Lebenswege - Brigitte Zakaria - E-Book

Lebenswege E-Book

Brigitte Zakaria

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Beschreibung

Was geschieht in psychotherapeutischen Gesprächen? Wie verläuft eigentlich eine Psychotherapie? Jemand, der in einer problematischen Lebenssituation vor der Frage steht, soll er sich fachkompetente Beratung oder Hilfe suchen, zweifelt manchmal, ob dies der richtige Schritt ist. Schließlich vertraut man sich einem wildfremden Menschen an. Gibt sein Innerstes preis. Veränderungen zu wagen, das ist das eigentliche Ziel des psychotherapeutischen Prozesses. Die Autorin, Ärztin und Psychotherapeutin, beschreibt die Lebenswege von vier Menschen, die zu ihr in die Praxis kommen und einen Rat suchen. Die Personen sind hinsichtlich ihres Namens, ihres Berufs und ihres familiären Standes erfunden. Die dahinterliegenden psychologischen Themen sind jedoch sehr häufig in Variationen in ihrer Praxis vorgekommen. Es sind die vier Themenbereiche Burn-out, Hochsensibilität, Angst und Depression und Suchtproblematik in der Herkunftsfamilie. Das Buch ist kein Ratgeber, sondern eher eine Darstellung von Lebensverläufen. Geschichten, die uns berühren, bleiben oft länger im Gedächtnis und regen uns zur Reflexion über uns selbst an. Das unterstützt die Motivation für den ersten Schritt in eine Veränderung. Das Buch soll Mut machen, selbst die Initiative für einen neuen Lebensschritt zu ergreifen. Alleine oder mit fachlicher Unterstützung.

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Für Shamel, meinen geliebten Ehemann und einfühlsamen Gefährten auf allen gemeinsamen Wegen des Lebens, den steilen und den sanften

Für Nadja, meine geliebte wunderbare Tochter, mein alles erhellender Sonnenschein, der immer meine Seele erwärmt

Hinweise

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Veränderungsprozess. Es werden täglich neue Erkenntnisse veröffentlicht. Aus diesem Grund beziehen sich alle Angaben zu diagnostischen oder therapeutischen Verfahren in diesem Buch auf den allgemeinen medizinischen beziehungsweise psychologischen Wissensstand bei der Drucklegung des Buches. Der Leser bleibt selbst verantwortlich für jede eigene therapeutische Anwendung der im Buch beschriebenen Therapien.

Die im Buch beschriebenen Gedanken, medizinisch-physiologischen Erklärungen und therapeutischen Interventionen zu den einzelnen Lebensthemen bieten keinen Ersatz für eine medizinische, psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung durch einen Fachtherapeuten, sollte der Leser hier einen Bedarf bei sich selbst erkennen. Jeder Leser ist für sein eigenes Tun selbst verantwortlich. Die Autorin übernimmt keinerlei Haftung.

Alle Fallbeispiele sind aus zahlreichen realen Fällen zusammengestellt. Namen, Geschlecht, Berufe und Lebensgeschichten wurden stark verändert, um eventuelle Identitäten zu schützen. Im Interesse der Vertraulichkeit wurden auch Szenen frei erfunden und hinzugefügt.

Zur besseren Lesbarkeit wird auf eine Gender-differenzierte Schreibweise verzichtet.

Danksagung

Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Mann Shamel, der mich immer bei all meinen beruflichen und kreativen Aktivitäten mit seiner ganzen Liebe und Kraft unterstützt.

Dann danke ich von ganzem Herzen all den Menschen, die zu mir in die Praxis gekommen sind, und die sich mir anvertraut haben. Jeder von ihnen ist einzigartig und wundervoll. Ich habe aus all den bewegenden Gesprächen so viel lernen dürfen.

Ich danke auch besonders Volker für seine Wärme, für seine anregenden und bewegenden Gespräche, seine guten Hinweise zur textlichen Gestaltung des Buches und seine Bestätigung, dass meine Arbeit sowohl in der Praxis, als auch hier am Buch einen Sinn macht. Das hat mir immer wieder Kraft gegeben, bei aufkommenden Zweifel weiterzuarbeiten.

Außerdem danke ich meinen lieben Eltern, die mich in meiner Kindheit und Jugendzeit sehr unterstützt, und es mir ermöglicht haben, einen so wunderbaren Beruf zu ergreifen.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser

Nach fast 40 Arbeitsjahren im Bereich der medizinischen Forschung, als Ärztin und zuletzt als Psychotherapeutin blicke ich jetzt im Ruhestand auf ein sehr erfülltes Arbeitsleben zurück. Es hat mir viel Freude gemacht. Ich habe immer wieder Herausforderungen gesucht, öfter den Arbeitsplatz gewechselt, um mich dann mit Neugier und Begeisterung in das neue Fachgebiet einzuarbeiten.

Doch am allerschönsten waren die letzten 15 Jahre, in denen ich eine eigene psychotherapeutische Praxis führte. Ich hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Zum einen, weil ich sehr früh in meiner klinischen Zeit erkannte, dass die meisten Leiden der Patienten, die ich zu behandeln hatte, sehr stark von ihrer Lebenssituation und ihrer seelischen Verfassung beeinflusst wurden. Es machte für mich keinen Sinn, einen Patienten mit einem Magengeschwür ausschließlich korrekt nach dem jeweiligen medizinischen Standard zu therapieren, ohne zu fragen, ob er oder sie im Augenblick oder sogar über einen längeren Zeitraum an erheblichen seelischen Problemen leide, oder ob die Belastung am Arbeitsplatz eventuell zu groß sei. So war mir relativ schnell klar, dass nur eine psycho-somatische Sicht der Beschwerden zu einer ganzheitlichen Heilung führen kann. Immer wieder wurde ich im klinischen Alltag in dieser Ansicht bestätigt.

Es zog mich also zur Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, wo ich etliche Jahre in Kliniken, Ambulanzen und Praxen arbeitete, bis ich mich dann für die Öffnung einer eigenen psychotherapeutischen Praxis entschied. Hier konnte ich endlich meine Vorstellung umsetzen, wie ich den Menschen, die mich um Hilfe baten, begegnen wollte. Ich wollte sie miteinbeziehen in den therapeutischen Prozess, ihnen erklären, woher ihre Beschwerden kamen, und was es für Möglichkeiten gibt, sie zu behandeln. Jeder sollte wählen dürfen, was für ihn der richtige Weg sein könnte. Ein Gespräch auf Augenhöhe. Es ist mir vielleicht nicht immer, aber sehr oft gelungen. Mir war die ehrliche, warme und tragende therapeutische Beziehung sehr wichtig. Denn sie ist es, die heilt, nachdem vielleicht andere Beziehungen zu Eltern, Partnern oder wichtigen anderen Bezugspersonen oft dysfunktional, verletzend und krankmachend verlaufen waren. Wichtig war mir auch besonders, das bewusst zu machen, was unbewusst unser Leben lenkt, damit wir uns nicht dem Schicksal ausgeliefert fühlen, sondern verstehen, warum wir so denken, fühlen und handeln. Dann erst können wir mit Überzeugung neue Wege einschlagen.

Es waren wundervolle Begegnungen, die mich berührten und mein eigenes Leben bereicherten. Ich habe sehr viel von den Menschen, die sich mir anvertrauten, gelernt.

Jetzt im Ruhestand denke ich oft und gerne über die vielen Lebensgeschichten nach, die ich gehört und mitgefühlt habe.

Noch immer bin ich fasziniert von menschlichen Erfahrungen, Gefühlen und psychologischen Zusammenhängen. Mir passiert es oft, dass ich Alltagsszenen zwischen Menschen beobachte, zum Beispiel am Flughafen beim Warten auf den Abflug, im Hotel, in einem Café oder an vielen anderen Plätzen.

Diese Beobachtungen inspirieren mich dazu, die Lebensgeschichte der beobachteten Personen in Gedanken fortzuführen oder in die Vergangenheit zurückzusetzen. Es ist wie ein Film, der dann vor meinem geistigen Auge abläuft.

So entstand die Idee, dass ich all die miterlebten Lebensgeschichten vielleicht als Buch niederschreiben könnte. Deshalb ist dieses Buch, das Sie, lieber Leser, liebe Leserin gerade in den Händen halten, entstanden.

Die Personen, Namen und die jeweiligen Lebenssituationen, wie Beruf, Alter und Familienstand sind frei erfunden. Die jeweiligen psychologischen und/oder medizinischen Probleme, die zu einer psychotherapeutischen Behandlung geführt haben, sind jedoch in der Realität vorgekommen. Ich habe in den vier Lebensgeschichten diejenigen Themen gewählt, die mir sehr häufig in der Praxis begegnet sind. Es sind die vier Themenbereiche Burn-out, Hochsensibilität, Angst und Depression vor und im Ruhestand und Co-Abhängigkeit mit Suchtproblematik in der Herkunftsfamilie. Das Buch ist kein Ratgeber, sondern eher eine romanartige Darstellung von Lebensverläufen. Geschichten, die uns berühren, bleiben oft länger im Gedächtnis und regen uns mehr zur Reflexion über uns selbst an. Das unterstützt die Motivation für den ersten Schritt in eine Veränderung.

Deshalb ist es möglich, dass Sie sich, lieber Leser, liebe Leserin, vielleicht in der einen oder anderen Person wiederfinden oder vielleicht auch in mehreren. Möglicherweise werden Sie neugierig, welche Schritte die Hauptdarsteller wohl gewählt haben, um zu einem erfüllten Leben zu gelangen.

Ich habe bewusst, erfolgreiche Verläufe beschrieben, um Mut zu machen und aufzuzeigen, was alles durch Veränderungen in der Lebensführung, der Lebenseinstellung und in den sozialen Beziehungen möglich ist.

Veränderungen zu wagen, das ist das eigentliche Ziel eines psychotherapeutischen Prozesses. Die Rolle des Psychotherapeuten ist nur die wohlwollende, tröstende und tragende Begleitung, die zum Verständnis der Vergangenheit auffordert, die immer wieder zu einer alternativen Sicht der Situation einlädt und zu neuen Schritten ermutigt.

So wünsche ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, viel Freude bei der Lektüre dieses Buches und würde mich freuen, wenn auch Sie die eine oder andere Anregung für Ihr eigenes Leben mitnehmen.

Ihre Brigitte Zakaria

München 2025

Inhaltsverzeichnis

Wenn alles zu viel wird oder „stay under your limit“

Wenn alles unter die Haut geht

Wenn alles eng und grau wird

Wenn wir das Leben der Anderen leben

Wenn alles zu viel wird oder „stay under your limit“

Nora kommt in die Praxis, Ende Dreißig, schlank, sportlich, geschmackvoll gekleidet. Eine moderne junge Frau, mitten im Leben. Die Körperbewegungen drücken noch einen Rest von Vitalität aus. Gut vorstellbar, wie kraftvoll und dynamisch sie vor einiger Zeit noch gewesen sein muss. Jetzt hängen die Schultern, leicht vornübergebeugt, die Körperhaltung zeigt Erschöpfung, ein „Niedergedrücktsein“. Schatten unter den Augen verraten schlaflose Nächte. Die Lippen zusammengepresst, um mit aller Kraft etwas zurückzuhalten, als würde sonst der gesamte Schmerz, die Verzweiflung, die Traurigkeit wie ein reißender Gebirgsbach aus ihr herausbrechen.

„Ich kann nicht mehr“, stößt sie hervor und lässt sich auf den Sessel fallen, der Blick hilfesuchend in meine Richtung.

Nach vorsichtigem Fragen finde ich heraus, dass sie, Abteilungsleiterin in einem mittelständigen Unternehmen, nach einem Meeting in ihrem Zimmer zusammengebrochen ist. Herzrasen, Schwindel – und es ging gar nichts mehr. Die Sekretärin alarmierte den Notarzt. In der Notaufnahme der Klinik wurde nichts gefunden. Alle Organe seien gesund, sie wurde noch einen Tag zur Beobachtung da behalten und von Kopf bis Fuß durchgescheckt. Alle Werte liegen im normalen Bereich.

„Aber ich habe mir das doch nicht eingebildet“, schamvoll blickt Nora nach unten.

Und dann das Gerede in der Firma, sie, die immer alles hundertprozentig vorbereitet hat, die sich und den Mitarbeitern keinen Fehler durchgehen lässt. Sie, die abends als eine der letzten die Firma verlässt. Danach heißt es, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Die Haushälterin möchte pünktlich gehen. Sie lässt es sich nicht nehmen, die Kinder ins Bett zu bringen. Sie wollen meistens noch mit ihr spielen – nachdem sie die Mutter den ganzen Tag nicht gesehen hatten, sie hängen an ihr. Das Zubettgehen ist immer eine unendliche Strapaze und zieht sich in die Länge, bis sie selbst bei der Gute-Nacht-Geschichte einschläft.

Ihr Mann kommt gewöhnlich spät nach Hause, ebenfalls beruflich erfolgreich, in führender Position. Lange Arbeitstage und Dienstreisen sind an der Tagesordnung, das bringt ein verantwortungsvoller Beruf so mit sich. Oft sieht er die Kinder abends gar nicht mehr, sie schlafen schon. Ihre Bitte, er möge ihr doch einen Abend in der Woche das Zubettbringen abnehmen, verspricht er zu erfüllen, schafft es aber nur selten, zu viele Besprechungen, und dann noch die Videokonferenzen mit USA, die können ja nur am Abend stattfinden wegen der Zeitzonen.

So fühlt sie, dass doch wieder alles auf ihren Schultern liegt. Ändern? Wie denn, wo beginnen?

Der Beruf ist ihr Traum, dafür hat sie lange studiert und sich in der Firma hochgearbeitet. Es war nicht leicht, sich in der „Männerwelt“ als einzige Frau in einer Führungsposition zu behaupten. Sie hat es geschafft, aber sie hat dafür doppelt so viel wie ihre männlichen Kollegen geleistet. Es hat „Spaß“ gemacht. Lob und Anerkennung vom Vorstand haben sie beflügelt. Sie ist bereit noch mehr zu leisten. Es ist wie in einem Rausch. Die Beförderung, das eigene große Arbeitszimmer, die Sekretärin, sie ist wichtig geworden. Ohne sie geht nichts mehr in ihrer Abteilung.

Früher gab es ab und zu noch einen Plausch mit den Kollegen in der Kaffeeküche, da wurde gelacht, ein bisschen gejammert oder auch über den einen oder anderen ein wenig hergezogen. Das kann sie sich jetzt nicht mehr erlauben. Es ist einsam geworden um sie. Aber das spornt sie nur noch mehr an, sie will noch mehr Erfolg für sich verbuchen, sie will mehr Lob und Anerkennung. Es macht süchtig. Und es ist ja alles im Sinne der Firma – mehr Umsatz, mehr Wachstum, mehr Erfolg.

Ihren Mann hat sie während des Studiums kennengelernt. Sie sind bald ein Paar geworden. Sie haben die gleichen Ziele. Der berufliche Erfolg steht an erster Stelle. Der Traum von einem schönen Haus mit Garten, zwei schicke Autos. Ja, sie haben alles geschafft, auch die zwei wohlgeratenen Kinder. Die Geburten hat sie zwischen zwei Großprojekten eingeschoben. Sie war stolz auf ihre Leistungsfähigkeit. Nach den Entbindungen war sie gleich wieder am Arbeitsplatz. Die Kollegen staunten und bewunderten sie. Zuhause kümmert sich die Haushälterin um alles.

Alles ist perfekt durchgeplant. Es ist auch bis jetzt nichts dazwischengekommen.

Und nun der Zusammenbruch, welch eine Blamage. Warum kann sie sich nicht mehr auf ihren Körper verlassen?

Sie war doch immer sportlich: 10 km Joggen am Sonntagmorgen, wenn die Familie noch schläft, Skitouren im Winter. Sie konnte mit den Männern mithalten. – Und jetzt diese unendliche Müdigkeit. Als gehe gar nichts mehr. Das Aufstehen, Frühstücken, sich fertig machen, ist schon so anstrengend wie eine große Bergwanderung. Da kann doch etwas nicht stimmen, es muss doch ein Organ erkrankt sein, vielleicht doch das Herz. Die Ärzte in der Klinik haben sich bestimmt geirrt. Ob sie sich noch einmal durchchecken lassen soll. Eine zweite Meinung?

Jetzt ist sie erst einmal krankgeschrieben. Aber wie soll das weitergehen? Im Augenblick scheint es unvorstellbar, wieder das alte Pensum zu schaffen. Aber sie will doch funktionieren. Sie will wieder an ihren Arbeitsplatz. Eine Stundenreduktion, Teilzeit? Das geht in ihrer Position gar nicht. Dann müsste sie wieder in die „zweite Reihe“. Aufgeben, was sie erreicht hat? Nein, unvorstellbar! Außerdem brauchen sie das Geld. Der Lebensstandard ist auf beide Gehälter aufgebaut. Die Kredite laufen. Jeden Monat geht eine hohe Summe an die Bank. Es ist alles durchgeplant. Sie darf keine Schwäche zeigen.

Aber es ist ihr alles zu viel. Die Kinder spüren es. Bei der Frage: „Mamma bist du krank?“, bricht sie in Tränen aus. Sie will doch eine starke Mutter sein, ein Vorbild. Alles soll so weitergehen. Der Kopf sagt: „Reiß dich zusammen.“ Der Körper tut einfach nicht mehr das, was ihm befohlen wird. Wie eine Verweigerung.

Es kommt der geplante Urlaub. Die Familie fährt wie gewohnt ans Meer. 5-Sterne-Hotel, „all inclusive“, damit sie sich endlich einmal um nichts mehr kümmern muss. Die Kinder sind auch zufrieden, viele Spielgefährten und Animationsprogramm. Sie hofft auf eine Erholung, um danach wieder durchzustarten.

Ihr Chef hat Verständnis gezeigt und ihr noch Extratage gewährt, Überstunden hat sie ja zu genüge, ab 100 wird nicht mehr gezählt. Ein einmaliges Schwächeln wird ihr verziehen. Sie war ja sonst immer im Einsatz und hat viel für die Firma geleistet. Sie soll sich Zeit lassen. Aber über allem steht die Erwartung, dass sie dann wiederkommt und wie früher weiterarbeitet. Eine zweite Schwächeperiode, das steht außer Frage, darf es nicht geben, wird gedanklich erst gar nicht zugelassen.

So versucht sie sich „unter Druck“ zu entspannen, das funktioniert natürlich gar nicht. Sie „muss“ aber gesund werden, die Zeit läuft. Sorgenvolle Gedanken kreisen. Was ist, wenn ihre alte Leistungsfähigkeit nicht mehr zurückkommt? Sie ist immer noch kraftlos, müde, wie ausgelaugt. Sport hat ihr immer geholfen. Vielleicht ist Bewegung besser als erzwungene Ruhe, die in ihr noch mehr Spannung erzeugt.

Windsurfen war während des Studiums ihr Hobby. Sie genoss den Kampf mit Wind und Wellen. Ob sie es noch einmal versuchen soll? Vielleicht erinnert sich ihr Körper wieder an seine ehemalige Kraft, wenn sie auf dem Brett steht. Sie geht zum Surfcenter und wählt ein schmales kurzes Brett, geeignet für gute bis sehr gute Surfer. Der Wind ist heute stark, das Meer bewegt. Als sie in den Anzug schlüpft, spürt sie seit langem zum ersten Mal wieder das Gefühl von Freude. Sie sucht ein passendes Segel.

Ein junger Mann, so Anfang 20, braungebrannt, in Bermudashorts und verwaschenem T-Shirt hält sie fest. Er gehört zum Stuff des Surf-Clubs, einer der Surflehrer. Was sie denn suche? Die Kommunikation wird in Englisch geführt. Er mustert sie. Sie ist empört. „Ich surfe schon seit Jahren und habe viel Erfahrung“, hört sie sich sagen. Er ist skeptisch und gibt ihr ein breites Surfbrett mit dem passenden Anfängersegel. Sie wird immer wütender. Er kennt sie doch gar nicht. Er unterschätzt sie. Sie streitet, sie will das Profibrett, sie ist gut, stark und kann etwas und das in jedem Bereich. Anfänger – paah. Darüber ist sie schon lange hinaus.

Sie ist gekränkt. Sie fühlt sich falsch eingeschätzt. Doch der Surflehrer bleibt hart. „Stay under your limit“ ist seine Anweisung, autoritär und unbeeindruckt von ihrer Empörung. Erklärend fügt er hinzu, der Wind sei tückisch, die Strömung stark, und die Wellen nicht zu unterschätzen. Mit dem breiten Brett habe sie wenigstens ein Erfolgserlebnis, könne sich darauf halten und sei am Abend zufrieden. Mit dem Profibrett fiele sie ständig ins Wasser und wäre nach kurzer Zeit schon erschöpft und fühle sich frustriert, ohne Genuss und Spaß. Er dreht sich um und wendet sich anderen Gästen zu. Er hat alles gesagt. Sie ist wütend und empört. Sie will es ihm zeigen, muss sich aber mit dem Anfängerbrett begnügen.

Im Wasser spürt sie die Strömung. Sie kennt das Gebiet nicht. Der Wind hat zugenommen. Die Wellen sind beachtlich. Sie besteigt das Brett und hat Mühe, das Segel zu halten. Es gelingt ihr. Sie spürt Freude aufkommen. Sie spürt aber, dass sie an ihre Grenzen kommt und das mit dem Anfängerbrett. Gut, dass sie es nehmen musste. Es ist gerade richtig bei dem Sturm. Sie genießt das Gleiten. Das Wasser spritzt zu beiden Seiten. Sie nimmt Fahrt auf und hängt sich ins Segel. Es macht richtig Spaß, sie fühlt sich sicher. Einige Male drückt eine Böe sie nieder und sie fällt. Es gelingt ihr wieder Fahrt aufzunehmen, das breite Brett gibt ihr Sicherheit.

„Stay under your limit“ geht es ihr permanent durch den Kopf. Nora hat verstanden, gezwungenermaßen ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben unter ihrer Leistungsgrenze geblieben. Es fühlt sich leicht an, es macht Spaß, sie genießt. Bisher war alles in ihrem Leben ein mühseliger Kampf, sie hat immer mehr gegeben, als sie hatte. Nie fühlte es sich leicht an. Aber wo ist ihr „Limit“, ihre Leistungsgrenze, die sie nicht überschreiten soll? Sie weiß es gar nicht, sie ist wahrscheinlich immer darüber gegangen. Immer, bei allen Lebensentscheidungen. Hat sie sich also immer überschätzt? War ein Ziel nur gut für sie, wenn sie alles gab und noch mehr – so dass sie jetzt keine Reserven mehr hat?

Vom ersten Schultag an versuchte sie die Wünsche ihres Vaters zu erfüllen. Sie sollte die Klassenbeste sein. Sie sollte, das, was ihm nicht gelungen war, verwirklichen – Abitur, Studium, Karriere – etwas ganz Besonderes darstellen. Was ist eigentlich ihr eigenes Ziel? Ihre eigene Grenze? Sie hat das Gefühl, sie stand ihr Leben lang auf dem falschen „Surfbrett“. Sie spürte, dass es auch anders geht, leichter, freier, genussvoller, und sie muss keinem Menschen Rechenschaft abgeben, dass sie auf dem Anfängerbrett über das Meer saust, keinen interessiert es auch wirklich. Es geht nur um ihre eigene Zufriedenheit. Sie hat die Wahl.

Der Wind und das Meer haben ihren Kopf durchgepustet, ihre kreisenden dunklen Gedanken sind verschwunden. Sie fühlt sich gut in ihrem Körper. So gut, wie lange nicht mehr. Nach 90minütigem Kampf mit Wellen, Wind und Meer fährt sie zurück an den Strand und bringt das Brett, das Segel und den Anzug zurück in das Surfcamp. Sie begegnet dem braungebrannten jungen Mann mit dem ausgeblichenen T-Shirt; dieser ist beschäftigt, er nimmt nur kurz Kontakt zu ihr auf. Ihn interessiert nur, ob sie heil zurückgekommen ist, ob das Material in Ordnung ist und wünscht ihr einen schönen Abend. Ihm ist es nicht wichtig, welche Leistung sie vollbracht hat. Sie muss sich nicht rechtfertigen, nichts erklären, höchstens vor sich selbst.

„Stay under your limit“ geht es ihr durch den Kopf. Nora hat verstanden. Dieser Satz wird ihr Leben verändern……..

Nora berichtet von ihrer Kindheit. Sie war das Wunschkind. Ihre Eltern hatten einen kleinen Handwerksbetrieb. Beide waren sehr fleißig und gewissenhaft. Die kleine Firma brachte stabile Einkünfte. Die Auftragslage war gut. Es wurden sogar zwei Mitarbeiter eingestellt. Nach dem Bau des Eigenheimes kam sie dann auch bald zur Welt. Die Mutter zog sich dann weitgehend aus dem Geschäft zurück, um für die Familie zu sorgen. So wuchs sie behütet und sorgenfrei auf. Der Vater bedauerte immer, selbst nicht studiert zu haben. Es war sein größter Wunsch, dass seine Tochter eine erfolgreiche akademische Laufbahn einschlägt. Er förderte sie mit allen Mitteln. Aber er verlangte auch viel. Gute bis sehr gute Noten in der Schule. Dazu eine musische Bildung. Sie lernte Geige und spielte in einem Orchester. Das tägliche Üben war für sie „ normal“. Auch das Lernen für die Schulaufgaben nahm sie als Selbstverständlichkeit hin. Es blieb ja trotzdem noch etwas Zeit, um sich mit Freundinnen zu treffen. Sie hatte jedoch immer das Gefühl, dass sie anders war als ihre Freundinnen – ernster, vernünftiger, irgendwie älter.

Trotzdem denkt sie gerne an ihre Kindheit zurück. Sie unternahm schöne Reisen mit ihren Eltern und lernte viele Länder und fremde Kulturen kennen. Ihr Vater war ein aufgeschlossener, fröhlicher und extrovertierter Mann. Schnell bekam die Familie deshalb an den Urlaubsorten Kontakte zu Einheimischen und Mitreisenden. Die Mutter war eher schüchtern und ängstlich, sprach aber immer gerne Einladungen aus, kochte gerne für Fremde und Freunde und bewirtete sie mit Hingabe. In schöner Erinnerung habe sie, dass die Mutter immer zuhause war, wenn sie aus der Schule kam. Jeden Tag stand ein warmes leckeres Mittagessen auf dem Tisch. Die Mutter hatte dann ein offenes Ohr für ihre kleinen und großen Sorgen, die sie in der Schule oder mit den Freundinnen beschäftigten.

Im Großen und Ganzen ging es harmonisch in der Familie zu. Sie selbst fügte sich bis zur Pubertät unproblematisch in die familiären Gewohnheiten und Regeln ein. Selten widersprach sie dem Vater. Wenn sie es dann doch einmal wagte, reagierte er darauf oft mit heftigen Wutanfällen.

Ihre Hobbys und Interessen passte sie auch weitgehend an die Wünsche des Vaters an. Das Musizieren und das Instrument wählte er aus. Sie selbst fühlte sich eher zur Malerei und handwerklichen Arbeiten hingezogen. Dies wurde durch Kurse in der Schule gefördert, da die Kunstlehrerin ihr Talent wahrgenommen hatte. Auch andere Schulfächer, wie Philosophie und Naturwissenschaften, fand sie je nach Lehrer interessant. Insgesamt ging sie gerne zur Schule und lernte gerne. Wenn nicht der Notendruck gewesen wäre.

In der Studentenzeit verspürt sie durchaus ein Gefühl der Freiheit, da sie der väterlichen Kontrolle nicht mehr ausgesetzt war. Sie gibt zu, sehr ehrgeizig zu sein und besonders beruflich immer wieder neue Herausforderungen zu suchen, auch wenn diese oft über ihre Kräfte gehen. Anerkennung im Beruf ist ihr äußerst wichtig.

Wie soll es jetzt weiter gehen? Der Urlaub ist zu Ende. Nora sollte in der nächsten Woche eigentlich wieder am Arbeitsplatz sein. Glücklicherweise fragt noch niemand aus der Firma nach, wie es ihr geht. Auch sind noch keine Mails über die zukünftigen Projekte eingetroffen, was sonst sogar während des Urlaubs üblich war. Früher hatte sie auch während des Urlaubs täglich Kontakt mit ihren Mitarbeitern. Probleme gelöst, Entscheidungen getroffen, Anweisungen gegeben. Diesmal ist es still in ihrer Mailbox und am Handy. Sie hat noch Schonzeit. Das erfüllt sie mit gemischten Gefühlen. Zum einen ist sie froh, in Ruhe gelassen zu werden, weil sie sich auch noch nicht ganz kraftvoll fühlt. Zum anderen ist sie beunruhigt und enttäuscht, nicht gebraucht zu werden. Ein ängstliches Gefühl der Unruhe beschleicht sie. Ob sie ersetzbar ist in der Firma? Katastrophisierende Gedanken, dass sie gekündigt werden könnte, drängen sich auf.

Wir vereinbaren, dass wir uns in der ersten Zeit zweimal wöchentlich zu einem Gespräch zusammensetzen. Wir werden gemeinsam Strategien erarbeiten, die ihr bald wieder Kraft geben. An ihrer derzeitigen gesamten Lebenssituation kann sie so schnell nichts ändern. Dies wird ein längerer schmerzhafter Prozess werden. Das fühlt sie schon jetzt. Als erstes gehen wir die drei Säulen durch, die die seelische und körperliche Gesundheit stützen. Das sind: Entspannung und Schlaf, Ernährung und Bewegung.

Durchschlafen kann sie schon lange nicht mehr. Seit der Geburt der beiden Kinder, die jetzt 3 und 6 Jahre alt sind, hat sie keine Nacht mehr vollständig durchgeschlafen. Das sind also jetzt sechs Jahre. Sobald eins der Kinder in der Nacht weint, steht sie auf, um nachzusehen, zu trösten oder etwas zu trinken zu geben. Ihr Mann hat einen festen Schlaf und reagiert nicht auf das Weinen der Kinder. Außerdem verlässt er sich darauf, dass sie schon aufstehen wird. In der ersten Zeit konnte sie auch sofort wieder einschlafen, was mittlerweile schwieriger wird. So liegt sie oft noch eine längere Zeit wach, bis sie wieder in den Schlaf findet. Doch die Versorgung der Kinder in der Nacht wird schon seltener. Je älter die Beiden werden, desto besser schlafen sie durch.

Es sind aber auch die Themen am Arbeitsplatz, die ihr nachts durch den Kopf gehen. Hat es einen Konflikt mit einem Vorgesetzten oder einem Mitarbeiter gegeben, so geht ihr dies lange nicht aus dem Sinn. Sie spielt in Gedanken die Szenen immer wieder durch. Besonders nachts, wenn alles ruhig ist, und keiner etwas von ihr möchte. Dann überlegt sie, wie sie anders hätte reagieren können, was sie gesagt oder auch nicht gesagt hat, und wie sie zukünftig dieser Person begegnen soll. Auch wenn es schwierige Projekte gibt, denkt sie oft über die richtige Vorgehensweise nach und stellt imaginäre To-Do Listen zusammen. Dann ist es oft schwer, wieder einzuschlafen. Am anderen Morgen fühlt sie sich manchmal wie gerädert. Ein starker Kaffee lässt sie wieder in Gang kommen. Oft werden es jedoch mehrere Tassen pro Tag. Nur so bleibt sie wach bis zum Abend.

Glücklicherweise hat sie bisher noch keine Schlafmittel eingenommen. Davor hat sie Respekt – berechtigterweise.

„Ich habe Angst, von Schlaftabletten abhängig zu werden“ meint Nora mit einem Hinweis auf ihre Mutter, die im Alter nicht mehr ohne Beruhigungsmittel schlafen konnte.

Es ist sogar häufig so, dass die Schlaftabletten mit der Zeit an Wirkung verlieren. Manche Menschen müssen nach langem Gebrauch die Dosis erhöhen, um wieder eine Wirkung zu spüren. Außerdem hat sie gelesen, dass der chronische Gebrauch von Schlaftabletten die Struktur des Schlafes verändert.

„Auswertungen einiger Studien haben gezeigt, dass es bei längerer bzw. häufiger Einnahme von Schlaftabletten zu einer Unterdrückung des Tiefschlafs kommt, und die REM-Phasen reduziert sind. Die REM-Phasen sind die Traumphasen, in der sich schnelle Augenbewegungen (rapid eye movements) zeigen. In diesen Phasen können wir unsere Muskeln nicht bewegen. Das verhindert, dass wir das Geträumte in die Tat umsetzen. Wir können also nicht aufspringen oder umherlaufen. Diese REM-Phasen sind sehr wichtig für die seelische Gesundheit, da hier das tagsüber Erlebte mit den dazugehörigen Emotionen in bestimmten Hirnzentren verarbeitet und abgespeichert wird“, ergänze ich.

Sie nickt. Dies hatte sie schon einmal gehört.

„Was kann ich dann tun, um ohne diese Medikamente besser zu schlafen und morgens erholt aufzustehen?“ fragt Nora sorgenvoll.

Ich erkläre ihr, dass ein guter Schlaf davon abhängt, wie gut wir uns in den Abendstunden entspannen.

Dazu gehört ein leichtes frühes Abendessen, möglichst ohne oder nur mit wenig Alkohol, da dieser die Tiefschlafphasen unterdrückt. Keine Beschäftigung mehr mit Arbeitsthemen, die unsere Gehirntätigkeit anregen.

Möglichst wenig Benutzung von Handy, Tablett, Computer und Fernsehen, deren Licht, insbesondere der Blauanteil, die Melatonin-Produktion im Gehirn behindern soll, wobei es dazu Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen gibt. Melatonin ist ein Hormon, das hauptsächlich in der Zirbeldrüse, einer kleinen Drüse im Zwischenhirn, produziert wird, wenn die Abenddämmerung beginnt. Es stellt die innere Uhr des Körpers auf Nacht um und den Stoffwechsel auf Regeneration und Reparatur ein und induziert so den Schlaf.

Aufregende Filme oder emotional belastende Telefongespräche sind am Abend ebenfalls nicht schlaffördernd.

Es geht einfach darum, einen persönlichen Weg zu finden, wie wir den Tag abschließen können. Wie wir zur inneren Ruhe finden. Wie wir loslassen von allem, was uns anund aufregt. Hier gibt es viele Möglichkeiten, von denen jeder Mensch seine eigenen Rituale für sich zusammenstellen kann.

Manche Menschen schwören auf ein warmes Bad, andere auf einen abendlichen Spaziergang. Beruhigende Tees aus Kräutern wie Baldrian, Melisse, Passionsblume und Lavendel sind hervorragend dazu geeignet, ein entspannendes Gefühl zu erzeugen.

In einem Tagebuch können wir all das, was uns tagsüber beschäftigt hat, schriftlich niederlegen. Im wahren Sinne des Wortes „niederlegen“. Was wir aufschreiben, können wir leichter loslassen. Es beschäftigt uns dann nicht mehr so intensiv. Es tritt in den Hintergrund. Einige Menschen haben gute Erfahrungen mit dem Anlegen eines Dankbarkeits-Tagebuchs. Hier können wir aufschreiben, für was wir an diesem Tag dankbar sind, und welche schönen Erlebnisse wir für heute festhalten wollen. Diese positiven Gedanken führen schon an sich zu einer gewissen Entspannung.

„Das bedeutet ja eine grundlegende Veränderung meiner Abendgewohnheiten. Oh je, das betrifft ja auch meine Familie. Ich werde nachdenken, was ich am Leichtesten verändern kann. Fernsehen interessiert mich sowieso nicht sehr. Es ist nur so eine Gewohnheit, nach dem Zubettbringen der Kinder, auf die Fernbedienung zu drücken. Oft schaue ich nicht hin, sondern bin in Gedanken in der Firma. Oder ich arbeite nebenbei auf dem Laptop zum Beispiel an einer Präsentation für den nächsten Tag. Mein Mann hat schon häufiger angeregt, dass wir uns doch zu einem gemütlichen Tee zusammensetzen sollten, um uns gegenseitig über unseren Tag auszutauschen. Bisher habe ich immer gedacht, ich müsse noch etwas für die Firma vor- oder nachbereiten. Er wird sich freuen, wenn ich seinen Vorschlag aufgreife“, erklärt Nora sichtlich aufgeregt mit Aussicht auf eine mögliche positive Veränderung, die auch der Partnerschaft zugutekommen könnte.

Wir nutzen die nächste Sitzung für eine Betrachtung ihrer Ernährungsgewohnheiten. „Ich weiß schon, dass ich in dieser Hinsicht auch besser für mich sorgen könnte“, eröffnet sie gleich das Gespräch. Und sie hat auch schon hierzu über eine Veränderung nachgedacht.

Bisher beginnt der Tag für die gesamte Familie schon mit unschönen Szenen. Sie schimpft viel zu häufig mit den Kindern, die mit dem Anziehen trödeln. Sie werden dann nicht rechtzeitig fertig, um in den Kindergarten zu starten. Schnell noch einen Kaffee im Stehen, während sie die Brotzeiten zubereitet. Oft kommt sie zu spät zu ihrer Arbeit, weil morgens der Verkehr schon sehr dicht ist, weil eins der Kinder weint, da es sich nicht von der Mutter trennen möchte, oder weil die Erzieherin bei der Übergabe noch etwas besprechen möchte.

Abgehetzt und mit einem schlechten Gewissen erreicht sie dann ihr Büro, wo wieder ein starker Kaffee auf sie wartet. Sie hat erst einmal Mühe, sich auf das, was in der Firma anliegt, zu konzentrieren. Immer beschleicht sie das Gefühl, den Kindern nicht gerecht zu werden, nicht genug Zeit und Geduld für sie zu haben.

Aber diese Gedanken muss sie schnell verbannen, denn die Arbeit erfordert volle Präsenz. Die Liste der Mails in ihrem Computer ist schon lang. Der Chef möchte sie sofort sprechen. Der Terminkalender zeigt für den heutigen Tag keine Pause. So hat sie meistens bis zur Mittagszeit bis auf mehrere Tassen Kaffee nichts gegessen oder getrunken. Daran ist sie gewöhnt. Sie hat immer gedacht, das sei so in Ordnung, sie brauche kein Frühstück. Außerdem achtet sie sehr auf ihr Gewicht und ist stolz, sehr schlank zu sein.

Das Mittagessen nimmt sie häufig in der Kantine ein. Oft dient es als Meeting. Es wird die Zeit genutzt, um mit Kollegen oder Mitarbeitern etwas zu besprechen. Dann geht es weiter ohne Pause bis 18.00, 19.00 oft auch 20.00 Uhr.

Die Haushälterin hat schon die Kindern vom Kindergarten abgeholt und das Abendessen bereitet. Sie beeilt sich nach Hause zu kommen, um noch eine kurze Zeit mit den Kindern zu verbringen. Wieder nagt das schlechte Gewissen an ihr. Wieder weiß sie, dass die Kinder sie vermissen und sehnsüchtig auf sie warten. Kaum hat sie den Schlüssel in das Schloss der Haustür eingesteckt, da sausen die beiden schon mit lautem Geschrei auf sie zu und belagern sie. Sie erzählen aufgeregt, was sie tagsüber alles erlebt haben. Jeder der beiden will auf ihren Schoß. So gibt es erst einmal ein Geschrei. Sie ist noch nicht ganz angekommen und hat den eigenen Tag noch nicht verarbeitet. Doch es gelingt ihr meistens, sich auf die Kinder einzulassen und mit Freude ganz bei ihnen zu sein. Obwohl sie am liebsten erst einmal selbst ihre Füße ausgesteckt und ein bisschen Ruhe verdient hätte.

Das Abendessen verläuft dann meistens ruhig und ist – durch die Hilfe der Haushälterin- gesund und lecker. Das tägliche Glas Wein lässt sie dann endlich entspannen.

„Ich glaube, mein Thema ist, mehr auf mich selbst zu achten. Ich funktioniere und versuche alle Wünsche und Ansprüche der Familie und der Firma zu erfüllen. Meine eigenen Bedürfnisse spüre ich gar nicht. Wenn ich meinen Tagesablauf so schildere, wird mir schon klar, warum ich meine Lebenskraft verloren habe. Aber wie soll es mir gelingen, etwas zu verändern? Es ist alles schon so eingefahren und läuft automatisch ab“, seufzt Nora voller Selbstzweifel.

Wir vereinbaren erst einmal kleine Schritte. Sie schlägt vor, eine halbe Stunde früher aufzustehen und ein schönes Frühstück für sich und die Familie zu zubereiten. Vielleicht mit gutem Vollkornbrot, Obst, Müsli. „Vielleicht ist das auch ein schöner Tagesbeginn und bringt mehr Harmonie in die Familie. Vielleicht sind auch meine Kinder dann morgens entspannter, und das Fertigmachen geht ohne Geschrei und Schimpfen. Das wäre für uns alle viel schöner“, überlegt sie laut und ein leichtes Strahlen erhellt ihr Gesicht und lässt sie viel hübscher erscheinen. Das Mittagessen möchte sie auch anders gestalten. Sie überlegt, die Firma mittags für einen Spaziergang zu verlassen, eventuell eine Brotzeit für sich mitzunehmen oder außerhalb in einem kleinen Restaurant einen Salat oder einen Gemüseteller zu genießen. Dabei kann sie zur Ruhe zu kommen und nachdenken.

Insgesamt kleine, wenn auch zahlreiche Veränderungen. Sie hat beschlossen, ein Tagebuch zu führen und aufzuschreiben, was gut und was weniger gut gelaufen ist.

Bezüglich Bewegung bzw. Sport, die dritte Säule der seelisch-körperlichen Gesundheit, gibt es für sie wenig zu verändern. Sie treibt an den Wochenenden immer schon viel Sport. „Vielleicht kann ich weniger ehrgeizig und mit mehr spielerischer Freude meine sportlichen Aktivitäten durchführen“, meint Nora nachdenklich. Sie trainiert im Fitnessstudio oder joggt oft bis zur Erschöpfung. Wenn sie im Verein ein Tennismatch spielt, dann will sie unbedingt gewinnen und verzeiht sich kaum einen Fehler.

„Mein Ehrgeiz, der im Sport deutlich wird, ist wahrscheinlich der Leitfaden, der sich durch mein ganzes Leben zieht“, stellt sie verwundert fest. „Es war mir nie bewusst, dass ich fast alles, was ich tue, mit ungeheurer Anstrengung und übermäßigem Einsatz verrichte. Es fehlt die Leichtigkeit und die Freude, selbst bei meinen Hobbys wie dem Sport. In meinem Denken geht es meistens darum, keine Fehler zu machen und Höchstleistung zu erbringen. Wieso ist das so? Und woher kommt das?“ Sie schaut mich fragend an.

„Ja“, antworte ich auf ihre Frage, „das wird die Aufgabe unserer nächsten Sitzungen sein, den Grund herauszufinden und dann eventuell neue Einstellungen in einzelnen Lebensbereichen zu etablieren. Eine ziemlich schwere Aufgabe wartet da auf uns. Denn Glaubenssätze, die seit der Kindheit in unserem Gehirn eingebrannt sind, zu verändern, ist nicht ganz einfach. Aber es kann gelingen, wenn wir sehr aufmerksam auf unsere Gedanken aufpassen.“

Glaubenssätze sind zentrale Überzeugungen, die wir von unseren Bezugspersonen aus der Kindheit unbewusst übernommen haben. Sie begleiten uns unser gesamtes Leben, wenn wir sie uns nicht bewusst machen. Sie formen unser Denken und Handeln, ohne dass wir uns darüber im Klaren sind. Entdecken wir, dass uns einige davon in unserer freien Entwicklung behindern, einschränken und blockieren, dann sollten wir diesen Glaubenssätzen eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Die meisten dieser zentralen Überzeugungen wirken sich direkt auf unsere Selbstachtung aus und sind manchmal mit einer Bedingung verbunden. Oder sie tabuisieren ganze Lebensbereiche, wie z.B. Erfolg, Geld, Glück, Entspannung, so dass wir diese Lebensthemen oft ohne zu hinterfragen ad acta legen. Beispiele für häufig berichtete Glaubenssätze sind:

Ich muss in allem, was ich tue, die Beste sein.

Wenn ich mich freue, kommt immer das dicke Ende nach.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Ich bin nur etwas wert, wenn ich Leistung erbringe.

Ich möchte von allen Menschen gemocht werden.

Wenn ich mich sehr anstrenge, werden mich alle mögen.

Ohne Fleiß keinen Preis.

Dies ist nur eine kleine Auswahl. Alle Menschen sind durch Glaubenssätze geprägt. Wie stark und in welcher Hinsicht diese unsere Lebensentscheidungen und Lebensführung beeinflussen, hängt von der inhaltlichen Thematik sowie von der Tatsache ab, in wieweit wir uns von ihnen distanzieren können.

„Vielleicht kommen Ihnen ja einige der erwähnten Glaubenssätze bekannt vor“, frage ich sie direkt. „Sollten Ihnen bestimmte Gedanken in dieser Hinsicht auffallen, so wäre es wichtig, sie schnell aufzuschreiben. Es ist eine wahre Detektivarbeit, Glaubenssätze zu entlarven. Sie sind im Laufe unseres Lebens so selbstverständlich geworden, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Sie sind unsere Realität geworden“, füge ich erklärend hinzu.

„Oh ja, ich kenne einige dieser Glaubenssätze gut. Ich hatte das Gefühl, innerlich zustimmend zu nicken, als Sie sie ausgesprochen haben. Oh je, das heißt, dass nur bei dieser kleinen Auswahl schon mehr als die Hälfte auf mich zutrifft“, kommentiert Nora erstaunt meine Ausführungen.

„Das würde ja bedeuten, dass diese Sätze zum Leitmotiv meines Lebens geworden sind. Ich treibe mich also jeden Tag automatisch selbst an, ohne dies wirklich wahrzunehmen. Es ist sogar so, dass ich schnell andere Menschen negativ bewerte, die das Leben ruhiger angehen, und die weniger Einsatz zeigen, um etwas zu erreichen. Dabei habe ich beobachtet, dass einige von ihnen nicht weniger erfolgreich sind als ich. Der Unterschied ist, dass ich meine ganze Kraft und Energie einsetze und letztendlich für mich selbst kaum etwas übrig bleibt.

Besonders der Satz: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ hat dazu geführt, dass ich kaum noch Freude empfinden kann. Sowohl am Arbeitsplatz als auch zuhause muss ja immer irgendeine Arbeit bzw. Pflicht noch getan werden. Es gibt auch immer wieder Diskussionen mit meinem Mann, der mich ein wenig bremst und mir zur Entspannung rät. Er findet es oft schade, dass ich nicht zur Ruhe kommen kann. Er wünscht sich, dass ich öfter alles liegen lasse, um mit ihm einen Abend oder einen Tag einfach nur zu genießen. Aber es gibt in mir eine Stimme, die mir Müßiggang verbietet. Es taucht schnell der Gedanke auf, dass ein Tag, an dem ich mich nicht angestrengt habe, ein verlorener Tag ist“, fügt sie noch nachdenklich hinzu.

Nora ist wieder in Vollzeit an ihrem Arbeitsplatz und hat große Mühe, die vereinbarten Termine für unsere Sitzungen einzuhalten. Mehrere Male muss sie absagen oder verschieben, weil etwas dazwischen gekommen ist.