Leben und Lassen - Siegfried Carl - E-Book

Leben und Lassen E-Book

Siegfried Carl

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Beschreibung

"Leben und Lassen" bringt überwiegend streng formgebundene Gedichte (Sonette, Kanzonen, diverse Reim- und Strophenformen etc.), die sich bewusst mit der lyrischen Tradition auseinandersetzen. Die Inhalte sind, dem Thema entsprechend, vielfältig - Politik, Religion, Zwischenmenschliches sind ebenso im Fokus wie die drängenden Fragen der Zeit - aber auch Fußball-Kanzonen zum Sommermärchen 2006 und witzige, satirische Verse finden sich in der Gedicht-Sammlung aus den vier vergangenen Jahrzehnten. Für Liebhaberinnen und Liebhaber klassischer lyrischer Dichtkunst ist dieser Band genau der richtige Begleiter, um in ruhiger Stunde auf andere Gedanken zu kommen, sich hintergründigem sowie zugleich melodiös und rhythmisch anspruchsvollem Lektüregenuss hinzugeben. Das Gedicht, ursprüngliches und anspruchsvolles Mittel der zwischenmenschlichen öffentlichen Kommunikation, wird hier in seinem Wesen ernst genommen und ausgefüllt. Es regt an, erregt und regt auf; und hilft bestenfalls den Gedanken und der Phantasie auf die Sprünge. In unsere hektischen, oberflächlichen und flatterhaften Häppchenkultur sind Gedichte, ist Lyrik ein retardierender Ankerplatz der Geistes- und Herzens-Bildung."Vielerorten steht sie [die Bildung], als unpraktische Umständlichkeit und eitle Widerspenstigkeit, dem Fortkommen bereits im Wege: wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden." so schon 1959 Theodor W. Adorno sehr pessimistisch in seinem Essay: Theorie der Halbbildung.

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Inhalt

Anstatt eines Vorwortes

Varia et Curiosa frühe Sonette aus den 80ern und 90ern

Ungereimtes und Gereimtes Unernstes und Ernstes | Unpolitisches und Politisches

Winter – Weihnacht – Jahreswechsel

Fußball-Kanzonen zur Fußballweltmeisterschaft 2006

Zwiegespräche Sonette auf Wiedenbrücker Skulpturen

Katalanische Gedichte Deutsche Nachdichtungen

Zoologisches und Unlogisches Tierische Reimereien

An Stelle eines Nachwortes Ahnung von den Ahnen – Über Tradition beim Schreiben von Lyrik

Überschriften der Zyklen und Einzelgedichte

Zum Autor

Anstatt eines Vorwortes

in Memoriam Friz

Apoll ist okkupiert vom Pöbel,

die Basis röhrt ihr Wut-Urteil;

und sein Orakel – delphisch einst –

kotzt sich ins bodenlose Netz

als Lady Instagram, Prince Facebook

und noch diverses andres aus…

im Oktober 2020

Frau Welt

In Walthers Tone: Frô Werlt, ir sult dem wirte sagen

Die geile Schönheit der Frau Welt

wohlfeil dem gut betuchten Mann,

der mit dem haufenweisen Geld

moralfrei am Markt spielen kann.

Glück und Glückseligkeit sind Gaben,

die scheinbar nicht zu kaufen sind

– und doch sind sie für Geld zu haben,

auch wenn dies Glück ein schales scheint,

und die Glückseligkeit der Welt

zumeist nur eitlen Reichtum meint.

Doch ihre ekle Hinterseite –

mit Krankheit, Hunger, Eiterbeulen,

mit Schnaps, Gewalt, privater Pleite,

Hartz 4, für’n Tod zu viel – zum Heulen.

Doch Augen zu, noch schwimmt er oben,

Fettauge auf der Lebenssuppe,

die letzten Euros abgehoben,

denn die Glückseligkeit, die kennt er,

und kann auch er sich locker leisten:

Fußball, Fast Food und Fitness-Center.

Gekauftes Glück, Frau Welt als Ware,

Wucher, Schacher – machtversessen,

vom ersten Schrei zur stummen Bahre –

ganz langsam wird sie aufgefressen:

Kannibalismus vorn und hinten,

wer nichts bekommt, ist selber schuld,

es zählt: wer kennt die besten Finten,

wer legt wen am infamsten rein

und bleibt im Ring am längsten stehen,

wer stellt Frau Welt zuletzt das Bein?

Varia et Curiosa

Sonette

eine Auswahl von frühen Sonetten aus den späten 1980ern und frühen 1990ern

Letztes Sonett

So nette Menschen gibt es gar nicht, dass man ihnen täglich

Sonette widmen würde, denn wer könnte von sich sagen:

„Sonette kann ich täglich schreiben“, ja wer würd es wagen,

so nette Worte Tag um Tag – nein! das ist nicht möglich.

Und noch bemüht um reine Reime: find ich einen, find ich keine?

Drum brech’ ich dies Sonett hier ab;

brech’ jeder, der es besser weiß, über mir den Stab...

Minnesang

Ja, wenn der Minnesänger klagte

von Liebe, Leid – von hohem Mut,

und dass die Frau sein höchstes Gut,

das heimlich er nur schauen wagte,

und wenn er tiefer sich verstrickte

ins liebesdienerische Tun,

behauptend, niemals könnt er ruh’n,

wenn sie ihm nicht einmal zunickte,

dann scheint uns eines klar zu sein:

die Dichtung ist nur eitler Schein,

die Wirklichkeit wird sanft bedeckt;

und den Naiven lullt er ein,

der Sang, damit kein weiser Stein

das Triebwerk seines Hirns verdreckt.

Petrarca

Als du dein Selbst damals ergründen wolltest

und aufstiegst hoch dem kahlen Gipfel zu

des – ragend aus der Fläche – Mont Ventoux

trugst du ein Blatt bei dir, ein aufgerolltes.

Ich glaube fast, du warst verärgert, schmolltest,

den die geliebte Laura, dachtest du,

hat schmerzhaft dir verändert deinen Schuh,

so stiegst du langsamer, als du es solltest.

Und in dem Steigen, das ein Abstieg war

ins Reich der Subjektivität,

da warst du ganz du selbst, warst du bei dir.

Die Dichtkunst hast du, dies ist mir heut klar,

mit deinem Blatt dort ausgesät,

kein Lorbeer, unbeschrieben: nur Papier.

Shakespeare

Zwar bist du Meister des Sonetts, doch kennt

man eigentlich nur Tragisches in Dramen

und die Komödien, denn wer ihn nennt,

den lange weit- ja weltberühmten Namen,

denkt an Venedig, an des Mooren Zeiten,

denkt was im Traum der Sommernacht geschah,

denkt an die Liebe, auch an Missgunst, Streiten –

den Tod von Romeo und Julia.

Doch von dir selbst, da wissen wir fast nichts;

nur in der Dichtung können wir begreifen,

und auch kein wahrer Ausdruck des Gesichts

nur der Gedanken kann uns sachte streifen.

Mir reichten deine herrlichen Sonette,

wenn ich von dir nichts außer diesen hätte.

Übung

in memoriam Stefan Zweig

Ständig üben

Reime sieben

Steine schieben

Hier nach drüben

selbst die fernsten

Spiele spielen

immer zielen

stetig ernsten

Tag für Tag

Schlag auf Schlag

Zug um Zug

und du siegst

doch du kriegst

nie genug

Versuch 1

in memoriam Arthur Miller

Alter

Samen

Namen

schallt er

Falter

kamen

Damen

lallt er

Lieben

Sieben

nicht auf einen Streich

Wühlen

Fühlen

sind doch alle gleich

Rilke

Neidvoll neige ich mein Haupt.

Hätte ich doch nie geglaubt,

nicht einmal gewagt zu denken,

mir – wie du einst – zu verschränken

Wörter im Sonettenreim.

Weder Trakl, Borchardt, Heym,

noch von Platen, Groth, ja Goethe,

melodiös, wie Pan die Flöte,

sangen sie, der Form Genüge

leistend, und in große Krüge

schüttend klaren, kräft’gen Wein.

Doch wie Orpheus singt nur einer,

klingend schwingt es, feiner, reiner –

ja, bei dir singt selbst der Stein.

Alter Romantiker

Unter den Kohorten

der Künstler findet

sich mancher, der schindet

sich ab mit Worten.

An jeglichen Orten

sitzt er und bindet,

fast taub und erblindet,

blumige Sorten

romantischer Worte,

erinnerter Orte,

die ihn wiederfinden.

Und tagtäglich schinden

ihn taub und erblinden:

Kritiker-Horte.

Chaos

Ordnung sei das halbe Leben,

sagt das Sprichwort, alt und dumm;

nicht gerade, sondern krumm,

ist mir meine Welt gegeben.

Denn mein Weg ist nirgends eben,

Brocken liegen wirr herum,

und die Sphinx hockt lauernd stumm –

tiefer Abgrund gähnt daneben.

Aus dem Chaos wächst, was lebt,

in die Ordnung, und es strebt

alles stets zurück

in die chaogene Spur

unsres Lebens – Liebe – nur

kurze Spanne Glück!

In fremdem Klang

an einem Abend in Regensburg

Ein Abend, nicht wie jener gestern,

als ich noch stand auf einem fester’n

Boden – Heimat – aber heute

ist fremd die Stadt, sind fremd die Leute.

Und dann vom Dom der Klang der Glocken

im Schritt verharre ich, erschrocken

schau ich empor, es hocken droben

Dämonen, und den Gott sie loben.

Ich sehe Taube und auch Tauben,

die andern nichts mehr gönnen

können;

die alles, Körner, Reime rauben,

den andern selbst den Schnabel

– Babel!

Biotop 1

Quakt ein Frosch im trüben Tümpel eines Kraters,

der als Narbe klafft im ewig ruhigen Tann,

und der Jüngling mit verklärtem Blick, er kann

nur voll Staunen steh’n vor dieser Tat des Vaters.

Und die Lippen singen dieses sehend Lob;

früher über Umweltsünden sich ereifernd

und Behördenwillkür, Macht und Geld begeifernd,

formen sie das Losungswort: ein Biotop!

Damals haben Jabos knapp ihr Ziel verfehlt,

ihre Absicht aber keinesfalls verhehlt

– nah der Stadt dem Wald die Bombenlust beschert.

Kann, was damals Unrecht war, heut schützenswert,

und was einst den Mensch des Menschenseins entehrt,

heut geschichtslos abgeschirmt sein – plump beseelt?

Biotop 2

auf Urlaub in Bad Wurzach

Ins Moor! Das war nicht immer nur

die Antwort auf die Frage:

Wohin bei Rheuma in die Kur,

die nächsten vierzehn Tage?

Ins Moor! war grauenvoller Sang,

wenn Kerkerknechte sorgen

den endlos lebenslangen Gang

am grauen, kalten Morgen.

Und heute strömt’s vieltausendfach

an heißen Sommertagen

– ohne viel zu fragen -

ins Moor mit Sack und Pack und Krach.

Von unsern Kindern – morgen –

soll’n wir die Welt nur borgen.

Biotop 3

U-Bahnhalt City/Stadtmitte

Stahlbeton und Schienenstränge

Atem, Hüfte, Schenkel, Titte

im Gedränge – Menschenmenge

Penner liegend im Gekröse

Tauben mit verklumpten Krallen

grell umblinkt schmatzt satte Möse

geilen Männern zu gefallen

Mädchen (Kinder) schlanke Jungen

Ketten um den Arm geschlungen

tauschen Körper gegen Kohle

bieten alles – wollen leben

würden selbst die Seele geben

Dschungel einer Metropole

Armer Romeo

Es ist die Lerche nicht und nicht die Nachtigall,

denn beide singen für die Liebenden nicht mehr

am Bachlauf oder in den Lüften schaut man schwer

nach ihnen, diese Zeit ist nicht ihr Fall.

Und auch die Linde, Baukis würde mich versteh’n,

hat all ihr Recht verloren, ist nicht mehr wie einst

der Baum des Lebens und der Liebenden, du meinst,

die letzte könnt dem stillen Tod entgeh’n?

Wenn diese Welt der Liebe und des Lebens

Symbole nicht mehr achtet, scheint vergebens

schon der Versuch, die Macht des Schicksals aufzuheben;

wir sind verblendet und betört von Düften

des Flieders, dies ist Liebe in den Grüften,

wo wir nur harren eines Zeichens, auf ein Beben.

Tschernobyl

tiefe Wunden

immer während

immer schwärend

abgebunden

total zerschunden

doch verzehrend

doch belehrend

nie gefunden

guter Rat

ist teuer

Menschenungeheuer

schnelle Tat

am Steuer

atomares Feuer

Trügerische Hoffnung

(Am Bodensee)

Wenn sich leise Nebel und der Abend senkt,

und das letzte Blässhuhn glucksend schweigt;

wenn der Nebel wieder höher steigt,

weil die Alpengipfel Wind hierher gelenkt.

Und ein Mensch steht an der Mole und bedenkt,

was das Leben sei, und wie er neigt

seinen Kopf, ein Stern im Wasser zeigt,

dass die Welt um ihn von einem Gott geschenkt.

Ins Wasser wirft er einen Stein,

im Nu verschwimmt der schöne Schein –

so ist’s stets, wo ein Mensch dabei ist.

Die Ordnung, Schönheit der Natur

zerstört der Mensch sich Spur um Spur;

er meint’s zu dürfen, weil er frei ist.

Störfall

ein Prosit auf die Stammtisch-Grünen – Neckarwestheim

Rauch steigt kerzengerade in die Luft;

Sonntagsstimmung – Kuchen und Kaffeeduft.

Stille ringsum – nur das Zwitschern von Meisen,

die ein Stück Butterzopf zerreißen.

Im Kraftwerk ist irgendetwas verpufft.

Und ein Minister, sein Sprecher? – jedenfalls ein Schuft!

will uns mit salbadernden Floskeln abspeisen,

will uns – wie stets – granatenmäßig bescheißen.

Tatenlos – nach dem ersten Geschrei,

da waren wir natürlich auch dabei –

stehen wir nun, wir blicken uns um,

atemlos – denn er bleibt uns weg –

Bronchitis, Asthma oder so’n Dreck,

wir husten uns einen und bleiben stumm.

Der Lenz ist da

Frühling ist gekommen,

hat dem Wald genommen

seinen weißen Schleier

– angelegt zur Feier

langer Winternächte. –

Teufelsfrohe Mächte

können nun beginnen –

Sanduhr wird verrinnen.

Nadeln rieseln von den Ästen,

und den zu späten Feiergästen

ist der Tisch gedeckt;

wohlig warmer Frühlingsregen

ist keiner Tanne mehr ein Segen:

sauer und verdreckt!