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Monika Prem beschreibt in dem vorliegenden Band den zweiten Teil ihres Lebens (der erste Teil liegt in 'Erste Kinderjahre - Zweiter Weltkrieg' vor), beginnend im Jahr 1957. Die Autorin absolviert bei ihrer Mutter eine Lehre zur Fotografin, die sie mit der Gesellenprüfung abschließt, und besucht später das Institut für Bildjournalismus in München. Eine sich anbahnende Karriere als Fotografin wird vorzeitig abgebrochen durch Bekanntschaft mit dem SPUR-Künstler Heimrad Prem, den sie 1964 heiratet. Sieben Kinder gehen aus der Beziehung hervor. Auf der Suche nach seiner Verwirklichung als Künstler muss Prem mit seiner Familie immer wieder umziehen. Wir folgen der Familie auf ihrer Reise nach Venedig und nach Schweden. Beginnend im Jahr 1968 bis zu seinem Tod im Jahr 1978 veranstaltet Prem die 'Weißen Feste'. Die nun folgende Zeit bis zum Jahr 2024 wird nur noch punktuell behandelt. Monika Prem will nicht nur ihr äußeres Leben beschreiben. Das für sie wichtigste Ereignis in ihrem Leben ist ihre in fortgeschrittenem Alter erfolgte Bekehrung zum Glauben an Jesus Christus. Die damit verbundenen Einsichten prägen von nun an ihr Leben und haben in dieser ganz schlicht geschriebenen Autobiographie ihre Spuren hinterlassen.
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Seitenzahl: 603
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Mein besonderer Dank gilt meinem Sohn Boris und meiner Enkelin Mara für die Korrekturarbeiten.
1939 Geboren in Hamburg, Kriegsjahre mit der Familie in Tirol, Vater in Russland vermisst
1945 Rückkehr nach München, Grundschule, ab der dritten Klasse Rudolf Steiner Schule, München
1956 Mittlere Reife, für zwei Semester Besuch der Fachschule für Schaufenstergestaltung, München
1957 Zweijährige Fotolehre mit Gesellenprüfung vor der Industrie- und Handelskammer, München
1959 Studium am Institut für Bildjournalismus, München
1961 Bekanntschaft mit dem Kunstmaler Heimrad Prem (Gruppe SPUR); freiberufliche Tätigkeit als Bildjournalistin, Veröffentlichungen von Fotos in der SZ und in anderen Zeitungen
1964 Heirat mit Heimrad Prem, sieben Kinder, fünfundzwanzig Enkelkinder, sehr lange Berufspause
1978 Tod des Ehemanns
ab 2002 Autobiographische Aufsätze: ein Krankenhausaufenthalt, Reisen in die USA und nach Russland
2006 Einige veröffentlichte Aufsätze in einer Oster-Anthologie im Verlag Haag+Herrchen, Frankfurt am Main
2007 Veröffentlichung des Buches „Aufbruch zur bewährten Familie mit Zukunft. Mündige Eltern erziehen ihre Kinder zu mündigen Erwachsenen“, Literareon Verlag, München
2013 Herausgabe der „Tagebuchnotizen“ von Heimrad Prem, Hirmer Verlag, München
2020 Veröffentlichung des Buches „Erste Kinderjahre – Zweiter Weltkrieg“, Verlagshaus Schlosser, Kirchheim bei München (jetzt BoD, Norderstedt)
Die Schulzeit beendete Manfred nach der zehnten Klasse in der Rudolf Steiner Schule in München mit der Mittleren Reife. Seine Stärken waren Chemie und Physik. Bei seiner Suche nach einem Beruf stieß er auf die „Chemieschule Dr. Erwin Elhardt“ in München. Die Ausbildung dauerte vier Semester; nachdem er diese erfolgreich abgeschlossen hatte, bekam er eine Anstellung als Chemotechniker in einem Chemiewerk.
Mittlerweile war der Atomreaktor in Garching erbaut und 1957 eingeweiht worden. Der Forschungsreaktor gehörte zur Technischen Hochschule in München. Manfreds Drang nach beruflicher Veränderung war groß, und er bewarb sich in Garching bei dem Atomphysiker Dr. Nils Bohr. Er bekam die Stelle und war darüber überglücklich. Von Herrn Dr. Bohr, dem Begründer der Quantentheorie, konnte er viel lernen und so arbeitete er einige Jahre im Atomei.
Aber noch etwas anderes packte meinen Bruder, und das war das Fernweh: Amerika war das Zauberwort. Einer der Auslöser war wohl der Umstand, dass unsere Tante Lotte aus Hamburg 1953/54 mit ihrem Mann und den drei Kindern nach Kanada ausgewandert war. Viele Menschen verließen zu dieser Zeit ihre Heimat, um in der Fremde ihr Glück zu suchen. Neben den USA war Kanada eines der bevorzugten Länder.
Mein Bruder war zwanzig Jahre alt, kündigte seinen Arbeitsplatz im Atomei und heuerte auf einem Frachtschiff an, wo er durch Arbeit seine Überfahrt bezahlen konnte. Er überquerte den Atlantik und erreichte nach drei Wochen das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Er ging nach Kanada, wo er bei seiner Tante und deren Familie wohnen konnte. Die Familie hatte ein schönes, großes Haus erworben und Land genug, um Gewächshäuser aufzustellen und Kakteen zu züchten, was sich zu einem gewinnbringenden Geschäft entwickelte. Lotte war nicht nur geschäftstüchtig, sondern auch talentiert, konnte Menschen gewinnen, was ihr und ihrem Mann Alfred dazu verhalf, in relativ kurzer Zeit einen ordentlichen Lebensstandard zu etablieren. Beide waren Gärtner und Blumenbinder und hatten vor dem Krieg ein gut gehendes Blumengeschäft an der Alster in Hamburg.
Während im Nachkriegsdeutschland noch Schutt weggeräumt wurde und nach und nach die zerbombten Städte wieder ein Gesicht bekamen, suchten viele Auswanderer in der Neuen Welt ihr Glück und hofften es auch zu finden.
Mein Bruder kehrte wieder in die Heimat zurück, aber mit der Absicht, in Kürze wieder aufzubrechen. Da geschah etwas sehr Erfreuliches: Er lernte seine spätere Frau Ingelore kennen. Bald konnte er sie auch für die Anthroposophie begeistern, mit der er sich schon lange beschäftigte. Sie hatten nun eine gemeinsame Basis, da auch Ingelore sich eingehend mit dem neuen Gedankengut befasste. Sie machte eine Ausbildung zur Heilpädagogin, um später für seelenpflegebedürftige Kinder tätig zu sein.
Manfred reiste nochmal per Schiff in die Staaten, lernte auf seinen Reisen gut Englisch sprechen und kam wieder zurück nach Deutschland. Im März 1964 heirateten Manfred und Ingelore. Einige Jahre später gingen sie für immer in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Für Mutti war es wieder ein Abschied – und wieder ein schwerer. Nun ging ihr einziger Sohn weit weg in die Fremde, also ins Ungewisse.
Im Jahr 1974, dem Jahr ihrer Gründung, traten Manfred und Ingelore einer auf dem anthroposophischen Gedankengut Rudolf Steiners basierenden Camphill-Gemeinschaft bei. Beide nahmen regen Anteil am Aufbau der Einrichtung, die im Staate Pennsylvania entstand.
Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen wurden dort auf die vielfältigste Art betreut und unterrichtet. Manfred lebte mit seiner Frau im Camphill Village Beaver Run. Es entstanden nach und nach noch andere Plätze wie Camphill Village Copage. Namen wie Karl König und Karl Pietzner tauchen in diesen Einrichtungen immer wieder auf. Heute können junge Menschen dort das sogenannte Internationale soziale Jahr absolvieren. Sie werden in Heilpädagogik unterrichtet und erlernen das Arbeiten mit seelenpflegebedürftigen Menschen.
Wie sich alles im Leben fügt, wurde Mutti später von ihrer Schwester eingeladen, sie in Kanada zu besuchen. Dort würde sie auch ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter näher sein.
So flog sie alle paar Jahre nach Kanada, und als sich Manfred und seine Frau gut etabliert hatten, wurde sie auch von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter eingeladen. Wie schon zu Beginn meiner Aufzeichnungen erwähnt, war auch meine Mutter mit der Lehre Rudolf Steiners vertraut, und da ergab sich eine wunderbare Harmonie zwischen ihr und ihrer Schwiegertochter und ihrem Sohn.
Mein Weg war ein ganz anderer, aber davon später.
Der Kontakt zu unseren Großeltern wurde immer seltener. Wir hörten, dass Opa im Krankenhaus lag, und auch Oma hatte viele gesundheitliche Probleme. Beide starben in kurzem Abstand hintereinander. Opa zuerst, dann Oma. Sie wurden keine achtzig Jahre alt. Beide bleiben mir in herzlicher und dankbarer Erinnerung.
Meine Mutter gab das Fotogeschäft in Sendling auf. Als ich achtzehn Jahre alt war, zog Mutti mit mir und Manfred nach Schwabing in die Barer Straße 86.
Das Reisen hatte Mutti schon immer sehr geliebt, was für ihren Beruf von großem Vorteil war. Sie unternahm Reisen nach Italien und Griechenland, besuchte die alten Kulturstätten, und die Farbdiapositive, die dabei entstanden, bot sie verschiedenen Verlagen an und konnte viel von dem Material erfolgreich verkaufen. Auch auf Messen hat sie sich weiter fotografisch betätigt und machte ausschließlich Außenaufnahmen – was ihr auch für die Reisen nach Kanada und in die USA sehr nützlich war. Für diese Sechs-mal-sechs-Dias benützte sie ihre Rol - leiflex-Kamera.
Wir sind im Jahr 1957; nun hatten wir wieder eine schöne Etagenwohnung im dritten Stockwerk. Eine richtige Küche, groß genug, um darin auch zu essen, ein Badezimmer mit getrennter Toilette und einen Balkon. Meinen Bruder sah ich nur selten, er war viel unterwegs, und nach einiger Zeit, nachdem er Deutschland mit seiner Frau verlassen hatte, lebte er in jenem für mich unglaublich fernen und fremden Land Amerika.
Ich verließ die Rudolf Steiner Schule nach der elften Klasse, und meine schönen Epochenhefte mit vielen Bildern und farbigen Texten habe ich noch heute. Anschließend besuchte ich für ein Jahr die Fachschule für Schaufenstergestaltung in der Brienner Straße. Sie hätte zwei Jahre gedauert, und das Dekorieren, Basteln und Malen machte mir auch Spaß. Besonders mochte ich das mit Feder und Tusche zu erlernende Schriftenzeichnen. Den Weg dorthin durch den kleinen Park und über den Königsplatz ging ich zu Fuß und fand ihn immer schön. Mein Kinderfahrrad hatte ich nicht mehr. Es war mir zu klein geworden, und wir haben es weggegeben. Nach dem Unterricht saß ich manchmal mit einigen Mitschülern auf den hohen Stufen zwischen den Säulen der Glyptothek im Sonnenschein, wir plauderten und waren sorglos, so lange, bis die nächste Pflicht uns rief.
Plötzlich zeigte sich das, was ich schon längere Zeit verspürte, dass ich mich doch sehr zur Fotografie hingezogen fühlte. Mutti hatte ich immer wieder im Geschäft geholfen, auch zu Messen hat sie mich mitgenommen. So schenkte sie mir eines Tages eine Mittelformat-Kamera, eine Rolleicord, die Vorläuferin der Rolleiflex. Sie sah auch aus wie diese, hatte ein recht - eckiges Gehäuse, also die Form eines Quaders, und war eine zweiäugige Spiegelreflexkamera. Sehr einfach, sehr überschaubar, nichts Überflüssiges. Wie man die Belichtungszeit einstellt, die Blende und den Auslöser bedient, hatte Mutti mir schon erklärt. Einen Drahtauslöser und einen Belichtungsmesser, den Sixtomat, bekam ich auch. Mutti meinte, die Belichtungszeit könne ich nicht immer schätzen, sondern müsse sie messen. Der Sechs-mal-sechs-Zentimeter-Rollfilm, mit dem man zwölf Aufnahmen machen konnte, verlangte ein gezieltes und sparsames Fotografieren. Noch einige Filter steckten in einer schönen, hellbraunen Ledertasche mit Gurt zum Umhängen, in der meine ganze Ausrüstung verstaut war.
Ich lief durch die Gegend und war begeistert von den ungeahnten Möglichkeiten, die sich mir auftaten. Ich empfand, es war geradezu eine Offenbarung. Mein Zimmer wurde geteilt, und hinter dicken Vorhängen verbarg sich meine Dunkelkammer.
Noch nachtragend möchte ich erwähnen, dass meine Mutter folgende Idee hatte: Nachdem ich die Fachschule für Schaufenstergestaltung vorzeitig, das heißt nach einem statt nach zwei Jahren, verließ, hat mich meine Mutter offiziell bei sich als Fotolehrling eingestellt. Eine verkürzte Lehre von zwei Jahren Dauer war möglich, da ich über achtzehn Jahre alt war. Meine Mutter hatte die Meisterprüfung, durfte also Lehrlinge ausbilden. Ich habe regelmäßig die Berufsschule in der Pranckhstraße besucht und nach zwei Jahren vor der Industrie- und Handelskammer die Gesellenprüfung erfolgreich abgelegt.
Mutti dachte, nun hätte ich einen Beruf und könnte mich in einem Fotogeschäft anstellen lassen. Aber danach stand mir der Sinn nicht. Mutti hatte noch einen Einfall und wandte sich an eine Werbeagentur, wo auch Fotografen gebraucht wurden. Dahin ging sie eines Tages mit mir. Vielleicht würde man mich als Praktikantin oder Ähnliches einstellen. Meine Mutter redete alles Mögliche mit dem Chef, ich aber schwieg oder sprach nur dann, wenn man mir eine Frage stellte.
Im Stillen hoffte ich, dass daraus nichts werden würde. So war es dann auch.
Ich wollte etwas anderes, fotografieren und vielleicht auch schreiben. Freiberuflich arbeiten, das war mein Traum. Tag und Nacht unterwegs sein. Nun besuchte ich alle möglichen Orte und es boten sich mir unendliche Möglichkeiten. Die Kamera immer um den Hals hängend und schussbereit. Ich ging zum Zirkus, ins Kinderheim, in Schulen, auf Bauplätze; wo ich überall herumlief, ist kaum zu berichten. München war noch mit dem Wiederaufbau nach der Zerstörung des Krieges beschäftigt. Es gab noch Brandmauern und Arbeiter in Baracken. Das waren wunderbare Motive. Nachts entwickelte ich die Filme und vergrößerte Bilder.
Ich fragte bei der Süddeutschen Zeitung in der Sendlinger Straße nach und erhielt die Auskunft, dass ich mich an Frau Barbara Bondi wenden soll. Sie wäre zuständig für die Seite „Gesellschaft und Familie“, die damals „Die Frau“ hieß, im Jahr 1960.
Frau Bondi empfing mich freundlich und war bereit, meine Fotos anzusehen. Sie wählte etliche aus und das befeuerte mich weiterzumachen. Es erschienen in loser Folge einige meiner Fotos im Feuilleton.
Eines Tages erfuhr ich wie durch ein Wunder, dass es am Kurfürstenplatz unweit unserer Wohnung eine Schule gab mit dem Namen „Institut für Bildjournalismus“ und der Leiter hieß Hans Schreiner. Das war es, was ich suchte. Das monatliche Schulgeld von 95 D-Mark, sagte Mutti, könne sie nicht aufbringen. Ich hätte auch schon die mir vom Staate zustehende Erziehungsbeihilfe für die Schaufenstergestaltungsschule erhalten.
Nein, in diese Schule musste ich gehen. Sollte mein Traum am Gelde scheitern? Das glaubte ich nicht. Ich schrieb einen Brief an die zuständige Behörde und erklärte, dass ich mir bewusst geworden wäre, dass ich mich geirrt hatte und nun meine eigentliche Berufung gefunden hätte. Mit noch einigen freundlichen Worten beendete ich das Schreiben. Wie lange ich wartete, weiß ich nicht, aber schließlich bekam ich Antwort. Ein Sachbearbeiter schrieb, dass ich meinen Anspruch als Kriegshalbwaise bereits bekommen hätte, aber man würde nur diesmal eine ganz große Ausnahme machen und mir das Schulgeld noch einmal gewähren. Vor Freude tanzte ich den ganzen Tag durch die Wohnung, und das bei AFN-Musik aus dem Radio.
Der Sachbearbeiter läutete eines Tages bei uns. Ich war sogar zu Hause und erstaunt, als er mich bat, mit ihm eine kleine Autofahrt zu unternehmen. Mein Brief schien ihm gefallen zu haben und ich dachte, ich dürfe nicht undankbar sein, und willigte in seinen Vorschlag ein. Wir fuhren in München herum, er steuerte sein Auto kreuz und quer durch die Stadt. Der Autoverkehr war zu dieser Zeit noch sehr überschaubar. Das Auto war modern, nicht wie Opas alter Hanomag. Er sprach dies und das, vielleicht wollte er mich kennenlernen oder fand mich nett oder auch hübsch, das weiß ich nicht. Er brachte mich ein wenig zögerlich, aber doch wohlbehalten wieder nach Hause.
Eines Tages packte ich in einen leeren Fotokarton in der Größe von 18 mal 24 Zentimetern meine besten Fotos, steckte diese in den Matchsack und eilte damit zum Kurfürstenplatz. Fräulein Goerts, die Mitarbeiterin von Hans Schreiner, öffnete mir die Türe. Sie sagte, ich sol - le warten, Herr Schreiner unterrichte gerade. Die Dame verschwand wieder im Büro. Ich hatte Herzklopfen und wartete. Der mir sehr bekannte Geruch von Fixiernatron und Entwickleremulsion lag in der Luft. Es war eine große Wohnung mit hohen Wänden und aus einem Zimmer hörte ich ganz schwach die Stimme eines Mannes. Aber dann auf einmal entstand in dem Raum eine Unruhe. Stühle wurden gerückt, Stimmen wurden hörbar, die Türe wurde aufgerissen und die ersten Schüler kamen heraus.
Niemand beachtete mich, als ich mich dem Zimmer näherte, an die Türe klopfte und nach Aufforderung den Raum betrat. Einige Schüler bewegten sich sitzend oder stehend neben einem großen, runden Tisch. Ein Herr, etwa Mitte fünfzig, saß ihnen gegenüber und schaute mich an. Was ich sagte, oder eher stammelte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall blätterte ich mei - ne Fotos aus der Schachtel auf den Tisch. Herr Schreiner sah sie durch, was wenige Minuten dauerte, sah mich wieder an und sagte: „Ich nehme Sie!“ Er gab mir die Hand und verließ den Raum. Er drehte sich noch einmal um und meinte: „Gehen Sie zu Fräulein Goerts ins Büro und melden Sie sich an. Morgen sind Sie um acht Uhr hier, da ist Unterrichtsbeginn.“ Innerlich machte ich einen Luftsprung und war überglücklich. Fräulein Goerts empfing mich und meinte, welches Glück ich hätte, nachdem das Semester bereits begonnen hätte und Herr Schreiner würde sehr genau überlegen, wen er nähme. In einem Semester wären normalerweise nur zwölf Studierende. Ich dachte: Bin ich nun wohl die Dreizehnte?
Mein Glück hielt unvermindert auf dem Nachhauseweg an. Ich lief mehr, als ich ging, und als ich zu nahe an die Straße kam und eine Radlerin ganz dicht an mir vorbeifuhr, schrie sie mich an, dass ich gefälligst nicht auf dem Bürgersteig herumtanzen solle. Was sie noch sagte, verstand ich nicht mehr. Aber meine Freude konnte auch das nicht trüben, vielleicht hatte die Frau ja auch recht. Aber nun fiel mir das Schulgeld ein, das ich jetzt sehr schnell benötigte und das mir ja vom Staat fest zugesagt worden war. Nun ging ich langsamer und dachte, dass Mutti das ja wisse, aber nun war die Sache mit dem Geld real geworden, da ich angenommen worden war. Meine Mutter freute sich ehrlich und ich spürte es und sah es ihr an. Sie meinte, dass sie mir das Schulgeld so lange vorschießen würde, bis es vom Amt käme. Dafür dankte ich ihr und ich dachte, irgendwie hält sie mich vielleicht für begabt.
Manchmal spürte ich, dass ich sie ein wenig an Papa erinnerte. Es war nicht nur die Art und Weise, wie ich Fotografie auffasste, sondern auch meine Freude am Malen und vielleicht auch einiges an meinem Wesen. Mutti sagte das nie, aber ich merkte es trotzdem. An Manfred war es eher sein Interesse an Naturwissenschaft, was sie auch schätzte und an ihm mochte.
Hans Schreiner war Mutti ein Begriff, da er auf derselben Fotoschule war wie meine Eltern. Als Lehrer und auch als Schüler, aber Genaueres wusste auch sie nicht.
Am nächsten Morgen stieg ich pünktlich kurz vor acht Uhr die vielen Treppen zum „Institut für Bildjournalismus“ hinauf. Ich glaube, es war die dritte Etage eines schönen, alten Hauses mit blank gebohnerten Holztreppen und großen Fenstern. Die 95 DM Schulgeld hatte ich mit einem Federmäppchen und einem Schreibheft in den Matchsack gesteckt. Die Kamera trug ich extra.
Meine Klassenkameraden vom ersten Semester saßen schon im Zimmer und schauten mich an und ich sie. Aber da kam schon Herr Schreiner herein, stellte mich ohne viel Kommentare als neue Schülerin den Mitschülern vor und meinte, ich solle einfach mitmachen, das sei, da wäre er sich sicher, kein Problem. Wenn ich eine Frage hätte, solle ich mich einfach melden. Dabei schaute er mich freundlich an. Die nun beginnenden Ausführungen kann ich natürlich nicht mehr im Detail wiedergeben. Im Großen und Ganzen ging es darum, einem angehenden Bildjournalisten, heute nennt man ihn Fotojournalisten, der das erste Semester besucht, Folgendes zu erklären: den Umgang mit Licht und Schatten, Gegenlicht, starken Sonnenschein, trübes Wetter, Schärfe, Unschärfe, Hintergrund, Vordergrund, Tiefenschärfe. Die technischen Daten waren für jeden erlernbar. Aber durch Herrn Schreiners Worte klang immer wieder etwas hindurch: das Unerlernbare. Begabung war Voraussetzung. Geistesgegenwart, den richtigen Moment erfassen, keine Scheu vor Menschen oder Situationen zu haben, war Bedingung. Bei Tag und Nacht, bei Regen und Schnee immer bereit, auf Achse zu sein, war eine Selbstverständlichkeit. So sah die Zukunft für den angehenden Pressefotografen aus.
Herr Schreiner flößte, wie ich bemerkte, allen Schülern viel Respekt und Achtung ein. Was ich hier hörte und erlebte, beeindruckte mich nachhaltig.
Am Ende des Unterrichts ging ich zu Fräulein Goerts ins Büro, um mein Schulgeld für den jetzigen Monat zu bezahlen. Sie sagte, sie würde nur für den halben Monat Schulgeld berechnen, da ich ja später gekommen sei. Herr Schreiner sei damit auch einverstanden. Ich war erfreut und bedankte mich und dachte an Mutti, wie froh sie darüber sein würde.
Neben den Mitschülern lernte ich den Schulbetrieb nun gründlich kennen. Es war noch ein Mann im Haus, das war Herr Luy Briechle, der die beiden Dunkelkammern betreute. Hier musste es geordnet zugehen. Immerhin waren viele Chemikalien, teure Vergrößerungsapparate, rote Fotolampen, Rollfilmentwicklungsbehälter und die verschiedensten Gradationen von lichtempfindlichen Papieren zu überwachen. Herr Briechle, selbst Fotograf, erschien mir immer gut gelaunt, machte witzige Bemerkungen, flirtete mit den Mädels und lief hin und her, was nach Dringlichkeit aussah. Die Plätze in den Dunkelkammern waren hochbegehrt, und nur eine exakte Zeiteinteilung, die Luy vornahm – die meisten Schüler duzten ihn –, ermöglichte es, dass jeder Schüler, der in der Dunkelkammer arbeiten wollte, die ihm genau abgesteckte Zeit auch einhielt. Da hatte ich wirklich Glück, dass ich meine Dunkelkammer zu Hause hatte.
Die Schule war wie für mich gemacht. Wir bekamen von Herrn Schreiner unterschiedliche Themen gestellt aus allen möglichen Bereichen und dann mussten wir uns auf den Weg machen. Man begann zu überlegen, zu organisieren, wie, wo und wann man seine Aufnahmen machen konnte. Viele Faktoren spielten hinein. Telefonnummern suchen, Anrufe, Adressen und Zeit ausmachen. Ich bevorzugte es, direkt dorthin zu gehen, wo ich mir erhoffte, Aufnahmen machen zu können.
Die Themenwahl war sehr umfangreich und wir bekamen eine Woche Zeit, um ein Thema zu bearbeiten. Da wir ausschließlich in Schwarzweiß fotografierten, worüber ich sehr froh war, hatte man wenig Schwierigkeiten mit den Lichtverhältnissen und bei der Dunkelkammerarbeit hatte man viel Spielraum. Da habe ich viel experimentiert und Dinge ausprobiert. Z.B. Weichzeichnung konnte man erzeugen, indem man einen dünnen Seidenstrumpf vor das Objektiv des Vergrößerungsapparates spannte. Oder auch partiell das Foto länger belichtete oder mit der Hand oder mithilfe einer Schablone abhielt, damit Teile des Fotos dunkler wurden oder heller blieben. Außerdem erlaubten die unterschiedlichen Gradationen des Fotopapiers ungeahnte Möglichkeiten. Diese reichten von weich, spezial, normal, hart bis extrahart. Zu dieser Zeit sah mein Leben so aus: vormittags Unterricht, nachmittags fotografieren, und die Nächte, zumindest halbe Nächte, verbrachte ich in der Dunkelkammer. Da diese nur durch einen großen, dicken Vorhang von meinem Schlafzimmer, also von meinem Bett, getrennt war, konnte ich schnell, wenn mich die Müdigkeit überwältigte in dieses schlüpfen.
Für die Auswahl der Themen war manchmal Fräulein Goerts verantwortlich, ansonsten Herr Schreiner. Aber da Fräulein Goerts, wie mir schien, auch einen geschulten Blick hatte, durfte sie die Aufnahmen, die wir auf Rollfilmen in der Größe sechs mal sechs Zentimeter machten und anschließend auf Kontaktbogen kopierten, begutachten und besprechen. Die Zusammenarbeit der beiden musste reibungslos vor sich gehen. Wir waren etwa 48 Schüler, verteilt auf vier Semester. Also über mir gab es noch drei Semester. Zurück zu den Kontakt - bögen, die Herr Schreiner oder Fräulein Goerts mit jedem Einzelnen besprachen: wie das Thema erfasst und bearbeitet wurde, wie aussagekräftig die Fotos waren, wie die Licht- und Schattenführung gelungen ist und gewiss noch mehr. Die besten Kontakte, sollte man dann auf 18-mal-24-Papiere vergrößern.
Eines der Themen, an das ich mich erinnern kann, lautete: Gastarbeiter auf dem Bau. Da gelangen mir sehr gute Aufnahmen. Ich ging in die Baracken, wo die Arbeiter Brotzeitpausen machten und Bier tranken. Andere arbeiteten im Freien, schauten mich interessiert an, lachten oder machten Witze. Ich verstand wenig, ihre Deutschkenntnisse waren noch gering. Ein anderes Thema war Kinderheim. Eines suchte ich mir aus dem Telefonbuch und fuhr dorthin. Die Heimleiterin begrüßte mich herzlich und ließ mich ungestört fotografieren. Mich rührte der Anblick der vielen Babys und Kleinkinder. Sie schauten mich neugierig an, und meine Fotos, die ich hier machte, fanden bei Herrn Schreiner wieder großen Anklang. Manchmal spürte ich, dass ich bei ihm ein besonderes Wohlwollen genoss. Es war, als ob er ein Talent in mir sah. Viele dieser Fotos landeten im Feuilleton der SZ und erschienen auch in loser Folge von Zeit zu Zeit in anderen Zeitungen.
Meine Mitschüler lernte ich allmählich kennen und bemerkte, wie international besetzt das Institut war. Jemand erzählte mir, dass diese Art von Schule einmalig sei. Es war glaube ich David Blumenthal, ein Jude. Heide Stolz lernte ich dort kennen, freundete mich mit ihr an, bewunderte sie, weil sie nicht nur ausgefallen aussah, sondern auch so fotografierte. Sie ging zum Schuttberg, wo der Schutt des Zweiten Weltkrieges aufgeschüttet worden war und später der Olympiaberg daraus entstanden ist. Aber hier lagen noch viele Gesteinsbrocken, Ziegelsteine und anderes noch nicht Verwestes herum. Auch Timofej und Natascha, das russische Paar, hatten sich aus dem, was sie fanden, in unmittelbarer Nähe ihre orthodoxe Kirche gebaut. Wir sind im Jahr 1960 und das Kriegsende liegt fünfzehn Jahre zurück. Heide konstruierte ihre Fotos regelrecht, und zwar im Stil des Surrealismus. Sie benutzte hochempfindliche Filme und da ergaben sich grobkörnige Vergrößerungen. Das steigerte die Wirkung. Manchmal besuchte ich sie in ihrer großen Wohnung in der Trogerstraße in Bogenhausen. Heide stammte aus Kupferzell, einer Kleinstadt unweit von Stuttgart. Sie hatte noch eine Schwester namens Kunigunde, und ihre Eltern besaßen eine Apotheke am Marktplatz von Kupferzell.
Einige Schüler waren aus Ungarn, so auch Szoka Kuske Reginji, die meine Freundschaft zu gewinnen suchte. Sie hatte bereits zwei kleine Töchter, war von ihrem Mann geschieden und beinahe ein Jahr jünger als ich. Was mich verwunderte, war, wie sie es schaffte, mit zwei kleinen Kindern noch eine Schule zu besuchen. Sie hatte ein schweres, verworrenes Leben hinter sich, das mit dem Ungarnkrieg, dem großen Aufstand vor wenigen Jahren, zusammenhing. Nach ihrer Flucht nach Deutschland kam auch Reginji aus dem Krieg zurück. Sie nannte ihren geschiedenen Mann nur mit Nachnamen. Ihre beiden Töchter ließ sie von verschiedenen Frauen betreuen oder sie waren zur Betreuung in einer Einrichtung.
Durch Heide und Szoka erlebte ich eine Welt, die ich nicht kannte, die aber doch Spannung bei mir erzeugte. Ich kam mir immer sehr naiv vor, aber Heide, die mein Jahrgang war, hatte Lebenserfahrung in verschiedenen Bereichen. Das äußerte sich nicht nur in ihrer Lebensart, sondern auch in der Weise, wie sie sich in ihren Ansichten äußerte.
Während ich keine Sekunde daran zweifelte, dass meine Berufswahl mit allem Drum und Dran die einzig richtige war, gab es einige Schüler, die das bei sich zu hinterfragen begannen. Einer meinte, er würde später etwas anderes machen. Dieser Beruf erforderte den vollen Einsatz und eine Portion Glück bräuchte man auch und darum wäre ihm die Sache zu unsicher. Er war ein netter Kerl, lachte gern und kam vom Land. Jemand sagte, es sei auch viel Unsicherheit im Spiel, letztendlich schafften es nur die Besten und die Konkurrenz sei groß. Ein Mädchen sagte, dass ich es im Blut hätte, weil meine Eltern Fotografen seien. Mit den Schülern der anderen Semester hatte ich weniger Kontakt, aber sie waren die Fortgeschrittenen; einige steckten voller Ehrgeiz und hatten große Pläne, was die Zukunft betraf.
Wir erhielten auch Unterricht von Menschen, die in Zeitungsverlagen arbeiteten und gelegentlich in unserer Schule auftauchten, um uns in die Strategie des Pressewesens einzuwei - hen. Einmal war es ein Herr, einmal eine Dame; aber was sie erzählten, ist mir nicht mehr im Detail bewusst. Es war für uns natürlich wichtig, über den allgemeinen Journalismus und über die Abläufe in einer Zeitungsredaktion Bescheid zu wissen. Auch rechtliche Fragen wurden erklärt. Bei diesem Unterricht sollten alle Schüler, auch die der höheren Semester, anwesend sein.
Eines Tages, wie immer ging ich voller Elan zur Schule, mein Weg war nicht weit. Ich stieg die Treppen hinauf und hörte, dass von oben Stimmen kamen, und war erstaunt, dass offenbar im Flur gesprochen wurde. Ein seltsames Gefühl beschlich mich und ich beschleunigte meine Schritte und sah den ersten Schüler. Die anderen, die noch da waren, hatten betroffene Gesichter. Einer sagte: „Herr Schreiner ist tot.“ Ich stand da wie erstarrt. Ich hörte leises Sprechen, aber verstand die Worte nicht. Die Wohnungstüre war weit offen. Ich sah Luy Briechle, wie er mit jemandem flüsterte. Auch die Bürotüre stand offen und Fräulein Goerts sah ich mit gesenktem Kopf vor dem Fenster stehen und hörte ihr leises Weinen. Sie tat mir unendlich leid.
Seltsam, ein Traum war zu Ende, sicher auch für andere, für mich war nun eine kurze, aber schöne Zeit vorbei.
Ein halbes Jahr wurde der Unterricht von Frau Goerts und Herrn Briechle noch fortgesetzt und dann wurde das Institut für Bildjournalismus für immer geschlossen.
Einige der Absolventen wie Stefan Moses und Barbara Niggl waren bereits bei der Süddeutschen Zeitung als freie Fotografen beschäftigt. Andere wurden, wie auch Luy Briechle, als Kameramann beim Bayerischen Rundfunk unter Vertrag genommen.
Die meisten versuchten bei Zeitungen, auch in ihrer Heimat, Anstellungen zu bekommen. Die Zeit war günstig und der Ruf unserer Schule war so gut. Die Zuständigen wussten, dass Absolventen, die hier studiert hatten, Pressefotografen waren, die den Beruf von Grund auf gelernt hatten und das nötige Know-how besaßen.
Ich bewarb mich nirgends und lief einfach weiter mit meiner Kamera durch das Land und bekam unversehens Aufträge. Ob nun in der Steiner Schule oder in einer Schule mit behinderten Kindern. Ob nun dort oder bei der Zeitung – immer wieder interessierte man sich für meine Fotos.
Eines Tages hatte ich den Einfall, nach Wien zu reisen, um dort eine Freundin zu besuchen, die ich aus meinen Kindertagen und aus Tirol kannte. Auch nach einer geeigneten Fotoschule wollte ich mich umsehen. Irgendwie wusste ich, dass mehr Reiselust dahinter stand als sinnvolles Tun. Ich war ja nun zwanzig Jahre alt und war der Meinung, dass mein foto - grafischer Blick ausreichend geschult war. Meine Freundin Wetti traf ich zwar, aber meine Rückkehr nach München fand nach wenigen Tagen statt.
Meine Freundin Heide traf ich in Schwabing wieder und sie fotografierte weiterhin am Schuttberg in ihrem surrealistischen Stil.
Die Kunstakademie war nicht weit von unserer Wohnung entfernt und dahin führten mich meine Schritte einige Male. Ich vermutete dort würde ich ausgefallene Typen treffen, also Künstler, und so war es dann auch. Es war nicht schwer, sie anzusprechen, und sie ließen sich ohne langes Zögern fotografieren und waren immer nett.
Es war merkwürdig – oder auch ganz normal –, dass mich die Akademie und die dort her - umlaufenden Menschen geradezu anzogen. Ich habe die breiten Treppen und die weißen Wände und das Tageslicht, aus unterschiedlichen Seiten einfallend, wegen der großen Fenster als ausgesprochen fotogen empfunden. Einmal machte ich mit einer jungen Frau Modeaufnahmen, und diese freute sich über die Bilder, die ich ihr schenkte. Sie war mit einem Griechen verheiratet und hatte einen fünfjährigen Sohn, der wegen der Contergan-Katastrophe an einer Hand nur zwei Finger hatte.
Mit dem kleinen Spiraki spielte ich sehr oft. Er konnte nicht genug bekommen, wenn ich mit ihm durch unsere Wohnung und über den Flur rannte. Dann versteckte ich mich ganz schnell und er kreischte vor Vergnügen, wenn er mich fand. Sobald seine Mutter ihn holte, wehrte er sich mit Händen und Füße, aber das half ihm nichts, er musste mit. Ich versprach ihm, dass er wiederkommen dürfe, was nicht schwer war, denn er wohnte gleich neben uns. Aber nach wenigen Jahren war der Spaß vorbei, denn ich zog weg. Aber davor ereignete sich noch Entscheidendes.
Heide Stolz schlenderte durch Schwabing in Männerhemden und einem ungewöhnlichen Haarschnitt. Ich kam mir immer noch kindlich und naiv vor neben ihr. Sie erzählte mir von Malern, die beim Weinbauer in der Gastwirtschaft säßen und einer wäre dabei, der hieße Kunzelmann und wohne in einem Keller. Sie könnte mir zeigen, wo genau. Irgendwie fühlte ich, dass sich für mich nun eine Welt erschließen würde, die spannend und auch ziemlich abenteuerlich wäre.
Nun wollte ich Kunzelmann auch kennenlernen und ging in die Bauerstraße und klopfte an sein Kellerfenster. Mit Vornamen hieß er Dieter und war ein rothaariger, bärtiger Lockenkopf. Er erschien an seinem Fenster und sagte, ich solle an der anderen Hausseite durch die Haustüre gehen und dann die Kellertreppe hinab und dort fände ich ihn.
Er lebte hier unten zwischen unendlichen Regalen von Büchern, las Marx und Engels und wollte die Revolution vorbereiteten. Zum Fotografieren war nicht nur das Ambiente höchst faszinierend, sondern auch der Mensch selbst, der hier hauste. Dieser ließ mich sich ungestört fotografieren, bis ich wieder fortging. Gesprochen haben wir nicht viel, zumindest ich. Er war sicher der Meinung, dass ich seinen Gedankengängen ohnehin hätte nicht folgen können. Als ich die Kellertreppe emporstieg und die Haustüre ins Schloss fiel, war ich froh, aber auch seltsam berührt von dem Leben dieses seltsamen Eremiten.
Es gab noch jemand in Schwabing, der in der Adalbertstraße im Keller lebte, Karl Heinz Scheffel hieß und sein Spitzname lautete Spitz. Er war im Gegensatz zu Kunzelmann kein Intellektueller, sondern durch und durch ein Naturbursche. In den warmen Jahreszeiten wanderte er zu Fuß kreuz und quer durch Griechenland, und das mehrmals, viele Jahre lang. Auch ihn habe ich besucht und fotografiert. Er war ein Typ mit starken Backenknochen und ein wenig schrägen Augen und hatte einen sehr sportlichen Körperbau. Etwa zweimal war ich dort, bis ich bemerkte, dass er Alkohol trank, und das mit der Zeit, wie ich erfuhr, immer mehr. Da wollte ich nicht mehr zu ihm gehen.
Ich las nicht viel, aber momentan war ich erfasst von der Paris-Welle und auch von Büchern, die gerade Mode waren. Ein ungarischer Autor mit Namen Gabor von Vaszary hat das Buch „Monpti“ verfasst und das las ich mit solchem Entzücken, dass ich schnell begriff, dass ich nach Paris reisen müsste. Geld hatte ich nicht viel, aber genug. Von einer Bekannten, die im Trampen Erfahrung hatte, erfuhr ich, dass man per Anhalter sehr schnell ans Ziel käme und das ganz ohne Geld.
Meiner Mutter unterbreitete ich meinen Plan und sie war nicht sehr erfreut und meinte, das käme zu teuer und überhaupt könnte Gefahr lauern – und so Ähnliches. Ich beruhigte sie, war doch mein Entschluss zu fest, und ich meinte, dass ich mit meinem Geld gewiss auskäme.
Der Sommer hatte begonnen, mein Matchsack war bepackt mit dem Notwendigsten, aber das Wichtigste war natürlich die Kamera und ausreichend Filmmaterial. Oh Paris, was für ein Traum, welchen fantastischen Motiven würde ich dort begegnen.
Ich hatte mich erkundigt, wie ich zur West-Autobahn in Richtung Frankreich gelangen könnte und wanderte in aller Frühe los. Meine Last war leicht und meine Seele in Hochform. Ich streckte winkend meinen Arm den heranfahrenden Autos entgegen und schnell hielt jemand an und nahm mich mit. Irgendwo wurde ich wieder abgesetzt und kam dann schnell wieder weiter. Sollte ich heute Abend schon in Paris sein? Je näher ich Frankreich kam, umso wichtiger würden meine französischen Sprachkenntnisse werden. Ein sicheres Gefühl sagte mir, dass ich in manches Auto nicht einsteigen soll. Ich vertraute dieser Eingebung und gelangte tatsächlich bis zum Abend an mein Ziel.
Die Auberge de la Jeunesse, also die Jugendherberge, fand ich nach einigem Suchen und wurde von einem freundlichen Herbergsvater empfangen. Es war bereits Abend, aber bis zum nächsten Tag warten, um meine Traumstadt zu erkunden, das wollte ich nicht. Mein Gepäck durfte ich unterstellen. Ich erfuhr, dass die Herberge um Mitternacht geschlossen werden würde und ich dann nicht mehr hereinkäme. Das war mir egal. Also wanderte ich los in Richtung Montmartre, aber nicht ohne Kamera. Mit der Überzeugung, dass mir all das begegnen würde, was ich in dem Roman gelesen hatte. Und dass die Wirklichkeit das Fantastische noch um einiges übertreffen würde.
Ich ging unter der Metro entlang, während diese ratternd sehr hoch über mir auf Geleisen dahinfuhr. Schon das war eine Sensation. Nachdem es dunkel geworden war und all die klei - nen Geschäfte mit den beleuchteten Auslagen, an denen ich vorüberging, mit den hübschesten Dingen der Welt glänzten, ergriff mich der ganze Zauber dieser Stadt. Freilich konnte ich mir nichts kaufen, aber das war auch nicht mein Begehr. Die Ausstrahlung und die Atmosphäre, die ich geradezu in mich hineinsog, war mir genug.
Mein Blick wanderte in das Innere eines Hauses und da entdeckte ich in einem kleinen Häuschen sitzend die Concierge. Sie war für die Menschen, die hier lebten und hier ein und aus gingen, eine wichtige Person, die vieles wusste, manches verschwieg und Hilfe und Orientierung für die Bewohner war. So oder ähnlich stand es in meinem Buch.
Die französische Sprache liebte ich und nun konnte ich sie anwenden und mich bis in den Künstlerstadtteil durchfragen. Ich hatte sie auch in der Schule gerne, was auch mit meiner charmanten Lehrerin zu tun hatte. Sie hieß Madame Pronnet. Unterwegs traf ich Jugendliche, die auch nachts herumstrichen und in einer Jugendherberge wohnten und teilweise Deutsche waren.
Wir redeten ein wenig und da einige schon länger hier waren, konnten sie mir Ratschläge geben, die sie für wichtig hielten. Ich wollte vor allem das erkunden, was ich in meiner Fantasie so plastisch vor meinem geistigen Auge sah.
Allmählich begann ich Müdigkeit zu empfinden, aber zur Herberge zurückzugehen war nicht möglich, da sie geschlossen hatte und erst morgens um sechs Uhr wieder öffnen wür - de. So lief ich weiter einem Straßenschild nach, immer umgeben von dem Zauber dieser Traumstadt. Nun kam noch Hunger hinzu, aber wo und wie sollte ich den stillen? Ein Stück - chen Brot hatte ich noch in der Rocktasche gefunden und das aß ich mit Bedacht. Die Zeit schritt voran, die gebogenen Straßenlaternen erloschen nach und nach, die Jugendlichen waren verschwunden und ich ging und ging. Niemand war da, den ich hätte fragen können, ei - ne Uhr besaß ich nicht und mein Entschluss, diese Nacht noch den Montmartre zu erreichen sank ein wenig. Die Nacht war warm und immer noch begegnete ich Menschen, die wie Schatten auf dem Boulevard in die eine oder in die andere Richtung im Dunkeln verschwanden.
Plötzlich lag er vor mir, ins Morgengrauen gehüllt, ganz still, beinahe menschenleer: der Montmartre. Ich war hellwach geworden. Da waren sie wieder, die kleinen Lampen, von denen nur mehr wenige brannten. Ein Café, vor dem zusammengeklappte Stühle an der Wand lehnten, war noch geschlossen und lag an einer sich nach oben schlängelnden Straße. Mein Hunger war riesig, aber alle Müdigkeit war verschwunden. Ich sah einen bärtigen Mann, der anscheinend einen Pinsel mit einem Tuch ausputzte. Allerlei Kram lag um ihn herum. Auch Farben zum Malen entdeckte ich zwischen Papierrollen auf dem Boden liegen. Ich schaute zu ihm und er lächelte mich an. Ich hob meine Kamera in die Höhe und der Maler näherte sich mir. Er sagte etwas und ich sprach in meinem holperigen Französisch, dass ich Deutsche sei. Er lachte wieder und sagte: „Oh, Allemande!“ Ich entgegnete: „Oui“, und entfernte mich. Ich drehte mich noch einmal um und er lachte hinter mir her.
Endlich fand ich eine Bäckerei, die gerade von einer Frau aufgesperrt wurde, und als ich durch die Türe ging, kam mir der Duft von frischem Weißbrot entgegen. Da lagen sie nun in allen Größen, die unterschiedlichen Brötchen. Die Dame in einer weißen Schürze fragte mich, was ich wollte. Nun stotterte ich wieder, was das Billigste sei, das sie mir anbieten könne.
Sie merkte schnell, dass ich Deutsche war, und gab mir einen Croissant. Ich bezahlte, sie sah mich so freundlich an und steckte dann noch ein zweites Gebäck in eine Tüte und reichte sie mir.
Ich dachte, ich müsse es nehmen und bezahlen. Aber die Frau schüttelte den Kopf und lächelte und ich verstand, dass sie es mir schenken wollte. Ich sagte „Merci“ und „Au revoir“. Sie lachte, während sie grüßte, und ich ging.
Ich lief über Kopfsteinpflaster eine kleine Gasse hinauf, während ich versuchte, das eine Brötchen mit Bedacht zu essen. Nun wurde mir klar, warum dieser Stadtteil Montmartre hieß: Es war wirklich ein Berg, auf dem man auf- und abwärts steigen konnte. Nur das Wort „martre“ konnte ich nicht entschlüsseln.
Es begannen Menschen von allen Seiten die kleinen Geschäfte zu besuchen. Manche Frauen trugen mehrere Taschen am Arm und hatten schon eingekauft. Es waren so viele Türen nebeneinander, und dahinter, dachte ich, würden die feinsten Dinge liegen. Plötzlich stand ich vor Obst-, Salat- und Gemüsebergen, während die Marktverkäufer mit lauter Stimme ihre Ware feilboten. Nun fand ich den Platz, wo sich die Maler aufhielten und hier roch es nach Farbe und Öl. Da standen sie, die Künstler an ihren Staffeleien, umgeben von Farbtöpfen, Papierrollen, Pinseln, Spachteln und Eimern, entweder mit Wasser oder mit Lösungsmittel gefüllt. Ein Maler, der mit einem schwarzen Pullover bekleidet war und eine Hose trug, die mit Farbe bekleckst war, malte gerade an einem Bild. Andere Maler standen beieinander und schwatzten, während sie aus Tuben Farben auf Paletten drückten.
Ich stand nur da und guckte, aber nicht nur das, sondern ich fotografierte auch, aber doch vorsichtig. Das erregte trotzdem ein wenig Aufmerksamkeit; da kam ein Maler auf mich zu und fragte, ob er mich malen dürfe. Den Satz verstand ich sofort und antwortete, dass ich zu wenig Geld hätte. „Oh, d’Allemagne!“ „Oui“, war meine kurze Antwort. Er sagte etwas von gratis; er wollte also kein Geld dafür haben. Ich zögerte, aber der Gedanke, ein von mir gemaltes Portrait mit nach Hause zu bringen, war doch verlockend. Ich sagte: „Merci!“, und ging mit ihm zu dem Platz, wo er seine Sachen hatte. Er lächelte und drehte mich in die richtige Position, während ich auf einem Hocker saß. Ich fühlte mich am Ziel meiner Reise angekommen; selbst im Mittelpunkt, umgeben vom Zauber des Montmartre. Einige Leute schauten uns zu, andere gingen vorbei. Als der Maler mir das Bild zeigte, war ich ein wenig überrascht, da ich mich anders sah, aber ich fand es doch schön. Er fragte noch dies und das, nannte seinen Namen, fragte nach meinem und wollte mich noch ein wenig festhalten. Das Bild rollte er zusammen, da er nun wusste, dass ich noch lange unterwegs sein würde und es schwer zu transportieren wäre. Er gab es mir und lächelte dabei, aber diesmal sah das Lä - cheln traurig aus. Ich nahm die Rolle, dankte und ging.
Ich lief nun abwärts, ging eine Straße weiter und gelangte an eine riesige, hohe Treppe. Ganz oben am Ende stand eine Kirche. Ich stieg ein Stück hinauf und setzte mich auf eine Stufe. Aus der Tüte zog ich das zweite Gebäckstück und begann auch dieses mit Hochgenuss, dennoch nicht zu schnell, zu essen. Damit musste ich satt werden. Zum Trinken würde ich einen Brunnen finden, dessen war ich mir sicher.
Nun stieg ich die Treppe vollends hoch und erfuhr, dass es die Kirche Sacré-Coeur war, vor der ich stand. Ich erinnerte mich an den Namen, den ich schon gehört hatte und übersetzt „Heiliges Herz“ bedeutet. Später erfuhr ich, dass die Basilika in einem orientalischen Stil erbaut worden war. Nun war es die Aussicht von hier oben über die ganze Stadt, die schöner nicht hätte sein können. All die kleinen und großen Häuser mit Türmchen und Erkern und dazwischen die kleinen Vorgärten. Einige Autos, so groß wie Spielzeug, standen oder fuhren zwischen den Häusern umher. Die Ateliers der Maler unter den Dächern mit großen Fenstern erblickte ich und dachte: Dort leben sie, die Maler, die tagsüber auf dem Place du Tertre malen und vielleicht in der Nacht in ihrem Atelier weiterarbeiten. Gerne hätte ich einmal ein Atelier mit dem Künstler, umgeben von der ihm eigenen Atmosphäre, besucht.
Aber nun fiel mir plötzlich die Auberge de la Jeunesse ein und dass ich dorthin, wo meine Sachen wie Kulturbeutel und Nachthemd waren, zurückgehen müsse. Ich war übernächtigt, aber doch nicht richtig müde. Sollte ich nun den Montmartre verlassen? Ich fotografierte nur, was mir lohnend erschien, also nicht zu viel. Die Filme mussten reichen für eine Zeitspanne von etwa vier Wochen.
Langsam ging ich die lange Treppe hinab und erblickte junge Frauen in farblich hübschen Kleidern, die mit mehreren Kindern im Kreise spielten. Die Kinder jauchzten, die Frauen lachten und dann gingen sie mit den Kleinen auf einen nahegelegenen großen Sandspielplatz. Die Kinder stürzten sich in den Sand und die Gouvernanten, hier nennt man sie „Bonnes“, begannen mit ihnen zu spielen. Der Anblick war so reizend, dass ich ein Foto machen musste.
Ich dachte an meine eigenen frühen Kinderjahre und mir wurde bewusst, dass ich nun, als Jugendliche, nicht mehr wie damals so selbstvergessen leben konnte. Ich holte einen Zettel aus der Jackentasche und auf dem stand die Adresse der Jugendherberge. Nun ging ich die Treppe ganz hinab und machte mich auf den Weg. Es war schätzungsweise elf Uhr und es roch bereits nach gekochten oder gebratenen Speisen. Die Türen der kleinen Restaurants standen offen und ein Koch in weißer, aber ein wenig fleckiger Schürze lief zwischen Tischen und Stühlen und dem Herd hin und her.
Ich schlängelte mich an Menschen vorbei und blickte noch einmal zum Platz, wo die Maler waren, hinauf, aber den, der mich gemalt hatte, sah ich nicht. Ich versuchte den Weg zu finden, den ich gekommen war und mein aufgerolltes Portrait hielt ich fest in der Hand und war vorsichtig genug, um damit an niemanden anzustoßen. Ich gelangte nach einigem Suchen dorthin, wohin ich wollte, und als ich schließlich am Hause meines Bleibens ankam, zeigte mir der Herbergsvater, wo mein Matchsack lag. Er machte noch eine Bemerkung, die, soweit ich sie verstand, mit meinem nächtlichen Wegbleiben zu tun hatte. Dann zeigte er mir einen der Mädchenschlafräume. Dort suchte ich mir ein noch nicht berührtes Bett. Ein Schlafsack aus weißem Stoff und eine Wolldecke lagen darauf und ich war es zufrieden. Meine Rolle mit der Zeichnung legte ich neben das Kopfkissen. Im Waschraum trank ich zunächst ausgiebig Wasser, bevor ich hinunter in den Aufenthaltsraum ging. Dort saßen verteilt überall Jugendliche und Wortfetzen verschiedener Sprachen drangen an mein Ohr. Einige Deutsche waren da, zu denen gesellte ich mich. Die üblichen Fragen, woher ich komme, was ich mache, per Anhalter aus München und mit großer Profi-Kamera, das fand manch einer toll. Ein Mädchen meinte: „Oh, per Autostopp, das ist fantastisch, aber meine Eltern würden das niemals erlauben!“
Nun trieb ich mich täglich in der Stadt herum, oft nicht mehr alleine, sondern mit einem Mädchen, mit der ich mich zusammentat und die wie ich gerne zu Fuß ging. Alles, was teuer war, mieden wir. Dazu gehörten auch die Metro und Sehenswürdigkeiten, die nur für Geld zu besichtigen waren. Den Eiffelturm empfand ich auch von außen als sehr beeindruckend. Auf den Louvre wollte ich auch verzichten, aber die Mona Lisa kannte ich auch so sehr gut.
In der Fachschule für Schaufenstergestaltung hatte ich einmal einen Eiffelturm aus dickem Karton gebastelt und auch bemalt. Er sollte als Blickfang in einem Schaufenster Verwendung finden. Dann stand er jahrelang in meinem Zimmer herum. Durch einen Umzug wurde er wahrscheinlich entsorgt. Ich dachte, also war ich damals schon frankophil!
Was mir am meisten gefiel, war, mit den französisch sprechenden Gleichaltrigen, die wir an allen Ecken trafen, zu radebrechen, was bewirkte, dass wir die Sprache immer besser verstanden. Aber nicht nur das, sondern ich getraute mich auch zu sprechen, was meine Erinnerung an den Französischunterricht, den ich in der Schule erhielt und den ich gerne mochte, auslöste. Ich las jedes Schild und alles Gedruckte, was mir vor die Augen kam; meine neue Freundin störte das nicht. Sie hatte einen kleinen französischen Sprachführer bei sich.
Wenn wir Hunger hatten, kauften wir uns in einer Patisserie einen Croissant. Das war eben Frankreich, aber ich mochte das ungewohnte Gebäck bald sehr gerne.
Manche Tage war ich wieder alleine unterwegs, was das Kennenlernen der Stadt beinahe erleichterte. Der Montmartre wirkte nach wie vor wie ein Magnet auf mich und faszinierte mich immer wieder aufs Neue. Einen Flohmarkt, der ständig stattfand und der geradezu kurios war wegen der Dinge, die es dort alle gab, besuchte ich mehrmals. Aber gekauft habe ich nichts, das hätte mich nur unnötig belastet.
An der Seine, wo sich die Clochards herumtrieben, am Ufer saßen oder schliefen oder zu mehreren herumstanden, gelang es mir, doch einige Fotos zu machen und das Typische einzufangen. Natürlich musste ich vorsichtig sein, vor allem wegen der Kamera, denn am Abend trieb sich auch anderes zwielichtiges Volk gerne an den düsteren Plätzen der Seine herum.
Bei all meinen Unternehmungen wusste ich mich immer von Gott beschützt. Dieses Bewusstsein der Geborgenheit, das mich, denke ich, durch meine ganze Kindheit und auch später begleitet hat, wurde mir auch hier wieder zur Gewissheit.
Das Quartier Latin, das Stadtviertel der Studenten, den Boulevard Haussmann, den Montparnasse lernte ich kennen, aber es wäre müßig, all das zu beschreiben, was jeder Mensch, der Paris besucht, auch im Glanz der sechziger Jahre oder bereits früher kennengelernt hat oder später kennenlernen wird.
Es soll noch erwähnt werden, dass ich bei einer meiner nächsten Reisen die Schwester der Frau meines Bruders namens Heide mit viel Überredungskünsten dazu brachte, gemeinsam mit mir per Tramp nach Paris zu fahren. Wir machten es tatsächlich und landeten in derselben, mir bekannten Jugendherberge. Aber außer der Tatsache, dass wir, als unser Geld knapp wurde, die Idee hatten, als Boulevard-Artisten aufzutreten, erinnere ich mich an die gemeinsame Zeit mit Heide in Paris nur mehr ganz schemenhaft. Aber in Wahrheit nicht mal mehr daran. Nur noch, dass Heide mit ihrer kleinen Flöte spielen sollte und ich wollte dazu Step tanzen. Letztendlich scheiterte unser Straßenauftritt an unserer zu geringen Entschlossenheit. Soweit meine Erinnerung zurückreicht, bestand unser täglich Brot beinahe vorwiegend aus Baguettes mit Apfelmus, was in der Jugendherberge reichlich angeboten wurde.
Weit besser erinnert sich Heide an unsere gemeinsame Reise. Hier ihr Bericht, den sie mir Ende April 2024 zukommen hat lassen:
Nochmal versuchte ich es, mit einer Freundin per Autostopp zu reisen, und das war Heide, die ich vom Institut für Bildjournalismus her kannte. Als wir auf einem Zeltplatz nächtigten und nur für kurze Zeit bleiben wollten, sagte sie, dass das Peranhalterfahren nichts für sie sei. Sie hatte sich entschlossen, jemanden zu besuchen, der nicht weit entfernt lebte. Sie meinte auch, zu diesem Lebensstil gehöre eine bestimmte Mentalität. Heide stammte aus wohlhabendem Hause, was wohl auch ein Grund war.
Bei meiner alleinigen Reise, der ersten also, als Nachtrag, machte ich mich, Paris verlassend, auf den Weg zur Autobahn Richtung Süden: Marseille, auch eine Traumstadt, wollte ich kennenlernen. Von dieser Hafenstadt mit all dem Schönen und Schaurigen hatte ich eine höchst bunte Vorstellung. Meine Habseligkeiten hatte ich schnell zusammengepackt, dem sehr gnädigen Herbergsvater so viel bezahlt, wie er verlangte, und ihm Lebewohl gesagt.
Es dauerte nicht lange und ein Lastauto hielt und der Fahrer meinte, Marseille wäre ohnehin sein Ziel und er würde mich mitnehmen. Zunächst zögerte ich, aber der Gedanke, am Abend, wie der Fahrer versicherte, Marseille zu erreichen, ließ mich einsteigen. Ich saß vorne neben dem Fahrer und meine französischen Sprachkenntnisse amüsierten ihn.
Die Adresse der Auberge de la Jeunesse schien ich zu haben, woher auch immer und so konnte ich nach unserer Ankunft in Marseille dem freundlichen Brummifahrer nur danken und Adieu sagen. Vergnügt landete ich dort, wohin ich wollte und bekam etwas zu essen und ein Bett zum Schlafen.
Am nächsten Tag durchstreifte ich das Hafenviertel und alles war neu und faszinierend. Ein Hafen am Meer mit Segelbooten, Ruderbooten, großen Schiffen und den bunt gekleideten, aber auch manchem ärmlich aussehenden Südfranzosen. Matrosen in blaue Hosen gekleidet standen herum und lachten mich an. Es roch nach Fisch, aber auch nach Unrat, an manchen Stellen sogar nach Fäkalien. Die Luft, die Atmosphäre, die Menschen – oder was war das Besondere, was das Leben von Paris unterschied? Viele Leute sahen südländisch aus, wie ich das aus Italien kannte. In Rom und Neapel war ich als Sechzehnjährige mit meiner Mutter und meinem Bruder gewesen.
Was ließ die Südfranzosen neben den dunkleren Haaren und der bronzefarbenen Haut anders erscheinen? Bei näherem Zuhören nahm ich wahr, dass die typisch pariserische schnelle und so geschmeidige Sprechweise hier ganz anderes klang. Es mischten sich ein wenig spanische oder auch italienische Klänge in das Französische.
Ich lief kreuz und quer durch die Stadt, die Kamera immer schussbereit. Dabei geriet ich in ein Viertel, in dem ich mich beinahe erschrocken umsah, so heruntergekommen und ärmlich wirkte es auf mich. Aber zum Fotografieren ein Traum! Ein kleines Mädchen, so süß, beklei - det mit einem schmutzigen, hellen Kleidchen, saß auf dem Boden in einem Hauseingang. Rechts und links bröckelte der Putz aus der Wand. Ich fotografierte das Kind und da tauchte seine Mutter auf, die etwas skeptisch dreinsah, sich aber trotzdem auch fotografieren ließ. Damals waren Kameras viel seltener als heute, aber vielleicht gerade deshalb hatten die Menschen mehr Ehrfurcht davor. Ich ging weiter und sah einen Mann hinter einem Fenster ohne Scheibe, der sich mit beiden Händen an die Gitterstäbe klammerte. Ich dachte an einen Gefangenen, der eingesperrt war, so erschreckend sah er aus. Ich fotografierte ihn und es gelangen mir noch andere Fotos – welch ein Glück, dass ich sie machen konnte. In einem sol - chen Quartier, das spürte ich deutlich, ist es nicht ganz ungefährlich sich aufzuhalten. Aber meine Leidenschaft, die Fotografie, schreckte nicht so leicht vor etwas zurück.
Mein abenteuerliches Leben, das ich jetzt führte, so empfand ich es immer öfter, würde nicht mehr allzu lange währen. Wie viel Zeit würde mir noch bleiben zu dieser ungetrübten Freiheit?
Ich musste zurück, das wusste ich; wie geht es Mutti? Ich wünschte, sie hätte sich nicht zu viele Sorgen um mich gemacht. Meine Karte hat sie hoffentlich aus Paris erhalten.
Marseille hatte ich durchstreift und dieses südfranzösische Flair genossen. Meine belichteten Filme, und das waren alle, die ich bei mir hatte, verstaute ich gut in meinem Matchsack. Morgen würde ich versuchen, Deutschland zu erreichen. Ja, die Strecke ist länger als die von Paris aus. Ich werde Autofahrer finden, die mich mitnehmen, aber es könnte sein, dass es weniger sind, als ich gewohnt war.
Die Herberge lag schon hinter mir und ich marschierte in Richtung Nordautobahn. Nun stand ich am Rand der Straße und wartete.
Es war noch früher Vormittag, aber ich verspürte nun das erste Mal, dass Peranhalterfahren doch deprimierend sein konnte. Vielleicht war es auch das letzte Mal in meinem Leben, dass ich auf diese Art reiste. Es war einige Zeit vergangen, da näherte sich ein rotes wie mir schien, sportliches Auto und hielt an. Ein Mann öffnete die Beifahrertüre und ich wollte fragen, wie weit ich mitfahren könne. Er lächelte zwar, aber ein seltsames Lächeln und ich spürte in mir einen Widerstand, der mich vom Einsteigen abhielt. Ich sagte „Non, merci!“ oder Ähnliches, aber er wollte das nicht verstehen und schaute mich beinahe drohend an. Ich entfernte mich ein wenig und Gott sei Dank raste er davon.
Die Chance, weiterzukommen, war nun vertan, trotzdem war ich erleichtert und wartete wieder. Ich wäre auch mit einem Lastauto zufrieden gewesen, aber ein solches kam auch nicht.
Die Zeit wurde mir lang, aber ich musste ausharren. Was wäre, wenn niemand käme? Leider war auch kein anderer Tramper da. Ich fühlte plötzlich so etwas wie Einsamkeit. Aber dann, welches Glück, hielt ein Auto an, in dem ein Ehepaar saß. Sie waren nett und bedauerten mich wegen meiner Lage. Sie würden mich mitnehmen, sogar ein großes Stück Richtung Norden. Nach Deutschland würden sie aber nicht fahren. Der Mann meinte, von Paris aus wäre es leichter, in Richtung Osten mitgenommen zu werden
Beide waren redselig und fragten dies und das. Als es auf Mittag zuging, wollten sie ein Gasthaus suchen. Ich hingegen musste schnell weiterkommen und das Angebot, mit ihnen essen zu gehen, wollte ich ausschlagen. Ob ich nicht hungrig sei, fragte die Dame, und das konnte ich durchaus nicht verneinen. Wir verließen die Autobahn und fanden eine Gaststätte und speisten vorzüglich. Der Herr verstand meine Lage und ich konnte noch viele Stunden auf dem Rücksitz mitfahren. Wir plauderten weiter und mein Beruf als Fotojournalistin gefiel ihnen. Der Abschied kam, sie brachten mich zu einem Halt, den sie für meine Weiterfahrt als günstig erachteten.
Wieder ein Abschied und nun stand ich wieder auf der Straße und wartete.
Wie ich meine Heimreise noch am selben Tag geschafft habe, ist mir nicht mehr in Erinnerung, nur eines weiß ich, dass es zur sehr späten Abendstunde war und dass mich meine lie - be Mutti überglücklich in die Arme schloss. Was hat sie sich wohl meinetwegen für Sorgen gemacht! Am nächsten Tag erzählte ich ausführlich und detailgetreu meine spannenden Reiseerlebnisse. Mein Bruder war wie so oft nicht da. Er war wieder, wie schon einige Male, auf den Wellen des Atlantiks zwischen Europa und Amerika.
Nach einem Tiefschlaf von vielen Stunden wollte ich nichts Dringenderes, als mein Filmmaterial so schnell wie möglich entwickeln. Nachdem ich in meiner Dunkelkammer an mehreren Tagen oder Nächten diese langwierige Arbeit erledigt hatte und danach auch wieder mit viel Zeitaufwand die Kontaktbögen ausgearbeitet hatte, brauche ich zu diesem Thema nicht mehr viel schreiben, da ich darüber ausgiebig im Zusammenhang mit meinem Besuch des Instituts für Bildjournalismus berichtet habe.
Mutti erzählte mir, dass sie vorhabe, ihre Eltern, die in Bremen leben, nach Bayern zu holen, weil ihre Eltern doch schon in einem fortgeschrittenen Alter wären und es besser sei, sie in ihrer Nähe zu wissen. Vielleicht eine gute Idee, meinte ich, aber mehr wusste ich dazu nicht zu sagen. Aber in dem Alter, in dem ich war, macht man sich wenig Gedanken über solche Dinge, und so war es auch bei mir.
Mutti kannte eine Frau, oder war es sogar eine gute Bekannte, die ein Haus in Tutzing am Starnberger See besaß, und bei der fragte sie nach, ob sie ihre Eltern in Pension aufnehmen würde.
Nach einiger Zeit lebten Oma und Opa in Tutzing, wo sie in einem schönen Haus am See ihren Lebensabend verbringen sollten. Die Altersrente von Opa war üppig genug, um die Kosten für beide zu decken. Da Oma mit siebzig Jahren begann, Anzeichen von Demenz zu entwickeln, war Opa froh, dass sie nun keine Hausarbeit mehr, bei der sie immer wieder Fehler machte, zu erledigen hatte. Sie bekamen Vollpension, und wenn Opa wegen irgendeiner Ungereimtheit, die Oma gelegentlich machte, wütend wurde, so reagierte Oma zwar empfindlich, aber sie vergaß es schnell.
Opa war Schiffsbauingenieur gewesen, war ein guter Rechner und auch sonst sehr gescheit.
Als ich die Großeltern in ihrer Idylle besuchte, freute sich Oma, und Opa saß mit einigen Freunden beim Skatspiel, schaute mich an und lachte. Er machte einige Bemerkungen und meinte, das Skatspiel sei so schwierig, dass ich es gewiss nicht begreifen würde; seine Skatbrüder grinsten.
Ich sagte nichts, sondern wandte mich an Oma und forderte sie zu einem Spaziergang auf. Sie hakte mich unter und plauderte davon, wie schön es hier sei und wie nett alle wären. Sie fragte nach ihrer Tochter und ich sagte ihr, dass Mutti sie schon einige Male besucht hätte und gewiss bald wieder kommen würde. Nun war sie zufrieden.
Meine Mutter traf Vorsorge und mietete im Nordfriedhof eine Grabstätte. So konnte sie sorglos der Zukunft zumindest in dieser Frage, was ihre Eltern betraf, entgegensehen. Sie hatte ja die alleinige Verantwortung für Vater und Mutter. Ihre Schwester Lotte lebte in Kanada, und ihren Bruder, der in Kassel zu Hause war und zu dem sie ein eher kühles Verhältnis hatte und der auch gesundheitlich sehr belastet war, wollte sie nicht in ihre Entscheidung einweihen. Freilich teilte sie es ihm dann später mit und er war es zufrieden. Mein Onkel Karl ist nicht sehr alt geworden, meiner Erinnerung nach ist er mit neunundsechzig Jahren gestorben.
Da meine Mutter immer sehr selbstständig war und daran gewohnt war, alleine Dinge zu entscheiden, hatte sie nun auch wieder ganz souverän gehandelt.
Mutti hatte die Grabstätte über die Friedhofsverwaltung erworben und nun wollte sie auch einen Grabstein aufstellen lassen. Da Steinmetze gerade neben Friedhöfen ihre Werkstätten haben, besuchte Mutti einen von ihnen und suchte sich einen Grabstein aus. Sie ließ den Namen meines Vaters und sein Geburtsdatum eingravieren. Gewiss hat es sie ein wenig bedrückt oder auch traurig gemacht, denn einen Todestag konnte sie nicht angeben. Der Stein wurde zum Friedhof transportiert und am Grab aufgestellt.
Zu Hause machte ich mich ans Vergrößern der Fotos, die mir gut genug erschienen, und das waren etliche. Honorar für Fotos, die veröffentlicht worden waren, hatte ich in meiner Abwesenheit auch bekommen, sagte Mutti. Darüber waren wir beide froh.
Heide traf ich und wir gingen durch Schwabing und ich sprach von meiner Trampreise und sie erzählte von einer Gruppe von Künstlern, die sie im Weinbauer in der Fendtstraße getroffen hatte. Ein typisch bayerisches Lokal in Altschwabing und nicht zu teuer, sogar recht billig. Sie sagte, das seien Maler, nur einer von ihnen nicht, und das sei Kunzelmann, der doch im Keller in der Bauerstraße lebt. Die anderen drei wären auf der Kunstakademie gewesen und hätten eine Künstlergruppe gegründet, die sich SPUR nannte. Heide meinte noch, dass ich doch so gerne in die Akademie gegangen wäre und auch Typen dort fand, die ich fotografieren wollte.
Wir gingen noch eine kleine Wegstrecke zusammen, dann trennten wir uns, da jede ein anderes Ziel hatte. Ich liebte diesen Stadtteil, vielleicht weil er mir so vertraut war aus meiner Schulzeit, aber auch wegen der Menschen, die hier herumliefen und weil viele von ihnen ein bisschen verrückt aussahen.
Heide wohnte in Bogenhausen und hatte eine Wohnung gemietet für sich alleine, obwohl dort, wie sie mir mal erzählt hatte, auch oft Freunde übernachteten. Die Wohnung war groß, auch die Zimmerdecken waren sehr hoch und das Haus war sehr schön und sehr alt.
Ich dachte, dass ich noch lange bei meiner Mutter wohnen würde.
Als ich wieder einmal, gewiss mit meiner Kamera, unterwegs war, geriet ich – ich weiß nicht, wie – ins Schwabinger Nest, ein kleines Café in der Leopoldstraße. Hier saßen auch immer mal Kollegen aus dem Institut für Bildjournalismus und gerade dort waren mir einmal sehr gute Fotos gelungen. Heute war von denen keiner da, aber dafür einige Maler und es stellte sich heraus, dass drei von ihnen zu der Gruppe SPUR gehörten. Sie lachten und redeten durcheinander und behandelten mich so, als ob ich ihnen keine Unbekannte wäre. Ich dachte, dass Heide dahinterstecken würde.
Ich trank etwas und erinnere mich sogar, dass einer von den Männern mein Glas bezahlt hat.
Ich war bald wieder weg und machte mich auf den Weg nach Hause.
Kunzelmann aus dem Keller war nicht dabei, dachte ich, aber am Nebentisch saßen auch Kerle und anscheinend kannten sie einander.
Zu Hause begann ich Fotos zu vergrößern, um sie zur Bildagentur der SZ zu bringen. Ganz sicher würde Frau Bondi die Bilder anschauen und welche aussuchen. Frau Bondi war immer erfreut, wenn ich zu ihr kam.
Plötzlich hatte ich die Idee, einmal durch Deutschland zu fahren und in den verschiedenen Städten, in denen sich Zeitungsredaktionen befanden, vorbeizuschauen und Fotomaterial anzubieten. Aber wie sollte ich reisen? Ich hatte ja eine Last, mehrere Schachteln mit 18 mal 24 Zentimetern großen Schwarz-Weiß-Fotos.