Lebensrealismus - Thomas Kleimann - E-Book

Lebensrealismus E-Book

Thomas Kleimann

0,0

Beschreibung

Die Arbeit liefert eine naturalistische Interpretation von Giovanni Battista Vicos geschichtsphilosophischem Klassiker "Neue Wissenschaft". Im Zentrum steht der symbolische und soziale Selbstregulationsprozess der Menschen, der das Überleben der Gattung sichert. Mit seinem an Überlebensfragen orientierten lebensrealistischen Standpunkt eröffnet Vico eine historische Perspektive, die jederzeit aktuell ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 463

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

V

ORWORT

E

INLEITUNG

:

L

EBENSZEICHEN DER

P

HANTASIE

– G

IOVANNI

B

ATTISTA

V

ICO

1. D

AS

L

EITBILD

H

ISTORISCHER

E

RKENNTNIS

: S

UBTEXTERWEITERTE

T

EXTREPRODUKTION

1.1 Das

verum-factum

-Prinzip

1.2 Geschichtsphilosophie

more geometrico

1.3 Philosophie und Philologie der Geschichte

1.4 Ewige ideale Geschichte

2. D

IE

G

ESCHICHTE DER

I

DEEN

: F

INGUNT SIMUL CREDUNTQUE

2.1 Primat der Anfänge

2.2 Poetische Charaktere

2.3 Die Stellung der

ars critica

im Mythendiskurs der Aufklärung

3. D

IE

G

ESCHICHTE DER SOZIALEN

W

ELT

: P

HILOSOPHIE DER

A

UTORITÄT

3.1 Politische Poesie

3.2 Die Zeitalter der Götter, Heroen und Menschen

3.3 Gesellschaftliche Institutionen

4. G

ESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS

Ü

BERLEBENSWISSENSCHAFT

4.1 Die Vorläufigkeit der Lebenspraxis

4.2 Not macht erfinderisch‘

4.3 Das Ziel der Geschichte

4.4 Die Prinzipien der Kultur: Religion, Ehe und Totenbestattung

5. L

IST DER

P

HANTASIE VS

. L

ISTEN DER

V

ERNUNFT

5.1 Gemeinsinn und geschichtliche Notwendigkeit

5.2 Quellen der Geschichtsphilosophie

5.3 Vico, Kant und Hegel

6. D

IE GESCHICHTLICHE

N

ATUR DES

M

ENSCHEN

6.1 Selbstkultivierung durch Selbstentfremdung

6.2 Anthropologie zwischen Historismus und Essentialismus

6.3 Geschichte als Naturgeschehen

7. E

INE

GROßE

E

RZÄHLUNG

VOLLER

W

AHRHEITEN

7.1 Wahrheit und Geschichte

7.2 Poetische und metaphysische Wahrheiten

7.3 Die Wahrheit des Körpers

8. I

M

Z

EICHEN DES

F

ORTSCHRITTS

: ‚B

ARBAREI DER

R

EFLEXION

8.1 Wert und Unwert der Rationalität

8.2 Die Theorie des

ricorso

8.3 Zur Aktualität der Geschichtsphilosophie Vicos

S

IGLEN

L

ITERATUR

VORWORT

In dieser Schrift interpretiere ich die Geschichtsphilosophie des neapolitanischen Philosophen Giambattista Vico, wie sie vor allem in dessen Hauptwerk „Neue Wissenschaft“ (1744) dargelegt ist. Ich entwickle eine naturalistische Lesart von Vicos Geschichtsdenken, die den vorherrschenden idealistischen bzw. theologischen Sichtweisen entgegensteht. Mittels ihrer mythenschaffenden, körperlichen Phantasie, so Vicos Geschichtsbild, stabilisieren die Menschen naturwüchsig stets aufs Neue soziale Institutionen (Familie, Eigentum, Klassenherrschaft), die dem Überleben der menschlichen Gattung dienen. Da Vicos Ansatz im Text oft mit anderen geschichtsphilosophischen Klassikern verglichen wird, kann die vorliegende Arbeit auch als Einführung in die klassische Geschichtsphilosophie im Ganzen gelesen werden. Besonderer Wert wurde bei der Darstellung auf Verständlichkeit, Widerspruchsfreiheit und Kohärenz gelegt.

Die vorliegende Schrift hat einen langen Entstehungsprozess. Der Anstoß für mein Vico-Interesse kam von meinem Doktorvater, dem inzwischen verstorbenen Philosophen Ferdinand Fellmann (1939 – 2019), der Vicos Denken stets wie ein noch nicht restlos enthülltes Geheimnis behandelte und mich bereits ab 2002 auf „Vico-Mission“ schickte. Es dauerte jedoch Jahre bis diese intellektuelle Auseinandersetzung entsprechende Früchte trug. Dabei unterstützen mich vor allem meine Freunde Ronny Becker und Thomas Rolf, mit denen ich ein Gesprächstrio bildete, das sich über einen längeren Zeitraum hinweg selbstlos und selbstvergessen der Diskussion philosophischer Probleme widmete. Meiner Familie, insbesondere meinem Vater und meinem Sohn Moritz gilt ebenfalls mein Dank für Unterstützung und Zuspruch bei diesem herausfordernden Projekt.

Im Jahr 2009 war meine Arbeit schließlich fertig und wurde als Dissertationsschrift an der TU Chemnitz eingereicht. Im Jahr 2010 wurde die Dissertation mit dem Universitätspreis meiner Hochschule prämiert. Für diese Druckfassung wurde die ursprüngliche Textversion erheblich verbessert und gekürzt, wobei ich meinen Freunden Thomas Tetzner und besonders Thomas Rolf für ihre Hilfe zu Dank verpflichtet bin. Daneben gilt mein Dank auch meiner jetzigen Frau Annika und unseren Kindern Lias und Lenia, die mich täglich lehren, dass unsere menschliche Geschichte auch ohne ihre philosophische Aufarbeitung weitergeht.

Marburg, August 2024

EINLEITUNG: LEBENSZEICHEN DER PHANTASIE – GIOVANNI BATTISTA VICO

‚Es kommt stets anders als man denkt‘: So lautet eine bekannte Volksweisheit. Wie so viele Sprichwörter ist auch diese Feststellung vieldeutig. Man kann sie als Verweis auf den Zufall verstehen, der die Lebenspläne der Menschen durchkreuzt; man kann ihr aber auch eine religiöse Bedeutung abgewinnen und mit ihr die Überzeugung verbinden, dass ein höheres Wesen das Lebensschicksal eines Menschen entgegen seiner eigenen Absichten und Pläne vorherbestimmt. Drittens passt das Sprichwort auch auf Situationen, in denen Menschen durch ihr Handeln selbst dafür sorgen, dass es für sie anders kommt als sie denken oder geplant haben. Dies ist der Fall, wenn die Ergebnisse ihres Tuns sich merklich von den Absichten unterscheiden, die dem Handeln vorausgingen. Die Erfahrung einer solchen Diskrepanz zwischen dem Ergebnis und der Absicht einer Handlung ist allzumenschlich. Ein klassisches Beispiel dafür ist die ungewollte Schwangerschaft, zu der es gekommen ist, obwohl die Partner nichts anderes als die Befriedigung ihrer Begierden im Sinn hatten. In der modernen Gesellschaft hat die Erfahrung, dass es anders kommt als man denkt, eine neue Qualität und ein neues Ausmaß gewonnen. Aufgrund der Eigendynamik und Komplexität ökonomischer, technischer und sozialer Prozesse stellt sie inzwischen eine kollektive Normalerfahrung dar, im Vergleich zu der die völlige Übereinstimmung zwischen Absichten und Ergebnissen des sozialen Handelns eher eine Ausnahme darstellt. Wie schon das Beispiel der unerwarteten Empfängnis zeigt, muss das nicht unbedingt etwas Negatives bedeuten. Denn oft kommt es für die Menschen auch besser als sie denken.

Gerade dieser letzte Fall einer schöpferisch-sinnvollen Diskrepanz zwischen subjektiven Handlungsmotiven und objektiven Handlungsresultaten hat innerhalb der Philosophie paradigmatische Bedeutung erlangt. Denn die Alltagsweisheit: ‚Es kommt stets anders als man denkt‘ geriet dort zur impliziten Leitmaxime, wo sich das philosophische Nachdenken über Mensch und Welt unter den Vorzeichen des Eintritts in die bürgerliche Moderne zur Geschichte hin zu öffnen begann. Das war in der Zeit vom frühen 18. Jahrhundert bis ins späte 19. Jahrhundert der Fall, in der dem Sprichwort mit Blick auf die Menschheitsgeschichte eine steile, wenn auch nur relative kurze philosophische Karriere beschieden war. Das philosophische Projekt, in dessen Rahmen sich diese Anwendungskarriere ereignet hat, war (im Gegensatz zum ‚formalen‘ Geschichtsdenken) die ‚materiale‘ Geschichtsphilosophie, welche mit Namen wie Turgot, Condorcet, Comte, Ferguson, Iselin, Kant, Hegel oder Marx verbunden ist.1

Stehen in der formalen Geschichtsphilosophie methodologische und erkenntnistheoretische Fragen bezüglich der historischen Erkenntnis im Mittelpunkt, so geht es den Vertretern der materialen Geschichtsphilosophie um die Entwicklung von Theorien zum Gesamtverlauf der menschlichen Geschichte.2 Inzwischen steckt die materiale Geschichtsphilosophie seit längerem in einer Legitimitätskrise, für die sich unterschiedliche Gründe ausmachen lassen. Einer dieser Gründe liegt in der ideenpolitischen Dimension materialer Geschichtsphilosophien: So ist die neuere Geschichtsphilosophie nicht nur ein Kind der Moderne und der für sie typischen Unverfügbarkeitserfahrungen (‚Es kommt stets anders als man denkt‘), sondern auch deren vielleicht wichtigste Legitimations- oder Delegitimationsinstanz. In den Entwürfen zur materialen Geschichtsphilosophie geht es nämlich nicht nur darum, den Verlauf der Menschheitsgeschichte zweckfrei nachzuzeichnen. Die Theorien zielen vielmehr auf eine historiographische Kontextualisierung der bürgerlichen Moderne ab, welche die Aufklärung ihrer Herkunft sowie die Beurteilung ihrer Zukunftsperspektiven ermöglicht.3 Da der gesellschaftliche Bedarf an umfassenden Legitimierungs- oder Delegitimierungserzählungen in der jüngeren Vergangenheit abgenommen hat, ist auch das Interesse an der Geschichtsphilosophie nahezu verschwunden.

Ein weiterer Grund für das derzeitige Schattendasein der Geschichtsphilosophie liegt in der für sie charakteristischen Weise der Aneignung des Geschichtsverlaufs. Rohbeck etwa spricht mit Blick auf die Geschichtsphilosophie treffend vom „Problemkind der Moderne“4. Ein solches Problemkind ist sie geworden, weil ihre Protagonisten einen eher einseitigen Umgang mit der Spruchweisheit ‚Es kommt stets anders als man denkt‘ gepflegt haben. Bei der Mehrzahl der geschichtsphilosophischen Entwürfe handelt es sich nämlich um Fortschrittstheorien,5 die auf die historische Legitimation der bürgerlichen Moderne abzielen. In dieser Absicht greifen die namhaftesten Repräsentanten der Geschichtsphilosophie das Sprichwort in seiner fortschrittsmodalen Sinnvariante auf, die am Beispiel der ungewollten Schwangerschaft bereits grob umrissen wurde.

Im Kern behaupten sie, dass es in der menschlichen Geschichte nicht nur oftmals anders kommt als es die historischen Protagonisten denken, sondern in aller Regel besser. Innerhalb der materialen Geschichtsphilosophie herrscht ein historiographisches Rekonstruktionsschema vor, das die Sinn- oder Vernunftüberlegenheit der objektiven geschichtlichen Resultate im Vergleich zu den subjektiven Handlungsintentionen oder -plänen der einzelnen Menschen hervorhebt. Das optimistische Credo der meisten klassischen Geschichtsphilosophien: ‚Es kommt in der Geschichte stets besser als die Menschen denken‘ ist in seiner Allgemeinheit sicherlich fragwürdig. Bevor man jedoch das Kind mit dem Bade ausschüttet und die materialen Geschichtsphilosophien aufgrund ihres Optimismus pauschal der Irrationalität bezichtigt, ist es sinnvoll, die einschlägigen historiographischen Argumentationsmuster genauer zu analysieren.

Das Ziel dieser Studie besteht darin, eine solche geschichtsphilosophische Begründungsform des Fortschritts herauszuarbeiten: und zwar am Beispiel der Geschichtsphilosophie von Giovanni Battista Vico (1668-1744). Vico kann ohne Zweifel als Gründervater der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie angesehen werden; und dennoch ist sein Geschichtsdenken bislang noch nicht auf die sie tragende Rekonstruktionsform hin untersucht worden. Vor allem aber verkennt die Mehrheit der Vico-Interpreten dessen genuin geschichtsphilosophisches Profil, das sich in dem Bestreben manifestiert, die Geschichte am Leitfaden des Gedankens: ‚Es kommt stets besser als man denkt‘ zu verfassen.

Der Aufbau der ‚Scienza Nuova‘

Vicos Gründungsschrift zur modernen Geschichtsphilosophie trägt den programmatischen Titel Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni (dt.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker6). Die Erstauflage des umfangreichen Werkes erscheint bereits im Jahre 1725 und damit etwa drei Jahrzehnte bevor Voltaire den Ausdruck ,Philosophie der Geschichte‘ prägen wird.7 Wegen der mangelnden Resonanz auf die Erstauflage nimmt Vico in den folgenden Jahren bis hin zu seinem Tod im Jahre 1744 umfangreiche Veränderungen an seinem Hauptwerk vor.8 So erscheint im Jahre 1730 eine zweite Fassung der Schrift, und kurz vor Vicos Tod wird eine dritte Auflage der Neuen Wissenschaft publiziert, die sich von der Erstfassung erheblich unterscheidet und in der Forschungsliteratur seither als maßgeblicher Referenztext fungiert.

Die Endfassung der Scienza Nuova (1744) gliedert sich in fünf Hauptteile: Von der Grundlegung der Prinzipien (Erstes Buch), Von der poetischen Weisheit (Zweites Buch), Von der Entdeckung des wahren Homer (Drittes Buch), Vom Lauf, den die Völker nehmen (Viertes Buch) sowie Von der Wiederkehr der menschlichen Dinge beim Wiedererstehen der Völker (Fünftes Buch). Im ersten Buch stellt Vico Stoff, Prinzip und Methode seiner Theorie der Geschichte vor; er legt hier gleichsam die wissenschaftstheoretischen Grundlagen dar.

Auf das zweite Buch entfällt der materiale Hauptteil der Vico’schen Geschichtsbetrachtung: Es nimmt etwa die Hälfte des gesamten Textes ein und ist in eine irritierend große Anzahl von Unterabschnitten gegliedert. Das dritte Buch ist am Beispiel Homers der Theorie der frühgeschichtlichen Denkweise gewidmet. Im vierten Buch der Scienza Nuova steht die Rekapitulation der entworfenen Geschichtstheorie aus sozialanthropologischer Perspektive im Zentrum, und im abschließenden fünften Buch untermauert Vico schließlich sein zyklisches Bild der Geschichte.

Überblick über die Rezeptionsgeschichte

Trotz der Anstrengungen Vicos, seinem Werk eine rezeptionsförderliche Gestalt zu verleihen, fiel das Echo auch auf die zweite und dritte Auflage der Neuen Wissenschaft anfangs relativ schwach aus. Schon die Buch- und Kapitelüberschriften der Scienza Nuova mussten den Zeitgenossen fremdartig anmuten. Rezeptionshinderlich hat sicher auch Vicos Hang zu einer anschaulichen, oft aber auch unnötig komplizierten Ausdrucksweise gewirkt. Beide Aspekte erschweren noch heute den Zugang zu seiner Schrift. Hösle beispielsweise meint: „Nur wenige Werke der Philosophiegeschichte sind so schwer zugänglich, so rätselhaft und so geheimnisvoll wie Giambattista Vicos ›Neue Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Völker‹.“9 Und Haddock gelangt zu einem noch entmutigenderen Urteil: „His work is richly suggestive rather than systematic, a chaotic mixture of insight and archaism which leaves to the reader the task of finding some sort of coherence“10.

Die Aura des Dunklen und Geheimnisvollen, die die Scienza Nuova damals wie heute umgibt, dürfte ein wesentliches Hemmnis für die Rezeption gewesen sein. Umgekehrt ist sie aber auch mitverantwortlich für die Entstehung von Vicos Ruf als einem verkannten Genie der Geistesgeschichte. Sogar von einem regelrechten „Vico-Mythos“11 wird in diesem Zusammenhang gesprochen. Das Bild vom einsamen Genius gehört zwar ins Reich der Fabel; nichtsdestotrotz jedoch lässt sich feststellen, dass das Interesse für Vicos Neue Wissenschaft etwa ein Jahrhundert lang fast ausschließlich auf dessen Heimatland begrenzt blieb.12 Aus dieser Situation wurde der Text erst durch die Wiederentdeckung Vicos seitens renommierter ausländischer Wissenschaftler im frühen 19. Jahrhundert befreit.13 Die Revitalisierung des Interesses ereignete sich bezeichnenderweise in der Formierungsphase des Historismus, die im Ergebnis zur Abspaltung der Geistes- von den Naturwissenschaften führte. So waren es neben Vertretern der Theologie vor allem die Denker des Hegelianismus und des Historismus (J. Michelet, W. Dilthey, B. Croce, G. Gentile usw.), die der Rezeption der Neuen Wissenschaft neuen Auftrieb gaben.

Ihren eigentlichen Höhepunkt erreicht die Rezeption von Vicos Neuer Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.14 Das Interesse an Vico wird nun auch jenseits des Atlantiks lebendig, und Vico ist bis heute in Nordamerika ein stark beachteter Autor geblieben. Nach 1945 erscheinen mehrere Periodika, und in Vicos neapolitanischer Heimat wird ihm zu Ehren ein Forschungsinstitut gegründet.15 Mit Blick auf die jüngere Rezeptionsgeschichte lässt sich also eine zunehmende Internationalisierung der Vico-Forschung feststellen, welche sowohl mit einer Spezialisierung der Forschungsbeiträge16 als auch mit einer Pluralisierung der Interpretationsrichtungen einhergegangen ist. Vor allem die Pluralisierungstendenz innerhalb der Vico-Forschung verdient hervorgehoben zu werden: Hatten historistische und geschichtstheologische Interpretationsansätze lange Zeit ein Deutungsmonopol inne, so hat sich dieser enge Interpretationsrahmen mittlerweile derart erweitert, dass kaum mehr sinnvoll von der Existenz einer bestimmten Deutungsperspektive gesprochen werden kann. So stellt etwa Haddock fest: „Interpretations of Vico read like a compendium of European philosophy at the last three hundred years“17. In der Tat scheint es unter den Interpreten noch nicht einmal einen Minimalkonsens bezüglich der Leitideen der Neuen Wissenschaft zu geben. Die heute vorhandenen Interpretationsansätze decken daher nahezu das gesamte Spektrum an philosophischen Denkrichtungen ab, angefangen bei Geschichtstheologie und Platonismus über Historismus, Hermeneutik, Kulturalismus und Existenzialismus bis hin zu Strukturalismus, Naturalismus und Materialismus. Diese Deutungsinflation ist kaum weniger unbefriedigend als die ehemalige Vorherrschaft theologischer und geistidealistischer Lesarten.

Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, nach einem Kriterium zu suchen, welches über die Aussagekraft und den Wert der unterschiedlichen Interpretationsansätze entscheiden kann. In diesem Buch wird vorgeschlagen, die Sinnkohärenz und -konsistenz der verschiedenen Ansätze als einen solchen Gradmesser zu betrachten. An diesem Kriterium gemessen, schneiden, so lautet die zu entfaltende These, theologische und idealistische Lesarten der Neuen Wissenschaft durchweg schlecht ab. Es gelingt ihnen nämlich nicht, Vicos Werk als einen systematischen und nahezu widerspruchsfreien Theorieentwurf zu würdigen. Zu einem stimmigen Gesamtbild fügen sich die Einzelaussagen der Neuen Wissenschaft erst dann, wenn diese als säkulare Philosophie der Geschichte mit naturalistischem Profil verstanden wird. Das erfordert zwar die Verabschiedung einer ganzen Reihe rezeptionsgeschichtlich eingeschliffener Vorurteile. Im Gegenzug verliert Vicos Neue Wissenschaft jedoch die Momente der Dunkelheit, Vagheit und Widersprüchlichkeit, die ihr oft und sehr zu Unrecht nachgesagt worden sind. In der hier vorgeschlagenen Lesart gibt sich der Text als wohldurchdachter Theorieentwurf zu erkennen, der hinsichtlich seiner gedanklichen Kohärenz und Konsistenz den Vergleich mit anderen bedeutenden Werken der neuzeitlichen Philosophie – etwa mit der Ethik Spinozas, dem Leviathan von Hobbes oder mit Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica – in keiner Weise zu scheuen braucht.

Vicos Leitidee: Geschichtlicher Fortschritt zwischen Heteronomie und Autonomie

Nohl hat in seiner Abhandlung zum historischen Bewusstsein zu Recht unterstrichen, dass Vico als erster neuzeitlicher Denker „Philosophie und Geschichte in eine tiefere Beziehung brachte.“18 Das genuin Neue an Vicos Neuer Wissenschaft darf jedoch nicht ausschließlich an ihrem Inhalt festgemacht werden. Richtig ist zwar, dass Vico mit der naturwissenschaftlichen Fixierung der neuzeitlichen Philosophie gebrochen und die Geschichte wieder zu einem legitimen Gegenstand philosophischer Erkenntnis aufgewertet hat. Im eigentlichen Sinne kreativ ist jedoch vor allem die theoretische Rekonstruktionsform, auf die sich Vico dabei stützt. Es geht ihm primär darum, eine Verlaufstheorie der Geschichte zu entwickeln, bei der die Ideen der Unverfügbarkeit, der Menschlichkeit, der Kontinuität, der Progressivität sowie der Zielgerichtetheit der Geschichte als Formbestimmungen ineinandergreifen. Insbesondere im Versuch, Zielgerichtetheit, Menschlichkeit und Unverfügbarkeit gesellschaftlicher Prozesse herauszustellen, erweist sich Vico als Ahnherr systemtheoretischer Analyseformen, wie sie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Gegenwart inzwischen tonangebend sind.

Dass Vico die Geschichte als ein rein menschliches Geschehen auffasst, manifestiert sich in einer zentralen Aussage der Neuen Wissenschaft, auf die vor allem sich Vicos wirkungsgeschichtlicher Ruhm gründet. Es handelt sich um das sogenannte „Vico-Axiom“ – ein Ausdruck, der auf die gleichnamige Studie von Fellmann zurückgeht.19 Das Axiom besagt schlicht dies: Der Mensch macht die Geschichte. Im Abschnitt Von den Prinzipien heißt es etwa, dass die „politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können […]ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden“ (SN 330). Das Vico-Axiom schließt die Einflussnahme einer suprahumanen Macht auf den Gang der menschlichen Geschichte kategorisch aus. Damit zieht Vico einen Schlussstrich unter die in Europa für ein Jahrtausend lang herrschende Tradition des christlichen Geschichtsdenkens, die von Augustinus’ Civitate Dei (ca. 426 n. Chr.) bis hin zu Bossuets Discours sur l’histoire universelle (1681) reicht. Ist für die christliche Geschichtstheologie der Glaube an ein göttliches Subjekt der Geschichte charakteristisch, so tritt mit Vicos Neuer Wissenschaft erstmals seit der Spätantike wieder eine rein säkulare Geschichtsbetrachtung auf den Plan, die sich in Bezug auf die universalgeschichtliche Ausrichtung zwar auf Augenhöhe mit der christlichen Geschichtstheologie bewegt, die aber mit deren zentraler Prämisse von Gott als allmächtigem Planungs- und Handlungssubjekt der Geschichte kompromisslos bricht.

Einen weiteren Beleg für den rein säkularen Charakter der Geschichtsdeutung Vicos liefert sein Eintreten für ein zyklisches Geschichtsbild; schließlich hatte Augustinus, der wichtigste Ahnherr der christlichen Geschichtstheologie, das christliche Geschichtsbild gerade in expliziter Abgrenzung zum zyklischen Natur- und Geschichtsverständnis der Antike entwickelt.20 Vicos Werk ist frei von jedweder Eschatologie und ihren säkularen Surrogaten und erfüllt somit die von Siegfried Kracauer kritisch gegen Theologien und Philosophien der Geschichte gerichtete Forderung nach einer „Geschichte vor den letzten Dingen“21.

Auf der anderen Seite darf das Vico-Axiom jedoch weder als Diagnose noch als Forderung einer geschichtlichen oder politischen Autonomie des Menschen verstanden werden. Der Geschichtsprozess ist nach Vico vielmehr gerade zwischen menschlicher Autonomie und göttlicher Heteronomie angesiedelt. Das heißt, ihm fehlt ein Subjekt, das die Geschichte steuert: „Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtlicher Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufig gegen deren eigene Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat“ (SN 342). Die ‚göttliche Vorsehung‘, so behauptet Vico weiter, sei „ausgerichtet […] auf ein Gut, das stets demjenigen überlegen ist, das die Menschen sich vorgesetzt haben“ (SN 343). Bevor zur Diskussion stehen soll, welchen Sinn Vico mit dem Ausdruck ‚göttliche Vorsehung‘ verbindet, lässt sich zunächst feststellen, dass Vico unter dem ,Machen‘ von Geschichte offenkundig gerade nicht die ,Machbarkeit‘ der Geschichte mit Wille und Bewusstsein verstanden wissen möchte.22

Neben der Widerlegung der christlichen Geschichtstheologie zielt die Geschichtsphilosophie Vicos auch auf die Zurückweisung der neuzeitlichen Autonomiethese ab, die Hobbes im Rahmen seiner Sozial- und Staatsphilosophie als erster moderner Autor vertreten hatte – und zwar in der Form, dass er die Menschen als autonome Gestaltungssubjekte der politischen Institution des Staates begreift.23 Nach Vicos Auffassung ‚machen‘ die Menschen ihre Geschichte zwar, die historische Entwicklung soll sich aber zugleich ihrer Verfügungsgewalt insoweit entziehen, als die objektiven Gesamtresultate von ihnen weder geplant noch vorhergesehen werden können. Um Vicos Ansicht auch terminologisch gerecht zu werden, ist es sinnvoll, eine begriffliche Differenzierung zwischen den Ausdrücken ‚Urheber‘ und ‚Schöpfer‘ einerseits sowie ‚Subjekt‘ und ‚Autor‘ andererseits vorzunehmen. Versteht man unter geschichtlicher ,Subjektivität‘ oder ,Autorschaft‘ soviel wie eine intendierte, praxisverankerte Verlaufskontrolle über bestimmte Phasen der politischen Entwicklung oder sogar über die Kulturgeschichte im Ganzen, so stellt Vico die Existenz solcher Instanzen eindeutig in Abrede. Vico schreibt den Menschen lediglich den Stellenwert von exklusiven ,Urhebern‘ oder ,Schöpfern‘ der geschichtlichen Wirklichkeit zu, wodurch die geschichts- und kulturschöpferische Potenz des Menschen unterstrichen wird, ohne damit die Vorstellung einer geschichtlichen Selbstbestimmung des Menschen zu verbinden.

Für erhebliche Irritationen sorgt nun der Umstand, dass sich Vico bei der Explikation seiner Geschichtsphilosophie ausgiebig im überlieferten Vokabular der christlichen Geschichtstheologie bedient. Die Neue Wissenschaft wird dem Leser sogar als neuartige „rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung“ (SN 342) präsentiert. Äußerungen wie diese sind dafür verantwortlich, dass Vicos Ansatz oft mit der christlichen Geschichtstheologie in Verbindung gebracht worden ist.24 Theologische Lesarten von Vicos Werk führen aber nichtsdestotrotz in die Irre. Denn ein Blick in die kurze Geschichte der materialen Geschichtsphilosophie zeigt, dass Vico eine Rekonstruktionsstrategie anwendet, auf die nach ihm etwa auch Turgot, Kant und Hegel im Rahmen ihrer Geschichtsphilosophien rekurrieren. Wenn auch in unterschiedlicher Gestalt – nämlich in Form der „Naturabsicht“ (Kant), der „Vorsehung“ (Turgot) oder aber des „Weltgeistes“ (Hegel) – haben die genannten Denker, ähnlich wie Vico, bestimmte metaphysische ‚Subjekte‘ zu unvordenklichen Planungsinstanzen des geschichtlichen Fortschritts erklärt.

Man mag das zwar als nicht unproblematische Versöhnungsgeste in Richtung der christlichen Geschichtstheologie ansehen. Von einem Rückfall in die oder gar einem Festhalten an der Geschichtstheologie kann indes keine Rede sein. Die entscheidende Differenz besteht darin, dass weder Vico noch die genannten Autoren den von ihnen postulierten Geschichtssubjekten eine reale Planungs- und Handlungskompetenz bescheinigen. Vielmehr soll der rein menschliche Geschichtsverlauf im Nachhinein so betrachtet werden, als ob er von einem übermenschlichen Subjekt vorausgeplant worden sei. Wozu die ‚Als-ob‘-Götter der Geschichtsphilosophen eigentlich dienen, wird klar, sobald man sich die theoretische Zielstellung Vicos und anderer Geschichtsphilosophen in Erinnerung ruft: Es geht darum, die menschliche Geschichte als progressiven Prozess ohne steuerndes Subjekt zu rekonstruieren. Da dieser Standpunkt es ausschließt, dass die behauptete Realisierung historischen Sinns auf die Intentionen der menschlichen Geschichtsakteure zurückgeführt werden kann, erfolgt in Gestalt der Implementierung solcher virtuellen Metasubjekte in die eigene Theorie der Versuch, den ins Zentrum gerückten Hiatus zwischen subjektiven Intentionen und objektiven Ergebnissen in der Geschichte handlungstheoretisch zu überbrücken. Auf diese Weise wird den Menschen ein Interpretationsangebot für die Geschichte unterbreitet, das die historische Kränkung kompensiert, die ihnen durch die Behauptungen der Unverfügbarkeit der Geschichte sowie ihrer fehlenden Motivation zur Arbeit am historischen Fortschritt zugefügt wird. Bei Vico werden die ungewollten menschlichen Fortschrittsleistungen also symbolisch zur göttlichen Fremdleistung umgedeutet. Ganz generell schreiben die Geschichtsphilosophen den von ihnen fingierten Großsubjekten der Geschichte ex post die Rolle von maßgeblichen Planungsinstanzen des historischen Fortschritts auf den virtuellen Leib und lassen so mit Blick auf das behauptete Fortschrittsergebnis der Geschichte das aus der Vordertür der Historie herausgeworfene Handlungsvokabular durch eine Hintertür wieder herein.25

Sechs Thesen zu Vicos Neuer Wissenschaft

In der Tat verbirgt sich hinter der Vico’schen Vorsehungsmetapher ein rationales Modell zur Selbstregulation des menschlichen Geschichtsverlaufs, auf dem letztlich die gesamte Beweislast für Vicos These vom Fortschritt ohne Fortschrittssubjekt ruht. Damit sind zugleich die Kernfragen der vorliegenden Studie vorgezeichnet: Wie begründet Vico seine Ansicht, dass sich die menschliche Geschichte autopoietisch zu einer sinnvollen Verlaufseinheit zusammenschließt? Welche immanenten Prozessmechanismen sollen garantieren, dass die Unverfügbarkeit der Geschichte nicht zum Nachteil für ihre Sinnhaftigkeit ausschlagen kann?

Durch die Klärung dieser Fragen soll vor allem eine Leerstelle innerhalb der Vico-Forschung geschlossen werden; denn bis heute fehlt es an Versuchen, das Hauptwerk Vicos am Leitfaden dieser Fragen systematisch zu untersuchen. Dabei basiert die Originalität von Vicos Geschichtsphilosophie gerade auf der Idee einer geschichtlichen Autopoiesis, auf deren Grundlage die Verwirklichungsnotwendigkeit eines höheren Vernunftziels der Geschichte begründet werden soll. Hinsichtlich beider Aspekte erweist sich Vicos Denken als unvereinbar mit idealistischen Geschichts- und Menschenbildern. Vico ist kein Idealist; und idealistische Lesarten der Neuen Wissenschaft sind letztlich ebenso defizitär wie theologische.26 In Wahrheit dürfte es kaum je einen radikaleren Versuch zur Naturalisierung der kulturellen Evolution des Menschen gegeben haben als denjenigen Vicos. Die theoretischen Säulen zur Grundlegung einer naturalistischen Geschichtsphilosophie sollen durch folgende sechs Thesen umrissen werden:

(1) Das Vico-Axiom‘ zielt vorrangig auf vorintentionale Prozesse der Generierung symbolischer Formen, die den epistemischen Status von Fiktionen oder Mythen besitzen. – In der Neuen Wissenschaft werden die im Alltagsleben der Völker zirkulierenden Mythen, Sagen und Spruchweisheiten zu kulturkonstitutiven Potenzen aufgewertet, wodurch Vico eine geschichtsphilosophische Rehabilitierung der im neuzeitlichen Rationalismus unter Legitimationsdruck geratenden lebensweltlichen Überzeugungen der Menschen anvisiert. In formaler Hinsicht hält Vico dabei jedoch Anschluss an rationalistische Philosophien (Descartes, Spinoza), da er die hier anzutreffende Vorstellung vom Primat des ersten Wahren auf die Geschichte überträgt, wo sie als Idee der Ableitbarkeit der menschlichen Geschichte aus einem ersten humanen Symbol wiederkehrt. Die Neue Wissenschaft repräsentiert also eine rationale Theorie der vorrationalen Anfänge der Kulturgeschichte, die auf einer produktionistischen sowie semiotisch profilierten Theorie des menschlichen Geistes basiert.

(2) Das symbolschöpferische Erkennen ist nach Vico eine natürliche Funktion der „ganz körperlichen Phantasie“ (SN 376) des Menschen. – Vico führt die progressive Struktur des geschichtlichen Geschehens auf die symbolerzeugende Potenz der menschlichen Einbildungskraft zurück. Die Denkfigur, die dabei zur Anwendung gelangt, ist die der kollektiven Selbsttäuschung zum kollektiven Vorteil. Vicos Begriff der Phantasie ist insofern ungewöhnlich, als er deren symbolische Kernfunktion in der unbewussten Normierung des Faktischen qua personifizierender Überhöhung sinnlicher Wahrnehmungsobjekte erblickt. Laut Vico ist es gerade die Intransparenz dieser Phantasiefunktion, welche garantiert, dass die Menschen gleichsam vor ihren Augen und zugleich hinter ihrem Rücken den historischen Fortschritt bewerkstelligen.

(3) In der Konstitution und Stabilisierung sozialer Institutionen erkennt Vico die zentrale kulturelle Funktion phantasiegeschaffener Mythen. – In Anlehnung an Hobbes und Spinoza rückt Vico die Frage nach den kognitiven Bedingungen der Institutionalisierung gesellschaftlicher Kooperationspraktiken in den Fokus seiner Geschichtsphilosophie. Er deutet die archaischen Symboliken und Sagen der Völker als politische Mythen, welche die Institutionalisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und Verkehrsformen bewirken. Indem Vico die menschliche Geschichte als Prozess der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Institutionen (Ehe, Familie, Klassengesellschaft, Staat) und der für sie jeweils konstitutiven politischen Symboliken begreift, gelangt er zu einem integralen Begriff von Kulturgeschichte als Einheit von Symbol- und Sozialgeschichte.

(4) Vico bindet die symbolischen und politischen Produkte der Phantasie in genetischer wie teleologischer Hinsicht an den materiellen Lebensprozess der Menschen zurück. Phantasie wird als schöpferische, sinnlichkeitsverstärkende Körperfunktion aufgefasst, welche die symbolische Stabilisierung innovativer Krisenlösungspraktiken naturwüchsig herbeiführt und die Realisierung des Ziels der Geschichte – nämlich die „Selbsterhaltung des Menschengeschlechts“ (SN 343) – sicherstellt. – Die Neue Wissenschaft ist bereits insofern anti-idealistisch und antitheologisch, als sie den Ursprung und das Ziel der Geschichte mit der Verwirklichung des körperlichen menschlichen Lebens gleichsetzt. Vicos Geschichtsphilosophie ist eine Philosophie des Körpers, die zugleich die Selbstkultivierungsgeschichte des Körperlichen zum Inhalt hat. Allerdings steht Vicos lebensmaterialistischer Denkansatz in direkter Opposition zu einem irrationalen Kulturbiomorphismus (Spengler, Huntington) sowie zu einem unmittelbaren naturwissenschaftlichen Biologismus. Sein historischer Naturalismus ist vielmehr an der körperlichen Erfahrung des Alltagsmenschen ausgerichtet, dem an der Verwirklichung seiner Lebensinteressen gelegen ist.

(5) Vico ist der Begründer der historischen Anthropologie: Wie die Menschen die Geschichte machen, so macht auch die Geschichte die Menschen. – Als historischer Anthropologe verknüpft Vico eine übergeschichtliche Anthropologie der physischen Selbsterhaltung mit einer holistisch angelegten Theorie der Selbstvervollkommnung der menschlichen Natur. Der Kultivierungsprozess des menschlichen Körpers wird dabei als gesetzmäßiger Vorgang verstanden, so dass es Vico gelingt, die Zyklen der menschlichen Kulturgeschichte als integrale Momente des materiellen Naturgeschehens in seiner Gesamtheit zu begreifen.

(6) Auf Grundlage seiner naturalistischen Teleologie konzipiert Vico eine Zyklentheorie des Fortschritts, die einen modernisierungsskeptischen Gegenstandpunkt zu den linearen Fortschrittstheorien in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie einnimmt. – Vicos Identifizierung des Ziels der Geschichte mit dem Überleben der menschlichen Gattung gestattet die Zusammenführung von moderner Fortschrittsidee und antiker Kulturzyklentheorie. Das ist der Fall, weil Vico das Leben und nicht die Kulturprodukte der Menschen als historischen Zweck an sich auffasst. Obwohl er an der prinzipiellen Überlebensdienlichkeit der symbolischen und institutionellen Produkte der Menschen keinen Zweifel hegt, bewertet er deren Zerstörung dennoch dann als Fortschritt, wenn auf diese Weise die physische Selbstvernichtung der Menschheit verhindert wird. Vico reflektiert lebensrettende Kulturkatastrophen dieser Art unter dem Titel ,Barbarei der Reflexion’, worunter er solche irreversiblen Modernisierungstendenzen in Praxis und Theorie versteht, die zur Zerstörung gesellschaftlicher Institutionen und des sie tragenden mythischen Unterbaus führen. Die Diagnose des Kulturverfalls appliziert Vico vor allem auf seine eigene Epoche, worin sich eine massive Skepsis gegenüber den Verheißungen der bürgerlichen Moderne artikuliert.

Gliederung und Buches und Rechtfertigung des Titels

Die soeben präsentierten sechs Thesen stellen den Interpretationsrahmen der vorliegenden Untersuchung dar. Das Ziel der nachfolgenden Kapitel besteht darin, ihre Stichhaltigkeit und ihren Zusammenhang anhand von Vicos Hauptwerk zu belegen. Das erste Kapitel legt zunächst einige zentrale erkenntnistheoretische, metaphysische und methodologische Voraussetzungen der Neuen Wissenschaft frei. Vicos Theorie der Ideengeschichte (Thesen 1 und 2) steht im Zentrum des zweiten Kapitels; der Zusammenhang zwischen Ideen- und Sozialgeschichte (These 3) wird im dritten Kapitel herausgestellt; die für Vicos Geschichtsphilosophie charakteristische Rückbindung der Geschichte an das materielle Leben der Menschen und dessen intrinsische Notwendigkeiten (These 4) bildet den Kern des vierten Kapitels. Im fünften Kapitel wird Vicos Verständnis von geschichtlicher Selbstregulierung mit anderen Ansätzen zur materialen Geschichtsphilosophie (Kant, Hegel) verglichen, und im sechsten Kapitel rückt Vicos historische Anthropologie ins Zentrum der Untersuchung (These 5). Der Plausibilisierung der sechsten These dienen die Kapitel 7 und 8: Dabei liegt der Akzent im siebten Kapitel auf der Architektur von Vicos Theorie des kognitiven Fortschritts, während im achten Kapitel die gesellschaftstheoretischen Implikationen von Vicos Kulturverfallstheorie im Mittelpunkt stehen. Die Studie schließt mit einem Vorschlag zur ideengeschichtlichen Einordnung der Neuen Wissenschaft sowie mit einer Einschätzung der Aktualität der Vico’schen Geschichtsphilosophie.

Für Abhandlungen zur Ideengeschichte empfiehlt sich die Suche nach einprägsamen Kurzformeln, die das Theorieprofil der behandelten Position auf einen prägnanten Begriff bringen. Im Hinblick auf Vicos Geschichtsphilosophie stellt der titelgebende Ausdruck ‚Lebensrealismus‘ einen derart sinnpräzisen Begriff dar. Denn der materielle Lebenszusammenhang der Menschen gilt Vico letztlich als das einzige factum brutum der Geschichte. Freilich bescheinigt Vico dem lebendigen Körper in diesem Zusammenhang ein kulturproduktives Potential, das über die üblichen materialistischen Anthropologien und Geschichtsbilder in einem wesentlichen Punkt hinausgeht. Dieser Punkt betrifft die These von der Symbolproduktivität humanen Lebens, dessen Überlebensbedeutsamkeit Vico ins Zentrum seiner Geschichtsphilosophie rückt. Lässt sich dieser Aspekt der Vico’schen Geschichtslehre freilich noch als Steigerungsform der sich schon bei Spinoza artikulierenden Bewunderung für die zwecksetzungsfreie Kulturschöpfungsmacht des Körpers in Malerei und Architektur verstehen, so gewinnt Vicos historischer Naturalismus sein spezifisches Profil erst aus der Behauptung einer schöpferischen historischen Dialektik zwischen der geschichtlichen Produktivität des menschlichen Körpers und seiner Selbsterkenntnis als geschichtsschöpferischer Instanz. Gemäß Vicos geschichtsanthropologischer Leitthese basiert die Überlebenssicherung der Menschheit gerade auf der Selbstverbergungstendenz des menschlichen Körpers hinter einem Schleier ebenso fiktionaler wie realwirksamer Symbole. Aus diesem Grund rechnet Vico Idealismus und Religion zu den wichtigsten Erhaltungsmedien von Gesellschaft und Leben. Die Neue Wissenschaft schließt also eine historische Rechtfertigung religiöser und idealistischer Fiktionen vom Vernunftstandpunkt des Lebensrealismus ein. Anders als für Marx ist die Religion für Vico kein „Opium des Volks“27, sondern ein gesellschaftliches Stimulationsmittel, kraft dessen sich menschliches Leben ‚hinter seinem Rücken‘ machtvoll gegen die omnipräsente Gefahr seiner stummen Zerstörung stemmt.

1 Vgl. Lembeck, K.-H. (Hg.), Geschichtsphilosophie, Freiburg/München, 2000, 9ff. sowie Gardiner, P. (Hg.), Theories of history, Glencoe 1959).

2 Positionen der (vor allem) materialen Geschichtsphilosophie werden dargestellt in Schaeffler, R., Einführung in die Geschichtsphilosophie, Darmstadt 1973, Angehrn, E., Geschichtsphilosophie, Stuttgart u.a. 1991 sowie Rohbeck, J., Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004. Einen Überblick über sämtliche Spielarten historischen Denkens geben Oelmüller, W., Dölle-Oelmüller, R., Piepmeier, R., Diskurs Geschichte, Philosophische Arbeitsbücher Bd. 4, Paderborn 31995, Gross, M., Von der Antike bis zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln, Wien u.a. 1998; Scholtz, G., Artikel ,Geschichte‘, in: Ritter, J. u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/Stuttgart 1971ff., 344-398).

3 Vgl. Fetscher, I., Art. ‚Geschichtsphilosophie‘, in: Das Fischer Lexikon Philosophie, hg. v. A. Diemler u. I. Frenzel, Frankfurt/M. 1958, 107-126, 111f.; Kittsteiner, H. D., Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M. u.a. 1980, 153-221.

4 Rohbeck, J., Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 2000, 10.

5 Ausnahmen hierzu bilden u.a. die Geschichtsphilosophien von Rousseau und Herder. Während Rousseau jedoch eine Deutung der Menschheitsentwicklung als Verfallsprozess entwickelt (vgl. Rousseau, J.-J., Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart 1998), lehnt Herder die Idee des Fortschritts aus geschichtstheologischem Blickwinkel ab und spricht (statt vom ,Fortschritt’) lediglich vom ‚Fortgang‘ der Geschichte (vgl. Herder, J. G., Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Stuttgart 1990). Allerdings interpretiert auch Herder die Menschheitsgeschichte als menschlich bestimmten, kontinuierlichen und zielgerichteten Prozess, der schließlich schicksalhaft ins bürgerliche Zeitalter einmündet. Wegen seiner These von der Gleichunmittelbarkeit aller Epochen zu Gott ist es Herder freilich verwehrt, den Übergang in die Moderne als Rückschritt zu begreifen.

6 Arbeitsgrundlage der vorliegenden Studie ist die vollständige deutsche Ausgabe der Scienza Nuova von 1744 (Vico, G., Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. u. eingel. v. V. Hösle u. Chr. Jermann, 2 Bde., Hamburg 1990). Die älteren Übersetzungen der Neuen Wissenschaft von Weber (1822), Auerbach (1924) und Fellmann (1981), die mit Ausnahme der heute fast unzugänglichen Weber-Übersetzung stark gekürzte Textwiedergaben bieten, finden im Folgenden keine Berücksichtigung. Um die Vergleichbarkeit der Stellenangaben dennoch zu gewährleisten, wird nachfolgend, wie in der Vico-Literatur üblich, unter Angabe der von Nicolini eingeführten Abschnittsnummern zitiert (vgl. Nicolini, F., Commento storico alla seconda Scienza nuova, 2 Bde., Roma 1949-1950).

7 So der Titel des Einleitungskapitels des von Voltaire im Jahre 1756 erstmals publizierten Essay sur l’histoire générale et sur les moeurs et l’esprit des nations (Dt.: Über den Geist und die Sitten der Nationen, hg. v. O. Wiegand u. übers. v. K. F. Wachsmuth, 3 Bde., Leipzig 1867, 1).

8 Die von der Letztfassung erheblich abweichende Erstauflage der Neuen Wissenschaft ist bis heute nicht ins Deutsche übertragen worden. Neben dem italienischen Original existiert jedoch eine englischsprachige Ausgabe: The first new science, ed. and transl. by Leon Pompa, Cambridge 2002.

9 Hösle, V., ‚Einleitung. Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der ‚Scienza Nuova’, in: Vico, G. B. (1990), Bd. 1, XXXI-CCXCIII, XXXI.

10 Haddock, B. A., ‘Vico: The Problem of Interpretation’, in: Tagliacozzo, G., Mooney, M., Verene D. Ph. (Hg.), Vico and Contemporary Thought, Atlantic Highlands 1979, 145-162, 145.

11 Burke, Peter, Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft, Berlin 2001, 7.

12 Zur Rezeptionsgeschichte der Neuen Wissenschaft im deutschen Sprachraum vgl. Trabant, J., ,Vico in Germanien 1750-1850‘, in: Hausmann, F.-R., Knoche, M., Stammerjohann, H. (Hg.), „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750-1850, Tübingen 1996, 232-251. In diesem Zusammenhang verdient das Urteil Goethes besondere Beachtung, den ein Ritter Filangieri während seiner italienischen Reise auf Vico und die Neue Wissenschaft aufmerksam gemacht hatte: „Gar bald machte er mich mit einem alten Schriftsteller bekannt […], er heißt Johann Baptista Vico […]. Bei einem flüchtigen Überblick des Buches, das sie mir als ein Heiligtum mitteilen, wollte mir scheinen, hier seien sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst kommen soll oder sollte, gegründet auf ernste Betrachtungen des Überlieferten und des Lebens. Es ist gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Kodex werden“ (Goethe, J. W. von, Italienische Reise, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, hg. v. R. Buchwald, Weimar 1958, 87).

13 Vom einer Art Erweckungserlebnis, das ihn bei der Lektüre Vicos ereilte, berichtet Michelet, Übersetzer der ersten französischen Ausgabe der Scienza Nuova: „1824. Vico. Anstrengung. Höllische Schatten, Größe, ein goldener Zweig“ (zitiert nach: Wilson, E., Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof. Über Geschichte und Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1974, 18).

14 Einen Überblick über neuere Forschungstendenzen in der Vico-Forschung geben: Battistini, A., ‘Contemporary Trends in Vichian Studies’, in: Tagliacozzo, G. (Hg.), Vico: Past and Present, Atlantic Highlands 1981, 1-42 und Tagliacozzo, G., ‘The Study of Vico Worldwide and the Future of Vico Studies’, in: Danesi, M. (Hg.), Giambattista Vico and Anglo-American Science. Philosophy and Writing, Berlin/New York 1994, 171-188.

15 Vgl. den von P. König gegebenen Überblick zu den Vicos Werk gewidmeten Zeitschriften, Tagungsbänden und Bibliographien (König, P., Giambattista Vico, München 2005, 141f.). Gemeint ist hier das Centro di Studi Vichiani in Neapel.

16 Wie in Folge des linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht anders zu erwarten, bildet die Auslegung der in Vicos Neuer Wissenschaft entwickelten genetischen Sprachtheorie einen Interessenschwerpunkt der gegenwärtigen Vico-Rezeption. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von K.-O. Apel, J. Trabant, S. Marienberg, E. Coseriu und D. di Cesare.

17 Haddock, B. A., ‘Vico: The Problem of Interpretation’, in: Tagliacozzo, G., Mooney, M., Verene D. Ph. (Hg.), Vico and Contemporary Thought, Atlantic Highlands 1979, 145-162, 145.

18 Nohl, H., Das historische Bewusstsein, Göttingen 1979, 53.

19 Fellmann, F., Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976.

20 Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate dei), 2 Bde., Bd. 2, Kap. 14 („Der Irrwahn der steten Wiederkehr des Gleichen“), München 41997, 79ff.

21 Kracauer, S., Geschichte – Vor den letzten Dingen, in: Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 1971.

22 Vgl. Fellmann, F., Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976, 7f.

23 Es läge in der „Kunstfertigkeit des Menschen“, so Hobbes, einen „große[n] Leviathan, Gemeinwesen oder Staat genannt (lateinisch civitas) [zu] erschaffen, der nur ein künstlicher Mensch ist“ (Hobbes, Th., Leviathan, übers. v. J. Schlösser, hg. v. H. Klenner, Darmstadt 1996, 5).

24 Eine enge Verbindung zwischen Vicos Neuer Wissenschaft und der christlichen Geschichtstheologie unterstellen etwa N. Erny, S. Otto, K. Löwith, K. Werner, R. Peters, V. Rüfener, J. Luginbühl, E. Voegelin, P. G. Pandimakil, N. Jong-Seok und M. Lilla.

25 Eine ähnliche Auffassung vertreten auch Rohbeck, J., Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004, 35ff., 50ff., 58ff. und Lübbe, H., Geschichtsphilosophie und politische Praxis, in: Koselleck, R., Stempel, W.-D. (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, 223-240, 231-237.

26 Unter Verweis auf das Literaturverzeichnis seien hier nur die wichtigsten idealistischen Interpretationsrichtungen sowie einige ihrer Vertreter genannt: Als völkerpsychologischen Ansatz interpretiert O. Klemm Vicos Denkansatz; als Beitrag zum objektiven Idealismus deuten A. R. Caponigri sowie V. Hösle Vicos Schrift; Parallelen zwischen Vicos und Hegels Geschichtsphilosophie rücken B. Croce sowie R. W. Schmidt in den Vordergrund; G. Gentile und F. di Sanctis sehen in Vico einen Wegbereiter des ‚aktualen Idealismus‘; O. Stephan und H. Viechtbauer machen sich für eine transzendentalphilosophische Lesart des Hauptwerks von Vico stark; D. Ph. Verene, F. Kittler und D. Strassberg favorisieren einen kulturalistischen Interpretationsansatz; E. Auerbach, A. P. Zeoli, G. Cacciatore, P. Piovani und F. Tessitore siedeln Vicos Neue Wissenschaft zwischen klassischer Metaphysik und philosophischer Hermeneutik an, wobei Tessitore, Piovani und Cacciatore, die sich um die Bewahrung des ,Vico-Erbes’ im Rahmen des Centro di Studi Vichiani in Neapel besonders verdient gemacht haben, die Profilierung eines neuen von Vico ausgehenden ,Kritischen Historismus’ anstreben.

27 Marx, K., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, Berlin 41956, 378.

1. DAS LEITBILD HISTORISCHER ERKENNTNIS: SUBTEXTERWEITERTE TEXTREPRODUKTION

1.1 DASVERUM-FACTUM-PRINZIP

Zu den Haupteinwänden, die gegen die klassischen Entwürfe der materialen Geschichtsphilosophie gerichtet werden, zählt der Vorwurf erkenntnistheoretischer Naivität. Nach Auffassung zahlreicher Kritiker der Geschichtsphilosophie haben ihre führenden Repräsentanten die Reflexion der Methoden, Bedingungen und Grenzen der historischen Erkenntnis sträflich vernachlässigt.28 Auch wenn dieser Vorwurf sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen ist, so trifft er doch keineswegs auf alle Beiträge der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie zu. In Bezug auf Vicos Neue Wissenschaft ist er definitiv nicht gerechtfertigt; spielen doch für dessen Denkansatz geschichtstheoretische Grundlagenreflexionen eine herausragende Rolle. Das gilt zumindest hinsichtlich der Endfassung der Scienza Nuova (1744), deren gesamtes erstes Buch (Von der Grundlegung der Prinzipien) der Klärung ontologischer, erkenntnistheoretischer und methodologischer Grundsatzfragen gewidmet ist. In der ersten und zweiten Fassung von Vicos Schrift finden sich dagegen noch keine vergleichbar umfangreichen geschichtstheoretischen Vorüberlegungen.29

Dass Vicos Neue Wissenschaft überhaupt ein derart elaboriertes geschichtstheoretisches Begründungsprogramm beinhaltet, ist vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen: Erstens war Vico gezwungen, sein Projekt einer neuen Philosophie der Geschichte gegen den in seinem Zeitalter vorherrschenden wissenschaftlichen Zeitgeist durchzusetzen. In der Philosophie sowie in den Wissenschaften der Neuzeit gilt die Geschichte gemeinhin als eine nichtwissenschaftsfähige Dimension der Wirklichkeit. Dementsprechend wird der Historie, wenn nicht der Status einer Wissenschaft schlechthin, so doch der einer strengen Wissenschaft abgesprochen.30 Das Paradigma einer exakten Wissenschaft ist die Physik, insbesondere in jener nomothetischen Gestalt, die Newton ihr verliehen hat. Vicos geschichtstheoretische Reflexionen dienen daher nicht zuletzt dem Ziel, die Vorbehalte der Gelehrten seines Zeitalters gegenüber der Wissenschaftsfähigkeit der Historie zu entkräften. Das erfordert nicht nur den Nachweis der Möglichkeit wissenschaftlicher Historie, sondern auch den damit verknüpften Beweis der gesetzmäßigen Strukturiertheit ihres Erkenntnisgegenstandes, also des realgeschichtlichen Prozesses. Zweitens ist der hohe Stellenwert der formalen Geschichtsphilosophie für Vicos Denken auf das Bestreben zurückzuführen, Realgeschichte und philosophische Historie auf ein und denselben philosophischen Grundsatz zu stellen. Anders gesagt: Vico zielt auf eine philosophische Grundlegung des historischen Wissens und seines Erkenntnisgegenstandes ab.

Im Zentrum dieses Grundlegungsversuchs steht eine spezifische Metaphysik des menschlichen Geistes, welche nicht nur für Vicos Begriff historischer Erkenntnis, sondern ebenso für sein Verständnis von geschichtlicher Wirklichkeit eine tragende Rolle spielt.31 Zur Rekonstruktion dieser Theorie des Geistes und der aus ihr resultierenden Auffassungen von Geschichte und Historie ist es sinnvoll, genau an jener Stelle anzusetzen, an der auch Vico selbst metaphysische und erkenntnistheoretische Überlegungen zur menschlichen Geschichte miteinander verschränkt. Diese Scharnierstelle bildet das ‚Vico-Axiom‘, demzufolge der Mensch die Geschichte macht. Von dieser geschichtsmetaphysischen Grundthese leitet Vico nämlich auch die Erkennbarkeit der Geschichte durch den Menschen ab: Gerade weil die Menschen die Geschichte hervorbringen, so lautet das Argument, soll die Geschichte vom Menschen erkannt werden können. In der Forschung bezeichnet man dieses Argument als ‚verum-factum-Prinzip‘ oder ‚verum-factum-Theorem‘. Gemäß einer gängigen Paraphrase zielt Vicos Prinzip auf die Konvertibilität oder Vertauschbarkeit der Pole des ‚Wahren‘ und des ‚Gemachten‘: verum factum convertuntur.32

Vicos verum-factum-Prinzip verfügt zweifelsohne über eine gewisse Plausibilität. Denn es scheint intuitiv einzuleuchten, dass der Mensch die Geschichte erkennen kann, weil er sie geschaffen hat. Diese Plausibilität verflüchtigt sich freilich wieder, sobald der Kollektivsingular ‚der Mensch‘ in ein geschichtliches Gattungskontinuum (‚die Menschen‘) aufgelöst wird. Dann nämlich stellt sich die Frage, inwieweit das verum-factum-Argument überhaupt eine tragfähige Basis für die Erkenntnis der Geschichte bilden kann – schließlich enthält die Gewissheit, dass die Menschen die Geschichte machen, für sich genommen noch keine Auskunft darüber, welche Menschen was, wann, wo und wie in der Geschichte getan haben. Warum also begreift Vico den verum-factum-Satz als tragfähiges Prinzip der Geschichte? Um diese Frage zu beantworten, ist eine Präzisierung des verum-factum-Prinzips erforderlich. Schon ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt freilich, dass gerade die Aufgabe der Konkretisierung des verum-factum-Satzes mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist; denn die Meinungen über Bedeutung und Stellenwert des Vico’schen Prinzips gehen deutlich auseinander.33

In erster Annäherung kann man sich auf einen Hinweis stützen, den Vico selbst in Form der Feststellung gibt, dass die Prinzipien der geschichtlichen Welt „innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes“ (SN 331) aufgefunden werden könnten. Oft ist in dieses Diktum ein psychologischer Sinn hineingelesen worden. Insbesondere hat man es als Beleg dafür gewertet, dass das verum-factum-Prinzip den Historiker dazu ermuntert, sich introspektiv – also durch die Untersuchung des eigenen Seelenlebens – einen Zugang zur menschlichen Geschichte zu verschaffen.34 Das ist freilich eine grobe Fehldeutung, denn der hier von Vico gebrauchte Ausdruck ‚innerhalb‘ bezieht sich ersichtlich nicht auf den Begriff ,Geist‘, sondern auf den Begriff ,Modifikationen‘ (des Geistes). Tatsächlich wird er in einem metaphysisch neutralen Sinn verwendet, da er allein auf den zeitlichen Wandel des Denkens (‚Modifikationen‘) Bezug nimmt. Dennoch lässt sich aus Vicos Verweis auf die ‚Modifikationen des Geistes‘ als Quelle der gesuchten Geschichtsprinzipien ein wichtiger Anhaltspunkt dafür entnehmen, wie die Präzisierung des verum-factum-Satzes zu erfolgen hat. Denn Verständnisprobleme bereitet dieser Satz gerade wegen der eigentümlichen Vieldeutigkeit des lateinischen facere. Mit dem ‚Machen‘ von Geschichte lassen sich nämlich durchaus unterschiedliche produktive Vollzüge assoziieren: Unbewusste und bewusste; geistige und körperliche; symbolische, technische oder auch soziale Produktionsvorgänge. Vicos Rekurs auf die ‚Modifikationen unseres menschlichen Geistes‘ gibt jedoch einen entscheidenden Hinweis darauf, dass der Terminus facere innerhalb der verum-factum-Relation eine höchst spezifische, da allein auf die Produktivität des ‚Geistes‘ zugeschnittene Bedeutung besitzt.

Es greift daher zu kurz, die beiden Relationsglieder des verum-factum-Prinzips ohne präzisierende Folgebestimmungen mit den Polen der realen Geschichte (factum) und der historischen Erkenntnis (verum) zu identifizieren. Diese Standardinterpretation des verum-factum-Theorems ist zwar nicht falsch, es fehlt ihr jedoch die nötige Schärfe, um Sinn und Stellenwert des verum-factum-Prinzips befriedigend aufzuklären. Insbesondere droht die Gefahr einer übermäßigen Pluralisierung des von Vico mit dem Ausdruck facere verbundenen Sinns.35 Diese Problematik lässt sich am Beispiel von Marx und dessen Umgang mit Vicos verum-factum-Prinzip aufzeigen. Marx kommt in einer Fußnote im ersten Band des Kapitals auf Vicos Grundsatz zu sprechen; in einem Kapitel mit dem Titel ‚Maschinerie und große Industrie‘. Er diskutiert die Bedeutung des verum-factum-Prinzips im Kontext der von ihm entworfenen Theorie der Produktivkraftentwicklung im kapitalistischen Wirtschaftssystem und beruft sich in diesem Zusammenhang auf Vico als Gewährsmann für die Möglichkeit einer „kritische[n] Geschichte der Technologie“, die als „Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen“36 das „aktive Verhalten des Menschen zur Natur“37 und dessen geschichtlichen Formenwandel reflektieren soll. An einer solchen ,Bildungsgeschichte‘ fehlt es laut Marx in seinem Zeitalter noch – und dass obwohl, wie er unter Berufung auf Vicos verum-factum-Prin-zip hervorhebt, eine solche Geschichte eigentlich weitaus „leichter zu liefern“38 wäre als Darstellungen zur Naturgeschichte des Menschen (eben weil die ,Geschichte der Technologie‘ im Unterschied zur Naturgeschichte von den Menschen selber gemacht worden sei). Marx setzt den Ausdruck facere ganz offensichtlich mit der bewussten Herstellung technischer Artefakte gleich, mit der vom Menschen planmäßig vollzogenen Produktion von Produktionsmitteln. Er verleiht ihm damit jedoch eine Bedeutung, die mit Vicos Vorstellung zum geschichtsschöpferischen facere der Menschen ganz unvereinbar ist. Das Herstellen von Konsum- oder Produktionsgütern stellt nämlich einen sozialen Handlungstyp dar, der bei Vico weitgehend ausgeblendet bleibt (vgl. 3.3).

Das verum-factum-Theorem bezieht sich nicht vorrangig auf die (materiellen) Lebensbereiche Arbeit und Technik, sondern es bringt die Kernaussage einer spezifischen Theorie des menschlichen Geistes zum Ausdruck. Der Satz expliziert in erster Linie den für Vicos Theorie der Kognition einschlägigen Strukturbegriff geistiger Produktivität. Im Kern besagt das verum-factum-Prinzip, dass die menschliche Geistestätigkeit als produktiver Vollzug begriffen werden muss, für den charakteristisch ist, dass das Hervorbringen des Erkannten (factum) und die Wahrheitserkenntnis des Hervorgebrachten (verum) identisch sind. Daraus folgt ganz unmittelbar, dass Vicos Konvertibilitätsthese von verum und factum beide ontologische Dimensionen der Geschichte berührt, also sowohl für die reale Geschichte (factum als verum-factum) als auch für die wissenschaftliche Erkenntnis dieser Geschichte (verum als verum-factum) gelten soll. Das lässt erkennen, dass Vicos Grundlegung der Geschichtsphilosophie im verum-factum-Prinzip eine weitaus voraussetzungs- und auch folgenreichere Form annimmt als es der bloße Wortlaut des verum-factum-Satzes zunächst vermuten lässt.

Zur weiteren Präzisierung des verum-factum-Prinzips ist ein Rekurs auf Vicos frühe philosophische Schrift Liber metaphysicus (1710) sinnvoll.39 In diesem metaphysischen Entwurf „neuplatonischer Prägung“40 taucht das verum-factum-Argument zwar nicht zum ersten Mal auf, da Vico es schon in seiner studienmethodischen Schrift De nostri temporis studiorum ratione (1709) erstmals expliziert hatte; erst hier jedoch erlangt es die Bedeutung eines metaphysisch-erkenntnistheoretischen Grundprinzips.41 Im Liber metaphysicus verfolgt Vico das Ziel, am Leitfaden des verum-factum-Theorems das Verhältnis zwischen Mensch und Gott in ontologischer wie in gnoseologischer Hinsicht zu erhellen. Die gesamte Argumentation baut dabei auf der theologischen Annahme der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf. Dementsprechend wird das Verhältnis von Gott und Mensch, von göttlichem und menschlichem Wissen, als asymmetrische Abbildrelation verstanden. Vico setzt voraus, dass Gott das „erste Wahre“ (LM 35) sei, dem die „äußersten wie die innersten Elemente der Dinge gegenwärtig“ (LM 37) sind. Mit Hilfe des verum-factum-Prinzips sollen ausgehend davon Einheit und Differenz von göttlichem und menschlichem Geist aufgezeigt werden. Vico zufolge erschafft Gott die Natur im Akt ihrer Erkenntnis und erkennt sie im Vollzug ihrer Schöpfung. Das verum-factum-Prinzip zielt somit auf die „Identität von Wahrheitserkenntnis und geistigem Hervorbringen“ (DNT 149) ab: „Denn Gott ‚liest zusammen‘ alle Elemente der Dinge […], weil er sie in sich begreift und in eine Anordnung bringt.“ (DNT 37) Daraus zieht Vico den Schluss, dass – da der Mensch die Natur nicht erschaffen kann – die menschliche Naturerkenntnis auf „hypothetisches Wahres“ (DNT 151) beschränkt bleiben muss und nur die „göttliche Vernunft“ über ein „absolut [w]ahres“ Naturwissen verfügt. Gott soll jedoch auch dem Menschen die Befähigung zu schöpferischer Erkenntnis verliehen haben – eine kreative Anlage, die sich in Mathematik und Geometrie Geltung verschafft und die Vico als ‚ingenium‘ bezeichnet. (DNT 127ff.) Den „Mangel seines Geistes“ (DNT 43) verstehe der Mensch in der Geometrie sowie der Arithmetik wettzumachen, da er der originäre Schöpfer der Basiselemente dieser Wissensfelder, dem „Punkt“ (DNT 43) und der Zahl Eins, sei. Die Operationen, welche der menschliche Geist mit diesen Elementen vollzieht, liefern nach Vico wahre Erkenntnisse, da sie bewusst und planvoll vorgenommen werden. Und nach dem „Vorbild Gottes“ (DNT 43) soll sich der Geist hierbei ebenfalls eines synthetischen Erkenntnisverfahrens bedienen: „Indem wir diese Wahrheitselemente zusammensetzen, bringen wir das Wahre auf dem Wege der zusammensetzenden Erkenntnis hervor.“ (DNT 55) Um eine Brücke zwischen göttlicher Realwissenschaft (Natur) und menschlicher Idealwissenschaft (Geometrie, Arithmetik) zu bauen, entwirft Vico im Liber metaphysicus eine Naturphilosophie, in deren Zentrum die Annahme metaphysischer Punkte (conatus) steht. Diese werden als gottgeschaffene, ausdehnungslose, jedoch naturimmanente Kraft- oder Energiezentren begriffen, von denen sich Existenz und Dynamik aller materiellen Naturvorgänge herleiten. Als rein expressive Kraftintensität soll der conatus eine zwischen Gott und Natur „vermittelnde Wirklichkeit“ (DNT 55) darstellen, welche zugleich das reale Vorbild für den Punkt in der Geometrie sowie die Zahl Eins in der Mathematik bildet. (DNT 75ff.) Diese Auffassung relativiert freilich die schöpferischen Leistungen des menschlichen Geistes in der Mathematik, da die Grundelemente beider Wissenschaften nun bloß noch als in Analogie zur göttlichen Naturwirklichkeit geschaffene Größen erscheinen.

Vicos Liber metaphysicus wirkt bereits zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung hoffnungslos veraltet. Es gelingt Vico nämlich nicht, Bezüge zwischen Naturwirklichkeit und Mathematik herzustellen, welche über das nunmehr bereits obsolete Denken in Analogieverhältnissen hinausgehen.42 Besteht der für die neuzeitliche Erneuerung der Wissenschaften maßgebliche Leitgedanke gerade darin, dass Naturvorgänge mit Hilfe mathematischer Formeln und Funktionsgleichungen adäquat erfasst werden können, so erklärt Vico im scharfen Kontrast dazu Geometrie und Mathematik zu naturfernen Wissenschaften, deren Objekte eine virtuelle Sonderwelt bilden. Insofern besteht der Preis für die Wahrheitsfähigkeit, die Vico der menschlichen Erkenntnis zuspricht, in der Entwirklichung ihrer intentionalen Bezugsgrößen: Die Erkenntnisse in Mathematik und Geometrie, so behauptet Vico, verhalten sich zur göttlichen Naturwissenschaft bloß wie ein „flächenhafte[s] Bild“ zur „plastische[n] Figur“ (LM 37).

Zwischen der Veröffentlichung des Liber metaphysicus (1710) und der ersten Auflage der Scienza Nuova (1725) vergehen einige Jahre, in denen sich Vicos Forschungsschwerpunkt verschoben hat: weg von Metaphysik und Erkenntnistheorie, hin zu Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte.43 In der Neuen Wissenschaft laufen beide Forschungslinien schließlich wieder zusammen: In materialer Hinsicht kreist die Scienza Nuova Seconda um die Frage nach Genese und Entwicklung von Recht und Sittlichkeit; in formaler Hinsicht greift Vico zur Klärung dieser Frage die Theorie des schöpferischen Geistes aus seiner Frühschrift wieder auf.

In der Forschung ist umstritten, ob zwischen Vicos früher und seiner späten Erkenntnistheorie ein Bruch liegt.44 Stellungnahmen hierzu helfen freilich in der Sache kaum weiter; weshalb es sinnvoller erscheint, die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Früh- und Spätwerk im Einzelnen konkret zu benennen. Nach der hier vertretenen Auffassung bestehen zwischen Liber metaphysicus (1710) und Neuer Wissenschaft (1744) sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Im Einklang befinden sich Früh- und Spätwerk hinsichtlich des Stellenwerts des verum-factum-Prinzips als allgemeinem Strukturkonzept schöpferischer Erkenntnistätigkeit. Zudem hält Vico auch im Spätwerk noch am synthetischen Erkenntnisbegriff seiner Frühschrift fest. Ebenso erhalten bleibt die skeptische Haltung bezüglich der Erkennbarkeit der Natur durch den Menschen. Zuletzt fließt auch die Theorie des conatus in modifizierter Form mit in Vicos Geschichtsphilosophie ein.

Umgekehrt sind jedoch auch entscheidende Differenzen zwischen Liber metaphysicus und Neuer Wissenschaft (1744) festzustellen. Der zentrale Unterschied zwischen Früh- und Spätwerk betrifft den metaphysischen Rahmen, in dem die Theorie des schöpferischen Geistes jeweils angesiedelt wird. Von dieser Differenz, die dem Übergang von Theologie und Metaphysik zu Naturalismus und Lebensrealismus entspricht, kann an dieser Stelle jedoch abgesehen werden, da sie Vicos Theorie der historischen Erkenntnis nicht unmittelbar berührt. Ganz anders verhält es sich mit Vicos Ansichten bezüglich Form und Inhalt der dem Menschen in der Früh- wie in der Spätphilosophie bescheinigten geistigen Produktivität. Gerade in diesen beiden Hinsichten ist ein merklicher Sinneswandel festzustellen, der für ein adäquates Verständnis der Vico’schen Geschichtsphilosophie berücksichtigt werden muss: Erstens wird in der Neuen Wissenschaft der rationalistische Argumentationsrahmen aufgesprengt, in den die frühe Geistmetaphysik noch eingelassen ist. Gelten im Liber metaphysicus allein Mathematik und Geometrie als Wissensfelder, in denen sich eine durch die Konvertibilitätslogik von verum und factum charakterisierbare Produktivität des menschlichen Geistes niederschlägt, so rückt in der Neuen Wissenschaft gerade ein solcher Typus der schöpferisch-humanen Geistestätigkeit in den Fokus der Untersuchung, der weder bewusst noch planmäßig vollzogen wird und sich daher auch nicht mehr sinnvoll unter den Begriff des „Zeichenhandelns“45 subsumieren oder sich in die Kategorie „Handlungsstruktur von Geist überhaupt“46 einordnen lässt. Quelle dieser vorrationalen Produktivität des Geistes ist laut Vico die menschliche Phantasie; so dass es nicht überrascht, wenn die Neue Wissenschaft auch unter dem Titel einer „Metaphysik der Phantasie“ (SN 405) firmiert. Zweitens verabschiedet sich Vico in seiner Geschichtsphilosophie von der bewusstseinsphilosophischen Ausrichtung seiner frühen Theorie des Geistes. Ist im Liber metaphysicus noch von vom menschlichen Geist geschaffenen „Gedankengebilde[n]“ (LM 151) die Rede, so vollzieht Vico im Spätwerk am Leitfaden der neuen Einsicht, dass sich „Ideen und Sprachen […] Hand in Hand entwickelten“ (SN 234), den konsequenten Schritt von der Bewusstseinsphilosophie zur Semiotik (Zeichen- und Symboltheorie) und Sprachphilosophie. Die Konvertibilitätslogik von verum und factum wird nun nicht mehr auf das Feld subjektiver Ideen angewendet, sondern auf weltöffentliche Zeichen, denen ein konstitutiver Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bescheinigt wird.47 Ausgehend von einem realistischen Standpunkt entwirft Vico einen „historical constructivism“48, dessen Kern die Thesen von der Konstruktivität und Geschichtlichkeit jedwedes symbolisch verfassten Wissens der Menschen bilden. Trabant ist daher Recht zu geben, wenn er Vicos Scienza Nuova als „Neue Wissenschaft von alten Zeichen“49 begreift.

Angesichts dieser Verschiebungen ergibt sich als Zwischenfazit, dass dem verum-factum-Prinzip bei Vico eine doppelte Begründungsfunktion zufällt: Es fungiert zum einen als Realprinzip der geschichtlichen Realität, das ein spezifisches Verständnis von geschichtlicher Wirklichkeit (Zeichen, Symbole) und der für deren Erschaffung maßgeblichen Schöpfungsinstanz (menschlicher Geist bzw. menschliche Phantasie) präjudiziert. Laut Vico ‚machen‘ die Menschen ihre Geschichte, indem sie kraft ihrer Phantasie Zeichen oder Symbole gemäß der Konvertibilitätslogik von verum und factum erschaffen. Zum anderen fungiert das verum-factum-Prinzip aber auch als Erkenntnisschema der philosophischen Historie, woraus folgt, dass die Neue Wissenschaft den Status einer „konstruierte[n] und konstruierende[n] Wissenschaft“50 besitzt. Wie Koselleck gezeigt hat, ist der Terminus ‚Geschichte‘ erst seit Beginn der Neuzeit ein zweideutiger Ausdruck, der von nun an gleichermaßen auf das realgeschichtliche Geschehen (res gestae) wie auf die davon handelnden historischen Zeugnisse und Erzählungen (historia rerum gestarum) bezogen wird, für welche der Ausdruck ‚Geschichte‘ zuvor reserviert war.51 Die für den Geschichtsbegriff seither konstitutive Zweideutigkeit von „Geschichte als Prozess und Aussage“52 tritt bereits in Vicos Neuer Wissenschaft klar hervor – und zwar weniger in Hinblick auf den Gebrauch des Geschichtsbegriffs selbst, als vielmehr in Gestalt des verum-factum-Prinzips, das für reale Geschichte und philosophische Historie nun gleichermaßen ein tragfähiges Fundament liefern soll. Im Text tritt diese Ambivalenz dort deutlich hervor, wo Vico im Zuge der Erläuterung seiner Ausgangsprämisse (‚Der Mensch macht die Geschichte‘) die geschichtlichen Akteure als Schöpfer des historischen Wissens anspricht. So behauptet er etwa, dass jene Menschen, die die politische Welt geschaffen haben, von ihr „auch Wissen erlangen konnten“ (SN 331).

Hinter diesem am Leitfaden des verum-factum-Prinzips erfolgenden Zusammenschluss von realer Geschichte und philosophischer Historie steht die Vorstellung eines historischen Kontinuums symbolgenerierender Akte des menschlichen Denkens. Ausgehend von primitiven Anfängen soll der Erzeugungszusammenhang sprachlicher Zeichen schließlich ins Stadium seiner schöpferisch-rationalen Reflexion im Rahmen einer Neuen Wissenschaft einmünden. Die philosophische Historie bildet dabei zugleich den Bereich einer intendierten und insofern freien Symbolproduktion, bei der, ähnlich wie in Mathematik und Geometrie, die Konvertibilität von verum und factum mit Wille und Bewusstsein hergestellt werden muss. Die (spinozistische) Idee, die hier bei Vico zum Tragen kommt, impliziert, dass die freie Einsicht in die Notwendigkeit alles realen Geschehens den exklusiven Verwirklichungsakt humaner Freiheit darstellt. Die von Vico intendierte Freiheit zur Erkenntnis des Geschichtsverlaufs darf daher nicht mit einem Akt der Befreiung von der Geschichte verwechselt werden.53