory of Mind

Risiken für eine gute Beziehung zwischen Lehrer und Schüler …

Schwierigkeiten, altersgerechte Beziehungen zu den Mitschülern aufzubauen und zu gestalten 52

Ungewöhnlicher Umgang mit Regeln

Keine Angst vor Gefahren

3.5 Der eingeschränkte Handlungs- und Interessensbereich

Individuelle Motivationssysteme nutzen

Gut gemachte „Gummibärchenpädagogik“

Das Tokensystem

Der Verhaltensvertrag

Stereotypien, Spezialinteressen und Overload

3.6 Besonderheiten beim schulischen Lernen

Probleme mit dem Nachahmen

„Die Lehrer hörte ich nur selten“: Lernen durch Unterweisung

Strukturiert Visualisieren

Das „Frank-Sinatra-Syndrom“

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen:Die Theorie der verminderten zentralen Kohärenz

3.7 Das unausgewogene Leistungsprofil

3.8 Abläufe und Aufgaben organisieren – die beeinträchtigten exekutiven Funktionen

Aktivitätspläne und Arbeitsstationen

Handlungsabläufe automatisieren

3.9 Die beeinträchtigte räumliche Orientierung

Die Orientierung im Haus

Orientierung im Raum

Der Arbeitsplatz

3.10 Die beeinträchtigte zeitliche Orientierung

Größere Zeiträume überblicken

Die Tagesstruktur verstehen

Kürzere Zeitabschnitte einschätzen

Leerzeiten füllen: Pausen und Wartezeiten

3.11 Motorische Ungeschicklichkeit

3.12 Übergänge und unerwartete Ereignisse meistern, Flexibilität erhöhen

Veränderungen transparent machen

Unerwartete Ereignisse und der Energiehaushalt des Gehirns …

Übergänge oder Veränderungen gestalten

3.13 Allgemeine Grundsätze der pädagogischen Arbeit

Einzelfallbezogene Hilfen im Unterricht

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Strukturierte Lernangebote

Zeit lassen und Pausen geben

4 Die „richtige“ Schule

4.1 Schulische Inklusion und Integration

Argumente für Inklusion und Integration

Wie Inklusion bzw. Integration gelingen kann

4.2 Schulen mit Förderschwerpunkt oder spezielle Klassen

4.3 Web-Schulen

4.4 Fragen, die die Entscheidung erleichtern können

5 Besondere Probleme im pädagogischen Alltag

5.1 Der Umgang mit Fremd- und Autoaggressionen

Folgen von Aggressionen bei anderen Personen

Folgen für den aggressiven Schüler im AS

Was sind Aggressionen?

Bewertung von Verhalten

Erlernt oder angeboren?

„Normale“ und „besondere“ Aggression

Aggressivem Verhalten vorbeugen

Der Umgang mit Aggressionen

Formen aggressiven Verhaltens und Regeln zum Umgang

Kontrolle der Ergebnisse

Notfallmaßnahmen

5.2 Die Zusammenarbeit mit den Eltern

Formen der Elternarbeit

Besondere Kinder – besondere Eltern?

Mögliche Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind

Was bringen Eltern in die Elternarbeit ein?

Die Pädagogen

Kompetenzbereiche von Pädagogen und Eltern

Wie Elternarbeit funktionieren kann

Typische Probleme in der Zusammenarbeit von Eltern und Pädagogen

Ein Elterngespräch führen

5.3 Pubertierende Schüler im AS

Alles ist langweilig

Impulse werden schlecht kontrolliert

Das Einfühlungsvermögen verschlechtert sich

Hormonschwankungen

Körperhygiene

Der Freundeskreis

Epilepsie

Psychische Erkrankungen

5.4 Auffälliges Sexualverhalten

Literatur

Sachregister

Auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages (www.reinhardt-verlag.de) finden Sie bei der Darstellung dieses Buches eine Checkliste zur Aufnahme eines Schülers im AS sowie eine Checkliste für die Verhaltensbeobachtung im DIN-A4-Format zum Download.

Vorwort

Es gibt, je nachdem wie eng die Diagnosekriterien gefasst werden, unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen. Sie sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen und werden derzeit mit 1 % der Bevölkerung angegeben (Falkai / Wittchen 2015, 64). Legt man eine durchschnittliche Klassenstärke von 25 Kindern zugrunde, lernt ungefähr in jeder vierten Klasse ein Kind im Autismus-Spektrum. Die Wahrscheinlichkeit, als Lehrer im Laufe des Berufslebens einmal ein Kind im Autismus-Spektrum zu unterrichten, ist demnach relativ hoch.

Dennoch sind die meisten Pädagogen auf diese Aufgabe viel zu wenig vorbereitet. Sie beginnen, sich mit dem Phänomen Autismus erst dann auseinanderzusetzen, wenn ein Schüler im Autismus-Spektrum in ihrer Klasse auftaucht. Zunächst fallen ihnen bei diesem Schüler eine Reihe ungewöhnlicher Verhaltensweisen auf.

Ohne weitere Kenntnisse über das Autismus-Spektrum empfinden sie das Kind oft als unerzogen. „Bockig“ oder „macht nur, was er will“ sind Beschreibungen, die tatsächlich einige Pädagogen von ihren Schülern im Autismus-Spektrum geben.

Versuchen sie aber, die Welt mit den Augen ihrer Schüler zu sehen und so auch zu verstehen, worin deren Schwierigkeiten, aber auch die besonderen Stärken liegen, können sie erkennen, dass diese keinesfalls „bockiger“ sind als andere Schüler. Um diesen Perspektivwechsel leichter zu vollziehen, werden im Folgenden viele Berichte von Menschen im Autismus-Spektrum präsentiert.

Es fehlt den Lehrkräften allerdings meist auch ein Repertoire von verschiedenen Methoden und Techniken der Unterrichtung und Förderung von Schülern im Autismus-Spektrum, aus dem sie auswählen können. Dazu gehört bspw. das Arbeiten mit PECS (Kap. 3.3) oder in Anlehnung an das TEACCH-Programm (Kap 3.8). Dieses „pädagogische Handwerkzeug“ soll in dem vorliegenden Buch vorgestellt werden.

Dieses Praxisbuch ist auf der Grundlage jahrelanger intensiver theoretischer Auseinandersetzung und zugleich praktischer Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit Menschen im Autismus-Spektrum, sowie engen Kontakten zu Pädagogen und Eltern entstanden.

Angesichts der derzeitigen Bemühungen um die Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen und insbesondere der Schule kann man sich die Frage stellen, inwiefern das vorliegende Buch seine Berechtigung hat. Inklusion bedeutet ja, die Gegenüberstellung in der Beschreibung und Unterrichtung von Schülern aufzuheben. Es werden also nicht mehr Schüler im Autismus-Spektrum denen außerhalb des Spektrums gegenüber gestellt, sondern vielmehr die individuellen Lernbarrieren und Möglichkeiten zu deren Überwindung gesucht. Dazu wird die Pädagogik sich zukünftig in einem Spannungsfeld von systemischer und individuumszentrierter Betrachtung von Lern- und Lehrprozessen bewegen müssen. Verschiedene Unterstützungssysteme und ein Mehr-Pädagogensystem werden notwendig werden (Hinz 2009). Dies ist noch pädagogische Zukunftsmusik im deutschsprachigen Raum. Wer sich intensiver mit den Fragen zur schulischen Inklusion von Schülern im Autismus-Spektrum auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich mein Buch „Nur dabei zu sein reicht nicht. Lernen im inklusiven schulischen Setting“ (Schirmer 2019).

Ungeachtet des Ausgangs der derzeitigen und zukünftigen theoretischen Diskussionen in der Pädagogik und ihrer Umsetzungen bleibt zumindest anteilig die Notwendigkeit einer individuumszentrierten Pädagogik bestehen, denn spezifische Probleme der Schüler im Autismus-Spektrum sind unabhängig von ihrer Beschreibung Sachverhalte, die im pädagogischen Alltag berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus benötigt man Spezialisten für spezifische Aspekte des Lernens von Menschen im Autismus-Spektrum, wie den Schriftspracherwerb, sowie die Bewältigung sozialer Probleme, wie Mobbing oder Gewalt (Hinz 2009, 176). Sie können von den folgenden Darstellungen profitieren, weil diese aufzeigen, welche Barrieren grundsätzlich bestehen können und wie man sie abbauen kann. So lange die schulische Inklusion noch eine Vision ist und weiterhin mit dem Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs operiert wird, füllt der vorliegende Schulratgeber zweifellos eine Leerstelle in der Fachliteratur.

Hinweise zur Schreibweise: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form gewählt, auch wenn alle Geschlechter gemeint sind. Darüber hinaus sollten sich in diesem Buch mit den Bezeichnungen „Pädagoge“ oder „Lehrer“ all jene Personen angesprochen fühlen, die in den Kontexten von schulischer und vorschulischer Bildung tätig sind.

1Was ist Autismus?

1.1Viele Begriffe: Autismus, Autismus-Spektrum-Störung, Autismus-Spektrum …

Viele unterschiedliche Termini findet man in den Schülerunterlagen: Autismus, Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, Atypischer Autismus, Autismus-Spektrum-Störung, autistische Züge … Die Reihe ließe sich fortsetzen. Diese begriffliche Vielfalt kann verunsichern und verwirren. Sie wirft Fragen auf: Was bedeuten diese Termini? Gibt es Unterschiede zwischen ihnen?

Seit Erscheinen des Diagnostischen und Statistischen Manuals PsychischerStörungen (DSM-5) heißt der aktuelle medizinische Fachterminus Autismus-Spektrum-Störung (Falkai / Wittchen 2015, 64). Es handelt sich beim DSM-5 um das aktuellste Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, in dem Störungen mit ihren Namen und Symptomen aufgelistet werden. Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung ersetzt hierin die zuvor verwendeten Bezeichnungen Frühkindlicher Autismus, Autismus in der Kindheit, Kanner-Autismus, High-Functioning-Autismus, Atypischer Autismus, Nicht Näher Bezeichnete Tiefgreifende Entwicklungsstörung im Kindesalter und Asperger-Syndrom (68).

Die kategoriale, „schubladenorientierte“ Betrachtung des Autismus mit seinen verschiedenen Formen wurde mit dem DSM-5 zugunsten der Idee eines Kontinuums mit unterschiedlichen Ausprägungen aufgegeben. In Untersuchungen war zuvor festgestellt worden, dass Erwachsene mit Frühkindlichem Autismus in ihrer Symptomatik nicht eindeutig von denen mit Asperger-Syndrom unterschieden werden können (Amorosa 2010, 26). Damit war die Idee von klar unterscheidbaren Formen des Autismus nicht mehr haltbar.

Die Weltgesundheitsorganisation ist diesen Erkenntnissen im ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) gefolgt. Sie gilt seit dem 01.01.2022. Allerdings gibt es noch keine offizielle deutsche Version.

Doch es setzt sich auch immer stärker die Erkenntnis durch, dass es sich beim Autismus nicht nur um eine Summe von Defiziten, sondern um ein besonderes Fähigkeitenprofil handelt, das durchaus auch Stärken beinhaltet (Theunissen 2015). Dies ist eine Entwicklung, die ganz maßgeblich von Menschen im Autismus-Spektrum vorangetrieben wurde. Sie haben ein berechtigtes Interesse daran, nicht nur einseitig als „defizitär“, „förderbedürftig“, „gestört“ oder „krank“, sondern in ihrer Gesamtpersönlichkeit auch mit ihren Stärken gesehen zu werden. Sie bevorzugen den Begriff Autismus-Spektrum (AS). Im vorliegenden Buch wird die letztgenannte Bezeichnung bevorzugt. Nur an den Stellen, an denen es einen Bezug zur medizinischen Diagnose gibt, wird der Begriff Autismus-Spektrum-Störung verwendet.

1.2Die Symptome

„Die Hauptmerkmale einer Autismus-Spektrum-Störung sind dauerhafte Beeinträchtigungen der wechselseitigen sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion […] sowie restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten […]. Diese Symptome sind seit der frühen Kindheit vorhanden und […] beeinträchtigen das alltägliche Funktionsniveau.“ (Falkai / Wittchen 2015, 68)

Die Besonderheiten, die sich hinter den beiden ersten Hauptmerkmalen verbergen, können ganz unterschiedlich sein. Auffälligkeiten in der Kommunikation reichen vom Ausbleiben der verbalen Sprachentwicklung über die sogenannte Echolalie bis hin zu Schwierigkeiten, nonverbale Zeichen zu verstehen. Oftmals werden Ironie und Sprachbilder schlecht verstanden.

Auch die Auffälligkeiten im Sozial- und Kontaktverhalten sind individuell verschieden. Sie können die Unfähigkeit, auf den eigenen Namen zu reagieren, beinhalten und bis zu Problemen reichen, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen. Es gibt Kinder, die jeden sozialen Kontakt ablehnen und am liebsten allein zu sein scheinen. Dann gibt es solche, die soziale Annäherung zulassen, aber nicht von sich aus initiieren. Und schließlich gibt es eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum, die zwar aktiv Kontakte aufnehmen wollen, aber dies in ungeeigneter Art und Weise versuchen (Dodd 2007, 98).

Die eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten können sich darin zeigen, dass Schüler Stereotypien oder Spezialinteressen haben, mit denen sie sich sehr intensiv beschäftigen. Für Aktivitäten aus anderen Lebensbereichen hingegen sind sie kaum zu begeistern. Einige halten sehr beharrlich an Routinen fest und haben große Schwierigkeiten mit Veränderungen.

Welche Einzelsymptome sich kombinieren, ist individuell verschieden. Es handelt sich deshalb bei einer Autismus-Spektrum-Störung um eine Summationsdiagnose. Dabei ist die Summe der Symptome letztlich entscheidend für die Diagnose. Ein einzelnes Symptom, wie der auffällige Blickkontakt, ist für den Autismus so unspezifisch wie Fieber für eine Erkältung. Er ist oft, aber nicht zwangsläufig zu beobachten und kann auch bei Kindern ohne Autismus-Spektrum-Störung auftreten. Damit die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung gerechtfertigt ist, müssen die Besonderheiten seit der frühesten Kindheit vorhanden gewesen sein und das alltägliche Funktionsniveau beeinträchtigen. Jede Störung aus dem Autismus-Spektrum muss von einem Kinder- und Jugendpsychiater oder Klinischen Psychologen festgestellt werden. Es handelt sich um keine pädagogische Diagnose!

1.3Schüler ohne Diagnose

Es kann sein, dass ein erfahrener Pädagoge ungewöhnliche Verhaltensweisen als Anzeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung interpretiert. Vielleicht beobachtet er, dass das Kind Probleme damit hat, mit anderen Kindern zu spielen und dass es soziale Regeln nicht gut versteht. Möglicherweise sieht er, dass das Kind Situationen meidet, die andere gerne mögen, wie Feiern oder Pausen, und dass es nicht angemessen auf mimische und gestische Hinweise reagiert, die der Lehrer ihm gibt. Vielleicht scheint es ihm überempfindlich gegenüber lauten Geräuschen, und unvorhergesehene Situationen machen ihm Angst und führen zu Abwehr und Wutausbrüchen.

Bei einigen Schülern im Autismus-Spektrum werden die Symptome erst dann offensichtlich, wenn das Kind in einer Kindergruppe lernt. Die Fülle von Informationen in einem Klassenzimmer unterscheidet sich erheblich von der im Kinderzimmer einer kleinen Familie. Außerdem werden in einer Gruppe andere Fähigkeiten zur Interaktion verlangt als im Dialog mit einem einzelnen Erwachsenen.

Manchmal werden Kinder mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-

Syndrom mit und ohne Hyperaktivität (ADS / ADHS) eingeschult, bei denen sich später die Frage stellt, ob sie auch in das Autismus-Spektrum gehören. In einer Studie, die 900 Menschen mit Asperger-Syndrom untersucht hat, litten 62 % auch an ADHS (Kennedy 2002, 44).

Andere Kinder wurden zuvor als geistig beeinträchtigt eingestuft, und bei genauerer Beobachtung fand man Hinweise auf die Symptomatik aus dem Autismus-Spektrum.

In diesen Fällen empfiehlt sich ein Gespräch mit den Eltern, um ihnen von den Beobachtungen zu berichten. Die fachärztliche Diagnose kann nur von ihnen eingeleitet werden.

2Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS

2.1Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Am 3. Mai 2008 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland ist wie die Republik Österreich und, mit Stand vom 11.05.2009, weitere 51 Staaten die Verpflichtung eingegangen, den Inhalt der Konvention in nationales Recht zu übertragen.

Interessant ist im Zusammenhang mit schulischer Bildung vor allem der § 24 der Konvention. In der zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmten amtlichen Übersetzung gibt es in Art. 24 Abs. 1 den Ausdruck „integratives Bildungssystem“. In der englischen Originalfassung steht an dieser Stelle davon abweichend „inclusive education“. An der Übersetzung gibt es deshalb heftige Kritik.

Auf den ersten Blick scheint es sich hier lediglich um die Ersetzung eines Begriffs durch einen anderen zu handeln. Doch es verbergen sich hinter „Integration“ und „Inklusion“ mindestens graduell verschiedene pädagogische Konzepte und Haltungen. In der integrativen Pädagogik geht es darum, Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Regelschulen einzugliedern. Von ihnen werden Anpassungsleistungen an die bestehenden Strukturen und Normen erwartet. Ihre Teilnahme am Unterricht ist abhängig von der personellen, räumlichen und sächlichen Ausstattung der Schule.

Die inklusive Pädagogik hingegen erhebt den Anspruch, bedürfnisgerechte Angebote für alle Schüler in ihrer Vielfalt bereit zu stellen (Hinz 2009, 173).

2.2Ausgewählte rechtliche Grundlagen in Deutschland und Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK)

Die rechtlichen Grundlagen für den Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen im AS basieren in der Bundesrepublik auf mehreren Säulen: dem Grundgesetz, den gesetzlichen Regelungen und Ausführungsbestimmungen zum Schulwesen in den einzelnen Bundesländern und der Sozialgesetzgebung. Daneben gibt es Beschlüsse der Konferenz der Kultusminister der Länder mit empfehlendem Charakter.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik bestimmt nur den groben Rahmen für das Schulrecht. Es lässt offen, wie das öffentliche Schulwesen im Übrigen organisiert sein soll. Dafür sind die Bundesländer im Rahmen ihrer Kulturhoheit zuständig. Nach Artikel 30 des Grundgesetzes sind alle staatlichen Aufgaben, die das Grundgesetz nicht dem Bund zuweist, in der Zuständigkeit der Länder.

Diese Eigenständigkeit der Länder führt in Bezug auf die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen im AS u. a. dazu, dass es unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen einer Autismus-Spektrum-Störung gibt, die sich auch in den Bezeichnungen für diese Schülergruppe zeigen. Es existieren zudem unterschiedliche Organisationsmodelle der schulischen Versorgung. So gibt es in einigen, aber nicht in allen Bundesländern spezielle Klassen für Kinder und Jugendliche im AS. Auch die Curricula unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. In vielen Bundesländern gibt es in den Schulämtern oder in beauftragten Schulen Ansprechpartner für Pädagogen, die Kinder und Jugendliche im AS unterrichten. Für die Beantwortung konkreter Fragen zu Zuständigkeiten, Unterstützungsmöglichkeiten, Fristen, möglichen Hilfen und Nachteilsausgleichen ist das Schulgesetz des jeweiligen Bundeslandes zu Rate zu ziehen, in dem der Schüler die Schule besucht.

Oft benötigen Schüler im AS einen einzelfallbezogenen Helfer im Unterricht. Er erledigt Tätigkeiten, die über den Aufgabenbereich der Pädagogen hinausgehen, z. B. eine permanente und in vielen Fällen zwingend notwendige Beaufsichtigung, Unterstützung der Kommunikation oder Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen.

Bei einer Zuordnung der Autismus-Spektrum-Störung zur seelischen Behinderung kann diese Eingliederungshilfe vom Jugendamt über den § 35a Abs. 3 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII finanziert werden. Bei einer Zuordnung zur körperlichen / geistigen Behinderung greift der § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII, und das Sozialamt ist zuständig. Es gibt derzeit noch keine einheitliche Zuordnungspraxis (Remschmidt 2008, 103 ff). Antragsteller sind immer die Eltern. Der Umfang der Schulbegleitung ist nicht festgelegt. Der Kostenträger muss die nach fachlicher Einschätzung notwendige Stundenanzahl finanzieren. Weitere Informationen zu den rechtlichen Grundlagen der Schulbegleitung findet man online unter www.autismus.de/fileadmin/RECHT_UND_GESELLSCHAFT/Rechliche-GrundlagenSchulbegleitung_002_.pdf (20.03.2024). Darüber hinaus beinhaltet die Hilfe zur Schulbildung eine Therapie, die vor allem der Aufrechterhaltung der Schulbereitschaft dient, indem Erlebtes vor- und nachbereitet wird (Frese 2011, 34).

Um in der föderalistischen Bundesrepublik einer Zersplitterung im Bildungswesen entgegenzuwirken, wurde im Jahre 1949 die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) gegründet. Seither werden von ihr Angelegenheiten mit überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer Übereinkunft verhandelt.

Für den Bereich der schulischen Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen im AS findet dieser Minimalkonsens seinen Ausdruck in den am 16.06.2000 beschlossenen Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten (KMK 2000).

Da Empfehlungen der Kultusministerkonferenz unter dem Zwang einstimmiger Verabschiedung stehen, galt es, für alle 16 Länder gleichermaßen gültige Hinweise zu geben. Länderspezifische Besonderheiten der Organisation der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen im AS wurden aus diesem Grund nicht berücksichtigt.

Die Empfehlungen enthalten Aussagen zur Symptomatik der Schüler im Autismus-Spektrum mit ihren unterschiedlichen intellektuellen Begabungen. Sie binden die Schulverwaltungen nicht, sondern sind allgemeine Handreichungen und Informationen, die in Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden können, aber nicht müssen. Einige Aussagen der Kultusministerkonferenz, die für den Bereich Schule von besonderer Bedeutung sind, sollen im Folgenden kurz dargestellt werden (ausführlicher bei Schirmer 2002).

Aussagen der KMK zum Förderbedarf

Die KMK differenziert den Förderbedarf in einen besonderen pädagogischen Förderbedarf und einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Damit soll der individuellen Verschiedenheit von Umfang und Schweregrad des Autismus-Spektrums Rechnung getragen werden.

Die Kultusminister empfehlen, bei Schülern im AS den sonderpädagogischen Förderbedarf, der in den meisten Fällen besteht, regelmäßig zu überprüfen (KMK 2000, 390). Es wird nicht erläutert, wie der besondere pädagogische Förderbedarf zu ermitteln ist und ob auch er regelmäßig überprüft werden muss.

Aussagen der KMK zur geeigneten Schule

Es wird von der Kultusministerkonferenz bestimmt, dass die Förderung dieser Schüler Aufgabe aller Schularten ist (KMK 2000, S. 384). Es gibt keine eigene Schulart, die sich dieser Klientel widmet (KMK 2000, S. 390). Explizit aufgeführt wird dagegen die Möglichkeit, die Kinder und Jugendlichen teils in allgemeinen und teils in Sonderschulen zu unterrichten (KMK 2000, S. 395).

Kinder und Jugendliche mit ASS sollen weitgehend in den gemeinsamen Unterricht einbezogen werden (KMK 2000, S. 394). Sie können aber auch Sonderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten besuchen (KMK 2000, S. 394).

Zu Beginn der Förderung eines Kindes kann Einzelförderung notwendig sein, wenn Lern- und Verhaltensweisen aufgebaut werden sollen, um in Klassenoder Gruppensituationen bestehen zu können. In besonders begründeten Fällen können Einzelmaßnahmen auch im Hausunterricht durchgeführt werden (KMK 2000, S. 392).

Aussagen der KMK zur Schulpflicht

Die Schulpflicht eines Schülers im AS kann auf Antrag verlängert werden, wenn zu erwarten ist, dass das angestrebte Bildungsziel erreicht wird (KMK 2000, 392).

Aussagen der KMK zu den räumlichen Bedingungen

Zur Ausstattung der Schule wird ausgeführt, dass die Bereitstellung eines geeigneten Raumes eine Notwendigkeit darstellt, damit sich der Schüler zurückziehen kann (KMK 2000, 385).

Aussagen der KMK zur Unterrichtsmethodik

Zu Fragen der Unterrichtsmethodik geben die Empfehlungen vor, sich an der Individualität und den pädagogischen Bedürfnissen des Schülers zu orientieren (KMK 2000, 384). Der Unterricht bedarf einer individuellen Anpassung der Lernschritte, des Lerntempos, des Umfangs des Lernstoffes, der Unterrichtsmethoden und des Einsatzes von Materialien (KMK 2000, 391).

Mündliche, schriftliche und praktische Aufgaben können sich im Unterricht wechselseitig ersetzen. Auch die Bearbeitungszeit für Aufgaben kann für Schüler im AS verlängert werden (KMK 2000, 392). In welchem Umfang dies geschehen soll bzw. wer diesen Umfang festlegt, wird nicht ausgeführt.

Am 20.10.2011 fasste die Kultusministerkonferenz einen Beschluss über „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen an Schulen“, in dem sie für alle Kinder und Jugendlichen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten und das Erkennen und Überwinden von Barrieren als Ziele formuliert.

2.3Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS in Österreich

Das Schulsystem in Österreich wird zentral durch den Bund geregelt. Sowohl Schultypen als auch Lehrpläne sind deshalb bundesweit einheitlich.

Für Schüler im AS kann ein Antrag auf Anerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gestellt werden. In einem anschließenden Verfahren kommt es denn aufgrund von Gutachten zu einer pädagogischen und / oder psychologischen und / oder medizinischen Beurteilung. Auf Basis dieser Beurteilung wird schlussendlich festgestellt, ob und welche sonderpädagogische Förderung das Kind benötigt. Sonderpädagogischer Förderbedarf im schulrechtlichen Sinn gemäß § 8 des Schulpflichtgesetzes liegt vor, wenn ein Schüler infolge physischer oder psychischer Behinderung dem Unterricht in der Volks-, Hauptoder der Polytechnischen Schule ohne sonderpädagogische Förderung nicht folgen kann und er nicht gemäß § 15 des Schulpflichtgesetzes vom Schulbesuch befreit ist.

Für Kinder, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde, hat der Bezirksschulrat zu entscheiden, ob und in welchem Ausmaß der Schüler nach dem Lehrplan einer anderen Schulart zu unterrichten ist. Die Schulkonferenz legt fest, ob und in welchen Unterrichtsgegenständen der Schüler nach dem Lehrplan einer anderen Schulstufe als der, die seinem Alter entspricht, zu unterrichten ist (§ 17 Abs. 4 SchUG).

Folgende Lehrpläne können für Schüler im AS in Abhängigkeit von der Schwere der Behinderung zur Anwendung kommen:

  der Lehrplan der Volksschule,

  der Lehrplan der Hauptschule,

  der Lehrplan der allgemeinbildenden höheren Schule auf der Sekundarstufe I,

  der Lehrplan der Polytechnischen Schule,

  der Lehrplan für die Allgemeine Sonderschule (für Kinder mit einer Lernbehinderung) und

  der Lehrplan für schwerstbehinderte Kinder.

Einige wenige Schüler im Autismus-Spektrum haben keinen per Bescheid ausgewiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf. Für sie sind die Berücksichtigung ihrer spezifischen Probleme bei der Gestaltung der Lernsituation und eine unterstützende Haltung der Lehrkräfte ausreichend. Der Begriff „Nachteilsausgleich“ kommt in den österreichischen Gesetzen nicht vor. Ein solcher lässt sich aber unter Bezugnahme auf § 18 Abs. 6 Schulunterrichtsgesetz (BGBl. 1986) und § 2 Abs. 4 Leistungsbeurteilungsverordnung (BGBl. 1974) ableiten.

Schüler im AS und festgestelltem Förderbedarf können in Österreich in einer Sonderschule oder integrativ unterrichtet werden. Die Entscheidung liegt bei den Erziehungsberechtigten. Im Unterschied zur BRD ist in Österreich auch Hausunterricht möglich.

Entscheiden sich die Eltern für die Sonderschule, kann das Kind dort seine gesamte Schulpflicht hindurch lernen. Darüber hinaus kann die Sonderschule noch ein freiwilliges zehntes und auf Antrag ein elftes bzw. zwölftes Schuljahr besucht werden.

Im Schulpflichtgesetz § 8a ist festgelegt, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch eine Volksschule, Hauptschule oder Unterstufe einer allgemeinbildenden höheren Schule besuchen können, soweit solche Schulen (Klassen) vorhanden sind und diese den sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllen.

Zusätzlich zu den üblichen Lehrpersonen kommen dann auch solche mit spezieller Sonderschulausbildung zum Einsatz. Als fachliche Unterstützung fungieren die Sonderpädagogischen Zentren, die organisatorisch meist an eine Sonderschule im jeweiligen Verwaltungsbezirk angeschlossen sind.

Im „Erlass betr. Unterstützung für Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung in Bildungseinrichtungen des Bundes“ wird bestimmt, dass der Einsatz von einer Schulassistenz für Schüler im Autismus-Spektrum gewährt werden kann (Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung 2023).

Wie für alle Schüler gilt auch für diejenigen im AS, dass aufgrund ihrer Behinderung eine Befreiung von der Teilnahme an einzelnen Pflichtgegenständen und verbindlichen Übungen gemäß § 11 Abs. 6 des Schulunterrichtsgesetzes möglich ist. Das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur hat durch Verordnung entsprechend der Aufgaben der einzelnen Schularten festzulegen, in welchen Pflichtgegenständen eine solche Befreiung mit oder ohne Auflage von Prüfungen und für welche Höchstdauer ohne Verlust der Eigenschaft eines ordentlichen Schülers zulässig ist.

In den Bundesländern sind Landesschulräte (in Wien: Stadtschulrat) eingerichtet, die für die politischen Belange in der Schulbildung auf Landesebene zuständig sind. In den Landesregierungen sind ebenfalls sogenannte Schulabteilungen angesiedelt. Für viele Gesetze auf Bundesebene gibt es auf der Ebene der Bundesländer eigene Landesausführungsgesetze.

2.4Ausgewählte rechtliche Grundlagen für die Bildung und Erziehung von Schülern im AS in der Schweiz

Die Bundesverfassung der Schweiz regelt nur grundsätzliche Aspekte schulischer Bildung und Erziehung. Im § 18 spricht sie ein Diskriminierungsverbot aus und nach § 62 steht der Grundschulunterricht unter staatlicher Kontrolle oder Aufsicht.

Schüler im Autismus-Spektrum lernen in der Schweiz in ganz unterschiedlichen Schulformen. Es existiert in der Schweiz auch das Recht des Hausunterrichts. Der Bund stellt in diesem Fall sicher, dass die Bildung den Qualitätsanforderungen genügt. Schulpsychologische Dienste können Eltern und Lehrkräfte bei der Schulsuche und bei Fragen der Diagnostik und der Ermittlung des individuellen Förderbedarfs unterstützen. Wenn ein besonderer Förderbedarf festgestellt wird, erhalten die Schüler eine zusätzliche sonderpädagogische Förderung durch einen Schulischen Heilpädagogen. Diese Fachkräfte werden in ihrer Ausbildung auf die besonderen Lernvoraussetzungen von Schülern im Autismus-Spektrum vorbereitet. Auch eine Schulassistenz kann auf Antrag gewährt werden.

Aufgrund des Föderalismus liegt die Verantwortung für die schulische Bildung vorrangig bei den Kantonen. Sie koordinieren ihre Arbeit auf nationaler Ebene. Für die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und für sonderpädagogische Maßnahmen liegt die fachliche, rechtliche und finanzielle Verantwortung bei den Kantonen.

Um innerhalb des Föderalismus ein Minimum an Einheitlichkeit zu gewährleisten, bilden die 26 kantonalen Erziehungsdirektoren seit 1970 eine politische Behörde: die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Sie regelt z. B. Fragen des Schuleintritts, der Schuldauer und des Schuljahresbeginns. Die Zusammenarbeit der EDK basiert auf rechtsverbindlichen, interkantonalen Vereinbarungen, sogenannten Konkordaten.

Die Schweiz hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (siehe 2.1) nicht unterzeichnet. Dennoch hat die Plenarversammlung der kantonalen Erziehungsdirektoren am 25.10.2007 eine Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (Sonderpädagogik-Konkordat) mit einem klaren Bekenntnis für ein integratives Bildungssystem verabschiedet (§ 2). Der gesamte sonderpädagogische Bereich gehört demnach zum Bildungsauftrag der Volksschule.

Neben der Schulbildung organisieren die Kantone die notwendigen Transporte und übernehmen deren Kosten, wenn Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Behinderung den Weg zur Schule oder Therapiestelle nicht selbständig bewältigen können. Außerdem wurde innerhalb des Sonderpädagogik-Konkordats erstmals ein einheitlicher Rahmen für wichtige Maßnahmen im sonderpädagogischen Bereich geschaffen, z. B. die Festlegung der Berechtigten und des Grundangebots. Zudem gehören die Entwicklung und Anwendung einer einheitlichen Terminologie, von Qualitätsstandards für die Anerkennung von Leistungsanbietern und von einem standardisierten Abklärungsverfahren für die Ermittlung des individuellen Bedarfs zu den Vereinbarungen.

Bis 2011 musste jeder Kanton ein Sonderschulkonzept entwickeln. Einige Kantone können aufgrund ihrer geringen Größe nicht für alle Kinder und Jugendlichen schulische Angebote bereithalten. In diesem Fall ist eine außerkantonale Eingliederung in Sonderschulen oder besondere Einrichtungen möglich. Sie wird in der Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) geregelt.

3Autismusspezifischer Förderbedarf

„Für viele Menschen mit Autismus stellt die Schulzeit die bei weitem schlimmste Zeit ihres Lebens dar.“ (Preißmann 2009, 102)

Dr. Christine Preißmann, die dies feststellt, ist im Autismus-Spektrum. Bedauerlicherweise ist sie mit ihrer Einschätzung nicht allein. Viele Erwachsene im Autismus-Spektrum, die auf ihre Schulzeit zurückblicken, urteilen ähnlich.

Eine wichtige Frage für jeden Pädagogen sollte demnach sein, wie man die Schulzeit für diese Kinder und Jugendlichen so gestalten kann, dass ein solcher Leidensdruck nicht entsteht. Sie haben augenscheinlich besondere Bedürfnisse, denen man in der Schule zurzeit noch zu wenig gerecht wird.

Doch auch die Pädagogen sind oft überfordert. Durch ihre Ausbildung sind sie zu wenig auf die Förderbedürfnisse dieser Schülergruppe vorbereitet. Der Förderbedarf wird in einigen Bundesländern der BRD durch die Schulgesetzgebung zwar benannt, dennoch wird den Pädagogen nicht ausreichend vermittelt, worin er besteht und wie sie ihn bei der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigen können.

3.1Nachteilsausgleich

Aufgrund ihrer besonderen Lernvoraussetzungen haben Schüler im AS einen Anspruch auf Nachteilsausgleich zur Wahrung der Chancengleichheit gegenüber ihren Mitschülern. Er dient der Kompensation der durch das AS entstandenen Nachteile und soll es Schülern ermöglichen, einen Zugang zu Lerninhalten zu finden, Aufgaben zu verstehen und Lernleistungen nachzuweisen. Rechtlich lässt sich der Anspruch aus dem Schwerbehindertengesetz § 48 ableiten.

Dabei lässt sich bei Schülern im AS kein allgemeiner, sondern stets nur ein individueller Anspruch auf Nachteilsausgleich feststellen. Die Gewährung des Nachteilsausgleichs darf nicht in den Zeugnissen erscheinen (SchbG §52), denn eine mit Nachteilsausgleich erbrachte Leistung ist im Vergleich zu der anderer Schüler gleichwertig. Die fachlichen Anforderungen des Curriculums bleiben unberührt. Dabei darf der gewährte Nachteilsausgleich nicht zu einer Benachteiligung anderer Schüler führen.

Nicht unter den Nachteilsausgleich fällt der Verzicht auf die Bewertung von Teilleistungen, wie er bei Schülern mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche gewährt wird, oder der Verzicht auf Leistungserbringung, wie im Falle des Sportunterrichtes bei Schülern mit motorischen Einschränkungen.

Welche Möglichkeiten des Nachteilsausgleiches es gibt und wie sie beantragt werden müssen, findet man in den schulrechtlichen Vorgaben der einzelnen Bundesländer. Wichtig ist, dass der Nachteilsausgleich nicht willkürlich von einzelnen Pädagogen gewährt oder nicht gewährt wird, sondern dass es sich um ein einheitliches und transparentes Vorgehen aller Lehrkräfte im Sinne der Chancengleichheit handelt. Das stellt in der Praxis oft eine Schwierigkeit dar, wie eine Schulhelferin berichtet:

„Bis heute […] gelingt es einigen Pädagogen nicht, diesen Zeitbonus für Lukas organisatorisch einzuplanen, und entsprechende zeitliche Strukturierungen während des Arbeitens vorzunehmen.“ (Müller 2014, 108)

Gute, genaue Absprachen unter den Fachkollegen sind hier unbedingt notwendig.

3.2Übersicht über mögliche Aspekte des autismusspezifischen Förderbedarfs

Jeder Förderbedarf muss individuell festgestellt und regelmäßig aktualisiert werden. Dazu eignen sich Beobachtungen, Gespräche mit Bezugspersonen und Fachleuten sowie leistungsdiagnostische Verfahren, wie sie im Kapitel 3.7 dargestellt werden.

In Tabelle 1 werden überblickshaft mögliche Aspekte des autismusspezifischen Förderbedarfs mit den daraus abgeleiteten pädagogischen Maßnahmen dargestellt. Im Einzelfall trifft bei einem Schüler nicht jeder einzelne Aspekt zu bzw. können auch noch andere, zusätzliche Bedürfnisse beobachtet werden.

Tab. 1: Übersicht über mögliche Aspekte des sonderpädagogischen Förderbedarfs

Förderbedarf

mögliche Maßnahmen

ausführlich in Kapitel

Die verbale Sprache entwickelt sich nicht

• Sprachtherapie

• alternative Kommunikationsmöglichkeiten

• einzelfallbezogene Helfer als Kommunikationshelfer

• früh Schrift einsetzen

• Scripte einsetzen

• interdisziplinäre Zusammenarbeit

3.3 3.13

wörtliches Sprachverständnis

• kontrollierte Lehrersprache

• Training von Metaphern, Ironie usw.

• Nachteilsausgleich bei Textaufgaben (Mathematik), Gedichtinterpretationen und Aufsätzen

3.3

Gesprächsregeln werden nicht beherrscht

• Erklären und Üben der Regeln

• Anleiten und Begleiten der Mitschüler

3.3

Schwierigkeiten mit der verbalen Kommunikation in Stresssituationen

• individuelle Kommunikationswege zulassen

• Zeit geben

3.3

Probleme mit dem Gebrauch und dem Verständnis von Körpersprache, Intonation und Akzenten

• kontrollierte Lehrersprache

• einzelfallbezogene Helfer als „Dolmetscher“

• Training, z. B. FEFA

3.3

Ungenaue Zeit- und Häufigkeitsangaben werden schlecht verstanden

• kontrollierte Lehrersprache

• Visualisierungen

3.3 3.10

Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme und -gestaltung mit Mitschülern

• einzelfallbezogene Helfer

• soziale Situationen gestalten

• Pausenspiele üben

• Mitschüler anleiten

• soziale Regeln vermitteln

• Lerngruppen in der Zusammensetzung stabil lassen

3.4

Schwierigkeiten, einen Perspektivwechsel vorzunehmen

• Theory-of-Mind-Training

• Nachteilsausgleich bei Gedichtinterpretationen und Aufsätzen

3.4

höheres Risiko, gemobbt zu werden

• Gespräche mit Mitschülern

• klare Regeln aufstellen

• angemessenes Verhalten erklären und üben (Social Stories, Comic Strip Conversation)

3.4

Soziale Regeln werden nicht ohne ausdrückliche Vermittlung erworben

• Regeln explizit vermitteln

• einzelfallbezogene Helfer unterstützen Regelverständnis und -einhaltung

• interdisziplinäre Zusammenarbeit

3.4

unflexibler Regelgebrauch

• einzelfallbezogene Helfer unterstützen und erklären Regelabweichungen

3.4

keine Angst vor Gefahren

• einzelfallbezogene Helfer

• sicheres Lernumfeld

• Regeltraining

3.4

Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen

• Anleitung und Begleitung der Mitschüler

• kleinschrittige Anleitung

• Erfolgssicherung

• einzelfallbezogene Hilfe im Unterricht

3.4

Soziale Motivationen (Lob, Lächeln usw.) wirken nicht oder nicht ausreichend

• individuelle Motivationssysteme entwickeln und schrittweise denen der Mitschüler angleichen

3.5

stereotypes Verhalten

• sensorische Überlastungen vermeiden

• zum Ausgangspunkt für Lernangebote machen oder als Belohnung nutzen