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Der 70-jährige Gottfried Wilhelm Leibniz steht am Ende seines Lebens. Wenige Tage vor seinem Tod diktiert er dem Sekretär Eckhart Erinnerungen, Lebenserfahrungen. Auf diese Weise konnte in der Ich-Form geschrieben werden - der Leser bleibt der zentralen Figur sehr nahe. Leibniz berichtet so unerhörte Dinge, dass sich dem Sekretär mehr als einmal die Feder sträubt. Von der Liebe zu einer Königin ist die Rede, von Freundschaft zu einem Diener und von Schuld... Seine Erinnerungen reisen quer durch Europa - in das Frankreich Ludwig XIV., nach London, Holland, Wien, Rom. Er begegnet berühmten Persönlichkeiten seiner Zeit - Kaiser Leopold I., Eugen von Savoyen, Huygens, Spinoza, dem Papst, Sophie Charlotte und ihrem Gatten, dem Preußenkönig Friedrich I. Der Roman erzählt von Hoffnungen und Illusionen, Irrtümern und Zweifeln, großen Ideen und Erkenntnissen, erzählt von einem Menschen, der liebte und wiedergeliebt wurde, und dessen Forderung nach Frieden und Glück für die Menschen höchst aktuell bleibt. Es ist verbürgt, dass Leibniz im niedersächsischen Hannover hinter vorgehaltener Hand 'Lövenix' genannt wurde. Im Roman wird das sehr schnell aufgeklärt. "...Sie messen mich", berichtet er, "drüben im Schloss an der Zahl meiner Kirchgänge. Die waren selten, ich gestehe es. He glövt nix, hieß das in ihrer Mundart, sie haben daraus den Lövenix gemacht... Ein Scherz ohne Verstand. Ich erinnere mich doch kaum einer Predigt, die nicht gelangweilt hätte - zehn Sätze für Gott, zehn für die Leut' und zwanzig für die Katz'... Worte allein haben noch nie geändert..." Das Buch erschien erstmals 2004 beim trafo Verlag, Berlin.
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Seitenzahl: 556
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Manfred Richter
Legende Lövenix
Ein ungesicherter Bericht über die Liebe und anderes Merkwürdige im Leben des Gottfried Wilhelm Leibniz
ISBN 978-3-86394-771-2 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
...Oft habe ich zu unsern Zeiten gedacht: Wenn Leibniz lebte! Er lebt indessen in seinen Schriften, und wir können aus seinen muntern Urteilen, die sich auf alles Merkwürdige seiner Zeit erstreckten, auch für jetzt viel Nutzen ziehen...
Johann Gottfried Herder
Der Roman „Legende Lövenix" erzählt auf spannende Art von einem der bedeutendsten Menschen des ausgehenden 17. Jahrhunderts, dessen tätiges Leben und dessen Denkmodelle fruchtbar bis in die Gegenwart wirken. Gottfried Wilhelm Leibniz nahm von Aristoteles und Platon bis hin zu Descartes, Kepler, Huygens, Spinoza, Locke und John Toland alles seither Gedachte in ein einheitliches Weltbild auf, das aber nicht wie ein Monolith in philosophischer Landschaft steht, sondern Raum schuf für Veränderung, für eine schöpferische Weitergestaltung bis in unsere Gegenwart.
Leibniz war auf allen nur denkbaren Gebieten kreativ tätig. Er trug zur Entwicklung der Rechtswissenschaften, der Mathematik und der Naturwissenschaften bei, zur Logik, zur Technologie, zur Politik und zur Theologie, zur Linguistik und, in der Einheit all dessen, vor allem zur Philosophie. Herausragende Leistung auf dem Gebiet der Mathematik war die eigenständige Erfindung der Differenzialrechnung und des binären Zahlensystems, auf dem Gebiet der Naturphilosophie waren es die Begriffe der aktiven Materie und sein Nachweis der Relativität von Raum und Zeit. Im Auftrag seiner selbstgewählten, unermüdlichen Friedenspolitik traf er auf beinahe alle Großen der europäischen Gesellschaft seiner Zeit. Er reiste von Mainz nach Paris, nach London, Delft und Den Haag, er wirkte in Hannover, reiste nach Wien, nach Rom und Neapel, stieg auf den Vesuv und lebte zeitweise in Berlin. Man kennt ihn als den ersten Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften, die „theoria cum praxi" vereinen sollte.
Schließlich mündete sein positives Weltbild in dem philosophischen Spätwerk „Theodicee". Darin sagt er, dass wir, die Menschen, Gottes Geschöpfe, eine natürliche Unvollkommenheit besitzen, weil wir sonst selbst Götter wären. Und er folgert daraus, dass wir alle Übel als einen Ansporn begreifen müssen, uns und die Welt verändernd zu gestalten. Für ihn ist die „beste aller Welten" kein fertiges Produkt, weil dieses Beste einen Prozesscharakter, die immerwährende Veränderung zum Inhalt hat. (Für den Physiker formulierte Leibniz dies als „Physik der Principe"). Erst 1765, lange nach seinem Tode, gelangten seine „Nouveaux essais sur l'entendement humain" an die Öffentlichkeit und schlugen eine Brücke zu Kant und dem deutschen Idealismus.
Die „Theodicée" aber widmete er seiner geliebten Schülerin Sophie Charlotte, der späteren ersten Königin in Preußen, mit der er, was für eine schöne literarische Entdeckung, bis zu ihrem frühen Tod in einer geheimen Beziehung stand.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich aus mathematisch-wissenschaftlichen wie aus philosophischen Gründen mit diesem Großen des Spätbarock. Hier, in Richters Buch, erfahre ich etwas, das weit über die allseits bekannten Leibnizbilder hinaus geht, erfahre ich etwas vom forschend suchenden, vom irrenden, liebenden, im Alltag sich bewährenden Manne, der am Ende seines Lebens Bilanz zieht und sich von dieser „besten aller Welten" mit den Worten verabschiedet: „Ich stehe überhaupt erst am Anfang."
Leibniz stellte zeitlose Fragen in der Sprache seiner Zeit. Sprache und Ideenwelt dieses großen Mannes sind im Roman „Legende Lövenix" einfühlsam nachempfunden. Manfred Richter gelingt es, Leibniz' unermessliche Leistungen, sein kraftvollumtriebiges Leben auf eine so unterhaltsame Weise zu erzählen, dass man mit großer Anteilnahme, ja, mit Spannung liest.
Prof. Dr. mult. Hans-Jürgen Treder
Diese frostige Novembernacht Siebzehnhundertsechzehn. Das Land liegt in tiefem Schlaf. Über den Markt von Hannover und durch die Gassen fegt ein eisiger Wind, wirbelt Dreck und Stroh bis unter die verschlossenen Fensterläden.
Der Nachtwächter schlurft müde und frierend an der Häuserwand entlang. Wenn der Wind einen Moment nachlässt, hört er die Ratten pfeifen und alle volle Stunden vom Sankt Georg das Schlagen der Glocke.
Nur in der Schmiedestraße, in der Kurfürstlichen Bibliothek, in dem vornehmen Eckhaus der Witwe Lüde, leuchtet hinter den Butzenscheiben des Erkers warmes Licht. Ein merkwürdiger alter Mann wohnt hier, der in einer Nacht so viel Kerzen brennen lässt, wie sie ein Nachtwächter das ganze gregorianische Jahr über nicht braucht.
Er hockt im Ohrensessel am Kamin, vom Feuer beleuchtet, ein Greis, von Schmerzen gepeinigt, nahezu blind. Sein Gesicht hat längst jene weichen, üppigen Züge verloren, mit denen er von Gemälden und Stichen herunterschaut - kahlköpfig ist er jetzt, schief die Nase, eingefallen die Wangen, der zahnlose Mund. Über den Brauen nisten zwei tiefe Falten. Auf seinen Schultern buckelt eine wollene Decke, die ihm etwas Faunisches gibt. Die Füße liegen hoch, und die Knie sind in eine merkwürdige Konstruktion gepresst, eine Art Holzzwingen, die er fest anziehen kann, um die Schmerzen der Krankheit durch einen anderen Schmerz zu betäuben. Am Sessel lehnt griffbereit ein Krückstock, den er kaum noch nutzen kann, es sei denn, er schneidet die Luft damit, fuchtelt mit ihm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen - Reichshofrat Leibniz, Gottfried Wilhelm Leibnitz, genannt der Lövenix.
Nebenan, auf dem kleinen Tisch, tickt die Sackuhr. Ein Geschenk von Huygens, dem Direktor der französischen Akademie. Ihre vertrackte eiserne Unruhe zerhackt unbarmherzig die Zeit. Was sind ein paar Tage und Nächte - gemessen an zähem Lebenswillen, gemessen an siebzig langen Jahren! Der Alte spürt mit einer matten, gleich bleibenden Erbitterung gegen den eigenen Körper, dass seine Zeit um ist, obwohl doch Kopf und Verstand den Dienst verrichten wie je.
Der Schein des Öllämpchens auf dem Schreibpult, das sanfte Licht der Kerzen und das flackernde Kaminfeuer dringen nicht bis in alle Winkel des Arbeitszimmers. Halbwegs deutlich sieht man nur Regale voller Bücher, neben dem Kamin die Truhe, in der er seine Aufzeichnungen verwahrt.
Magda, die einst so anmutige Wirtschafterin und Vertraute, streicht ihre grauen Haarsträhnen aus der Stirn, beugt sich über den Alten und hält ihm einen Zinnbecher an den Mund. Er schlürft den Wein, schmatzt zufrieden. Mit einem Spitzentüchlein wischt sie ihm Mund und Kinn ab. Dann aber scheucht er sie mit einer winzigen Kopfbewegung aus seinem Gesichtskreis, aus dem Raum. Er hat zu tun.
Am Stehpult wartet müde und grillig Musjö Eckhart, Sekretär Eckhart, der Nörgler und Liebediener und Spion des Kurfürsten Georg Ludwig, jenes Georgs, der, nicht ohne Zutun des gebrechlichen Alten im Sessel, König von England wurde.
Auf den ersten Blick wirkt Eckhart wie ein subalterner Beamter. Aber der Mensch ist nicht dumm, nicht schmierig. eher hart und gerissen, kritisch auch und voller Vorurteile. Er mag den Alten nicht und hängt doch an ihm in widerborstiger Bewunderung, und der Alte weiß das und nutzt es.
Aus dem Sessel klingt es überraschend energisch: " Wo stehen wir?"
Eckhart prüft im Licht des Öllämpchens die Schreibfedern, er gibt sich gleichmütig: "Bei der Hexe."
Der Greis zieht fröstelnd die Decke vor die Brust, reibt das schmerzende Knie, lächelt in der Erinnerung. "Ich hob kotzen müssen, denk dir!"
Eckhart tadelt vorsichtig: "Ihr wollt sagen..."
Der Alte aber fordert unwillig: "Schreib!" Er lehnt sich zurück, die Augen sind auf einen imaginären Punkt gerichtet. Er diktiert langsam, heiser, Vergangenheit zurückrufend: "Boineburg. der ältere, der Christian, hatte darauf bestanden, dass ich dem Spektakel beiwohne. Nun, ich war jung, ich war neugierig. Gewiss doch, ich war auch Jurist."
Der Alte stockt. Sein Gesiebt leuchtet im Widerschein des Kaminfeuers. Die trüben Augen sehen brennende Fackeln, sehen den Scheiterhaufen, das Mädchen, festgezurrt am Pfahl, schmutzig, hohläugig, ohnmächtig vor Schmerz und Angst. Er spürt noch einmal das aufgeregte Stöhnen der gaffenden Menge: Soldaten, Honoratioren, feingekleidete Stadtweiber, Handwerker, Diebe, Krüppel - ein schwer atmender, sinnlich aufgegierter Haufen. Er sieht den Priester mit hoch erhobenem Kruzifix. Trommeln dröhnen. Er siebt, wie der Henker der Ohnmächtigen von hinten einen Strick um den Hals legt und, den hölzernen Knebel langsam drehend, fest anzieht. Das Mädchen reißt Mund und Augen auf, seine Zunge quillt dick und hässlich hervor, Arme und Beine zucken und reißen wider die Fesseln, bis sein Körper jäh zusammenbricht und wie ein Sack Futterrüben in den Stricken hängt. An den Beinen laufen Pisse und Kot herunter. Gleich danach flammen Reisigbündel auf, entzünden den Scheiterhaufen. Nesselhemd und Haar des Mädchens lodern. Qualm und der üble Geruch versengten Haars und brennenden Fleischs dringen auf die Galerie zu. Messbuben schwenken schwere Weihrauchkessel, schlagen damit klirrend gegen die Brüstung.
Sich selbst sieht er, sieht sich als jungen, biegsamen Kerl. Im Sächsischen hatte er promovieren wollen. Seiner Jugend wegen setzte man ihn hintan. Da hatte er sich an der Universität in Altdorf eingeschrieben. Nun also war er Jurist und Zeuge, wie ein unschuldiges Ding als Hexe verbrannt wurde. Und er hat dabei gestanden, duldsam, hat nicht laut herausgeschrieen, hat sich gedrückt mit schlechtem Gewissen, abgewendet und Galle gekotzt wie an besoffener Bauer.
Nein, denkt er, davon will ich nicht schreiben, nicht davon, dass es mich zeitlebens gebissen hat, weil ich aus Schwäche stumm blieb vor dem Unrecht.
Armes Weib, denkt er noch einmal, Rauch und Gestank und ihr stummer Schrei haben die Sonne und mancherlei anderes dunkel gemacht. Einer Glaubenslehre wegen wurde gegen Gott verstoßen.
"Schreib!", befiehlt er zu Eckhart hin. "Schreib!"
Und Eckhart senkt gehorsam die Feder ins Tintenfass.
Der Alte fällt in seinen Erzählton, nachsinnend, mit langen Pausen, oft nur vor sich hin mummelnd, so dass Musjö Eckhart unwillig die Ohren spitzen muss. Bald aber erhitzt sich der Alte, lässt sich von Erinnerung und Phantasie fortreißen. Er wechselt der Mode folgend von Rede zu Gegenrede wie ein französischer Schauspieler. Da ist keine Spur mehr von Müdigkeit, und der Sekretär hat seine liebe Not nachzukommen.
"Ich war alt genug um zu begreifen, aber auch jung genug, um gegen, nun, gegen die Etikette zu verstoßen. Ich hatte, verstehst du, noch nicht gelernt, mich wie ein Höfling zu betragen. Die Seele, was sage ich, der Körper war noch bereit, mit jeglicher Kreatur zu leiden, sich zu empören."
Der Alte verhielt schon wieder, kicherte leise. "Merkst du den Unterschied, den ich da mache, den Unterschied zwischen Seele und Leib? Damals hatte mich der Gedanke empört."
Neben mir, auf dieser rohen Balustrade, stand mein Gönner, Baron von Boineburg, der Kurmainzer Minister, was sage ich, er war mehr doch ein Freund, ein älterer Freund. Bleich war er wie ich und stand mit unbewegter Miene. Ich hingegen zerrte die Perücke vom Kopf und wischte mit ihr den Schweiß von der Stirn. Der Magen rebellierte, es stank auch zu arg vom Scheiterhaufen her, und ich drängte mich stolpernd an den Honoratioren vorbei die steilen Stufen hinab.
Unter der Galerie wälzte sich ein Pärchen mit nackten Schenkeln zwischen den angebundenen Reitpferden und Kutschen im Dreck. Vielleicht waren sie es, dass mir zuletzt die Galle hochkam. Ich kotzte mir wahrhaftig die Seele aus dem Leib.
Mit dem bitteren Geschmack im Munde und im Herzen irrte ich zwischen den Buden und Marktständen umher. Vor einem Zelt aus Flickenteppichen hockte, in bunte Tücher gehüllt, eine zahnlose Vettel, schmauchte scheinbar gleichmütig an einer Tabakspfeife. Ich hätte sie übersehen, aber ihre Hand schoss unter den Tüchern hervor, grabschte nach mir und flüsterte beschwörend: "Schöner Herr, schöner Herr..."
Froh über die Ablenkung, stülpte ich rasch die Perücke auf und ließ mich, nur wenig widerstrebend, in ihr stickiges und enges Zelt zerren. Die Alte drückte mich auf einen blank gewetzten Schemel. Zwischen uns stand ein Tischchen, darauf eine gläserne Kugel, in der sich spitz das schwache Licht vom Zelteingang brach. Für einen Moment war das Draußen wohltuend ausgeschlossen.
Im Halbdunkel sah ich einen Schädel und einen ausgestopften Iltis. In einer Kupferschale mit glühender Holzkohle dunstete Räucherwerk.
Ich war verlegen und blaffte unwirsch: "Was gaffst du nicht wie alle?"
"Hab' viele sterben sehen."
Sie legte die Tabakspfeife zur Seite, kniff die Augen zusammen und heuchelte Konzentration. Ihre welken Finger umspannten die Kugel. Dann flüsterte sie schmeichelnd: "Ihr solltet vergnügt sein, junger Herr, ich sehe viel Geld, Reichtum und Frauen, schöne Frauen."
Geschwätz! Ich wischte es mit einer Handbewegung zur Seite, fragte: "Und die da im Feuer? Wo ist sie - jetzt?"
"Tot und verbrannt!"
"Hast du nicht Angst - eines Tages selbst als Hexe..."
Sie riss die Augen auf und lächelte dünn. "Ich bin alt und arm."
Gott, wie recht sie hatte - alt und arm, das lohnte nicht für die heilige Inquisition. Die Sache begann langweilig zu werden. Ich kramte nach einer Kupfermünze, warf sie der Alten in den Schoß und stand auf. Sie hielt mich jedoch am Rockschoß zurück. "Wartet!"
Offenbar spürte das raffinierte Weib, wie ernst es mir war, wie sehr mich der Tod des Mädchens berührte. Zu jener Zeit war es nicht schwer, mich zu beeindrucken. Ich war jung.
Als ich dem Anton Scheits später in Hannover für ein Porträt poussierte, fragte ich ihn, was an meiner Nase wohl so interessant sei, dass er sie malen wolle. Scheits lachte. "Euer Gesicht malt mein Pinsel so gut wie alleine - die große Nase, Euer rundes Kinn, die vollen Lippen. Nur Eure Augen, die machen mir zu schaffen. !n ihnen lese ich, mit Verlaub, eine gewisse, fortdauernde Unsicherheit, ein ewiges Fragen."
Damit mochte er Recht haben. Und die alte Vettel muss Ähnliches gespürt haben - meine Unsicherheit, mein Fragen. Sie blickte angestrengt in die Glaskugel, als käme daraus alle Weisheit der Welt. In Wahrheit versuchte sie aber nur, von dem heiklen Thema abzulenken: "Ich sehe mehr! Eine Reise, Ihr macht eine weite Reise, weit, bis in andere Länder."
Das machte mich nun doch neugierig. Mein Aberglauben war damals kaum geringer als meine Wissbegier. Ich hockte mich zögernd zurück. Was ich fragen wollte, war mir tatsächlich wichtig. "Und dieses Land?"
Sie begriff nicht, ich musste deutlicher werden: "Was wird aus Teutschland? Na?"
"Meint Ihr den Kaiser in Wien oder den Herrn Kurfürst zu Mainz?"
"Das Ganze, Weib! Die Menschen - mich - dich, Alte!"
Sie schluckte und starrte in die Glaskugel, suchte verwirrt nach einer freundlichen Antwort, gab endlich zu: "Dunkel, alles dunkel!"
Das wollte mir nicht mehr aus dem Kopf. Auch später nicht, auf dem Weg zur Herberge, in der ich Quartier genommen hatte.
Es dämmerte bereits. Ein feiner Nieselregen verschleierte die Gassen, und es roch erbärmlich nach Unrat. Überall schwamm Schmutz in den trüben Pfützen. Elegante Kutschen rollten vorbei, Pferdefuhrwerke. Die eisenbeschlagenen Reifen rasselten über die steinernen Kotrinnen. Reiter drängten ihre Pferde durch die Menge, die, angeregt vom Autodafé, vor dem Regen nach Hause flüchtete.
Vor meinem Quartier führten ausgetretene Stufen in eine Kaschemme, einem düsteren schmalen Kellergewölbe.
An den rohen Holztischen saßen ins Knöchelspiel vertiefte Handwerker, stumpf trinkende Bauern, Dirnen, Marktweiber. Der dicke Wirt begriff sofort, dass da, mit Perücke und manierlicher Kleidung, ein besonderer Gast eingetreten war. Er führte mich dienernd zu einer Nische, jagte die daran sitzenden Männer von ihren Plätzen, schob mir einen Stuhl zu und fragte beflissen: "Klosterbier, Wein vom Roten?"
Aber ich, ganz in Gedanken, forderte: "Tinte!"
"Tinte?" Der Dicke wischte unschlüssig mit seiner Schürze die Bierpfützen vom Tisch. "Und Federkiel, wenn ich bitten darf."
Ein paar Bogen Papier trug ich gottlob stets in der Jackentasche. Ich glättete sie mit dem Handrücken. Sie waren feucht geworden. "Ja, so", ergänzte ich endlich, "Wein und Zucker oder Honig!"
Da saß ich inmitten des Kneipenlärms und schrieb mir die Last und Aufregung des Tages vom Halse. Mit der Linken süßte ich den Wein, ohne das Schreiben zu unterbrechen. Zucker im Wein! Die Unart würde mich wieder Zahnschmerzen kosten. Die Feder flog kratzend über das fasrige Papier. Es war ein Brief an den Sohn des Magisters Jakob Thomasius, den verehrten Christoph, der später in Leipzig gegen die Scheiterhaufen der Inquisition wetterte und Lektionen in deutscher Sprache hielt.
'Dieser schreckliche Scheiterhaufen', schrieb ich, 'hat mit einem Schlag erhellt, wie dunkel es noch in teutschen Köpfen ist. Wir leben mit unseren Büchern und Schriftrollen und Disputen getrennt von allem, was in der Welt wahrhaftig geschieht. Ich habe erfahren müssen, dass alle Theorien um Recht und Moral nichts sind gegen das, was man von Angesicht sieht. Das arme Mensch ist verbrannt, und der Fiskus hat Hab und Gut seiner Familie konfisziert. Sind es nicht auf den Tag fast zwanzig Jahre, dass der wüste Glaubensstreit mit dem Frieden von Münster und Osnabrück sein Ende fand? Aber der Krieg lebt fort in den Hütten und Seelen. Was für eine Dunkelheit...'
Wochen später sollte die Wahrsagerin Recht bekommen. Ich erhielt eine Einladung, und mein Leben nahm eine entscheidende Wende...
Der Alte schweigt. Er sucht nach Worten, nach Bildern, die ihm helfen könnten, seinen Faden zu spinnen. Musjö Eckhart linst wartend vom Stehpult her. Es ist still im Zimmer. Im Kamin stöhnt der Novemberwind mit derben Stößen. Eckhart sieht, wie der Alte die schmalen Lippen zu einem Schmunzeln verzieht. Er hört ihn flüstern: "Ich stolperte über die Beine eines Kindes, eines sechsjährigen Mädchens - und in mein Schicksal."
Eckhart versteht nicht. "Was?", fragt er, "Ihr müsst deutlicher sprechen!"
Der Alte hebt endlich die Stimme, nachdenklich, als wollle er sich selbst befragen.
Ich stand, wie Ihr wisst, trotz meiner protestantischen Haltung seit einiger Zeit als Revisionsrat im Dienste des katholischen Kurfürsten Schönborn und war dem Freund und Gönner Boineburg von Nürnberg nach Mainz gefolgt.
Boineburg nun hatte mich zu sich gebeten. Das war nicht ungewöhnlich. Er bediente sich meiner oft als Sekretär. Wir hechelten den einen oder anderen Gedanken durch und frotzelten gern. Nach der Entlassung aus kurfürstlichem Dienst war Boineburg unabhängig und respektlos genug, das eine oder andere Wort von mir, dem um so viel Jüngeren, durchgehen zu lassen. Seine Einladung, von flüchtiger Hand geschrieben, verriet Eile. Es musste etwas Besonderes vorgefallen sein.
Als ich sein Palais betrat, kam mir von der oberen Etage des Treppenhauses Philipp Boineburg entgegen, der vierzehnjährige Sohn des Freundes. Philipp strauchelte über die Beine eines Kindes, eines Mädchens, das oben auf dem Treppenabsatz hockte, fing sich jedoch und fauchte wütend "Pardon!", ehe er die Treppe hinuntersprang und mich mit den Worten begrüßte: "Docteur, wir haben hohen Besuch!"
"Ist recht", entgegnete ich, "wenn Ihr mich nur melden wollt. Ich warte in der Bibliothek."
Ich stieg die Treppe hoch, und jetzt stolperte ich meinerseits über das vorgestreckte Bein der aufgeputzten Kleinen. Zu allem Überfluss lachte sie und krähte mit heller Stimme: "Pass auf, Dämel!"
"Selber Dämel!", knurrte ich.
Später wusste ich nicht zu sagen, ob ich so glücklich reagiert hätte, wenn meine Gedanken nicht bei dem bevorstehenden Gespräch gewesen wären. Dämel! Mein Gott, das waren die ersten Worte, die wir beide wechselten, und denen später so viele andere, glückliche folgen sollten. Dämel!... Vermutlich hat mir die kleine Rotznase damals reichlich verblüfft nachgeschaut.
In der Bibliothek stand nahe dem hohen Fenster ein kunstvoll verzierter Globus. Ich weiß noch, dass ich die lästige Perücke abstreifte. Boineburg, dachte ich, wird wieder das Gesicht verziehen, naturellement, aber die Perücke war zu nichts gut, höfische Mode, das reine Läusenest, sie juckt und drückt die Gedanken entzwei.
Auf seinem Schreibtisch lagen eine Anzahl gebundener Blätter - Blaise Pascals entlarvendes Traktat über die Jesuitenmoral: 'Es bleibt aber ein Widerspruch, ob es Gott gibt oder nicht, ob die Welt geschaffen wurde oder nicht. Jedoch, um die Menschen glücklich zu machen, ist es notwendig, dass es einen Gott gibt'. Sieh an, dachte ich, wenn unser gut katholischer Schönborn, der Kurfürst, wüsste, womit sich mein lieber Boineburg die Zeit vertreibt. Ich wollte mich schon in die Lektüre vertiefen, da wurde hinter meinem Rücken sacht die Flügeltür geöffnet. Dieses Mädchen schlüpfte herein und starrte mich schweigend, aber höchst interessiert, von unten her an.
Ich linste über den Pascal hinweg und fragte durchaus nicht freundlich: "Was willst du? Wer bist du?"
Die Kleine knickste auf höfische Art und schnurrte: "Sophie Charlotte, Prinzessin von Hessen-Darmstadt... Und du?"
"Leibniz."
"Und weiter?"
"Nichts! Nur Leibniz."
Das Kind nickte heftig und schmetterte vergnügt: "Dämel Leibniz!" Dann blinkerte es mit großen Augen zu mir hoch, lächelte und wartete auf eine Reaktion.
Das war mir denn doch zu viel. Ich kehrte der Kleinen unwillig den Rücken zu. "Geh spielen!"
Zugleich aber mahnte mich eine innere Stimme zu diplomatischer Besonnenheit. Dieser rosafarbene Naseweis, mit den ein wenig abstehenden Mauseöhrchen und im steifen golddurchwirkten fußlangen Kleid, war die Tochter des Osnabrücker Fürstbischofs Ernst August. Boineburg hatte wahrhaftig hohen Besuch.
Während ich noch am Überlegen war, ob ich mich auf eine längere Wartezeit einrichten sollte, hatte sich die Prinzessin meine Perücke geangelt. "Ist das deine?", fragte sie interessiert.
Ich setzte mich, nahm ihr die Perücke ab und hielt sie verkehrt herum. "Ein Vogelnest, siehst du, ein Nest für Krammettsvögel."
Die kleine Sophie Charlotte kicherte und zwängte sich zutraulich zwischen meine Knie. "Du gefällst mir!"
Was noch! Es war reichlich albern, dass ich mich geschmeichelt fühlte. Aber ich bemerkte, dass sie große dunkle Augen hat und streichelte flüchtig ihre Wange. "Sehr liebenswürdig."
Da entgegnete sie überraschend und mit hochgezogenen Brauen: "Schwatz nicht wie alle!"
Recht hat sie, dachte ich. Und ich wollte sie schon von mir schieben, da fragte sie unerwartet: "Bin ich schön?"
"Hässlich!"
Die Kleine nickte zufrieden. Ihrem Gesicht war anzumerken, dass sie lebhaft überlegte. Sie berührte mein Knie und fragte: "Ist es wahr, dass man noch alles fühlt, auch wenn ein Bein ab ist?"
Nun war ich doch überrascht. "Woher weißt du das?"
"Du hast es an meinen dicken Onkel Johann geschrieben, die - die Seele tut weh."
Was für ein merkwürdiges Kind! Tatsächlich gab es diesen Brief an den Herzog von Hannover. Ich hatte meine Vermutung über den lebendigen Kern in jeglichem Körper geschrieben, der so fein sei, dass er selbst in der Asche verbrannter Dinge noch vorhanden ist. Und als Beweis galt mir die Erfahrung, dass auch nach der Amputation eines Gliedes Empfindungen zurückbleiben.
Die Kleine blickte zu mir auf und fragte leise in mein Schweigen hinein: "Bist du jetzt traurig?"
Da ich den Kopf schüttelte, hob sie sich auf die Zehenspitzen, gab mir überraschend einen Schmatz auf die Wange und lief hinaus.
Ich gestehe, dass mich die kleine freche Gestalt verzaubert hatte - noch ein Kind und doch, was für Interessen!
Auf einmal aber entdeckte ich, dass meine Perücke verschwunden war. Wütend schlug ich auf den Tisch, "He, Prinzessin!" Ich sprang auf und eilte ihr nach.
Sie lief lachend vor mir her über den Flur. Die Perücke verdeckte ihr halbes Gesicht. Am Ende des Flures riss sie ungestüm eine Tür auf und verschwand dahinter. Ich folgte, was sonst, und - platzte mitten in die Gesellschaft.
Fürstin Sophie, die Mutter der kleinen Sophie Charlotte, Gemahlin des Osnabrücker Ernst August, war mit ihren Damen und Kavalieren in das gastfreundliche Haus Boineburgs eingefallen. Man saß in malerischer Gruppe, geschminkt, tief dekolletiert die Hofdamen, weiß gepudert die Herren, hatte heiter geplaudert und starrte mich jetzt an.
Sophie Charlotte war lachend und laut "Mama! Mama!" schreiend in die Arme der Mutter geflüchtet.
Ich murmelte leidlich hörbar: "Ich - ich bitte um Vergebung."
Freund Boineburg erhob sich mit einem Anflug von Unmut. "Leibniz! Nun, da Ihr einmal hier seid..." Er kam mir entgegen und führte mich am Arm in die Mitte des Raumes. "Fürstin, darf ich Ihnen Gottfried Wilhelm Leibniz vorstellen, Doktor der Jurisprudenz und ein Freund des Hauses Boineburg."
Die kleine Sophie Charlotte fuhr dazwischen: "Meiner! Er ist mein Freund!"
Die Damen und Herren schmunzelten hinler den Fächern und vorgehaltenen Händen. Fürstin Sophie, zu dieser Zeit noch eine schlanke, anmutige Frau, musterte mich amüsiert. "Man hat von Ihm gehört! Mein hannoverscher Schwager ist voll des Lobes. So jung, so geehrt und beinahe nackt!"
Natürlich, die Perücke! Ich bedeckte mit der Rechten meinen Schopf. "Vergebung, ich bin beraubt."
Auf einen Wink der Mutter gab mir die Kleine widerstrebend die Perücke zurück, drehte sich zur Fürstin hin und forderte mit energischem Stimmchen: "Können wir ihn mitnehmen, Mama? Ich will ihn haben!"
Damit war ich gemeint, und die Gesellschaft prustete laut heraus. Die Kleine stampfte wütend mit dem Fuß auf. "Ich mag nicht, dass man lacht, wenn ich es ernst meine!" Sie blickte mit gerunzelter Stirn zu mir her. "Lachst du auch?"
Nun, mir war, weiß Gott, nicht nach Lachen zumute. Ich wusste nicht, machten mich Verlegenheit und Ärger ernst, weil ich hier zur Disposition stand, weil das Früchtchen so über mich zu verfügen gedachte oder war es, weil mich dieses Kind auf seltsame Weise bezauberte. Ich verneigte mich also leicht. "Mit Respekt, Prinzessin - ich lache nicht!"
Am späten Abend, die Gesellschaft hatte sich endlich plappernd und kleiderrauschend verabschiedet, führte mich Boineburg zurück in die Bibliothek.
Er kramte auf seinem mit Papierrollen und Büchern vollgepackten Schreibtisch und erwähnte wie nebenher: "Die Fürstin ließ mich wissen, dass ihr Schwager, Herzog Johann Friedrich von Hannover, Euer Traktat über die Unsterbliclikeit der Seele mit Wohlwollen aufgenommen hat."
Da musste ich denn doch lächeln. "Der dicke Onkel Johann..."
Boineburg blickte erstaunt von seinen Papieren auf, und ich erklärte rasch: "Die kleine Prinzessin nannte ihn so."
"Nun, der 'dicke Onkel' bietet Euch einen warmen Platz an seinem Hofe." Das klang lauernd, Antwort heischend. Ich spürte, dass Boineburg aus irgend einem Grund auf den Busch klopft. Deshalb schwieg ich und wartete.
In der Bibliothek nisteten längst Nachtschatten. Ich zündete mit einem Fidibus Kerzen an. Ihr Schein hüllte den Raum in warmes Licht. Hannover! dachte ich. Es war ein Ort wie jeder andere. Freilich, Fürst Johann Friedrich machte mir Avancen -ein warmer Platz an seinem Hof! Aber den hatte ich auch hier in Mainz. Im gleichen
Augenblick, gewiss auch angesichts der brennenden Kerzen, fiel mir der Scheiterhaufen wieder ein. Wir hatten seither, wie in geheimer Übereinkunft, nie über das wüste Erlebnis gesprochen. Es war, als hätten wir uns jeglichen Gedanken daran verboten. Plötzlich aber fand ich. es sei Zeit, darüber ins Reine zu kommen.
Boineburg indes schob mir ein Papier zu. "Wir hatten Audienz bei Exzellenz Philipp von Schönborrn. Da! Lest!"
Ich wischte das Schriftstück zur Seite, achtlos. "Lest, lest! Ach, Boineburg! Hannover oder Mainz - wir leben in einem finsteren Land. Wahrhaftig! Uns trennen die Bücher und Dispute von allem, was da draußen wirklich geschieht! Spürt Ihr nicht, wie sehr es nach Fäulnis und Verwesung stinkt - in den Kellern der Inquisition, den Gassen, den Stuben."
"Bierstuben!" Boineburgs drahtige Gestalt spannte sich. Die Schatten des Kerzenlichtes vertieften die Falten in seinem Gesicht. Er stand auf und trat ans Fenster. "Woran bin ich mit Euch? Ich frage mich das oft in diesen Tagen. Gassen, Wirtshäuser, hundert Briefe in alle Welt. Am Ende habt Ihr eine rebellische Ader!"
"Ich?"
"Dann lest endlich, lest!"
Nun, ich war über den harschen Ton einigermaßen erschrocken und tat ihm den Gefallen. Aber was las ich da? Ich wollte es nicht fassen, schluckte und las noch einmal, gründlicher jetzt. Da stand wahrhaftig, dass das von mir und Baron Christian von Boineburg entworfene 'Consilium Aegyptiacum' gebilligt wird und ich, Leibniz, angehalten sei, dieserhalb unverzüglich nach Paris zu reisen und in geheimer Mission bei Seiner Majestät Ludwig XIV. Audienz zu erbitten.
Jetzt begriff ich, weshalb Boineburg so ungehalten auf Johann Friedrichs Annonce reagiert hatte. Er wollte sich die gute Nachricht nicht verderben lassen. Und eine gute Nachricht war es ganz ohne Zweifel. Was war mir Hannover, was Mainz! Ich sollte nach Paris!
Boineburg wusste, welche Freude er auslöste. Er nickte mir zu und ich, spontan und jungenhaft, umarmte den Älteren. Einen Atemzug lang spürte ich seine raue Wange an der meinen. Boineburg schob mich sanft zurück und tadelte leise: "Contenance, mon cher! Tatsächlich, lernt Euch zu beherrschen, Ihr sollt den mächtigsten Mann Europas beeinflussen. Nun, es wird Euch nicht gelingen. Immerhin, tut, was Ihr könnt. Und jetzt, in Gottes Namen, zur Sache!"
Das war leichter gesagt als getan. Ich war noch wie benommen. Und er: "Was steht Ihr herum, setzt Euch, setzt Euch!"
Ich suchte mir einen Stuhl vor dem Schreibtisch und zwang mich zur Konzentration.
Boineburg lief nervös vor mir auf und ab. "Wir haben Nachricht, dass man in Paris endgültig einen Überfall auf Holland plant. Ludwig will sich unserer Neutralität versichern, um seine Truppen über den Rhein und unser Territorium nach Norden zu führen. Wir sind also hineingezogen... Versucht das Menschenmögliche, um die Interessen des Königs weg von Teutschland und von Holland auf das ferne Ägypten zu lenken. Ihr bekommt Empfehlungen, Geld und einen zuverlässigen Diener. Alles andere ist Eurem Genie überlassen. Erspart unserem finsteren Land, wie Ihr sagt, einen neuerlichen Krieg, bringt Ludwig zur Räson!"
Er schwieg, wandte sich erneut zum Fenster und kehrte mir den Rücken zu. Plötzlich meinte er mit einer völlig anderen, leisen und müden Stimme: "Glaubt doch nicht, dass die Gräuel der Inquisition an - an meinem Gewissen vorübergehen... Es gibt Momente im Leben, schreckliche Momente, wo man das eine Übel gegen das andere abwägen muss. Mein Gewissen, lieber Freund, steht gegen die Tatsache, dass wir im Lande Frieden brauchen. Soll ich bei Exzellenz, dem Kurfürsten, gegen die Verbrennung des Mädchens, gegen den Hexenwahn intervenieren oder zu aller Nutzen auf eine Verständigung mit Ludwig dringen...?"
"Beides!", wagte ich einzuwenden.
Boineburg lachte auf, verbittert, und fuhr herum. "Um, außer dem Zorn kurfürstlich-katholischer Gnaden, am Ende gar nichts zu erreichen? Nein, mein Lieber, beides haben zu wollen hätte geheißen, nichts zu bekommen."
Er setzte sich hinter den Schreibtisch. "Ich wünsche Euch, dass Ihr nie in solche Zwänge geratet, aber das Leben... Ach was, lassen wir das!"
Er verstummte, blickte auf seine Hände und lächelte scheu. "Übrigens bitte ich Euch nebenher um eine Gefälligkeit, die mein Haus betrifft."
Ich ahnte sofort, worauf er hinaus wollte. Boineburg versuchte seit langem, an ausstehende Pachtsummen und eine Pension, die ihm Frankreich schuldete, heran zu kommen. Jetzt erhoffte er sich in mir einen willkommenen Eintreiber. Und so war es auch. Boineburg sprach des Langen und Breiten über die Summen und über Vollmachten, die er mir ausstellen wollte.
"Aber das passt trefflich!", entgegnete ich. "Wenn der Kurfürst Wert auf Geheimhaltung unseres ägyptischen Planes legt, dann reise ich offiziell und ausschließlich wegen Eurer Forderungen!"
Boineburg legte sich zurück und lächelte mir zu. "ihr begreift rasch - wie stets." Er erhob sich, kam um den Schreibtisch herum auf mich zu. "Die Zeit drängt, Ihr müsst so schnell wie möglich aufbrechen - bon voyage, mein Lieber, bon voyage!"
"Gute Reise!" Der Alte hält ein. Er ist abgespannt, (das Diktieren strengt an, der Mund ist trocken und die Knie schmerzen. Er dreht den Kopf zu Eckhart hin. "Die Beine! Wie geht das zusammen?", fragt er. "Ich rede mit dem Maul und die Beine lassen's mich spüren. Eins hängt vom anderen ab... Gib Wein!"
Eckhart will nach Magda klingeln. Aber der Griesgram brummt: "Lass! Mach du!"
Eckhart greift mit spitzen Fingern nach dem klebrigen Becher und gießt aus der Karaffe auf dem Kaminsims Wein nach. Auf dem Sims liegen Bücher, und alles, außer der Karaffe, ist mit Staub bedeckt.
"Zucker!"
Eckhart gibt auch noch Zucker hinzu. Er hält den Atem an, der Alte riecht erbärmlich aus dem Mund und stinkt nach Schweiß.
Hinter den Butzenscheiben dämmert der Morgen. Das Öllämpchen ist fast leergebrannt. Eckhart wirft ein paar Holzscheite auf das verglimmende Kaminfeuer und wischt die Hände an den Hosenbeinen ab. Seine Füße brennen vom Stehen am Pult. Er hockt sich leise seufzend auf die Erkerbank.
Der Alle raunzt zuischen den geschlürften Schlucken: "Unvorstellbar, dass es aufhören soll!"
Eckhart missversteht. "Es muss aber", meint er mit verhaltenem Zorn. "Wir haben vier Federkiele verbraucht. Ich kann nicht mehr gerade stehen."
Der Alte ist jedoch harthörig. "Das halbe Leben habe ich in Kutschen verbracht. Mein Körper hat sich durch Raum und Zeit bewegt. Und eigentlich weiß ich noch immer nicht, was das ist - Zeit. Sie ist da, sie frisst an meinen Knochen, an meiner Haut, sieh her!" Er kichert, hält sich die gichtigen Finger dicht vor die Augen. "Sie ist da und doch unsichtbar wie die Seele."
Der leere Zinnbecher scheppert zu Boden. Eckhart ist zu müde, um sich zu bücken. Er gebt an dem Alten vorbei, der ihm nachkrächzt: "Morgen, hörst du, bis morgen! Komm nicht zu spät!"
Eckhart schlägt die Tür zu.
Am anderen Tag scheint die Sonne durch die Butzenscheiben. Der kalte Wind hat sich gelegt. Die Eisblumen an den Fenstern tauen allmählich und lösen sich in Tränen auf.
Magda bringt in der hochgerafften Schürze Holzscheite und wirft sie polternd vor den Kamin. Davon wird der Alte munter. Er richtet sich fröstelnd auf. Das Feuer täuscht Wärme nur vor. Magda zieht ihm die wollene Decke bis zum Kinn hoch und stopft das andere Ende schweigend unter seine Füße. Dabei fragt er quengelig: "Eckhart! Wo steckt er?"
"Wird schon kommen!'', beruhigt Magda. Sie zieht sich einen Stuhl heran und hält ihm die Zinnschale mit heißem Haferbrei unter die Nase. Aber er dreht den Kopf unwillig zur Seite. Da steht sie wortlos auf und lässt ihn allein.
Der Alte liegt und sinniert, in Gedanken sieht er sich noch einmal in dieser schaukelnden Kutsche auf dem Weg nach Frankreich. Es war seine erste Reise in ein fremdes Land. Boineburg hatte ihm großzügig Wagen und einen wegkundigen Kutscher überlassen. Merkwürdig, denkt er, wie doch die törichtsten Umstände nach so langer Zeit wieder leibhaftig ins Gedächtnis fallen.
Damals gab es neben der möglichen Audienz bei Ludwig XIV., neben der Intervention in Boineburgs finanziellen Angelegenheiten eine dritte Sache, die ihn ehrgeizig mehr als alles andere bewegte: der Entwurf seiner Rechenmaschine, mit der er sich bei Christiaan Huygens. dem Direktor der Pariser Académie des sciences ins rechte Licht zu rücken hoffte. Überdies waren die französischen Handwerker ob ihrer Fingerfertigkeit berühmt. Es war kein übler Gedanke, ein perfektes Modell fertigen zu lassen und es neben Huygens auch dem französischen Finanzminister Colbert zu präsentieren.
Ihm wird warm unter der Decke. Wenn er sich nicht bewegt, ist er beinahe schmerzfrei. Das Feuer im Kamin prasselt und wirft wilde Lichtreflexe gegen die hohen Bücherregale.
Er erinnert sich nicht ungern an die Reise. In der Frühe lag noch dichter Nebel über dem Rhein, Die Wegränder im Tal waren mit weißen Blumen übersät, und gegen Mittag zu roch es betäubend süß nach Frühling.
Trotz der rüttelnden Fahrt versuchte er, in einer Schrift von Descartes zu lesen, gab es aber bald auf. Er hatte die Perücke zwischen die Seiten geklemmt und zu schlafen versucht. Lange Zeit gelang ihm das nicht, die Gedanken spazierten ungeordnet in seinem Kopf umher - wie würde ihn Paris empfangen? Den Umgang mit hohen Persönlichkeiten war er von Mainz her gewohnt. Wie aber würde eine Begegnung mit dem Sonnenkönig. mit Roi de Soleil, dem mächtigsten Mann Europas, ausgehen? An seiner Friedensmission zweifelte er, Leibniz, nicht einen Moment. Aber doch an ihrem Gelingen. Vor ihm lagen eine ungewisse, beunruhigende, zugleich aber hoffnungsreiche Zukunft und das unbekannte Paris. Durch seine ungeübten Sinne spazierten damals üppige Frauenzimmer mit prallen weißen Brüsten, die wie Sommeräpfel im Dekolleté steckten. Und, närrisch genug, wenn er nach ihren Gesichtern forschte, blickte ihn das Frätzchen der kleinen Rotznase Sophie Charlotte an.
Auf dem Hunsrück wehte ein scharfer Wind, einmal schneite es sogar und er fror. Talwärts tauchte eine Wüstung aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges auf. Sie fuhren auf der ehemaligen Fluchtroute Manusfeldscher Söldner, nach deren schrecklicher Niederlage gegen Tilly und Spinola.
Er befahl dem Kutscher zu halten, warf sich ein Plaid um die Schultern und schritt kräftig neben der langsam fahrenden Kutsche aus. Christoph, der von
Boineburg versprochene Diener, ein wahrer Hüne, an den er sich erst noch gewöhnen musste, marschierte mit verschlossener Miene neben ihm her.
Gegen Vesper zügelte der Fuhrmann die Pferde und wies mit der Patsche zum Horizont hin.
Zu ihren Füßen, an den Hufen der dampfenden Pferde vorbei, sahen sie tief unten die sich silbern windende Mosel. Bald danach tauchten die Türme des Doms zu Trier auf.
Im Tal nahm die Wärme wieder zu. Am Ufer der Furt tummelten sich kurpfälzische Soldaten, tränkten ihre Gäule. Es roch nach Schlick und Pferdeschweiß.
Er erinnert sich an den uralten, kreuzkrummen Bettelmönch in fadenscheiniger und fleckiger Kutte. Sein junger Begleiter bat zum Kutschbock hinauf, man möge sich um Christi Willen erbarmen und beide mitnehmen, damit sie trockenen Fußes ans andere Ufer kämen. Diener Christoph, der neben dem Kutscher saß, lachte und rief, sie sollten es doch ihrem Nazaräer gleich tun und übers Wasser gehen.
Da hatte er unwillig den Kopf durchs offene Fenster geschoben und die Beiden eingeladen, zu ihm ins Coupé zu steigen. Der Junge kletterte auf die hintere Achse, während der Greis schnaufend und danklos im Wagen Platz nahm. Auf die Fragen, ob er von den Franziskanern sei und wohin der Weg sie führe, gab es keine Antwort. Er, Leibniz, um Höflichkeit bemüht, ergänzte: "Ich bin protestantisch, müsst Ihr wissen. Es ist mir lieb, Euch behilflich sein zu können."
Die Mosel floss dunkel und schwer wie Blei unter den Rädern hin. Der Krumme schaute durchs Fenster und mummelte zahnlos und in sich gekehrt: "Es ist still im Land. So still wie anno achtzehn, als in Böhmen der große Krieg begann. Der Herr sei uns gnädig." Dann schwieg er wieder, schwieg auch, als er am jenseitigen Ufer aus dem Wagen stieg und mit dem Jungen davonging, ohne sich noch einmal umzuwenden
Seine Worte aber klangen lange nach und schreckten. Krieg war überall. Noch immer standen sich im Osten die Kaiserlichen und die Türken gegenüber. Und vom Westen her drängte Ludwig XIV. nach Teutschland. Wahrhaftig, die Stille im Land war zum Fürchten.
Eckhart kommt auf leisen Sohlen, wie es seine Gewohnheit ist, steht plötzlich vor dem Alten und dienert mit süffisantem Lächeln. "Ist spät!", knurrt der Alte.
Sie reden dies und das, bis sich Eckhart seufzend an das Schreibpult bemüht. Der Alte kann die Augen schließen und diktieren.
Die Grenze nach Frankreich hinein passierten wir am dritten Abend. Noch vor Metz nahmen wir Nachtquartier.
Diener Christoph lud ich an meinen Tisch in der Wirtsstube. Mir lag daran, mit ihm auf gutem Fuß zu stehen, zumal er, wie ich rasch herausgefunden hatte, ein lebenswacher, auf seine Weise empfindsamer Mann war. Der Kerl mit Knubbelnase und kräftigem Kinn hatte offensichtlich Spaß an Spötteleien. Bei den Speisen langte er tüchtig zu und schmatzte voller Behagen. Um das Gespräch in Gang zu bringen, fragte ich ihn nach Herkunft und Alter. Er gab zurückhaltend Bescheid, und wir stellten mit Vergnügen und allein an der Art zu sprechen fest, dass wir beide just im sächsischen Leipzig zur Welt gekommen waren. Freilich war unsere Herkunft von so unterschiedlicher Natur, dass man sich einen größeren Gegensatz kaum vorstellen konnte.
Ich komme aus einem frommen Gelehrtenhaus. Seit dem achten Lebensjahr stand mir die väterliche Bibliothek offen, und ich griff mit glücklicher Hand nach jenen Büchern, die den Geist fordern und formen.
Christophs Eltern aber starben in Leipzig unter der Hand marodierender Tilly-Söldner.
"Ich war grad von Mutters Brust weg", Christoph grinste breit, "und wie's so geht, ich wuchs bei Vaters Bruder auf, einem Tagelöhner. Da hatte ich zwei Ochsen zum Herrn. Der eine soff und prügelte, mit dem anderen teilte ich zur Nacht den Stall."
Ich fragte ihn rundheraus, wie es bei ihm mit Lesen und Schreiben stünde.
Der gute Christoph lehnte sich zurück und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Ich wollte meine Neugier schon bereuen, da lachte er mir ins Gesicht. "Ich schreib so gut, wie Ihr mit einem Ochsen zu pflügen versteht."
"Bei Gott!", ich stimmte befreit in sein Lachen ein, "du bringst mir das eine bei und ich dir das andere!"
In diesem Moment, ehe Christoph halb im Ernst protestieren konnte, trat, vom Obergeschoss kommend, eine schlanke Frau in die Wirtsstube. Obwohl sie allein blieb, spürte ich doch, dass sie aus gehobenem Stande kam. Sie nickte mir im Vorbeigehen zu, grüßte leise "Bonjour!" und ließ sich abseits an einer Tafel nieder. An unserem Tisch aber blieb eine feine Wolke Parfüm hängen, die meine Nase kitzelte.
In meiner Verwirrung muss ich ein recht blödes Gesicht gezogen haben, denn Christoph grinste mir zu und raunte: "Bei meiner Seele, so riechen Weiber und der Teufel."
Ich wäre gut beraten gewesen, auf Christoph zu hören, dachte aber an alles Mögliche, nur nicht an den Teufel, hob mein Weinglas und musterte die Fremde aus den Augenwinkeln. Sie war gewiss um zwei, drei Jahre älter als ich, aber ohne alle Zweifel schön. Ihr ernstes, trotz des Lockenkopfes ein wenig strenges Gesicht bekam hinreißende Grübchen, wenn sie mit dem Wirt sprach. Gewiss wäre es ein Leichtes gewesen, über den Wirt ihre Bekanntschaft zu machen, aber was den Umgang mit Frauenzimmern betraf, nun, das war ein Gebiet, auf dem diesmal ich weder lesen noch schreiben gelernt hatte. Zudem beugte sich Christoph über den Tisch und brummte spöttisch: "Maitre, Ihr vergafft Euch, wie?"
Der Zufall spielt, wie ich damals meinte, mit dem Leben, als könne er alle Gesetze außer Kraft setzen. Ich begriff noch nicht, dass der Zufall selbst einem Gesetz gehorcht. Eine halbe Tagesreise vor Paris begegneten wir der Dame abermals und das auf recht abenteuerliche Weise.
Unsere Kutsche wollte soeben die schmale Brücke über einen Mühlenbach passieren. Von der Mühle selbst war nicht mehr viel übrig, aus mannshohem Unkraut ragten steil nur noch der Schornstein und ein paar Mauerreste auf. Plötzlich knallten Schüsse. Die Pferde zogen jäh an und kamen danach unmittelbar auf der Brücke zum Stehen. Ehe ich erkunden konnte, was geschehen war, wurde mein Wagenschlag aufgerissen. Ein junger Mann mit blutrotem Schmiss über Stirn und Wange bedrohte mich mit einem Terzerol und zerrte mich wortlos aus der Kutsche.
Ich strauchelte, richtete mich auf und schlug, gewiss weniger aus Mut denn aus Angst und heißer Wut, unerwartet kräftig zu. Der Bandit brach rücklings durch das morsche Brückengeländer und landete in dem mit Entengrütze zugewachsenen Graben. Im gleichen Augenblick hing mir ein zweiter Strolch am Hals und begann mich zu würgen. Christoph sprang, mich zu befreien, vom Kutschbock, und wir fielen alle drei lang in den Straßenstaub. Im gleichen Augenblick stürzten schreiend, ihre Pistolen in die Luft feuernd, mehrere Kerle aus dem Gebüsch. Die Sache wäre, wie ich später glauben wollte, übel für uns ausgegangen, wenn da nicht mit hohem Tempo eine Equipage von der Landstraße hergekommen wäre. Ihr baumlanger Kutscher fuhr brüllend unter die Kerle. Aus dem Innern der Equipage stürzte, jetzt frag nicht nach dem Grund, die Unbekannte von der Herberge und prügelte mit einer Reitpeitsche so entschlossen um sich und auf die Wegelagerer ein, dass sie wie auf Kommando davonliefen.
Überfall und Rettung gingen so rasch vorüber, dass ich kaum zur Besinnung kam. Benommen rappelte ich mich auf und sammelte Bücher und Papiere auf, die aus der Kutsche gefallen waren.
Die Frau stand am Rande der Brücke, schnippte die Reitpeitsche zwischen den Händen und suchte sich zu beruhigen. Einigermaßen amüsiert, beobachtete sie den von mir abgefertigten Kerl mit dem Schmiss, der sich oberhalb des verfallenen Wasserrades aus der Entengrütze zu befreien suchte. Christoph war vor mir der Sprache wieder mächtig und wollte ihr mit einer artigen Verbeugung danken. "Madame!"
Die Schöne warf ihm, während sie auf mich zulief, einen kurzen Blick zu und korrigierte: "Mademoiselle!" Ich hörte das sehr wohl.
Christoph rief ihr nach: "Auch gut, Mademoiselle, und, doppelt gesagt, auch gut gemacht! Aber die Galgenstricke hätten wir gewiss alleine zu den Fröschen geschickt!"
Während ich mir die Kleider abklopfte, wies ich Christoph zurecht und versuchte, gegen die Fremde gewandt, einen Bückling. "Excusez, Mademoiselle, mein Diener ist so vorlaut wie alle Helden."
Sie schenkte mir ein Lächeln, ein erstes Lächeln. "Man hätte Euch töten können."
Der ausgestandene Schreck und nun die leibhaftige, von der Bataille noch erregte Schönheit vor Augen - ich stotterte und schwitzte vor Verlegenheit. "Euer Eingreifen - wir sind zu Dank verpflichtet. Wenn Sie eh, mir erlauben..." Ich machte mich bekannt, verriet Namen und Herkunft und ergänzte, dass ich auf dem Wege nach Paris sei.
Die Schöne hob ihre schmalen Brauen. "Mon dieu, was für eine Fügung. Wir haben das gleiche Ziel!" Sie neigte um ein Geringes den Kopf und erwiderte meine Vorstellung: "Comtesse de Villette, Francoise de Villette." Auf ihren Wangen erschienen die Grübchen. "Macht mir das Vergnügen und vertreibt mir Zeit und Weg in meiner Equipage."
Meine Ohren glühten. ,Je suis tout votre!" Ich führte die Comtesse zur Equipage und eilte zur eigenen Kutsche zurück, um mit Christophs Hilfe unser leichtes Reisegepäck umzuladen.
Christoph reichte mir etliche Bücher und die Mappe mit Papieren und flüsterte mir zu: "Im Vertrauen, die Madame gefällt mir nicht"
Ich flüsterte wirsch zurück: "Im Vertrauen - du hältst den Mund und machst dich mit dem neuen Kutscher bekannt!"
Hätte ich damals auf seinen Witz gehört, auf seinen naiven Verstand, ich hätte mir in der Zukunft viel Ungemach erspart. Im Augenblick aber war ich auf nichts anderes aus als auf die Gesellschaft der aufregenden Francoise de Villette.
Mein eigener Kutscher, ein Domestik Boineburgs, der sich während des Überfalles in die Büsche geschlagen hatte, tauchte mit schuldbewusster Miene auf und schien erleichtert, dass die Reise für ihn auf dieser Brücke zu Ende ging, dass ich ihn retour nach Mainz schickte.
Während sich Christoph brummend neben den baumlangen Kutscher der Equipage bequemte, stieg ich mit klopfendem Herzen zur Comtesse ins Coupé.
Wir waren kaum einige Meilen unterwegs, da erlag ich bereits den geschickten Fragen der Comtesse. Sie hatte sich interessiert nach meiner Arbeit erkundigt. Und ich geriet sofort in Eifer. Auf meinen Knien und verstreut auf den Polstern lagen bald Manuskripte und die Entwürfe meiner Rechenmaschine. "Mit diesen Rädchen, sehen Sie, kann man alle vier Grundrechenarten ohne jede Anstrengung durchführen."
Während ich noch schwätzte, hatte die Villette begonnen, ungeduldig unter meinen ausgebreiteten Schriften und Zeichnungen zu kramen. Irritiert fragte ich: "Was suchen Sie, Comtesse?"
Sie lachte amüsiert. "Ihr habt unter all Euren Theorien meinen Proviant vergraben."
Unter den Papieren kam ein samtenes Etui zum Vorschein. Francoise öffnete es wie eine kleine Kostbarkeit. Es verbarg eine mit feinem Silberdraht verschlossene Flasche und zwei geschliffene Gläser.
Wein war mir bisher nur in Krügen begegnet. Ich lachte erstaunt. "Aber! Ihr habt den Wein eingesperrt?"
"Vin de Champagne! Nun?" Sie drückte mir die Flasche in die Hand. "Wir sind bald am Ziel. Das ist Grund genug, auf unsere Bekanntschaft zu trinken."
Da ich die verdrahtete Flasche unschlüssig in der Hand drehte, nahm sie mir die Comtesse ab und machte sich an dem Verschluss zu schaffen. "Ach, ihr teutschen Barbaren!", tadelte sie scherzhaft. "Monsieur baut für Colbert einen Apparat, der von alleine rechnet, aber er kann keine Champagnerflasche öffnen! Es ist eine Erfindung von Pater Pérignon aus der Abtei Hautvillers. Und ich gestehe, dass mir sein Opus vertrauter ist als das Eure."
Der Korken schoss mit leisem Flop aus dem Flaschenhals, und der Wein schäumte über die Papiere. Die Comtesse lachte hell auf, während ich meine Notizen zu retten suchte.
Es war mein erste Bekanntschaft mit Champagner. Er schmeckte sauer und prickelte auf das Unangenehmste in der Nase.
Der Himmel verdunkelte sich noch vor Abend, von fern grollte Donner. Eine Gewitterfront zog im Tal der Marne auf Paris zu. Die ersten, schweren Tropfen fielen, als wir durch Chelles fuhren.
Das Gewitter ging in einen andauernden Regen über. Da erwies es sich als überaus angenehm, dass die Kutsche mit gläsernen Fenstern ausgestattet war. Der Regen planschte gegen die Scheiben und trommelte anheimelnd auf das Dach. In der Enge des Coupés war es warm. Die sanften Schatten der Dämmerung hüllten die Comtesse wie in einen Mantel. Ihre Augen dunkelten über den Rand des Champagnerglases, als sie sich zu mir hinbeugte. "Nun. Monsieur, machen Sie mir die Freude - nennen Sie mich Francoise."
Vor den Fenstern tauchten die ersten niedrigen, wie hingeduckten Häuser von Paris auf. Da hielten wir unvemittelt. Rufe schallten. Der Kutscher parierte die
Pferde bis dicht an den Straßenrand. Wir blickten, die Gesichter so nahe aneinander gerückt, dass ich Francoises Atem an meiner Wange spürte, durch das Wagenfenster.
Über die schlammige Landstraße trabte ein Zug Garde zu Pferd. Der Garde nach schlurfte mit hängenden Köpfen eine lange Kolonne von Soldaten mit Kanonengespannen.
Es war nicht schwer zu erraten, dass da der künftige Krieg marschierte. Besorgt und mit dem Gefühl, zu spät zu kommen, meine Mission nicht mehr erfüllen zu können, horchte ich auf die schmatzenden Schritte, auf das dumpfe Rollen der Gespanne. In rasch gefasstem Entschluss brach ich mein Versprechen, die Sache geheim zu halten. Ich wandte mich der Comtesse zu und raunte verschwörerisch: "Francoise!"
"Cheri?" Die Comtesse beugte sich zu mir. lhr weißer Busen schimmerte im Dämmerlicht so verführerisch nah, dass ich einen Moment irritiert schwieg. Ich schluckte und gestand: "Meine Rechenmaschine ist nur die halbe Wahrheit - die ganze ist, in meinem Gepäck befindet sich eine dringende Adresse für Euren König." Und vorsichtig ergänzte ich: "Sie sehen selbst - die Soldaten!.. Es ist - Ich muss den König sprechen und zwar rasch. Können - können Sie mir dabei behilflich sein?"
Statt einer Antwort zupfte Francoise an ihrem Dekolleté. "Ihr habt Eure Finger offenbar überall, Monsieur Leibniz, nur da nicht, wo ihr sie haben solltet."
Wir schwiegen beide. Die Equipage ruckte an, der Soldatenspuk war vorüber, und die Fahrt ging weiter.
Vor dem Fenster wuchs ein schwarzes, abweisendes, von wuchtigen runden Türmen gesäumtes Mauerwerk über die umliegenden Häuser. Das Regenwasser platschte auf den morastigen Platz.
"Die Bastille", flüsterte Francoise, "man kommt leicht in eines ihrer cachots und ums Leben schwer wieder heraus." Sie lag in ihrer dunklen Ecke, nur die Augen waren zu erkennen und der helle Ansatz ihres Busens. Und jetzt endlich bequemte sie sich zu einer Antwort: "Demnächst gibt Marquis de Pomponne, unser Außenminister, einen Ball. Majestät wird gewiss anwesend sein. Ich will sehen, dass Ihr eine Einladung erhaltet."
Nahe der Tuileries, an der Pont Neuf, bat ich sie, vor einem kleinen Hotel zu halten. Ich verabschiedete mich mit einer Hast, über die ich mich noch ärgerte, als ich um Mitternacht in meinem schmalen Bette lag.
Die folgenden Tage mühte ich mich um Wohnung und fand, dank der Mainzer Empfehlungen, bald ein ansprechendes Quartier dicht bei der Porte St. Denis, an der freilich noch lärmend gemauert wurde.
Während ich mich wegen der boineburgschen Pensionsansprüche mit subalternen Finanzbeamten stritt, suchte Christoph in meinem Auftrag nach einem gediegenen Handwerker, der die Entwürfe meiner Rechenmaschine zu lesen und in ein brauchbares Modell umzusetzen verstand.
Eines Abends erhielt ich auf feingeschnittenem Billett eine Einladung zum Ball des Außenministers Pomponne. Die Comtesse hatte Wort gehalten. Das freilich stürzte mich in einige Verlegenheit - für einen Hofball war ich nicht mit angemessener Kleidung versorgt. Nun gut, in derlei Dingen war ich wenig empfindlich, genauer gesagt, völlig interesselos. Aber Christoph grinste mich an und meinte: "Ich will Euch gewiss nicht kujonieren, Maitre, aber ihr kommt daher wie eine graue Maus aus Teutschland". Das hat mich, der Comtesse wegen, doch gewurmt.
Francoise kam mir jedoch im Vestibül des Palais ungemein herzlich entgegen und führte mich in den Saal. Von einer Empore tönten Streichmusik und die dumpfen Schläge des Dirigentenstockes in der Hand des Maitre Lully. Die hohen, kunstvoll mit Spiegeln verkleideten Wände, die kristallenen Lüster und Kronleuchter warfen den Schein der Kerzen tausendfach zurück. Frauen wie Männer waren in bunte Farben gehüllt, die Herren in eng anliegende blaue oder rote Oberröcke mit weiten, prahlerischen Aufschlägen, die adligen Damen in schwere rosa- oder gelbfarbene, tief dekolletierte Kleider. Da kam ich mir in meinem dunklen Habitus, Allongeperücke, Kniehose und Jackett mit steifem Jabot doch recht teutsch und armselig vor. Man stand plaudernd in Grüppchen oder schritt fächerwedelnd mit gemacht zierlichen Schritten übers Parkett. Über den Köpfen hing eine Dunstglocke aus Schweiß und süßlichem Puder.
Ein weißgeschminkter Galan, der intensiv nach Knoblauch stank, meinte ergriffen: "Was für ein Glanz!"
Francoise hauchte mir eine Entschuldigung ins Ohr und verschwand in einer der hohen samtverhangenen Fensternischen, weil sie pissen musste.
"Diese Spiegel, Monsieur", antwortete ich dem Knoblauchfresser mit abgewandter Nase, "diese Spiegel mit all den Kerzen spiegeln sich selbst wider. Diese wiederum spiegeln alles erneut. So geht die Spiegelei fort bis ins Unendliche. Merkwürdig," ich versuchte zu lächeln, "und eine sehr menschliche Eigenschaft, nicht wahr?"
Der Galan blinzelte verdutzt, stammelte: "Gewiss, gewiss..." und tauchte eilig im Reigen der anderen unter. Da war ich ihn los.
Francoise teilte den Fenstervorhang, stellte ihr Glas neben andere längst gefüllte Gefäße, ordnete ungeniert ihre Kleidung und wies mit dem geschlossenen Fächer zur Saalmitte hin. "Da ist der Marquis! Kommen Sie, wenn Ihnen daran gelegen ist."
Sie zog mich am Ärmel. Ich aber widerstrebte: "Sie haben mir den König versprochen!"
"Majestät haben abgesagt. Schade, er ist ein so guter Tänzer."
"Abgesagt? Was soll ich dann hier?"
"Or çà!" Franchise funkelte mich an. "Haben Sie erst eine Stufe, folgt leicht die zweite nach! Und jetzt keinen Skandal, ich bitte! Man beobachtet uns!"
Tatsächlich hatte sich eine schmale Gasse gebildet, von deren Ende Armauld de Pomponne und ein beleibter Herr in dunkler Kleidung und breiter Schärpe herschauten. Ich musste wohl oder übel folgen.
"Exzellenz!" Francoise zeigte ihre Grübchen.
Pomponne neigte den Kopf. "Ah, Comtesse de Villette! Ich möchte Sie mit dem Earl of Stair, Sir John Dalrymple, dem Vertreter seiner englischen Majestät, bekannt machen."
Francoise erwiderte leichthin die Honneurs des Beleibten und wandte sich wieder Pomponne zu. "Exzellenz, ich bringe Ihnen hier den sehr ehrenwerten Docteur Leibniz aus Teutschland und", sie zögerte schelmisch, "hätte ihn gern schnell zurück!"
Man lächelte verständnisvoll. Der dicke Earl aber riss die Augen auf. "Doch nicht Gottfried Wilhelm Leibniz, der Verfasser der 'Hypothesis physica nova'?" Er hob entzückt die Hände und spreizte seinen fetten kleinen Finger ab. "Sie sehen, ich bin im Bilde!" Er beugte sich zu Arnauld Pomponne hin. "Vor Ihnen, verehrter Minister, steht strictement personnel ein Mann, dessen Talent von unserer königlichen Akademie zu London hoch geschätzt wird."
Oh, ich fühlte mich geschmeichelt und einigermaßen gut aufgehoben. Mir gelang ein Kratzfuß, und ich fragte Pomponne: "Exzellenz sind gewiss ein naher Verwandter des streitbaren Antoine Arnauld?"
Der Marquis machte eine vage Bewegung. "Auf distance, Verehrter, auf distance."
"Ich hoffe, an der Sorbonne mit ihm debattieren zu können."
Im gleichen Augenblick bereute ich meine Bemerkung. Nicht genug, dass ich vergaß zu warten, bis der Marquis mich ansprach, ich hatte ihn auch noch brüskiert. Das alte Lied, ich verstieß gegen das Zeremoniell und, schlimmer noch, ich blieb nicht im Unverbindlichen. Schließlich hätte ich wissen müssen, dass der ungehorsame Jansenist Arnauld schon aus politischen Gründen mit dem Außenminister über Kreuz stehen würde. Und der dicke Earl legte noch zu: "Sehr interessant! Darf man nach dem Thema fragen?"
Nun, da es heraus war. versuchte ich ohne Umschweife auf mein Anliegen zu kommen. "Der Krieg! Seine Ursachen, die schreckliche Spaltung des christlichen Glaubens."
Der Earl lächelte frostig. "Der Krieg? Wie das? Ist Krieg neuerdings eine Sache der Philosophen?"
"Der Menschen, mit Verlaub - und das seit altersher!", entgegnete ich einigermaßen brüsk und wandte mich erneut an Pomponne. "Deshalb wage ich auch, vor Ihnen zu stehen, ich möchte Ihrer Allerchristlichsten Majestät untertänigst eine wohlaffektionierte Überlegung antragen."
Pomponne hob die Brauen, griente mokant und erwiderte: "Majestät pflegen selbst zu überlegen, verehrter Docteur. Aber wenn Ihnen an einer Audienz gelegen ist, stehe ich, schon um der Comtesse de Villette einen Dienst zu erweisen, gern zu Ihrer Verfügung."
Nun, da hatte ich also die erste Stufe erklommen. Das schien mir doch ein Anfang zu sein.
Zu späterer Stunde bestand Francoise darauf, dass ich sie begleite. Sie wohne hier im Palais, vertraute sie mir flüsternd an, unter dem Dach sei ihr Stübchen.
Sie hatte etwas zu viel vom Wein getrunken, kicherte unentwegt, und ich musste sie am Ellbogen die bald enger werdenden Stufen nach oben führen. Ich gestehe, dass ich vor Aufregung schwitzte und mich mühte, nicht daran zu denken, was mich erwarten könnte.
Das Stübchen erwies sich als kümmerliche Dachkammer mit schrägen Wänden. Am erloschenen Kamin standen ein Sesselchen und ein schildpattverzierter Schrank. Gleich neben der Tür befand sich ein ebensolches Tischchen mit einem hohen Spiegelaufsatz. Dominierend allein war das breite Bett, auf dem allerlei Kleidungsstücke lagen.
Als Student, von Neugier gedrängt, hatte ich gelegentlich in den Gassen Jenas und später in den Waldungen des nahe bei Leipzig gelegenen Rosenthals, die flüchtige Bekanntschaft von Weibspersonen gemacht, aber einer Mademoiselle, einer Comtesse war ich so gefährlich nahe noch nie gekommen. Am liebsten wäre ich davongelaufen, die Beine wollten jedoch nicht von der Stelle, und meine Hände klebten am Bettpfosten wie mit Vogelleim bestrichen.
Francoise hatte sich an das Tischchen gesetzt und lächelte über den Spiegel zu mir hoch. Ich stand hinter ihr und schwadronierte mich vor Verlegenheit in einen gemachten Zorn hinein: "Untertänigst eine wohlaffektionierte Überlegung antragen! Teufel, ich habe mich vor dem Marquis verdreht wie eine archimedische Schraube!"
Francoise lachte hell auf. "Ihr seid zur Audienz seiner Majestät geladen. Wollt Ihr mehr?" Sie spürte wohl, dass sie gegen den Tölpel hinter ihr die Initiative übernehmen müsse, erhob sich und stieg wortlos aus ihrem Kleid.
Ich knautschte meine alberne Allongeperücke zwischen den Händen und stotterte: "Die Audienz! Gewiss, die Audienz, eh...!"
Nein, da stand nicht mehr der halbwegs gescheite Docteur Leibniz, der im Auftrag des Mainzer Kurfürsten mit dem König sprechen sollte, nicht mehr der von der englischen Akademie gelobte Mann. Francoise kehrte mir den Rücken zu und befahl kokett: "Helft!"
Ihr Duft verwirrte mich vollends. Ich fummelte gehorsam an ihren Korsettschnüren und fragte ablenkend: "Was - was ist er für ein Mensch?"
"Mensch? Er ist der Sonnenkönig!"
"Und doch ein Mensch!"
Francoise lächelte mir über die Schulter zu. "Je nun, er stinkt."
Meine ungeschickten Finger hielten inne, die Schnüre hatten sich verheddert. "Ein Knoten, jetzt ist's ein Knoten."
Francoise fuhr herum. Und wahrhaftig, sie fauchte: "Mon dieu, er kriegt wieder einmal die Flasche nicht auf!"
Mit einem heftigen Ruck riss sie die Schnüre entzwei, ließ das Korsett zu Boden gleiten und hockte sich vor mir aufs Bett...
"Nun, nun, verehrter Hofrat!" Eckhart wirft den Federkiel so ungehalten zur Seite, dass die Galltinte auf das Papier spritzt. "Ihr macht aus der Comtesse eine Dirne und aus Euch..."
"Halt den Mund!" Der Alte unterbricht ihn wütend. "Du weißt nichts vom Leben oder heuchelst!"
Eckhart zieht eine beleidigte Miene und meint mit gerunzelter Stirn: "Ich will Euch nur vor Euch selbst schützen. Im Übrigen trübt die Zeit Erinnerungen, ich zweifle, dass Ihr die pure Wahrheit redet."
"Wahrheit?" Der Alte lacht und muss husten. Er rutscht auf dem Sessel hin und her, um den wunden Hintern zu entlasten. "Es ist die Wirklichkeit! Einiges an Wahrheit mag sich ergeben, wenn wir am Ende sind. Bis dahin werdet Ihr noch Erstaunliches zu schreiben haben."
Er dreht den Kopf zur Seite, schließt die Augen und schweigt. Er sieht Francoise mit gespreizten Beinen vor sich auf dem Bett. Sie trug nurmehr ein knappes zerknittertes Hemdchen und eine seidene Kniehose mit einem weiten dunklen Schlitz im Schritt.
"Komm her", lockte sie, "näher..." Sie fingerte an seinem Hosenbund und flüsterte: "Das gibt sich, vertrau mir." Sie zog ihn an sich, ließ sich mit ihm nach hinten aufs Bett fallen, und er versank im Duft und in der Wärme ihrer Haut.
Die Erinnerung ist wie ein Stachel selbst in welkem Fleisch. Frauen haben ihm immer viel bedeutet. Sie, die vernachlässigt und benachteiligt, oft einsam neben den Männern herlebten, waren nicht selten interessierter und klüger als die Männer. Er hat Briefe, viele Briefe mit ihnen getauscht, mit Sophie Charlottes Mutter, mit der Brinon, der Ansbach und der Herforder Äbtissin. Sie haben mathematiscbe und religiöse Probleme erörtert. Aber er war nie oder nur selten ein guter Liebhaber.
Francoise blieb eine der unvergesslichen Ausnahmen. Er hofft es, hofft es sogar jetzt noch.
In jener Nacht lag sie neben ihm - erhitzt, erschöpft, ihr aufgelöstes Haar in seiner Armbeuge. Er stützte sich auf den Ellbogen, wollte ihr in die Augen sehen. Aber Francoise wich seinem Blick aus, bedeckte seine Brust sanft mit Küssen, flüsterte: "Du bist wie Samt aus Lyon. Ein klein wenig mehr, und ich vergaffe mich. Das ist ganz aus der Mode und außerdem lächerlich in meinem Alter."
Vom Pult klingt das kratzende Geräusch des Federmessers, mit dem Eckhart die Tintenspritzer vom Papier zu entfernen sucht.
Der Alte dreht den Kopf zu ihm hin und spitzt den zahllosen Mund, als wolle er pfeifen.
"Damit du es weißt - sie war meine erste, wirkende Liebe und zugleich Entzauberung. De La Reynie, der Polizeidirektor von Paris, ließ mich ausspionieren, ja, und Francoise war sein Werkzeug... jetzt schreib, schreib!"
Kein Morgen ist so schön wie jener nach einer geglückten Liebesnacht. Müde, aber mit hellwachen Augen ging ich die Straßen entlang und ahnte nichts vom Verdruss, der mich erwartete. Pferdefuhrwerke waren unterwegs, vollgepackt mit allerlei Kram aus den umliegenden Dörfern - Weinfassern, Körben voller Käse, lauthals schnatternden Gänsen. Unterhalb der Pont Neuf, auf dem Quai du Louvre, bauten Fischweiber hart am Ufer ihre Marktstände auf und hielten mir weißbäuchige Fische entgegen. Die Luft war mild. In den Gärten blühten Obstbäume.
Ich bewohnte die erste Etage einer kleinen Villa. Madame Décharné, die Besitzerin, eine hagere ältere Witwe, die sich mit dem Vermieten von Kutschwagen und
Reitpferden ihren Lebensunterhalt verdiente, hauste im Erdgeschoss und besorgte mir und Christoph, wenn auch mürrisch, die Wirtschaft.
An jenem Morgen empfing sie mich mit säuerlicher Miene an der Gartenpforte und Christoph stand, finster blickend, auf der Stiege. Er wandte sich vor mir stumm zum Arbeitszimmer und riss die Tür auf. Was für ein Tohuwabohu! Die aus Korb geflochtenen Sessel waren umgeworfen, die Truhen weit geöffnet, ihr Inhalt, Schriftrollen, Schreibgerät, Bücher im Zimmer verstreut
Auf meinen entsetzten Blick hin erklärte Christoph: "Besuch von der Scharwache!"
Von der Tür her meldete sich die Witwe mit gekränkter Stimme: "Sieht nicht aus, als ob Sie sehr beliebt wären!"
Christoph schob die Alte sanft zum Flur hinaus und brummelte: "Wir sind's bei Euch, gute Frau, das genügt uns!"
Ich war vorsichtig über die verstreuten Sachen gestiegen und in die Schiafstube getreten. Hier sah es nicht viel besser aus. Überall lagen Bücher, unter der aus dem Schrank gerissenen Wäsche waren Kleiderständer und Perückenstock vergraben. Aus dem Arbeitszimmer rief Christoph herüber: "Sie sind mitten in der Nacht gekommen! Mit Flinten und Fackeln. Ein Wunder, dass nicht alles abgebrannt ist!"
Er kam, Bücher unter dem Arm, in die Schlafstube. "Wir haben uns still verhalten. Es reicht, dachten wir, wenn sie Euch alles um- und umkrempeln."
Ich erschrak. "Die Pläne für den König!"
"In meiner Kammer! Als sie unten wie Besoffene gegen die Pforte dröhnten, hab ich die Schatulle und Eure paar Louisdor unter mein Bett gesteckt."
Da war ich doch erleichtert. "Weiß Gott, du bist nicht zu bezahlen!"
"Doch, doch!" Christoph griente mich an. "Ihr müsst nur wollen!"
Da fanden wir beide unser Lachen wieder und machten uns ans Aufräumen, bis Christoph mit runden Augen fragte: "Warum?"
"Wir sind Fremde! Ludwig ist auf Krieg aus, das sagt alles."
"Aber warum?"
"Warum, warum! Frag etwas Klügeres!"
Ich vennisste die Entwürfe meiner Rechenmaschine und begann fahrig zu suchen. Wir entdeckten, dass auch Briefe Oldenburgs, des Sekretärs der Londoner Royal
Society, deutsche Schriften und ein schwarzes Schächtelchen mit sechs silbernen Knöpfen verschwunden waren. Nun, die Skizzen zur Rechenmaschine hatte ich im Kopf, die waren zu ersetzen, schlimmer war, dass der Briefwechsel fehlte.
Mein guter Adlatus, mit dem Ordnen der Papiere beschäftigt, brummte vernehmlich: "Christoph, es geht dich nichts an!"
Ich musterte ihn. "Red' schon!"
Christoph druckste herum, lenkte ab: "Wir sollten der Scharwache den Besuch erwidern und den Präfekten so durchbeuteln, dass ihm alle Knöpfe vom Rock springen!"
Aber ich, hartnäckig, fragte nach: "Was geht dich nichts an?"
Christoph seufzte und blickte, Unschuld mimend, gegen die Decke. "Mit wem Ihr die vergangene Nacht verbracht habt. Ich sag's nur, weil Ihr fragt! Die Kerle wussten doch, dass der Bock nicht im Stall steht. Verzeihung, ich meine..."
"Schon gut! Es reicht!" Ich trat zum Fenster und öffnete es. Francoise, dachte ich, niemand sonst wusste, dass ich die Nacht bei ihr gelegen hatte. Eine bittere Ahnung stieg in mir auf. Francoise? Aber das war unmöglich! "Ein klein wenig mehr, und ich vergaffe mich!"
Noch am gleichen Nachmittag suchte ich die nahe gelegene Préfecture de police auf und tat so, als sei ich mit La Reynie, dem Polizeidirektor der Stadt, auf das Intimste bekannt. Bei Erwähnung der sechs silbernen Knöpfe schnitt man betretene Gesichter und entschuldigte sich höflich wegen des leider anbefohlenen, aber offensichtlich zu rabiaten Eingriffs der Scharwache. Untröstlich sei man und versicherte, dass ich in einigen Tagen noch einmal vorbeikommen könne, gewiss würde sich rasch alles aufklären.
Ludwig XIV. verlegte seit geraumer Zeit seine Residenz von Paris nach Versailles. Um die königliche Audienz wahrnehmen zu können, musste ich bei Madame Decharne eine Droschke mieten und gut zwei Kutschstunden in Kauf nehmen.
Das Versailleser Schloss glich mehr einer Baustelle denn einer königlichen Residenz. Am Vortag hatte es geregnet. Der erhöhte Wagenhof, wie die Kneifzange eines Käfers dem Ganzen vorgelagert, war aufgeweicht und stand voller Pfützen. Überall wurde noch gerackert und gegraben.
Ich mühte mich, den weiträumigen cour d'honneur, den Ehrenhof, halbwegs trockenen Schuhs zu überqueren und hatte kaum einen Blick für die zukünftige Schönheit des königlichen Palastes. Mit einer Gruppe lärmender Höflinge trieb ich einem Seiteneingang zu. Bei einem der livrierten Affen erkundigte ich mich nach dem Weg und wurde schließlich in einen kleinen Saal geleitet, an dessen Wänden noch Stukkateure und Vergolder werkten.
Vor einer Flügeltür mit dem Sonnenemblem des Königs wachten Soldaten der Schweizer Garde. Ein Diener öffnete die Tür zu einer schmalen Galerie, und ich fand mich unversehens inmitten von drängenden Hofleuten, kirchlichen Würdenträgern und Kaufleuten, die alle der Majestät aufwarten wollten.
Nach der ersten Verblüffung versuchte ich, "Excusez-moi" murmelnd, in die Nähe einer Tapetentür zu gelangen, als mir ein älterer Mann im Kardinalsgewand freundlich aber bestimmt die Hand auf den Arm legte. "Monsieur, um hier voran zu kommen, brauchen Sie keine Muskelkraft, sondern allein Geduld und Gottes Hilfe."
In diesem Augenblick wurde die Tapetentür geöffnet, und ein papageienhaft gekleideter Lakai rief schnarrend: "Marquis de Saint-Maurice, der Herr Gesandte von Savoyen!"
Ich sah, wie der Aufgerufene dem dienernden Lakaien einen kleinen Beutel zusteckte und hinter der Tapete verschwinden durfte. Jetzt zupfte ich meinerseits den Kardinal am Rock: "Monseigneur, was mag sich in dem Beutelchen befunden haben - Gott oder Geduld?"